Copyright © 2015 by Lisa Eldridge

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2015 bei Harry N. Abrams, Incorporated, New York unter dem Titel:

FACE PAINT: THE STORY OF MAKE-UP

(All rights reserved in all countries by Harry N. Abrams, Inc.)

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.

Editor: David Cashion

Designers: Robin Derrick mit Danielle Young

Production Manager: True Sims

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Stiebner Verlag erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-8307-0965-7).

© 2016 der deutschen Ausgabe:

Stiebner Verlag GmbH

Hirtenweg 8 b

82031 Grünwald

www.stiebner.com

Übersetzung aus dem Englischen: Wiebke Krabbe

Redaktion: Julia Niehaus, Berlin

Satz: Dirk Brauns, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Buch darf nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung des Copyright-Inhabers vollständig bzw. teilweise vervielfältigt, in einem Datenerfassungssystem gespeichert oder mit elektronischen bzw. mechanischen Hilfsmitteln, Fotokopierern oder Aufzeichnungsgeräten bzw. anderweitig weiterverbreitet werden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8307-3013-2

Vorwort 8

Prolog: Das bemalte Gesicht 12

Teil eins

Die historische Palette 16

Rot: Die älteste Farbe der Schönheit 18

Weiß: Macht und Politik der Blässe 38

Schwarz: Die dunkle Seite der Schönheit 62

Teil zwei

Das Geschäft mit der Schönheit 88

Kinoleinwand und Hochglanzmagazine: Wie Träume gemacht werden 90

Pioniere der Schönheit: Visionäre und Vaudeville 122

Fabelhafte Schminktasche: Vom Hausmittel zum internationalen Label 156

Ausblick: Zukunftsvisionen 210

Nachwort: Ich wär’ so gern wie du 224

Dank 228

Endnoten 230

Bildnachweis 234

Register 235

Die Autorin 240

Inhalt

9

Wir Menschen bemalen uns seit Jahrtausenden auf die eine oder andere Weise, aber die Gründe dafür und die Art, wie Make-up getragen wird, haben sich im 21. Jahrhundert grund- legend gewandelt. Wenn wir uns heute schminken, haben wir die Wahl zwischen hunderten von Trends und Stilrichtungen. Es gibt Produkte in allen Regenbogenfarben zu günstigen (und weniger erschwinglichen) Preisen. Wir können diese Produkte einsetzen, wie wir wol- len. Soziale Normen wie noch vor relativ kurzer Zeit gibt es keine mehr. Um zu verstehen, wie sich das Schminken zur Kunstform entwickelte, müssen wir weit in die Vergangenheit zurückgehen, unser Verhältnis zum Make-up beleuchten und den Weg verfolgen, den die Kosmetikbranche genommen hat, die heute Milliardenumsätze macht.

Make-up interessiert mich seit meiner Kindheit. Anfangs war ich vor allem von den Far- ben und Düften fasziniert und auch von den Geschichten, die ich mit den Schminkutensi- lien verband. Als ich 13 war, schenkte mir eine Freundin ein Buch über Maskenbildnerei am Theater zum Geburtstag, und ich beschloss, Make-up-Artist zu werden. Seitdem beschäf- tige ich mich mit der historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Kultur des Schmin- kens. Anfang der 1990er-Jahre fing ich an, alte Puderdosen und antike Rouge-Tiegel zu sammeln. Ich werde nie vergessen, wie begeistert ich von meinen ersten Schätzen war,

Seit der Eiszeit kultivieren wir die Kunst, unsere Haut mit Farben und Ölen zu verschönern.

Vorwort

10

Face Paint

Alles, was für das Make-up unserer Vorfahren nötig war, lieferte die Natur.

die ich an einem Stand in der Londoner Portobello Road ergattert hatte.

Noch heute finde ich es aufregend, Raritäten für meine Sammlung zu finden. Seit 20 Jahren schminke ich die Gesichter von Models und Berühmtheiten für Hochglanzmagazine, Werbekampagnen und Moden- schauen in aller Welt, trete im Fernsehen auf und zeige in Videos, wie Frauen die professionellen Tech- niken, die ich gelernt habe, selbst anwenden können. Viele Jahre lang habe ich als Kreativchefin für große Kosmetikunternehmen gearbeitet, darunter Shiseido, Boots No7 und zuletzt Lancôme. Durch diese Tätigkeit in internationalen Unternehmen konnte ich lernen, wie Make-up hergestellt und vermarktet wird, und ich habe viel darüber erfahren, wie sich Schönheits- ideale von Land zu Land unterscheiden. Ich hätte nie gedacht, dass mich die Produktion von Make-up so faszinieren könnte (in der Schule war ich in Chemie nicht gerade eine Leuchte). Tatsächlich fesseln mich Wissenschaft und Technologie der Make-up-Produk- tion und ihre Zukunft ebenso sehr wie die Geschichte. Was mit der Freude an Farben und Utensilien begann, setzte sich fort, indem ich mich mit der Herstellung beschäftigte. Mit diesem Buch schließt sich ein Kreis.

