Himmelblaue Küsse

Roman

Edna Schuchardt


ISBN: 978-3-95573-481-7
2. Auflage 2016, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2016 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Umschlagsgestaltung Klarant Verlag unter Verwendung eines Bildes von shutterstock.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Kapitel 1

Es war genau drei Minuten nach zwölf als Nele der Kragen platzte.

Sie war normalerweise ein ruhiger, geduldiger Mensch. Einer, der sich nicht so schnell unterkriegen lässt und der sich durchbeißt. Aber sie besaß – wie alle Menschen – eine "Sollbruchstelle", einen Punkt, an dem es nicht weitergeht und bei dem bei allzu häufiger Berührung zwangsläufig die Explosion folgt.

Gitti Tauscher hatte diesen Punkt mit der ihr angeborenen Bosheit nicht nur gefunden, sie hatte auch so lange darauf herumgetrampelt, bis Nele ihr den Spritzbeutel, mit dem sie gerade Sahnerosetten auf eine Torte tressierte, ins Gesicht warf und die Sahnetorte gleich hinterher.

Die Worte "Ich kündige!" hätte sie sich eigentlich sparen können. Gitti hatte das schon beim Spritzbeutel kapiert. Aber es tat Nele gut, diese drei Worte auszusprechen.

"Meine Papiere, meinen Lohn und das Überstundengeld schicken Sie mir zu, beziehungsweise überweisen es mir auf mein Konto. Auf Nimmerwiedersehen!"

Während sie sprach, band sie ihre Schürze ab, sammelte ihr Handwerkszeug ein, warf alles in einen leeren Mehlsack und marschierte aus der Backstube. Die Kollegen und Kolleginnen sahen ihr mit offenen Mündern hinterher. Ein "Glotzt nicht so, ihr Dummbeutel!" aus Gittis erzürntem Mund reichte jedoch, sie wieder an die Arbeit zu bringen.

Hastig senkte alles die Köpfe und begann wie wild zu kneten, zu wiegen und zu rollen.

Gitti Tauscher zuckte schmerzhaft zusammen, als die Backstubentür mit vernehmlichem Knall ins Schloss fiel. Sie machte kehrt und eilte ihrer ehemaligen Angestellten hinterher. Einen solchen Affront konnte Gitti nicht auf sich sitzen lassen. Egal, wenn sie eine hervorragende Kraft verlor und ebenso egal, wenn ihr Mann ihr deswegen nachher die Hölle heiß machte. Sie brauchte eine Genugtuung, sonst würde sie Pickel kriegen.

Entschlossen stapfte sie in den Umkleideraum, aber von Nele war weit und breit nichts zu sehen. Sie hatte das Café bereits verlassen. Als Gitti aus dem Fenster schaute, sah sie gerade noch, wie die junge Frau in ihr Auto stieg und gleich darauf mit quietschenden Reifen davonbrauste.

Diese Runde war eindeutig an Nele gegangen. Gitti Tauscher würde mit der Niederlage leben müssen.

Zum Glück hatte sie ja noch ein paar Leute, an denen sie ihren Zorn auslassen konnte!

*

Der Anblick der Nordsee im Schein der untergehenden Sonne war grandios. Es sah aus, als hätte jemand Gold hineingeschüttet. Das Wasser leuchtete rotgolden, auf den Wellen glitzerten Millionen goldene Fünkchen und am Horizont stand der feurige Ball der Sonne, die jeden Moment in die Fluten zu tauchen schien.

Nele hielt ihren Wagen an, um das Schauspiel anzusehen. Sie stieg aus, kletterte über den Deich und fühlte beglückt den Wind, der ihr sofort ins Haar fuhr. Der Geruch nach Tang und Teer stieg ihr in die Nase. Hoch oben kreiste eine Möwe, die zornige Schreie ausstieß, als fühlte sie sich von der Anwesenheit eines Menschen gestört.

Freiheit, ja, das war Freiheit! Wieso war sie nicht schon eher auf die Idee gekommen, hierher zu fahren? Was hatte sie mit den dummen Streitereien ihrer Eltern mit Tante Tina zu tun gehabt? Nichts! Aber dummerweise hatte sich Nele all die Jahre von der schlechten Meinung ihrer Eltern über die Tante beeinflussen lassen ohne jemals nach dem Grund dafür zu fragen.

"Über diese Frau wird in unserem Haus nicht gesprochen", hatte ihr Vater immer gesagt und alle hatten sich daran gehalten.

Nicht mal Tantes Tod hatte den Vater von seiner Haltung abbringen können. Er hatte seiner Frau und seiner Tochter strikt verboten, zur Beerdigung zu fahren. Und Nele und ihre Mutter hatten sich gefügt.

