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Für meinen Sohn

Drei Hallelujas

 

Irgendetwas läuft hier schief. Pfarrer Manske schwankt hinter seinem Rednerpult beunruhigend hin und her. Gefährlich sieht das aus. Währenddessen singt der Chor das Halleluja nun schon zum zweiten Mal. Unter meinem weißen Hochzeitskleid zieht sich mein Magen spürbar zusammen. Warum leuchtet die Nase des Pfarrers so verdächtig dunkelrot? Hat er etwa vorab schon mal vom Kirchenwein probiert? Einen Grund, das Glas zu heben, hätte er. Schließlich ist heute sein letzter Arbeitstag, mit unserer Trauung geht er quasi in Rente.

Kurz bevor Pfarrer Manske ganz sein Gleichgewicht verliert, hält er sich gerade noch rechtzeitig am Rednerpult fest. Dabei lächelt er uns freundlich zu und lehnt sich nach vorn Richtung Mikrofon. Dieses gibt ein krächzendes Geräusch von sich. Alle Gäste in der Kirche zucken zusammen.

»Liebes Brautpaar, Claudia und … Raoul!«

Meine Trauzeugin Julia fängt hinter vorgehaltener Hand an zu glucksen.

»Ick freu mir, dass ick bei euch heute bin mit all euren lieben Jästen, von nah und fern. Dit is ja dit erste Mal, dit ick so ne bunte Müschung von Leuten aus der janzen Welt hier sehe.«

Mein Bräutigam dreht sich um und strahlt seine Familie an. Sechzig Hände winken begeistert zurück. Meine Verwandten halten hingegen brav und fromm die Hände im Schoß gefaltet. Bei unseren Gästen trifft Schwäbische Alb auf Wüste. Spätzle auf Hummus. »Schaffe, schaffe, Häusle baue!« auf »Alles langsam, alles gut!«.

»Wo wir Menschen merken«, berlinert Pfarrer Manske weiter, »wir alle sind gleich, ejal ob wa ne andre Sprache sprechen, ne andre soziale Bindung haben. Wir ham alle nur eene Nase, die gleiche Nase. Eenen Mund, Ohrn …«

Ich stöhne innerlich auf. Worauf will er mit seiner Hochzeitsrede hinaus?

»… und – so hoffe ick – een warmet, mitfühlendet Herz. Für euren jemeinsamen Lebensweech, liebet Brautpaar, Claudia und … Paoul!«

Jetzt kann Julia sich nicht mehr zurückhalten, ihr Lachen ist deutlich zu hören. Wäre ich nicht die Braut, würde ich mitgackern, doch noch versuche ich, irgendwie Contenance zu bewahren. Man könnte meinen, ich heirate heute drei unterschiedliche Männer, dabei hatte ich mich doch eigentlich nur für den einen entschieden. Nämlich für meinen Shaul. Dieser Name scheint dem Pfarrer allerdings völlig entglitten zu sein.

»… isses wichtig, tolerant zu sein. Den anderen anzunehmen, och mit seinem Anderssein. Vielleicht och mit seinen Macken.«

Mein Bräutigam Shaul zwinkert mir zu, dreht sich zu unseren Hochzeitsgästen und macht eine demonstrative Kopfbewegung in meine Richtung. Ein Lachen geht durch die Kirchenbänke. Ich verziehe das Gesicht. Was soll das denn? Ich habe keine Macken, bitte schön. Im Gegenteil, ich bin ganz pflegeleicht. Und überhaupt sind wir hier nicht beim Komödiantenstadl, sondern auf einer Hochzeit. Bin ich die einzige hier, die diese Zeremonie ernst nimmt?

»Aber zur echten Liebe jehört eben dieses Anderssein. Und wir alle, die wa hier leben, wissen, wat Intoleranz bedeutet. Wo man in Deutschland jesacht hat, es jibt Menschen, die nichts wert sind.«

Die Stirnfalte zwischen meinen Augenbrauen wird dicker und dicker. Ich werde auf den Hochzeitsfotos bestimmt ganz entzückend aussehen.

»Russen, Juden, Afrikaner – Juden … ja, Juden … Nur die Deutschen sind wat wert! Eene furchtbare Ideologie und die Intoleranz ham dazu jeführt, dass Millionen Menschen ermordet wurden und ihr Leben lassen mussten.«

Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Was hat der Holocaust an unserem Hochzeitstag zu suchen? Heute ist definitiv nicht der passende Moment, um unsere Familien daran zu erinnern!

Es ist auf einmal beunruhigend still in der Kirche. Pfarrer Manske scheint den Faden verloren zu haben. Ich drehe mich um. Merken die Hochzeitsgäste auch, was hier gerade vor sich geht? Ich schaue zu meinen Trauzeuginnen, sieben an der Zahl – meine engsten Freundinnen. Wunderschön sehen sie aus. Meine Schwägerin Merav wirft mir eine Kusshand zu. Auf der anderen Seite sind Shauls Trauzeugen – auch seine besten Freunde, auch sieben … Halt! Da sitzen nur sechs! Ich schaue noch mal hin. Das kann nicht sein, wer fehlt denn? Ron. Mein Magen zieht sich noch mehr zusammen. Er ist tatsächlich nicht da. Er ist den ganzen Weg aus Israel angereist, um letzten Endes doch nicht zu unserer Hochzeit zu kommen.