Beim Recherchieren und Schreiben fiel es mir besonders schwer zu entscheiden, was ich weglassen sollte. Mit all den spannenden Geschichten, witzigen

Anekdoten und faszinierenden Forschungsergebnis- sen könnte man ein zehnmal so dickes Buch füllen. Letztlich musste ich eine subjektive Auswahl treffen, die Ihnen hoffentlich gefällt. Ich entschied mich, das Buch nicht chronologisch aufzubauen, sondern the- matisch. Erstens fand ich diese Struktur interessanter, zweitens vollziehen sich historische Entwicklungen selten linear, stattdessen gibt es Überschneidun- gen und Wiederholungen. Es kostete Disziplin, beim Thema zu bleiben. Die Geschichte des Make-ups ist eng mit der von Parfüm, Haut- und Haarpflege ver- woben alles umfangreiche Themengebiete, die ich nur streifen konnte, und auch nur da, wo dies unbe- dingt notwendig war. Ich möchte Ihnen in diesem Buch auch meine persönlichen »Make-up-Ikonen« vorstellen: Persönlichkeiten, die nicht nur zum Wan- del des Frauenbilds in der Gesellschaft beigetragen, sondern auch das äußere Erscheinungsbild der Frau immer wieder neu erfunden haben. Sie haben die Regeln ihrer Zeit gebrochen und damit Weichen für viele Looks gestellt, die wir heute tragen.

Ich habe dieses Buch mit Leidenschaft geschrie- ben. Ich finde die Geschichte des Make-ups erzäh- lenswert und wünsche mir, dass jede Leserin den Inhalt ihrer Schminktasche und vielleicht sogar die Geschichte der Frauen nach der Lektüre mit anderen Augen betrachten wird.

Make-up war pure Farbenpracht

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Die amerikanische Food and Drug Administration fasst unter dem Begriff Kosmetik alles, was auf den Körper »gestrichen, gegossen, gestreut, gesprüht oder ihm anderweitig zuge- führt wird um ihn zu säubern, zu verschönern, seine Attraktivität zu erhöhen oder sein Aussehen zu verändern.« 1 Wenn wir diese Definition zugrunde legen, dann kultivieren wir die Kunst, unsere Haut mit Farben und Ölen zu verändern, seit der Eiszeit. Aber was treibt uns dazu?

Anthropologen vermuten, dass die Gesichts- und Körperbemalungen Schutz vor den Elementen bieten sollten, der Tarnung dienten oder rituelle Bedeutung hatten. Bei Ausgra- bungen in südafrikanischen Höhlen wurden große Mengen Rotocker gefunden, der Schät- zungen zufolge 100 000 bis 125 000 Jahre alt ist. Der rote Farbton dieses Erdpigments beruht auf einem hohen Anteil des Minerals Hämatit. Weil am Fundort weder Höhlen- malereien noch verzierte Artefakte entdeckt wurden, folgerten die Forscher, dass das Erdpigment zum Bemalen von Gesicht und Körper benutzt wurde »prähistorische Kos- metik«, wie Steven Mithen, Professor für Archäologie und Anthropologie an der Reading University, es formulierte. Wir wissen, dass Farbe dazu diente, den Stammeszusammenhalt zu stärken und Feinde abzuschrecken. Ein bekanntes Beispiel ist die blaue, aus Färberwaid

Das Bemalen des Gesichts liegt ebenso in der Natur des Menschen wie das Bedürfnis nach Nahrung und Schlaf. Foto von Irving Penn, © Condé Nast. Vogue , November 1994.

Prolog

Das bemalte Gesicht

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Face Paint

gewonnene Farbe, mit der die alten Briten ihre Gesich- ter bemalten, bevor sie in den Kampf zogen. Im Lauf der Jahrtausende wurde dekorative Gesichtsbema- lung dann mit persönlicher Verschönerung, gesell- schaftlichem Status und Bewahrung der Jugend in Zusammenhang gebracht. Vom 18. Jahrhundert an entwickelte sich eine enge Beziehung zur Mode.

Aus welchem Grund es auch verwendet wurde, das Make-up der Frühzeit war pure Farbenpracht, ein Feuerwerk der Pigmente, Farben, Pulver und Pasten. In der Leuchtkraft, wenn auch nicht in anderen Aspek- ten, glich es heutigen Produkten. Aber damals konnte man Schminke nicht einfach kaufen. Sie musste nach komplizierten Rezepturen mühsam hergestellt wer- den. Alles, was für das Make-up unserer Vorfahren nötig war, lieferte die Natur. Es ist kaum vorstellbar, aber noch bis vor etwa hundert Jahren beschränkte sich die Palette auf die Farben Rot, Grün, Schwarz, Gelb, Blau und Weiß.

Überall auf der Erde verwendeten die Menschen Zutaten wie Kreide, Mangandioxid, Lapislazuli,

Kupfererz sowie gelbes und rotes Ocker die Abori- gines und die Völker Papua-Neuguineas ebenso wie die Völker der Hochkulturen von Mesopotamien und Ägypten. Das legt nahe, dass das Bemalen des Gesichts ebenso in der Natur des Menschen liegt wie das Bedürfnis nach Nahrung und Schlaf. Wenn ich in diesem Buch die dekorative Kosmetik der Frühzeit vorstelle, zeige ich die direkten Ursprünge des moder- nen Make-ups auf, denn die Rohstoffe der Produkte, die wir heute benutzen, haben mit den damals ver- wendeten Farben und Pigmenten vieles gemeinsam.