Weshalb eigentlich, überlegte Nele, während sie zusah, wie die Sonne tiefer und tiefer sank. Wieso habe ich Vater nicht widersprochen oder einfach gar nichts gesagt und getan, was ich für richtig hielt?

Ich bin doch sonst keine Duckmäuserin oder Jasagerin. Nur bei Vater gebe ich ständig klein bei. Woran liegt das?

Die Antwort gefiel ihr nicht, entsprach aber der Wahrheit: Nele hatte die ständigen Streitereien satt und nickte die Beschlüsse und Anweisungen ihres Erzeugers einfach nur noch ab.

Gerhard Großmann gehörte zu den Männern, die sich einbilden, nur aufgrund ihres "Anhängsels" eine hervorragende Stellung in der Menschheit einzunehmen und besonders ihren Frauen und Töchtern das Leben vorschreiben und erklären zu müssen.

Edelgard Großmann akzeptierte seine vermeintliche Vormachtstellung und hatte sie nie angezweifelt. Nele vermutete, dass ihre Mutter sogar recht zufrieden lebte. Schließlich war sie nie genötigt worden, eigene Entscheidungen treffen zu müssen. Der Satz "Da muss ich erst meinen Mann fragen" vertrieb nicht nur lästige Vertreter, sondern auch alle anderen Menschen, die irgendetwas von ihr wollten.

Nele hingegen hatte sich innerlich stets gegen den Vater aufgelehnt. Zum ersten richtigen Krach war es gekommen, als sie beschlossen hatte, Konditorin zu werden und nicht Bürokauffrau, wie Gerhard bereits beschlossen hatte. Er hatte ihr damals sogar schon eine Lehrstelle besorgt.

Wochenlang hatte Gerhard keinen Ton mehr mit seiner ungehorsamen Tochter gesprochen und auch heute wollte er ihren Berufswunsch nicht akzeptieren. Er hatte Nele weder zur bestandenen Gesellen- noch zur Meisterprüfung gratuliert.

Ein Gutes hatte sein Machtgebaren allerdings gehabt: Es hatte Nele frühzeitig aus dem Haus getrieben. Gleich nach der Gesellenprüfung war sie ausgezogen und stand fortan auf eigenen Füßen (ein weiterer Grund für Gerhard, seiner Tochter zu zürnen).

Wegen des Streits war Nele Tante Tina nie begegnet. Sie fragte sich, weshalb die Tante ihr trotzdem das Hotel vererbt hatte? Um ihren Vater zu ärgern?

Die Sonne versank nach einem letzten wildflammenden Aufglühen und färbte den Himmel in einen Farbenrausch, der vom zarten Orangegelb bis zum leuchtenden Lila alle Rottöne umfasste. Überwältigt von diesem Schauspiel, vergaß Nele ihre Tante, den Vater, einfach alles, was sie in den vergangenen Tagen beschäftigt hatte und tauchte ein in diese geheimnisvolle faszinierende Stimmung des Sonnenuntergangs.

Plötzlich strich ein kalter Hauch über ihren Rücken. Fast schien es, als würden Fingerspitzen über die Haut fahren. Eine Berührung, als wollte jemand sie daran erinnern, dass sie weiterfahren sollte.

Mit einem Seufzer und einem letzten Blick auf die See wandte Nele sich um und wollte zu ihrem Wagen zurückkehren, den sie am Straßenrand geparkt hatte. Aber sie machte einen erschreckten Satz rückwärts, als sie in das gerötete Gesicht eines Mannes blickte, der sie mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen betrachtete.

"Nu, nu", machte er und das Lächeln in seinen meerblauen Augen vertiefte sich. "Ick beet' nich', junge Froo."

Nele legte beide Hände auf ihr wildklopfendes Herz.

"Wie bitte?"

Der Mann schmunzelte.

"Ich beiße nicht, junge Frau."

"Ach, so!" Nele holte tief Luft. "Nein, aber Sie schleichen sich an wie ein Dieb! Was wollen Sie hier?"

Der Mann zuckte die Schultern. Er war weitaus jünger, als Nele ihn auf den ersten Blick eingeschätzt hatte. Vielleicht Ende Zwanzig, höchstens Mitte Dreißig. Als er jetzt die gestrickte Wollmütze vom Kopf zog, wurde dunkles Haar sichtbar, das sofort nach allen Himmelsrichtungen abstand, als der Wind hineinfuhr.

"Ich denk' mal, ich wollt' dasselbe wie Sie", erwiderte er, immer noch lächelnd. "Diesen wunderschönen Sonnenuntergang sehen. Er war grandios, nicht wahr?"