»Ja, jenau …« Pfarrer Manske streicht sich über seine Glatze. Da scheint ihm wieder einzufallen, worauf er hinauswollte: »Jenau! Wir aber sprechen jetze nicht von Intoleranz, sondern über Toleranz und über menschliche Wärme und mir alle wünschen euch von janzem Herzen, dass ihr beede glücklich werdet. So sejne euch Gott, der eene Gott, nicht der Gott de Christen, sondern unser jemeinsamer Gott – der über uns allen steht.«

Ich atme erleichtert auf. Der Pfarrer hat noch mal die Kurve gekriegt, oder? Ich streichle über Shauls Hand. Er drückt meine ganz fest. Wir lächeln uns verliebt an.

Langsam und vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzend, geht Pfarrer Manske nun von seinem Rednerpult hinüber Richtung Altar. Dort angekommen, breitet er bedächtig seine Arme weit aus und schließt dabei die Augen. Der Pfarrer holt tief Luft und ruft mit bedeutungsvoller Stimme: »Wir beten für dit Brautpaar, dass se och in schweren Zeiten füreinander da sind. Wir beten, dass se viele Kinder kriejen und jute Eltern sein werden. Wir beten für Frieden inner Welt, Frieden unter den Menschen, unter den Völkern. Und wir beten für all die im Holocaust ermordeten Familienmitglieder von … Raoul!«

Das Lächeln auf meinem Gesicht friert ein. Das darf nicht wahr sein! Wir haben den Holocaust nicht zu unserer Hochzeit eingeladen – und der Pfarrer hält ihm schön weit die Tür auf. Ich möchte am liebsten vor Scham im Kirchenboden versinken …

Shaul scheint jedoch von all dem nichts mitzubekommen. Er dreht sich noch einmal zu seiner Familie um und winkt ihnen freudig entgegen. Wieder winken sechzig Hände ganz lebhaft zurück.

Ich bin heilfroh, dass Shauls Familie kein Deutsch versteht, um den Worten des Pfarrers folgen zu können. Das alles hier ist für sie sowieso schon aufregend genug. Bei dem Gedanken, dass Shaul als jüdischer Israeli in einer katholischen Kirche und dazu noch in Deutschland heiratet, mussten einige Familienmitglieder und Freunde schon schwer schlucken. Und um heute hier dabeizusein, traten viele von ihnen sogar die erste Reise nach Deutschland überhaupt an. Dass sie das für uns getan haben, macht uns beide sehr glücklich.

Pfarrer Manske scheint derweil als einziger tief im Gebet versunken zu sein. Die Arme hält er immer noch weit von sich gestreckt. Irgendwie hatte ich mir diese Trauung anders vorgestellt. Doch die Unruhe in der Kirche spiegelt ein Stück weit auch das wider, was in diesen Wochen jenseits des katholischen Gemäuers geschieht. Wir schreiben den Sommer 2014 und im Nahen Osten tobt der Gaza-Krieg. Auch Europa tobt: Wuppertal, Paris, Bremen, Bischofshofen. In Berlin wird siebzig Jahre nach dem Holocaust besonders heftig gegen Juden gehetzt. Bei einer pro-palästinensischen Demonstration skandiert ein Mob: »Jude, Jude, feiges Schwein! Komm heraus und kämpf allein!« Es kommt zu Ausschreitungen, Juden werden angegriffen und beleidigt.

Inmitten dessen feiern wir eine deutsch-israelische Hochzeit. Katholisch und jüdisch am gleichen Tag. Und das im ­Wedding – einem Berliner Kiez mit einem hohen Anteil an palästinensischen und arabischen Mitbürgern. Es sind in diesem Sommer ein paar neue Graffiti auf den Häusern dazugekommen: »Free Gaza« und »Fuck Israel«. Ich hoffe, Shauls Familie wird auf dem Weg von der Kirche im Prenzlauer Berg zu der Location, in der wir feiern, nicht so genau die Weddinger Mauerwände betrachten …

Plötzlich öffnet Pfarrer Manske die Augen, lässt seine Arme fallen und torkelt dann in einem irren Tempo nach vorn direkt auf uns zu. Im letzten Moment, einen Schritt vor der Stufenkante, bleibt er abrupt stehen und flüstert so laut, dass es auch in der letzten Kirchenbank zu hören ist: »Frau Schwartz, jetzt müssen Se uffstehen.« Ich hieve mich in meinem pompösen Brautkleid nach oben. Meine Schwägerin und Julia springen an meine Seite, um die Schleppe zu richten. Der Pfarrer fasst sich an den Kopf: »Ähm, nee … noch nich. Bitte, setzen Se sich noch mal hin.« Ich gebe mein Bestes, um nicht die Augen zu verdrehen. An meinem Hochzeitstag wird meine Geduld auf die größte Probe gestellt. Testet mich da Gott höchstpersönlich?

Julia und meine Schwägerin lassen sich auch nichts anmerken, als sie mir mit dem Kleid noch mal beim Hinsetzen helfen. Graziös schweben sie zurück zu ihren Plätzen in der ersten Reihe – als wäre nichts geschehen. Da schaut Pfarrer Manske mich mit entsetzten Augen an: »Dit Halleluja! Jetzt kommt dit Halleluja! Frau Schwartz, Se müssen uffstehen!«

»Ich bleibe sitzen«, knurre ich durch geschlossene Zähne. Hatten wir nicht gestern erst den ganzen Ablauf geprobt? Der Pfarrer bringt hier tatsächlich die ganze Trauung durcheinander.

Er fuchtelt mit seinen Armen dem Chor zu: »Bitte! Dit Halleluja.«

Der Chorleiter steht irritiert von seinem Platz auf. Einer der Sänger flüstert hörbar verzweifelt: »Aber wir haben doch schon zweimal das Halleluja gesungen …«

Pfarrer Manske ist nicht aufzuhalten. Dem Chor bleibt nichts anderes übrig und er stimmt mit kräftigen Stimmen das Halleluja an. Zum dritten Mal.