Die Geschichte des Make-ups ist ein großes, schwer überschaubares Thema, das Jahrtausende umfasst. Vieles ist bis heute unerforscht. Glücklicherweise kön- nen wir mithilfe archäologischer Funde und Hinweisen aus Kunst und Literatur einen Teil des Puzzles zusam- mensetzen. So wissen wir einiges über die Schmink- gebräuche der Vergangenheit, über die verfügbaren und die beliebtesten Farben, die Herstellung der Pro- dukte und vor allem darüber, was man über Frauen dachte und sagte, die ihre Gesichter bemalten.

Die heutige Kosmetik ist aus den Farben und Pigmenten, die in der Vergangenheit verwendet wurden, hervorgegangen.

»Ein guter Maler braucht nur drei Farben: Schwarz, Weiß und Rot.«

Tizian

Teil eins

Die historische

Palette

Frau schminkt ihre Lippen (Porträt der Chiyo, einer Maiko aus Gion) Hashiguchi Goyo, 1920.

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Keine Make-up-Farbe ist älter als Rot. Seit Jahrtausenden wird es zum Bemalen von Lip- pen und Wangen verwendet. Seine Bedeutung hat die Zeiten überdauert, wenngleich es – je nach Mode und gesellschaftlicher Akzeptanz des Schminkens mal mehr und mal weniger stark zum Einsatz kam. Heutzutage ist Rot in verschiedensten Produktformen erhältlich, vom traditionellen Puderrouge über flüssiges Rouge, Lippenstift und Lipgloss bis zu Cremes und Gels für Lippen und Wangen. Aber warum ist gerade Rot die älteste und beliebteste Schminkfarbe? Was hat Generationen von Frauen in aller Welt veranlasst, ihre Gesichter mit Rottönen zu bemalen?

Betrachten wir dazu zunächst die Farbe selbst und die vielen mit ihr verknüpften Assozi- ationen. Die Bedeutung der Farbe variiert zwar von Kultur zu Kultur, doch fast überall bringt man sie mit Liebe, Leidenschaft, Jugend und Gesundheit in Verbindung. Rot ist begehrens- wert. Im asiatischen Kulturraum ist Rot die Farbe des Glücks, darum tragen Bräute in China, Indien und Vietnam traditionell rote Hochzeitskleider. Auch in den Masken der chinesischen Oper und des japanischen Kabuki-Theaters spielt Rot eine zentrale Rolle. Daneben hat Rot aber auch ganz andere Konnotationen: Es steht für Blut, Gefahr und Umsturz, und es ist die Farbe der politischen Linken. In der dekorativen Kosmetik hat die Farbe Rot die Wirkung,

Ein rot geschminkter Mund ist beides: der Rückgriff auf eine uralte Tradition und ein modernes Statement.

Rot

Die älteste Farbe der Schönheit

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Face Paint

Haut rosiger erscheinen zu lassen. In dieser Hinsicht basiert ihre Beliebtheit letztlich auf biologischen Grün- den. Die Evolutionspsychologin Nancy Etcoff erklärt: »Gerötete Wangen und Lippen sind Sexualsignale. Sie stehen für Jugend, Nulliparität [Geburtslosigkeit] … und eine starke Gesundheit.« 1 Eine weitere wissen- schaftliche Begründung für die seit Urzeiten unge- brochene Bedeutung von Rot liegt darin, dass seine Wellen die längsten sind, die Menschen wahrnehmen können. Darum löst es eine stärkere unbewusste Reaktion aus als jede andere Farbe. 2 Versuchen Sie einmal, sich den Eindruck beim Betreten eines roten Raums vorzustellen, oder vergegenwärtigen Sie sich die Signalwirkung von Rot. Etcoff bringt es auf den Punkt: »Rot ist die Farbe des Bluts, des Errötens und der Erhitzung, der sexuell stimulierten Brustwarzen, Lippen und Genitalien. Es ist von weither sichtbar und wirkt emotional erregend.« 3

Die älteste rote Schminke bestand vermutlich aus Rotocker, das mit Eisenoxid und tierischen Fetten oder Pflanzenöl zu Stäbchen geformt wurde. In Form und Größe war der Unterschied zu den dicken Lid- schattenstiften unserer Zeit wohl gar nicht so groß. Ab dem 19. Jahrhundert konnte man rote Schminke in Apotheken kaufen. Bis dahin stellten die Verwen- derinnen sie selbst her. Zutaten waren getrocknete Insekten wie Cochenille- und Kermesschildläuse, die einen karminroten Farbstoff lieferten, sowie hoch- giftige Mineralien wie Blei, Zinnober und Queck- silbersulfid für ein Feuerrot. Auch Pflanzenextrakte, beispielsweise Färberdistel (Farbstoff Karthamin), Alkannawurzel, zerdrückte Maulbeeren und Erdbee- ren, Rote-Bete-Saft und roter Amaranth, wurden verwendet, um verschiedene zarte und intensive Rot- und Rosatöne zu produzieren.

