Vorwort des Herausgebers

Wer nur Anne Franks Tagebuch kennt, kennt zu wenig. Zwischen ihrem 13. und 15. Lebensjahr schrieb das Mädchen im Versteck im ›Hinterhaus‹ zahlreiche Kurzgeschichten und notierte in literarischer Form Beobachtungen aus dem täglichen Leben. Dieses belletristische Werk Anne Franks ist für ein Mädchen dieses Alters unglaublich professionell. Alle Geschichten Annes haben einen geplanten Handlungsbogen, verfolgen einen ›Plot‹ und kommen, je nachdem, zu einem tragischen oder fröhlichen Ende, nicht selten verknüpft mit einer Überraschung oder einem Aha-Erlebnis. Und nicht zuletzt scheint bei allen Geschichten Annes große, tief anrührende Sensibilität durch, ihre Sehnsüchte und ihre Erwartungen ans Leben.

Hätte Anne Frank die Nazizeit überlebt, wäre wahrscheinlich eine große Schriftstellerin aus ihr geworden. In ihrem Tagebucheintrag vom 5. April 1944 schreibt sie: »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod. Und darum bin ich Gott so dankbar, dass er mir mit meiner Geburt schon einen Weg mitgegeben hat, mich zu entwickeln und zu schreiben, also alles auszudrücken, was in mir ist. Durch Schreiben werde ich alles los. Mein Kummer vergeht, mein Mut kommt zurück.«

Leider war es Anne nicht vergönnt, ihren Weg als Schriftstellerin durchs Leben zu gehen. Aber dieser Satz: »Ich will fortleben, auch nach meinem Tod« – er hätte sich nicht eindrucksvoller bewahrheiten können.

Anne Franks Tagebuch und ihre ›Erzählungen aus dem Hinterhaus‹ gelten heute als bedeutendste schriftliche Zeugnisse aus der Zeit der Nazi-Diktatur.

Die Zeit im ›Hinterhaus‹, im Versteck der dort verborgenen Juden, dauerte von 6. Juli 1942 bis zum 4. August 1944 – etwas mehr als zwei Jahre. Anne schrieb hier ihr berühmtes Tagebuch, und auf losen Blättern belletristische Kurzgeschichten und Textentwürfe, die nach der Verhaftung der Versteckten von einer früheren Mitarbeiterin1 von Annes Vater Otto Frank im Hinterhaus aufgesammelt und verwahrt wurden.

Das hier vorliegende Buch bzw. eBook enthält nicht Anne Franks Tagebuch und die von ihr ›erweiterten‹ Tagebucheinträge, die an anderer Stelle erschienen sind, sondern ihr belletristisches Werk.

 

Die Verhaftung

Es war ein schwüler Sommermorgen, am 4. August 1944, und das Leben im Hinterhaus schien auch an diesem Tag seinen gewohnten Lauf zu nehmen – als vormittags gegen halb elf ein Auto vor dem Haus Prinsengracht 263 stoppte. Aus dem Wagen sprangen ein SS-Mann2 und eine Handvoll bewaffneter Helfer. Sie schienen die Lage des Verstecks zu kennen, denn zielsicher schlugen sie die richtige Richtung ein, durchbrachen den Wandschrank, der die nach oben führende Treppe verbarg, gelangten in die Wohnräume der Untergetauchten und nahmen alle acht Versteckten3 fest. Ebenso die beiden Helfer Victor Kugler und Johannes Kleiman.

Die Nazis gingen gnadenlos mit den verhafteten Juden um. Mit dem letzten Transport, der von Amsterdam in die Vernichtungslager des Ostens fuhr, brachte man sie am 3. September 1944 nach Auschwitz, einige wurden danach in andere Konzentrationslager verteilt.

Annes Mutter Edith Frank starb am 6. Januar 1945 im Frauenlager Auschwitz-Birkenau an Hunger und Erschöpfung. Anne und ihre Schwester Margot wurden Ende Oktober 1944 ins KZ Bergen-Belsen in der Lüneburger Heide gebracht. Dort herrschten entsetzliche hygienische Zustände, und im Winter 1944/45 brach eine Typhusepidemie aus. Viele Tausende Häftlinge fanden den Tod. Völlig erschöpft, ausgehungert und krank starb Anne hier einige Tage nach ihrer Schwester Margot. Das vermutete Todesdatum der beiden Mädchen liegt zwischen Ende Februar und Anfang März 1945. Nur rund einen Monat später, am 12. April 1945, erreichten englische Truppen das Lager und befreiten die letzten Überlebenden.

Als Einziger der acht im ›Hinterhaus‹ Versteckten überlebte Annes Vater Otto Frank. Über viele Umwege traf er im Juni 1945 wieder in Amsterdam ein und ging zu seiner alten Firma in der Prinsengracht 263, in deren Hinterhaus das Versteck gewesen war. Hier traf er auf seine frühere Assistentin Miep Gies4, die ihm Annes Tagebuch und die anderen Schriften übergab. Sie hatte, als die Nazis nach der Verhaftung der Juden das Haus wieder verlassen hatten, die überall am Boden verstreuten Blätter mit Annes Aufzeichnungen aufgesammelt und sorgfältig verwahrt.

© Edition Metis, 2016