Aber vielleicht braucht so eine Beziehung wie die unsere drei Hallelujas?

Wenn das nicht Flirten ist …

 

»Hast du noch ein Taschentuch?«, frage ich schluchzend meine israelische Freundin Sharon. Ich sitze heulend an ihrem Küchentisch. Sharon holt eine neue Kleenex-Box, die alte ist leer. So leer, wie es in mir drin aussieht, denke ich. Die Tränen laufen weiter über mein Gesicht. Ich versinke in Selbstmitleid.

»Claudia, du brauchst einen Mann. Einen guten Mann«, ruft Sharon aus dem Flur. »Und ich habe genau den richtigen Mann für dich!«

»Von Männern habe ich jetzt erst mal die Nase gestrichen voll«, rufe ich mit jammeriger Stimme zurück. Dabei ziehe ich wütend ein weiteres Tuch aus der Box.

Heute morgen wurde ich von einer SMS meines englischen Lovers geweckt. Mit knappen Worten beendete er unsere scheinbar vielversprechende Romanze: Ich als Berlinerin sei einfach zu weit weg und seine hübsche Exfreundin viel zu nah.

Seit ein paar Jahren schon scheinen das männliche Geschlecht und ich kein Glück miteinander zu haben. Einen Trottel nach dem anderen habe ich an Land gezogen.

Am Ende blieb nur mein zerbrochenes Herz übrig. Und eine große Einsamkeit.

Ich schnäuze mir die Nase. Vor meinem inneren Auge sehe ich mich als alte Jungfer in die ewigen Jagdgründe eingehen. Doch lieber das, als meine Lebenszeit mit irgendwelchen Idioten zu vergeuden! Ja, genau, von Männern werde ich erst mal die Finger lassen! Ich werfe resigniert einen ganzen Berg verrotzter Taschentücher in den Abfalleimer.

Mit entschlossenen Schritten kommt Sharon zurück in die Küche und baut ihren Laptop vor meinem verheulten Gesicht auf. Durch den Tränennebel sehe ich alles ganz verschwommen. Sharon öffnet eine Facebook-Seite und klickt auf ein Bild.

»Claudia, schau mal, hier!« Ich wische mir über die Augen. Sharon zeigt auf das Foto eines dunkelhaarigen Mannes, der einen Taktstock in der Hand hält. »Das ist Shaul. Ein toller Typ!«

»Hmm …«, murmle ich.

»Wie gefällt er dir?«, fragt Sharon ermutigend.

»Ganz nett«, gebe ich zu.

»Guck ruhig genauer hin.« Sharon stemmt die Hände in die Hüften. »Claudia, du sollst genauer hingucken!«

»Tue ich doch!«

»Tust du nicht!« Sharon klickt noch mal auf dem Touchpad rum. »Jetzt, dieses Bild zum Beispiel, schau!«

Ich sehe einen Mann, der bei einem Konzert auf dem Kontrabass spielt. Neugierig lehne ich mich nach vorn, um den Bildschirm besser sehen zu können. Schöne Augen hat er. Tiefe, warme Augen.

»Und?« Sharon fixiert mich.

»Ja, der sieht ganz nett aus …«, brumme ich und lehne mich dann mit verschränkten Armen zurück.

»Und weiter?« Sharon bleibt hartnäckig.

»Was, und weiter? Ja. Nee. Du willst doch nur dieses Schi… Schi… Schibuch …«

»Schi-duch. Es heißt Schi-duch«, korrigiert mich Sharon.

»Ja, genau: Schiduch machen. Das kannst du gleich vergessen. Kommt nicht infrage! Verkuppeln, so ein Quatsch!« Ich tippe mir entrüstet gegen die Stirn.

Sharon lächelt mich nachsichtig an. Ich schaue noch mal schnell auf das Bild. Diese Augen …

Mit einer zackigen Bewegung klappe ich den Laptop zu. »Ja, ganz nett. Aber nein, danke! Ich habe kein Interesse!«

Sharon zieht eine Schnute und trägt enttäuscht ihren Computer aus dem Zimmer.

Ein halbes Jahr später produzieren Sharon und ich eine One-Woman-Show für ein Theater in Berlin. Sharon führt Regie und ich spiele. Wir sind auf der Suche nach einem Komponisten, der mich auch auf der Bühne musikalisch begleiten kann. Gemeinsam sitzen wir in einem Café in Neukölln und besprechen, wer infrage käme. Sharon macht einen neuen Vorschlag: »Ich kenne da jemanden aus Israel«, sagt sie. »Ein toller Komponist und Musiker, spielt Mandoline und Kontrabass – er heißt Shaul.«

Ich runzle die Stirn. Den Namen habe ich doch irgendwo schon mal gehört. So langsam dämmert’s mir. »Shaul? Aaah, der schon wieder«, stöhne ich auf. »Sharon, bitte! Kannst du das mal mit dem Schi… Schi… – wie heißt das noch mal?«

»Schi-duch. Es heißt Schi-duch«, sagt Sharon und unterstreicht mit ihren Händen die Betonung.

»Genau. Schiduch. Kannst du das bitte sein lassen? Es nervt wirklich! Und Mandoline und Kontrabass, was sind das bitte schön für Instrumente! Die passen doch überhaupt nicht zum Stück! Komm, nehmen wir Wolfgang: Der spielt Klavier. Und er ist schwul«, erwidere ich sichtlich gereizt.