Besonders raffinierte Gesichtsfarben und Kos- metika entstanden im Alten Ägypten schon um 10 000 v. Chr. Die Ägypter besaßen fundierte Kennt- nisse der Chemie, und die Kosmetik stand bei ihnen

hoch im Kurs. Sie stellten aus verschiedenen Zuta- ten Feuchtigkeitscreme, Khol (Kajal), Lippen- und Wangenrot sowie Farbe für die Nägel her. In Schüs- seln, Löffeln oder Paletten vermengten sie Pulver aus Naturprodukten wie gemahlenen Nüssen oder

Eine junge Lehr- geisha trägt Beni (Lippenfarbe) aus einem Tiegel auf. Seine Innenwand ist mit getrockneter Färberdistel beschichtet, die bei Berührung mit Feuchtigkeit karmesinrot wird. Beni ist seit der Edo- Zeit (1603–1868) in Gebrauch und wird bis heute auf die gleiche Weise auf- getragen.

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Face Paint

Mineralien mit tierischem Fett oder Pflanzenöl, bis die Mischung gut auf Augen, Lippen oder Wangen haftete. Uralte Grabfunde wie Paletten, Mörser und Applikatoren legen nahe, dass diese Dinge nicht nur im Alltag benutzt wurden, sondern auch als Notwen- digkeit für das Leben nach dem irdischen Tod betrach- tet wurden. Das eindrucksvolle Augen-Make-up der Ägypter ist allgemein bekannt, aber sie setzten auch Rot großzügig ein, beispielsweise mit »Lippenstiften« aus Rotocker und Fett. Rouge aus denselben Zuta- ten und vermutlich mit Zusätzen von Harzen oder Wachs gab den Wangen einen lackartigen Glanz, der einen dramatischen Kontrast zu den smaragd- grünen Augenlidern und den geschwärzten Lid- rändern bildete. 5

Betrachtet man die Schminkkultur in der frühen Geschichte, wird schnell klar, dass zwischen den Frei- heiten und Rechten der Frauen in einer bestimmten Epoche und der Offenheit und Selbstverständlichkeit, mit der sie ihre Gesichter bemalten, ein Zusammen- hang hergestellt werden kann. In Zeiten, in denen Frauen in hohem Maß unterdrückt waren, wurde Make-up generell abgelehnt.

Verglichen mit Frauen späterer Jahrhunderte besa- ßen die Frauen Ägyptens ein beträchtliches Maß an Autonomie. Sie konnten Land und Vermögen besitzen und erben (aus frühen Dokumenten wie dem Papyrus Wilbour geht hervor, dass zehn bis elf Prozent der Landbesitzer weiblich waren), eigene Geschäfte füh- ren und Prozesse gegen Männer anstrengen. Körper- liche Arbeit wurde nicht missbilligt, und Frauen unte- rer Gesellschaftsschichten verdingten sich anerkannt als Arbeiterinnen. 7 In diesem Licht betrachtet scheint es schlüssig, dass das Alte Ägypten nicht nur eine der frühesten Zivilisationen war, in der Make-up verwen- det wurde, sondern auch eine bemerkenswert expe- rimentierfreudige und tolerante Kultur. Leider waren spätere Kulturen nicht so aufgeschlossen.

Im Iran fand man die ältesten Belege für rote Schminke in der Stadt Shahdad in der Provinz Kerman. Dort entdeckten Forscher in sämtlichen Gräbern große Mengen eines weißen Pulvers, das vermutlich Männer und Frauen als Grundierung verwendeten. Am Boden der Gefäße, in denen dieses Pulver verwahrt wurde, fanden sie sehr kleine, rot bemalte Metallschälchen, die vermutlich rote Farbe für Lippen oder Wangen

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Rot

enthielten. Diese rote Farbe, die surkhab , ghazah oder gulgunah heißt, wurde aus zermahlenem Hämatit oder rotem Marmor, roter Erde und dem natürlichen roten Farbstoff runas (Krapprot) hergestellt. Ausgrabungen an sehr alten Fundstätten wie denen in Shahdad legen nahe, dass rote Schminke möglicherweise schon vor der Bronzezeit benutzt wurde. Bei neueren Untersu- chungen an Gräbern iranischer Frauen aus dem 5. und 4. Jahrhundert v. Chr. fand man rote Schminke, die mit rötlichen Baumwollstückchen aufgetragen wurde. Diese Anwendungsweise blieb vermutlich bis in die Kadscharen-Dynastie (1796–1925) üblich. 8

Auch in der griechischen Antike benutzten Frauen im 4. Jahrhundert v. Chr. rote Schminke, um Lippen und Wangen ein jugendliches Aussehen zu geben. Es wurde ähnlich auf die Wangen aufgetragen wie heutiges Rouge. Die Produkte der Griechen bestan- den aus verschiedenen Naturstoffen, darunter Algen und Paederos, einer der Alkanna ähnlichen Pflanze, die in Mittel- und Südeuropa kultiviert wurde. Der Farbstoff wurde ihren Wurzeln mit Öl oder Weingeist entzogen. Später verwendete man auch Zinnober aus pulverisiertem Quecksilbersulfid. Er war jedoch, wie alle quecksilberhaltigen Produkte, giftig, wenn man ihn über längere Zeit anwandte. Allzu offen- sichtliche Schminke wurde allerdings missbilligt, vor allem von der männlichen Elite, die die Rolle der Frau darin sah, tugendhaft zu sein und den Haushalt zu führen. Der griechische Philosoph Aristoteles schrieb in seinem Werk Politik : »Ferner ist im Verhältnis [der

