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Ali Cem Deniz
Yeni Türkiye – Die neue Türkei

Über den Autor

Ali Cem Deniz wurde 1988 in Adapazarı geboren und wuchs in Österreich auf. Er studierte Internationale Entwicklung an der Universität Wien. In seiner Diplomarbeit »Weiße Türken – schwarze Türken: die Arabesk-Kultur und die türkische Modernisierung« untersuchte er den Aufstieg der »Arabesk-Musik« von den Slums der Metropolen in die aktuelle »Hochkultur«. Das Geschehen in der Türkei beobachtet er aus journalistischer Perspektive u.a. für das österreichische Radio FM4.

© 2016 Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien

ISBN: 978-3-85371-839-1

(ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-85371-412-6)

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Inhalt
Einleitung
1. Ein unsauberer Schnitt
2. Vom »zivilen« Einparteien-System zur militärischen Mehrparteien-Demokratie
Exkurs I: Der »tiefe Staat« und der »Parallelstaat«
3. Die Ausgeschlossenen im Zentrum: Der Aufstieg der Kurden und der türkischen Islamisten
Exkurs II: Weiße Türken und schwarze Türken
3. Von der Zelle in den Palast: Recep Tayyip Erdoğan und die AKP
5. Auf dem Weg in die »neue« Türkei
6. Die Außenpolitik der AKP: Pragmatismus mit neoosmanischem Glanz
Schlusswort: Der Putsch 2016 und seine Vorgeschichte
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Einleitung

Am 16. Juli 2016, am Tag nach dem gescheiterten Putsch, stand ich als Journalist des Radiosenders FM4 im Studio und musste innerhalb weniger Minuten erklären, was passiert war, wer verantwortlich sein könnte, was es mit der Gülen-Bewegung auf sich hat und ob Recep Tayyip Erdoğan die türkische Demokratie abschaffen wird. Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugedrückt, und in meinem Kopf schwirrten alle möglichen gegensätzlichen Meldungen, aus denen ich eine Analyse basteln musste. Eine Herausforderung, mit der in letzter Zeit immer mehr Journalisten und Beobachter der Türkei konfrontiert sind.

In den letzten Jahren berichten europäische Medien intensiv über die Türkei. Kaum ein Tag vergeht, ohne dass größere Internetseiten, Tageszeitungen und Nachrichtensendungen nicht Meldungen aus diesem Land verbreiten – nur selten sind es gute Nachrichten. Regierungskritische Proteste, Korruptionsermittlungen, Verhaftungen von Journalisten und Oppositionellen und provokante Aussagen Erdoğans schaffen es fast täglich in die Schlagzeilen. Die unzähligen Artikel, Meldungen und Kommentare haben oft eines gemeinsam: die Hintergründe fehlen. Die Komplexität der Situation wird auf die erschreckende Neuigkeit reduziert. Das heißt nicht, dass man bei den Entwicklungen in der Türkei eine Art »exceptionalism« anwenden muss und alles mit einem Hinweis auf die Komplexität relativieren kann. Wenn die Hintergründe jedoch fehlen, führt es oft dazu, dass wir uns auf unsere Vorurteile verlassen. Was Stereotype anbelangt, hat der Westen schließlich eine breite Palette im Angebot.

Die Türkei ist in dieser Wahrnehmung das Land zwischen West und Ost, zwischen Religion und Säkularismus, zwischen Aufbruch und Stagnation, zwischen Moderne und Tradition. Diese hartnäckigen Klischees über die Türkei haben sich in den Köpfen westlicher Politiker, Wissenschaftler, Journalisten, aktiver und passiver Beobachter festgesetzt. Und tatsächlich gibt ein oberflächlicher Blick, wie immer und überall, den Vorurteilen die notwendige Glaubwürdigkeit. Die geografischen und politischen Grenzen zwischen Europa und Asien verlaufen in der Türkei. Die Geschichte lehrt den Verfall eines islamischen Reiches, das mit den westlichen Konkurrenten nicht mehr mithalten konnte. In diesem Buch will ich zeigen, wieso die daraus erwachsenen Klischees genau so viel verschleiern, wie sie scheinbar erklären.

Seit über einem Jahrzehnt regiert die islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) alleine über die Türkei. Unter der Führung Recep Tayyip Erdoğans hat die AKP eine in der türkischen Geschichte beispiellose Folge an Wahlsiegen errungen. Keine andere Partei konnte so lange an der Regierung bleiben und kaum ein Politiker seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk war so einflussreich und so umstritten wie Erdoğan. Ein Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren machte Erdoğan zum erfolgreichsten türkischen Politiker seit Jahrzehnten. Auch dieser Erfolg wurde, sowohl unter türkischen Oppositionellen als auch in westlichen Medien, mit Klischees erklärt. Die ungebildeten Massen aus den ländlichen Regionen wären auf den populistischen Islamisten reingefallen. Andere suchen das Erfolgsgeheimnis der AKP in ihrer erfolgreichen Wirtschaftspolitik. Solche »Analysen« greifen zu kurz. Sie erklären nicht, wieso anderen islamistischen Fraktionen dieser Aufstieg verwehrt blieb, oder wieso die AKP auch bei schwächelnder Wirtschaft kaum an Unterstützung verliert. Sie können keine Antwort darauf geben, wieso die AKP bei den Wahlen am 7. Juni 2015 zum ersten Mal die absolute Mehrheit verlor, aber bei den Neuwahlen wenige Monate später ihr bestes Ergebnis erzielte. Den Wählerinnen und Wählern Erdoğans das kritische Denken abzusprechen, ist wenig sinnvoll. Die Geschichte Erdoğans erzählt nicht nur den Aufstieg eines Politikers, sondern spiegelt die Transformation einer Gesellschaft wider. Wer diesen Wandel der türkischen Politik und Gesellschaft mit all ihren Hintergründen und Widersprüchen verstehen möchte, muss über diese bequemen Erklärungen hinausschauen.

In diesem Buch versuche ich eine Linie zu ziehen, die vom Zerfall des Osmanischen Reiches bis zum gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 führt. Das ist keine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der türkischen Geschichte – ganz im Gegenteil. Viele wichtige Ereignisse der türkischen Geschichte werden nur gestreift oder erwähnt. Ausgelassen wurden etwa die wirtschaftlichen Maßnahmen der AKP-Regierung im Vergleich zu ihren Vorgängerinnen – in diesem Band geht es vor allem um die politische Geschichte des Landes.

Das vorliegende Werk begibt sich auf die Suche nach Erklärungen für die Realitäten der »neuen Türkei«.

Ali Cem Deniz,
Wien, im August 2016