Sharon holt ihr Handy aus der Tasche, tippt darauf herum und hält es sich gegen das Ohr. Wen ruft sie da jetzt an? Wolfgang etwa? »Claudia, Shaul ist ein großartiger Künstler. Er ist der beste Mann für den Job. Wenn er zusagt, dann ist das ein großer Glücksfall für uns.«

Sie ist die Regisseurin und hat das letzte Wort.

Zwei Monate später stehe ich tatsächlich vor Shauls Haustür in Berlin-Mitte und klingle.

Mit einer schnellen Bewegung öffnet ein dunkelhaariger Mann die Tür. Er lächelt mich freundlich an. »Hallo, Claudia, komm doch herein.«

Etwas schüchtern folge ich ihm ins Wohnzimmer und nehme auf seinem blauen Sofa Platz. Wir begegnen uns heute zum ersten Mal, um über die Inszenierung zu sprechen. Ein Arbeitstreffen. Ohne große Umschweife kommen wir auch gleich zur Sache: In dem Stück geht es um eine junge Frau, die durch das Singen einer Arie Selbstmord begehen möchte. Die Arie ist bekannt dafür, dass sie so geballt mit Liebe ist, dass sie das Herz der Person, die sie singt, zum Stillstand bringen kann. Doch statt sie in den Tod zu treiben, schenkt die Arie der jungen Frau ein neues Leben. Shaul und ich haben nun die Aufgabe, diese kraftvolle und gleichzeitig tödliche Arie der Liebe zu kreieren. Ich soll den Liedtext schreiben und Shaul die Musik dazu – und er soll sie gemeinsam mit mir einstudieren.

Shauls Stimme ist ganz sanft, sein Akzent ist unge­wöhnlich – irgendetwas zwischen Französisch, Italienisch und Deutsch. Er macht sofort den Eindruck, ein angenehmer Zeitgenosse zu sein. Ein sehr angenehmer Zeitgenosse.

Bei der Besprechung lernen wir uns näher kennen. Shauls Verhalten erinnert mich irgendwie an mich selbst. Bei allem, was ich sage, hakt er immer wieder nach, weil er alles bis ins kleinste Detail wissen möchte. Dabei wirkt er sehr ernst und gewissenhaft und dennoch hat er etwas Komisches an sich, das mich immer wieder zum Schmunzeln bringt. Diese Ähnlichkeit zu mir irritiert mich. Ich habe fast das Gefühl, ich rede mit meinem Spiegelbild.

Irgendwann ertappe ich mich dabei, dass ich Shaul nur noch anschaue und ihm zuhöre, ohne den Inhalt zu verstehen – wie ich seinen Gesten und Bewegungen folge und mein Kopf sich dabei ausschaltet. Hallo, was passiert hier mit mir?

»Ich kann dir einen Cappuccino machen«, unterbricht er sich selbst in seinem Redefluss. »Und möchtest du ein Stück von meinem selbst gebackenen Käsekuchen probieren?« Da bin ich doch gleich wieder ganz da und sage nicht Nein. Der Kuchen schmeckt wirklich lecker und der Cappuccino ist der beste, den ich jemals getrunken habe. Ein musikalischer Leiter, der auch noch leckeres Essen komponieren kann. Das gefällt mir.

»Wow, was hast du denn für eine Kaffeemaschine?«, frage ich Shaul beeindruckt. »Der Kaffee ist köstlich!« Ich schaue ihn etwas länger an als gewöhnlich. Mit diesem Mann werde ich gut zusammenarbeiten, denke ich. Und als hätte er das gehört, lächelt er mich auf einmal von der Seite an. In meinem Bauch wird es ganz heiß. Unangenehm heiß. Ich zapple nervös auf dem blauen Sofa hin und her. Ein kleiner Schwall Cappuccino tropft auf meine Hose. Shauls Lächeln wird breiter. »Ich glaube, das war’s«, sage ich und stelle abrupt die Tasse ab. »Oder gibt es noch mehr zu besprechen?« Ich schaue auf die Uhr. »O Mann, so spät ist es schon. Ich muss jetzt ganz dringend los!« Wie stelle ich mich denn hier gerade an? Es ist höchste Zeit für mich zu gehen, bevor ich mich noch total zum Affen mache. Arbeitsbesprechung hin oder her. Die Augen dieses Mannes bringen mich einfach total aus der Fassung.

»Über eine Sache müssen wir noch reden«, sagt Shaul da und setzt sich neben mich auf die Couch.

»J-j-ja? Über w-w-was denn?« Jetzt fange ich auch noch an zu stottern. Wie peinlich.

Shaul grinst mich an. »Warum bist du so nervös?«

Kaum bin ich aus der Tür raus und auf dem Weg zur U8 an der Bernauer Straße, rufe ich Sharon an und jammere wie ein aufgescheuchtes Huhn: »Sharon, das geht nicht mit diesem Shaul! Wir brauchen Wolfgang. Bitte!«

»Jetzt mal ganz mit der Ruhe, Claudia. Was ist denn los?«

»Das geht nicht mit dem. Das spüre ich jetzt schon. Wirklich, bitte!« Ich höre mich an wie ein kleines, nörgelndes Kind.

»Was ist denn passiert?«

Ich muss schlucken. »Ich glaube, der flirtet mit mir.«

Sharon bekommt am anderen Ende der Leitung einen lauten Lachanfall. Ich halte mein Handy einen halben Meter von meinem Ohr weg. »Claudia, er ist Israeli! Wir sind einfach lockerer als ihr Deutschen. Nimm’s nicht so ernst! Warum bringt er dich so aus dem Konzept?«

Ja, wenn ich das nur selbst wüsste.