Geschlechter] das Männliche von Natur aus das Bes- sere und das Weibliche das Geringerwertige, und das eine herrscht, das andere wird beherrscht.« 9

Heute assoziieren wir die Stadt mit Progressivi- tät. Im antiken Athen führten die Frauen jedoch ein sehr eingeschränktes und fremdbestimmtes Leben. Sie sollten im Haus bleiben und waren vom öffent- lichen und politischen Leben ausgeschlossen. Vom 6. bis 4. Jahrhundert v. Chr. waren ihnen »Besitz, Poli- tik, Recht und Krieg verwehrt.« 10 Sie besaßen keine Bürgerrechte und mussten sich dem Schutz und der Kontrolle eines männlichen Verwandten unterordnen, der entschied, wann und wen sie heirateten. Es gab sogar ein Regierungsamt, das Regeln für ihr Verhalten in der Öffentlichkeit aufstellte. 11 Das Leben der Frauen wurde permanent überwacht und kontrolliert. So ver- wundert es nicht, dass auch Schminke umstritten war. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Hetären (sozial anerkannte Prostituierte), die deutlich mehr Make-up trugen und ironischerweise mehr Rechte besaßen. Sie durften beispielsweise an Ratssitzungen teilneh- men und ihr Geld selbst verwalten. Interessanterweise gab es in vielen Kulturkreisen immer wieder Zeiten, in denen Kurtisanen, Mätressen und Prostituierte mehr Freiheiten und Rechte besaßen als andere Frauen (das Tragen von mehr Make-up eingeschlossen).

Der griechische Autor Xenophon vertritt in sei- nem Dialog Oikonomikos, in dem er sich mit Haus- wirtschaft und Agrarwissenschaft beschäftigt, die Auffassung, die Verwendung roter Schminke sei

»Rot schützt sich selbst. Keine Farbe ist so territorial. Rot markiert ein Revier …«

Derek Jarman, Chroma

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Face Paint

unehrlich, weil sie das natürliche Aussehen der Frau verfälsche:

»Sollte ich«, so sagte ich, »in körperlicher Hin- sicht liebenswürdiger erscheinen, wenn ich dir meinen Körper gesund und stark zu zeigen bemüht wäre und daher ein gesundes Aussehen hätte, oder wenn ich mich mit Zinnober anmalte und die Augen mit Inkarnatsfarbe untermalte und so mich dir zeigen würde? Umarmte ich dich, so würde ich dich täuschen, denn ich böte dir nur Zinnober zu sehen und zu berühren statt meiner eigenen Haut.« 12

Da Frauen Bürgerrechte und Bildung verwehrt waren, ist es nur logisch, dass alle schriftlichen Doku- mente über das Schminken von Männern stammen. Interessanterweise hatten diese bemerkenswert viel dazu zu sagen. Wieder und wieder taucht es in Dich- tung, Prosa und in Briefen der griechischen Antike auf. Schminke wird detailliert beschrieben und wort- gewaltig gepriesen oder geschmäht. Allein das zeigt, wie umstritten das Thema damals war.

Vor allem aus den Schriften Xenophons können wir viel darüber erfahren, wie die Griechinnen der Antike sich schminkten. Der römische Dichter und Autor Ovid hinterließ später ähnliche Beschreibun- gen. Im Gegensatz zu Xenophon scheint er aber die Verwendung dekorativer Kosmetik gebilligt zu haben. Er betont zwar, dass Frauen vor allem tugendhaft zu sein hätten – vielleicht um sich moralisch unangreif- bar zu machen –, doch sein pharmakologisch-kosme- tisches Lehrgedicht Medicamina Faciei Femineae ent- hält zahlreiche Rezepte für Pflege-, Reinigungs- und Schminkprodukte. Im Vergleich zu den Rezepturen, die der römische Autor und Philosoph Plinius der Ältere publizierte und die Zutaten wie Mäusekot und Eulenhirn enthielten, fanden Ovids Rezepte wahr- scheinlich größeren Anklang. 13 Die Ratschläge, die er

im 1. Jahrhundert n. Chr. in seinem Lehrgedicht Ars Amatoria zu Beziehungsfragen formuliert hat, lesen sich bemerkenswert modern (fast wie ein Dating- Guide der Antike). Im dritten Band gibt er Frauen ausführliche Empfehlungen zu Zubereitung und Ver- wendung von Kosmetika und meint, sie sollten den Umgang mit »Karmin [kennen], um die rosige Haut zu bekommen, die die Natur dir verwehrt hat.« 14 Als Zutaten für rote Schminke nennt er auch Blütenblätter von Mohn und Rosen.