Nele betrachtete ihn misstrauisch. Was war das für ein komischer Vogel? Wollte er anbändeln oder sich nur unterhalten?

Sie beschloss, sich weder auf das eine noch das andere einzulassen. Ohne den Mann weiter zu beachten lief sie den Deich hinunter zum Ufer, kickte übermütig die Schuhe von den Füßen und lief ins Wasser. Der Mann rief etwas, aber sie kümmerte sich nicht darum. Sie wollte ihre Ruhe haben, verdammt! Nach der langen Fahrt und dem vorangegangenen Ärger hatte sie sich die ja wohl verdient!

Sie krempelte die Hosenbeine hoch und watete weiter ins Wasser hinein. Im nächsten Moment zog ihr etwas die Füße weg. Sie begann mit den Armen zu rudern und zu schwanken in dem wirren Versuch, irgendwie Halt zu finden. Aber es war, als würde sich der Grund unter ihr auflösen. Alles zerfloss, bot keinen festen Untergrund, ja, sog sie regelrecht in die Tiefe.

Sie fiel, sofort tauchten ihre Hände in den Sand, ihr Körper wurde von einem Sog erfasst, gegen den sie nicht ankam. Ja, je wilder sie sich wehrte, desto schlimmer wurde dieser Sog!

Sie schluckte Wasser und Sand, hustete, kam an die Oberfläche, wurde zurückgezogen und dann war da auf einmal ein schmerzhafter Griff, der ihre Haare gepackt hielt.

"Hören Sie auf zu strampeln!", schrie eine Männerstimme, die Nele bekannt vorkam. Sie gehorchte automatisch. Eine kräftige Hand umfasste ihren Oberarm, die Finger ihrer freien Hand krallten sich in festes Fleisch, dann gab es einen Ruck und Nele lag auf festem Grund.

Schniefend und prustend rappelte sie sich hoch.

"Oh, Mann!" Völlig geschockt sah sie in die Augen ihres Retters. "Was war das?"

"Ein Priel", erklärte der Mann. Er hatte seine Wollmütze wieder aufgesetzt. Jetzt lächelte er nicht mehr. Im Gegenteil, Zorn glitzerte in seinen erstaunlich blauen Augen. "Haben Sie das Schild nicht gesehen? Es warnt ausdrücklich davor, hier ins Wasser zu gehen."

"Äh..." Verwirrt und beschämt zugleich schüttelte Nele den Kopf. "Tut mir Leid", meinte sie kleinlaut. "Aber ich war so übermütig..."

"Dumm ist wohl der passendere Ausdruck." Der Mann war immer noch ärgerlich. Doch dann wurden seine Züge weicher. Er zog seine Strickjacke aus und legte sie Nele fürsorglich um die Schultern. "Jetzt schauen Sie man, dass Sie schnellstens in Ihr Hotel kommen und sich was Trockenes anziehen. Und dann lassen Sie sich einen schönen, heißen Grog machen."

"Ja, ja." Nele nickte artig wie ein Schulmädchen. Dann fiel ihr etwas ein. "Und danke, dass Sie mich gerettet haben. Ich wäre wahrscheinlich ertrunken, wenn Sie nicht gekommen wären."

"Sie wären mit Sicherheit ertrunken", versetzte der Mann trocken. "Das passiert hier leider jedes Jahr. Irgendeine trottelige Landratte meint immer, es besser zu wissen als wir Nordlichter und stapft ins Watt oder schwimmt aus dem für Schwimmer abgegrenzten Raum. Also, merken Sie sich das für die Zukunft: Die Schilder stehen hier nicht, um Ihnen den Urlaub zu versauen."

"Okay, ich werd's beherzigen", versprach Nele.

Der Mann knurrte etwas Unverständliches, dann nickte er ihr noch einmal zu und ging in Richtung Norddeich davon. Nele sah ihm völlig verdattert hinterher.

"Wo soll ich denn die Jacke abgeben?", rief sie ihm hinterher.

Der Mann drehte sich um, hob die Hand und winkte.

"Wir werden uns schon irgendwo sehen. Gehen Sie man los und legen Sie sich trocken!" Damit lief er weiter, mit weit ausgreifenden elastischen Schritten, die verrieten, dass er sich viel im Freien aufhielt.

Nele seufzte erneut und ließ die Schultern hängen. Na, das war ja ein schöner Start! Dabei hatte sie überlegt, ob sie ihr altes Leben nicht hinter sich lassen und hier eine neue Heimat aufbauen sollte. Aber, so sagte sie sich, während sie zu ihrem Auto ging, das am Straßenrand geparkt stand, bevor ich solche weitreichenden Entscheidungen treffe, sollte ich mir Tantchens Hotel erst einmal genau ansehen.