Eine Woche später ist unsere erste Musikprobe. Diesmal sitze ich nicht auf Shauls blauem Sofa, sondern stehe neben seinem Klavier. Ich bin von Kopf bis Fuß angespannt. Schuld sind die Arie und Shauls schöne, dunkle Augen. Ich gebe mein Bestes, um die hohen Töne zu treffen. Doch es hört sich eher so an, als würde man Singvögel abknallen, die dann vom Himmel stürzen. Ich schüttle frustriert den Kopf. Shaul ist sehr geduldig. Dennoch bleiben mir die Töne im Hals stecken. Schließlich steht Shaul von seinem Klavierstuhl auf, holt einen weiteren Hocker und stellt ihn neben seinen. O Gott, jetzt nimmt er auch noch meine Hand!

»Komm, Claudia, setz dich für einen Moment neben mich«, sagt er.

Ich hocke neben ihm wie ein Häufchen Elend. Nur nicht in seine Augen gucken, denke ich – dann ist alles okay. Warum hält er meine Hand immer noch fest? Ich fange an zu schwitzen. Hoffentlich lässt er meine Hand gleich los.

»Claudia, es ist alles in Ordnung«, sagt er. »Du hast eine schöne Stimme, ein sehr gutes Gehör und du bist ein Mezzo­sopran – nur glaubst du es selbst noch nicht. Deine Angst vor den hohen Tönen hält dich zurück.«

Ich schaue auf den Boden und nicke. Shaul scheint mich zu lesen wie ein offenes Buch.

»Wovor genau hast du Angst?«

»Weiß ich nicht.«

»Du bist sehr angespannt.«

»Ich weiß.«

»Zum Singen musst du locker sein.«

»Ich weiß. Bin ich aber gerade nicht.«

»Komm, dreh dich um, ich massiere dich.«

Ich bekomme einen Hustenanfall. Habe ich da richtig gehört? Er will mich massieren?

Shaul bringt mir schnell ein Glas Wasser. Ich nehme einen tiefen Schluck. Dann klopft er mir auf den Rücken.

»Danke.« Ich schaue ihn an. »Es geht schon wieder.«

Sein Klopfen wird zu einem Streichen auf meinem Rücken. »Darf ich?«, fragt er. Ich nicke. Er fängt an, meinen Nacken zu massieren. »Du bist tatsächlich sehr verspannt.«

»Ich w-w-weiß. Aua!«

»Du musst beim Atmen loslassen.«

»W-w-weiß ich doch!«

Shauls Hände massieren tiefer. Vom Nacken zu meinen Schulterblättern. Als seine Finger meinen BH-Verschluss berühren, hält er erschrocken inne. Dann prusten wir beide vor Lachen los.

»Das war sehr unprofessionell«, rügt mich Sharon. Als ich ihr später von der ersten Musikprobe erzähle, ist sie so gar nicht begeistert. »Claudia, du bist keine 13 mehr. Reiß dich zusammen. In acht Wochen haben wir Premiere!« Warum ist sie auf einmal so streng? Hat sie Angst um das Stück? Sharon, es gibt in meinem Leben doch gerade nichts Wichtigeres als die Premiere.

Ein paar Tage später spüre ich ein Kratzen im Hals und es fühlt sich an, als ob Elefanten in meinem Kopf Samba tanzen: Mein Schädel dröhnt vor Schmerz. Ich schreibe Shaul eine SMS, um die heutige Musikprobe abzusagen. Daraufhin antwortet er: »Das tut mir leid zu hören. Soll ich bei dir vorbeikommen und eine Suppe für dich kochen?«

Das geht jetzt eindeutig zu weit. Ich rufe Sharon an. »Nun, glaubst du mir jetzt, dass er mit mir flirtet? Er hat geschrieben, dass er bei mir vorbeikommen und eine Suppe für mich kochen kann!«

Sharon stöhnt auf. »Claudia?«

»Ja?«

»Das ist bei uns so.«

»Was ist bei euch so?«

»Na, bei uns Israelis. Wenn jemand krank ist, kochen wir ihm eine Suppe.«

»Aber wir kennen uns doch noch gar nicht! Da kann er doch nicht einfach vorbeikommen und eine Suppe für mich kochen!«

»Claudia?«

»Ja?«

»Mach dich mal locker, es spielt keine Rolle, wie gut man jemanden kennt oder nicht. Wenn jemand krank ist, kümmert man sich und kocht eine Suppe. Punkt.«

Ich überlege. »Okay. Und warum hast du bisher noch nicht angeboten, bei mir vorbeizukommen und eine Suppe für mich zu kochen?«

Sharon stöhnt wieder auf. »Claudia!«

»Was denn?«

»Statt dir darüber den Kopf zu zerbrechen, ob Shaul mit dir flirtet oder nicht, werde lieber wieder gesund und noch viel wichtiger – denk an das Stück!«

»Okay.«

»Er ist Israeli und wir sind einfach direkter im Umgang! Das hat nicht unbedingt was zu bedeuten.«

»Okay!«

»Er flirtet nicht mit dir!«

»Ja, ja – ich habe es verstanden, danke!«

Eine Woche später findet unsere zweite Musikprobe statt. Dass ich allein zu Hause geübt habe, hat sich ausgezahlt.

»Sehr gut, du wirst mutiger«, lobt mich Shaul. Ich laufe rot an.