Obwohl Schminke auch in der römischen Antike nicht allgemein akzeptiert und zeitweise sogar ver- boten war, gehörte sie zum täglichen Leben, und die Produkte waren leicht erhältlich. Archäologen haben eine Vielzahl unterschiedlicher Gefäße mit kosme- tischen Zubereitungen gefunden. Manche bestan- den aus preiswerten Materialien wie Holz oder Glas, bei anderen handelte es sich um verzierte Behälter aus Edelmetallen, was darauf schließen lässt, dass Schminke kein Luxus war, sondern in reichen und armen Bevölkerungsschichten verwendet wurde.

Die große Zahl von Anekdoten und Abbildungen in Literatur, Kunst und Bildhauerei gibt gute Einbli- cke in das Alltagsleben und die gesellschaftliche Rolle der Frau im antiken Rom. Wie bei den Griechen war die Einstellung der Männer zu Make-up überwiegend negativ. Es wurde kritisiert und in Satiren lächerlich gemacht. Insofern ist verständlich, dass die römischen Frauen Lippen und Wangen nur dezent rötlich beton- ten. Sie verwendeten toxische Produkte wie Zinnober und Blei, aber auch weniger giftige Stoffe wie Rot- ocker, Farbstoff aus Flechten der Gattung Rocella , rote Kreide und Alkannawurzel.

Porträts aus dem späten 16. Jahrhundert lassen vermuten, dass modebewusste und adlige Frauen Rouge in Form eines auf die Spitze gestellten Dreiecks auf die Wangen auftrugen. Auf Gemälden wirken die Übergänge weich und fließend, in Wahr- heit dürfte das Make-up härter und greller ausgesehen haben.

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Rot

Aufgetragen wurde die Schminke meist in einem separaten Raum, zu dem Männer keinen Zutritt hat- ten. Reiche Frauen ließen sich von Sklavinnen, den cosmetae (Make-up-Artists der Antike), bei ihren Schönheitsritualen helfen.

Interessant ist, dass es im Lauf der Geschichte meist üblich war, rote Schminke nur zart oder mäßig zu verwenden. Die Phasen, in denen die Farbe groß- zügig und expressiv eingesetzt wurde, waren relativ kurz. Europa im 16. Jahrhundert beispielsweise stand unter dem Motto »mehr ist mehr«. Damals war Vene- dig Zentrum der Mode, in dem sich die Reichen und Schönen tummelten. Bälle und andere Festlichkeiten waren an der Tagesordnung, und die feine Gesell- schaft trug dickes Make-up vielleicht, um die Spuren der vorherigen durchfeierten Nacht zu verstecken. Als die in Florenz geborene Adlige Katharina von Medici 1547 König Heinrich II. von Frankreich heiratete und die Verwendung von Parfüm und Make-up bei Hofe einführte, breitete sich die italienische Mode nach Frankreich aus. Auch in England sparte der Adel in dieser Zeit nicht an roter Schminke, vielleicht weil er sich am Vorbild der Königin orientierte. Viele Porträts zeigen Elisabeth I. mit blass geschminkter Haut und roten Lippen und Wangen.

Mischungen mit Cochenille, Krappwurzel und Ocker wurden verwendet, aber auch toxischer Zin- nober (wie in der Antike). Alles, was die Frauen im elisabethanischen Zeitalter für ihr Make-up brauchten, trugen sie in »sweet coffers«, parfümierten Kassetten, bei sich: Bleiweiß (den unerlässlichen Puder für einen blassen Teint), Rouge und Schönheitspflästerchen. Als Kontrast zur vornehmen Blässe färbten die Damen bei Hofe Wangen und Lippen kräftig rot, sodass ihre Gesichter wie bemalt aussahen. Ein namenloser Sati- riker bemerkte: »Ein Maler braucht keinen Farbkasten. Es muss nur eine modebewusste Dame in der Nähe stehen, damit er sich bedienen kann.« Wie der Dich- ter John Donne es später formulierte, war es diese

Das Porträt von Boucher zeigt Madame de Pompadour bei der Toilette. Mit einem kleinen Pinsel trägt sie Rouge in ihrer bevorzugten Farbe auf, bekannt als Pompadour-Rosa. Dabei trägt sie einen Umhang, der ihr Kleid vor Puderspu- ren schützt. Kosmetik ist ein ausgesprochen seltenes Motiv in der Malerei.

Rot hat Jahrtausende über- dauert. Liegt es nur an der Biologie? Gerötete Wangen signalisieren sexuelle Erre- gung, Jugend, Gesundheit und Fruchtbarkeit.

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Wahrnehmung, die dem Betrachter nicht behagte: »Du liebst an ihrem Gesicht die Farbe. Doch ist es geschminkt, hasst du sie. Nicht weil es so ist nur weil du es weißt.« 15 Die Farbe, die Lippen und Wangen durch rote Schminke erhielten, entsprach dem Schön- heitsideal der Zeit und war durchaus schmeichelhaft. Männer wollten die Künstlichkeit aber nicht vor Augen geführt bekommen. Frühe christliche Autoren hatten eine Assoziation zwischen Schminke und Täuschung etabliert, die sich hartnäckig hielt. Der Heilige Cyprian hatte erklärt, mit dem Schminken und »Beflecken« der Wangen werde »durch die eigene Verderbtheit alle Wahrheit aus Gesicht und Kopf vertrieben.« 16 Die Vor- stellung, dass Make-up ein »falsches Gesicht« zeichne, bestand auch während der Renaissance und kommt in den Werken Shakespeares zum Ausdruck, beispiels- weise wenn Hamlet Ophelia scharf anfährt: »Ich weiß auch von euren Malereien Bescheid, recht gut. Gott hat euch ein Gesicht gegeben, und ihr macht euch ein andres.« Der dänische Essayist und Literaturkenner Georg Brandes kommentierte: »Wenn es etwas gab, dem Shakespeare mit einem Hass gegenüberstand, der der Sache nicht angemessen war dann ist es rote Schminke.« 17

Mit dem Ende des elisabethanischen Zeitalters wurde Make-up in England nur noch sehr dezent ver- wendet. Es gab kein königliches Vorbild mehr. Dass Rouge und Schminke später im 17. Jahrhundert sogar verpönt waren, lag am politischen Klima und am Puritanismus. 1650 wurde unter der Regierung von

Oliver Cromwell ein Antrag im Parlament eingereicht, der forderte, »eine Verordnung gegen das Laster des Schminkens, das Tragen von Schönheitspflastern und unanständige Frauenkleider [solle] am nächsten Freitagmorgen verlesen werden.« 18 Die Verordnung wurde einmal verlesen, dann aber fallen gelassen. Offensichtlich war Make-up in der englischen Gesell- schaft und Kultur so etabliert, dass es sich nicht unterdrücken ließ. Es herrschte Einigkeit darüber, dass Make-up offiziell inakzeptabel war, doch wenn es trotzdem getragen wurde, dann sollte es natürlich wirken. Dass die Verschönerung ihren Nutzen hatte, zeigen die Tagebücher des Londoners Samuel Pepys, in denen er von der Begegnung mit einer Frau berich- tet, die ihn versehentlich angespuckt hatte. »Nach- dem ich sah, dass die Dame sehr hübsch war, erboste mich der Vorfall nicht.« 19

Auf dem europäischen Kontinent wurde um die Mitte des 18. Jahrhunderts rote Schminke erneut groß- zügig verwendet. Porträts aus dieser Zeit zeigen das damalige Schönheitsideal: blasse Haut mit rosig ange- hauchten Wangen (ähnlich wie im 16. Jahrhundert) und markanten, dunklen Augenbrauen. Make-up war in Mode und diente als Statussymbol. Gerade Rot wurde in so auffälliger Weise getragen, dass Natür- lichkeit ganz sicher nicht angestrebt war. Vor allem in

Rot ist die älteste aller Schminkfarben. Sie löst unbewusste Reaktionen und starke, manchmal widerstreitende Gefühle aus.

»Rot ist die Farbe des Lebens, des Bluts. Ich liebe Rot.«

Coco Chanel

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Face Paint

Frankreich, das damals als Zentrum der Mode ganz Europa als Vorbild diente, gehörte das Schminken zum höfischen Putz. Die Damen des Adels ließen sich vor Publikum ankleiden und schminken. Dieses Ritual der toilette hatte allerdings mehr von einer Performance, denn die meiste Arbeit wurde vorher ohne Zuschauer erledigt (ähnlich wie heute bei Videos, die angeblich einen Blick hinter die Kulissen von Modeaufnahmen erlauben). Von Madame de Pompadour, der langjäh- rigen Mätresse König Ludwigs XV., gibt es berühmte Porträts mit deutlich geschminkten Wangen. Ihr Look war in der Gesellschaft so bekannt, dass der von ihr bevorzugte intensive Rosaton auch Pompadour-Rosa genannt wurde. Ein Porträt von François Boucher aus dem Jahr 1758 zeigt sie an ihrem Frisiertisch sitzend, wie sie mit einem kleinen Pinsel Rouge aus einem Döschen aufträgt. Ein sehr ungewöhnliches Motiv. Es gibt nur wenige Gemälde, auf denen Frauen bei der Verwendung kosmetischer Artikel dargestellt sind.

Wie Künstlerfarben gab es auch Rouge in vielen zarten (und weniger zarten) Nuancen, und es wurde nicht weniger kunstvoll eingesetzt. In den 1877 veröf- fentlichten Aufzeichnungen des schwedischen Aris- tokraten Graf Axel von Fersen (1755–1810) beschreibt dieser, wie er eine Dame des französischen Adels beim Schminken beobachtete. Er berichtet, sie habe sechs Döschen mit roter Farbe verwendet sowie ein weiteres, dessen Inhalt eher schwarz als rot aussah. Wie es Morag Martin in Selling Beauty dar- stellt, erkannte der Graf, »dass es ›das schönste Rot enthielt, das man sich vorstellen konnte‹. Auf diese erste Schicht trug sie dann jeweils zwei Rottöne aus den anderen Gefäßen auf.« 20 Zu dieser Zeit benutz- ten auch adlige Männer und Kinder, vorwiegend bei Hofe, Rouge. Um 1780 konnte man Rouge in Frank- reich in Parfümerien kaufen, und wer es sich leisten konnte, schminkte Wangen und Lippen. In der Mittel- schicht wurde Make-up aber sparsamer und dezen- ter verwendet als in Adelskreisen. Glaubt man den

französischen Literaten Edmond und Jules de Gon- court, dann war »das Rouge einer ehrbaren Dame weder das Rouge des Hofs noch das einer Kurtisane, sondern nur eine Andeutung, ein kaum wahrnehm- barer Hauch.« 21