In der Pause bietet er mir wieder einen Cappuccino und ein Stück von seinem selbst gebackenen Orangenkuchen an. Oh, dieser Mann kann backen! Während wir in der Küche sitzen, unterhalten wir uns über Israel. Was mich mit dem Land verbindet, behalte ich noch für mich. Dennoch brennt mir eine Frage auf den Lippen: »Sag mal, Shaul, warst du eigentlich in der Armee?«

Er steht von seinem Stuhl auf. »Das ist eine längere Geschichte«, antwortet er, macht mir einen weiteren Cappuccino und beginnt zu erzählen:

 

Ich sitze im Wartezimmer des Armeepsychologen, mit meiner Mandoline im Arm. Ich bin 17 Jahre alt und soll wie alle anderen israelischen Jungen und Mädchen zum Militär. Drei Jahre dauert der Dienst an der Waffe. Alle gehen zur Armee. Deine Eltern waren in der Armee, deine Geschwister, deine Freunde – wirklich alle. Mein Onkel ist sogar ein angesehener Offizier beim Militär. Wir brauchen die Armee, damit Israel existieren kann – so wird es immer gesagt. Da fast die gesamte israelische Bevölkerung in der Armee ausgebildet wurde, lassen sich bei einem Krieg innerhalb von wenigen Stunden Abertausende Reservisten rekrutieren. Wenn man einmal Soldat in der Armee war, bleibt man bis zu seinem vierzigsten Lebensjahr Reservist und muss jedes Jahr fast einen Monat Dienst leisten. Sollte man den Wehrdienst aus politischen Gründen verweigern, landet man im Gefängnis und gilt für den Rest seines Lebens als schwarzes Schaf.

Ich will nicht zur Armee. Als ich den Brief zur Musterung erhalte, ist meine Reaktion: »Wenn ihr mich einzieht, dann bringe ich mich um.« Das ist mein Ernst. Ich bekomme sofort einen Termin beim Armeepsychologen. Dort bin ich heute schon zum vierten Mal. Stundenlang werden Tests mit mir gemacht, mir werden unendlich viele Fragen gestellt.

»Ich bin Musiker. Ich kann nur meine Mandoline in den Händen halten – keine Waffe«, sage ich.

Der Psychologe schaut mich lange schweigend an. »Warum spielst du nicht mal was auf deiner Mandoline?«, fragt er mich testend.

Ich fange an zu spielen, ganz langsam.

Nach ein paar Minuten versucht der Psychologe mich zu unterbrechen: »Das reicht jetzt, danke!«

Ich spiele weiter, immer lauter.

»Jetzt ist mal genug, danke«, sagt der Psychologe.

Ich spiele immer schneller. Er steht auf und verlässt den Raum. Ich will nicht aufhören zu spielen. Ich spiele so lange weiter, bis der Psychologe zurück in den Raum kommt und mir ein Blatt Papier unter die Nase hält. Darauf steht: »Untauglich fürs Militär.«

Ich habe mich aus der Armee herausgespielt. Mit der Partita Nummer zwei in d-Moll von Johann Sebastian Bach.

Ich halte die leere Cappuccino-Tasse in meinen Händen und versuche mir nicht anmerken zu lassen, dass ich tief beeindruckt bin. Dass Shaul nicht beim Militär war, macht ihn für mich noch interessanter. Jetzt wäre eigentlich der passende Moment, um ihm zu erzählen, welche Erfahrungen ich mit Israel und dem israelischen Militär gemacht habe. Doch es ist schon dunkel geworden, Shaul schaut auf die Uhr: »Claudia – unsere Pause hat ganz schön lange gedauert, es ist schon so spät!«

»Ups, das dürfen wir auf keinen Fall Sharon erzählen«, antworte ich schnell. Ich komme mir vor, als würde ich nicht über die Regisseurin sprechen, sondern über einen Anstandswauwau. Shaul und ich gucken uns an und fangen im gleichen Moment an zu lachen.

»Ich kann uns Abendessen machen, wenn du magst«, schlägt er vor.

»Bloß nicht«, erwidere ich. »Ich meine: danke! Das ist sehr nett von dir. Doch ich sollte jetzt wirklich nach Hause gehen, schließlich bin ich schon seit Stunden hier.«

Shaul begleitet mich zur Tür. »Hast du morgen Abend schon was vor?«

»Ähm, nein, ich glaube nicht. Vielleicht doch. Bin mir nicht sicher … Wieso?«

»Morgen Abend ist Rosch ha-Schana, das jüdische Neujahrsfest.«

»Neujahr mitten im September?«, frage ich erstaunt.

»Ja, im hebräischen Kalender beginnt das neue Jahr im Herbst. Ich lade ein paar Freunde zum Abendessen ein, um zu feiern. Hast du Lust, auch vorbeizukommen?«

»L-l-lust? Äh ja, schon …«

»Gut, dann bis morgen Abend, 18 Uhr geht es los.«

Sharon erzähle ich lieber nichts von der Einladung – Shaul flirtet ja sowieso nicht mit mir …

24 Stunden später stehe ich also schon wieder vor Shauls Haustür und klingle. Von drinnen ertönt eine gewaltige Geräuschkulisse. Ich bin gespannt. Eine mir unbekannte Person öffnet die Tür. »Hallo, ich bin Tom! Du musst Claudia sein? Komm rein!« Tom nimmt mir meine Jacke ab und bringt mich ins Wohnzimmer. Eine lange Tafel ist festlich gedeckt und es stehen Schüsseln mit diversen Salaten auf dem Tisch. Immer mehr Leute kommen in das Zimmer. Wir sind zu zehnt. Ich kenne hier niemanden außer Shaul. Doch der ist nicht zu sehen.

»Shaul ist noch in der Küche und bereitet den Hummus vor. Er hat mich gebeten, mich um dich zu kümmern.«

»Äh, das ist sehr nett, danke.«

»Komm, setz dich. Hast du schon mal Rosch ha-Schana gefeiert?«

»Nein, das ist mein erstes Mal.«

»Und das erste Mal auch allein unter Juden?«

»Ähm, bitte was?«

»Also ich an deiner Stelle hätte Angst, die einzige Deutsche unter zehn Juden zu sein! Wer weiß, was wir mit dir machen!« Tom schaut mich sehr ernst an. Ich muss schlucken. Da haut er mir kräftig auf die Schulter und lacht laut auf. »Du solltest jetzt mal deinen Gesichtsausdruck sehen! Entspann dich, ich mache nur Spaß mit dir!«

Ich muss auch lachen. »Dann ist gut, für Spaß bin ich natürlich immer zu haben.«

Tom legt seine Hand auf meine Schulter. »Aber tatsächlich bist du die einzige Goja hier.«

»Und das ist ganz wunderbar! Schalom, Claudia«, ruft Shaul, der gerade ins Zimmer gekommen ist, und stellt den Hummus auf dem Tisch ab. »Nimm Platz, ich hole noch das restliche Essen. Du siehst übrigens sehr hübsch aus!«

»D-d-danke«, stottere ich.

»Das heutige Abendessen wird uns beiden sehr gut tun.« Was meint er denn bitte schön damit?

Inzwischen sitzen auch alle anderen Gäste am Tisch. Es wird viel gelacht und geht sehr herzlich zu. Tom erklärt mir die Bedeutung des jüdischen Neujahrsfestes und zeigt auf den Teller mit den Apfelstücken und dem Honig. Das isst man in der Hoffnung, dass das neue Jahr süß wird. Gemeinsam tauchen wir die Obststückchen in den Honig.

Jeder, der mag, sagt nun reihum, was er sich für das neue Jahr wünscht. Einige sprechen ihren Wunsch laut aus, andere behalten ihn für sich. Als Shaul an der Reihe ist, sagt er: »Mein Wunsch ist ein sehr persönlicher. Den halte ich geheim.« Hat der Rotwein meine Wahrnehmung getrübt oder schaut Shaul tatsächlich mich dabei an? Halluziniere ich schon? Nein. Shaul hebt sein Glas und zwinkert mir zu.

Die Runde am Tisch hat sich mittlerweile aufgelöst und sich auf die restliche Wohnung verteilt, in die Küche und auf den Balkon. Tom ist losgezogen, um noch mehr Rotwein zu kaufen. Ich stehe am Fenster und rauche mit einer Frau namens Noam eine Zigarette. Shaul gesellt sich dazu. »Woher kennt ihr euch eigentlich?«, fragt mich Noam mit Blick auf Shaul.

»Ähm … wir arbeiten nur zusammen und …«

»Und jetzt lernen wir uns immer besser kennen«, antwortet Shaul. »Und das ist sehr schön.« Dabei lächelt er mich so intensiv an, dass es mir eiskalt den Rücken runterläuft. Wenn das nicht Flirten ist, dann weiß ich auch nicht mehr!

Der Rotwein ist alle, die Flaschen sind ausgetrunken und alle anderen Gäste sind nach Hause gegangen. Nur ich bin noch da. Ich helfe Shaul, die Teller und Gläser wegzuräumen, als mein Blick auf ein Foto an der Wand fällt. Shaul bemerkt, wo ich hinschaue. »Das sind mein Opa und ich.«

»Das ist ein schönes Bild.«

»Ja, ich mag es auch sehr.«

»Ist dein Opa in Israel geboren?«, frage ich.

»Nein, in Rumänien. Im Jahr 1929 oder 1930 – das weiß man leider nicht so genau.«

»Dann hat dein Opa also … also er hat den …«

»Ja, mein Opa hat den Holocaust überlebt.«

Ich schaue noch mal genau auf das Bild und frage mich, was seine Großeltern damals wohl erlebt haben.

Sabba Perez und Safta Sara – Shauls Großeltern

»Al Capone«, Etty, Perez, Itzhak und Eatan

Es gibt ein altes Foto von meinem Sabba Perez, meinem Opa, und mir, das ich sehr mag: Mein Sabba hält mich – einen zweijährigen Knirps – mit einem Arm eng umschlungen, mit der Hand seines anderen Arms streichelt er ein Pferd. Eine Zigarette hängt ihm aus dem Mund und er grinst breit in die Kamera. Das ist mein Sabba – ein starker Mann, denn er hält mich. Ein positiver Mensch, denn er zeigt ein großes Lächeln. Ein Mann, der das Leben genießt – davon zeugt die Zigarette.

Er wurde am 29. oder 30. Dezember 1929 oder 1930 als Paul in Buhus¸i, einer kleinen Stadt in Rumänien, in eine moderat-religiöse jüdische Familie hineingeboren. Neben ihm, dem Ältesten, gab es noch drei Geschwister: Hanna, Reuven und Simon, der von allen nur Lulu genannt wurde. Sein Vater hatte eine Bäckerei. Außerdem pflanzte er Kürbisse an – wie es in unserer Familie über viele Generationen hinweg gemacht wurde. »Deswegen lautete unserer Familienname Bostan – Kürbis«, erzählte mein Opa.

Als mein Opa nach dem Holocaust nach Israel kam, begann für ihn nicht nur ein neues Leben, er bekam auch einen neuen Namen. Aus Paul wurde Perez, aus Bostan wurde Bustan – das bedeutet im Hebräischen und Arabischen »schöner Garten«. Und so heißen wir heute.