In England wurde Make-up zwar verwendet, galt aber immer noch als künstlich und trügerisch. Die exzessive Schminkkultur Frankreichs erregte Miss- billigung. Englische und amerikanische Frauenpor- träts aus dem 18. Jahrhundert lassen darauf schlie- ßen, dass in beiden Ländern ein schlichterer Stil bevorzugt wurde als in Frankreich. In einem amü- santen Brief aus Paris führte Horace Walpole 1775 die verschiedenen Sichtweisen zusammen: »In der Oper erkannte ich gestern eine Engländerin daran, dass sie üppige Federn, aber kein Rouge trug. Sie sah aus wie eine kränkelnde Hure – so raffiniert tra- gen unsere Landsmänninnen ihre Tugendhaftigkeit zur Schau.« 22 Nach der Französischen Revolution glich sich der Unterschied zwischen den Ländern an, und es wurde allgemein ein natürlicheres Make-up bevorzugt. Dennoch trugen Frauen weiterhin Rouge, zumal das Angebot sich verbesserte und die Aus- wahl stetig größer wurde.

Als die Gefahren von Blei und Quecksilbersulfid bekannter wurden, stieg die Nachfrage nach pflanz- lichen Produkten. Besonders beliebt war Spanische Wolle, die es schon seit dem 17. Jahrhundert gab. Dabei handelte es sich um kleine Wollpads oder Lei- nenstückchen von etwa 4 × 4 cm Größe, die mit Farbe getränkt waren. Man feuchtete sie an und betupfte dann Lippen und Wangen, um sie zu tönen. Beliebt war auch Spanisches Papier, kleine Blöcke aus mit Pigmenten eingefärbtem Papier, die man bequem bei sich tragen konnte. Außerdem wurde Rouge in kleinen Tiegeln, Glasflaschen und Näpfchen angebo- ten. Je nach Konsistenz trug man es mit den Fingern, einem Kamelhaarpinsel, einer Hasenpfote oder einer Puderquaste auf.

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Rot

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts änderte sich die Einstellung zu Make-up und insbesondere zum Rouge nochmals. Königin Viktoria erklärte Make-up für vul- gär, und so bevorzugte man einen tugendhaft-blas- sen Look. Bemalte Gesichter waren dermaßen ver- pönt, dass Frauen sich in die Wangen kniffen oder auf die Lippen bissen, um eine Rötung hervorzurufen, oder extrem dezentes Make-up trugen. Blasse, unge- schminkte Haut und üppige Haare galten als ladylike. Rot geschminkte Lippen und Wangen gehörten nach Sicht der damaligen Zeit ins Theater oder kennzeich- neten Frauen mit fragwürdiger Moral. Gleichzeitig hatte sich bis 1850 die französische Kosmetikindustrie zu einer bedeutenden Branche entwickelt, und das Angebot kommerzieller Produkte wuchs rasant. Um die Jahrhundertwende konnte man Rouge bereits in Dutzenden von Farbtönen und Konsistenzen kaufen.

Gegen Ende des viktorianischen Zeitalters fand das Tragen von Rouge allmählich auch in England wieder mehr Akzeptanz. Ein Grund dafür mag sein, dass Viktorias Sohn, der spätere König Eduard VII., mit berühmten Bühnenschauspielerinnen wie Lillie Langtry und Sarah Bernhardt befreundet war. Der

Parodist Max Beerbohm schrieb in dem Essay »A Defence of Cosmetics« (1896), später umbenannt in »The Pervasion of Rouge«:

Schaut an! Das viktorianische Zeitalter neigt sich dem Ende zu. Vorbei sind die Zeiten der sancta simplicitas wir sind reif für eine neue Epoche der Kunstgriffe. Schon schütteln die Männer den Würfelbecher, schon tunken die Frauen ihre Finger ins Rouge-Döschen Nie- mand tadelt mehr eine Dame von Welt, wenn sie, um der Unerbittlichkeit der Zeit zu ent- kommen, Zuflucht am Schminktisch sucht; und wenn ein Fräulein sich vor dem Spiegel mit Pinsel und Farbe ein wenig hübscher macht, so sind wir nicht böse. Warum hätten wir es je sein sollen? 23

Trotz des satirischen Tons brachte Beerbohm die Meinung des Volks auf den Punkt, und seine Worte bewahrheiteten sich: Mit dem Übergang in die edwardianische Zeit ließ die Ablehnung gegenüber dekorativer Kosmetik nach.

»Was Rot für die Seele tun kann, kann es auch für das Gesicht tun.«

Sophia Loren, Das Geheimnis meiner Schönheit