In Rumänien ging mein Opa zuerst in eine christliche Schule. Als er in der zweiten Klasse war, sagte eines der Kinder zu ihm: »Wenn du es wagst, morgen wieder zur Schule zu kommen, lege ich deinen Kopf unter den Wagen des Schulleiters!« Mein Opa erzählte dies zu Hause sofort seinem Vater Saul. Am nächsten Tag ging Saul in die Schule, um mit dem Schulleiter zu sprechen. Der antwortete: »Vielleicht ist es besser, wenn Sie Ihr Kind zu Hause behalten.« Mein Uropa Saul verstand sogleich und veranlasste, dass alle seine vier Kinder auf eine jüdische Schule wechselten. Mein Opa ging dort bis zur fünften Klasse zum Unterricht. Dann war die Schulzeit für ihn schon vorbei. Er war ungefähr zehn Jahre alt, als der Krieg nach Rumänien kam und die Juden systematisch verfolgt und ermordet wurden.

»Mein Vater Saul wurde 1941 zur Zwangsarbeit verpflichtet und war drei Jahre lang von zu Hause weg. In dieser Zeit haben wir ihn kein einziges Mal gesehen«, erinnerte sich mein Opa. »Wir waren in diesen drei Jahren mit unserer Mutter allein zu Hause. Dann wurde meine Mutter ins Krankenhaus eingeliefert, weil ihre Milz geplatzt war. Von da an waren wir vier Kinder auf uns selbst gestellt. Als der Größte unter ihnen musste ich mich um das Essen und alles andere kümmern. Wir hatten Glück, dass mein Vater einen christlichen Mitarbeiter hatte, der seine Bäckerei übernahm. Er lebte im Hinterhaus und brachte uns jede Nacht einen Laib Brot. So brauchte ich mich wenigstens nicht darum zu sorgen, dass wir Brot zu essen hatten. Doch der Mitarbeiter in der Bäckerei hatte Angst, dass ihn jemand sehen und verraten würde. Denn Juden zu helfen, war verboten und wurde mit dem Tode gestraft. Und so gab es Tage, wo er nichts lieferte. ›Heute gibt es kein Brot‹, sagte er dann.«

Um seine jüngeren Geschwister und sich zu versorgen, musste mein Sabba Geld verdienen. Und so fing er an, für fremde Menschen Holz zu schneiden. »Ich habe das Holz so klein geschnitten, dass man es ganz einfach in den Ofen schieben konnte. Es war eine sehr harte Arbeit und ich war erst zehn Jahre alt – aber ich hatte Arbeit.«

Wenn ich mit Freunden zu Besuch bei meinen Großeltern bin und wir am Essenstisch in der Küche sitzen, gebe ich ihnen voller Stolz den berühmten Gemüsesalat meines Opas zum Probieren. Er wird auch Israelischer oder Arabischer Salat genannt. Mein Sabba hat ein Geheimrezept mit Zitrone und viel Zwiebel, aber das wirklich Besondere an dem Salat ist, wie mein Opa den Salat schneidet – nämlich sehr, sehr klein.

Auch das Holzschneiden war für meinen Opa leider bald zu Ende. Mit zwölf Jahren wurden alle Kinder zur Zwangsarbeit verpflichtet. So musste er mit vielen Gleichaltrigen eine Straße von der Stadt zum Bahnhof bauen. »Und dann kam mein Vater auf einmal nach Hause und sagte, dass sie alle Juden umbringen und wir aus Rumänien wegmüssen«, erzählte mein Opa. Sie machten sich als Familie auf den Weg – durch Transsylvanien zur Grenze nach Ungarn.

»Wir wurden begleitet von einem Mann, dem mein Vater viel Geld gezahlt hatte, um uns zu helfen. An der Grenze eröffneten Beamte das Feuer auf uns. Der ›Helfer‹ lief sofort weg. Und wir flohen auch. Dabei wurde die Familie zerrissen: Vater und Mutter, mein kleiner Bruder Lulu und meine Schwester Hanna rannten zurück nach Rumänien. Mein Bruder Reuven, ein anderer Junge namens Menachem und ich liefen Richtung Ungarn.«

Mein Sabba erzählte, was dann passierte: »Wir waren drei kleine Kinder zwischen sieben und zwölf Jahren, wir hatten nichts zu essen bei uns und sind ganz allein durch die Maisfelder und Wälder gelaufen. Vor Hunger konnten wir kaum gehen. Auf dem Feld aßen wir Mais und Kartoffeln, im Wald die Beeren. Dann versteckten wir uns in einem Maisfeld. Wir blieben dort vielleicht ein oder zwei Tage. Aber es kam uns vor, als wäre es ein ganzer Monat. Wir wussten vor Angst nicht, ob wir nach rechts oder links schauen sollten.«

Als mein Opa mir davon zum ersten Mal erzählte, war er sehr emotional. Ich hatte ihn so noch nie gesehen. Es ist sehr schwierig nachzuvollziehen, was nach diesem Tag passiert ist. In seiner Erinnerung gibt es hier eine große Lücke. Es muss etwas so Traumatisches geschehen sein, dass er sich nicht daran erinnern will oder kann, denn jedes Mal erzählt er etwas anderes. Was ist tatsächlich passiert? Was in seiner Erzählung über die Jahre immer gleich blieb, war die Geschichte aus der Zeit davor – der Beschuss an der Grenze Ungarns – und der Zeit danach – dass er in DP-Lagern in Bayern war. Aber wie kam er in die DP-Lager? Kann sich ein zwölfjähriger Junge zum Kriegs­ende von Ungarn bis nach Bayern durchschlagen, ohne aufgegriffen zu werden?