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Bettina Peters hat sich nach einem Studium der Sprach- und Literaturwissenschaften als Texterin und Autorin selbstständig gemacht. 2015 kommt sie zum ersten Mal mit Erika Mustermann ins Gespräch. Was diese zu erzählen hat, ist so außergewöhnlich normal, dass die Idee zur Biografie entsteht.

Erika Mustermann ist 45 Jahre lang der Inbegriff der Durchschnittsdeutschen. Als sie merkt, dass so viel Normalität nicht mehr normal ist, krempelt sie mit deutscher Gründlichkeit ihr Leben um. Mit ihrem Buch möchte sie auch Lieschen Müller dazu ermutigen, sich auf die Suche nach dem großen Glück zu machen.

Bettina Peters

Erika
Mustermann

Das geheime Leben
der bekanntesten
Durchschnittsdeutschen

Inhalt

Prolog

Hier und heute: Auf dem Boden der Tatsachen

Das Musterkind: Wie alles begann

Alltag - und andere Katastrophen

Männer - und was alles schiefgehen kann

Familie - und noch mehr Wahnsinn

Veränderungen - und wie die Welt sich weiterdreht

Herausforderungen - man tut, was man kann

Vom Reisen - und dem Glück, endlich anzukommen

Große Ereignisse - und kein Ende in Sicht

Quellenverzeichnis

Prolog

Der Gartenzwerg hatte seine Nase verloren. Traurig stand er inmitten seiner makellosen Genossen, die heute Morgen ein hämisches Lächeln auf den tönernen Lippen trugen.

Erika, du spinnst!, schalt ich mich selbst. Gartenzwerge lächeln nicht. Zumindest nicht hämisch.

Andersrum verloren Gartenzwerge auch nicht einfach ihre Nasen. Vorsichtig bahnte ich mir den Weg durch die Armee der Zwerge. Der Nasenlose stand zwischen dem fröhlichen Sänger und einem verschmitzten Alten mit Pfeife, der mich immer an meinen Großvater erinnert hatte. Heute jedoch wirkte die bunte Heerschar, die ich mit so viel Liebe zusammengestellt und gepflegt hatte, seltsam bedrohlich. Im Kreise seiner perfekten Freunde stach der verstümmelte Zwerg hervor wie ein Fremdkörper.

Mitfühlend hob ich ihn auf. Dort, wo einmal seine Nase gewesen war, prangte ein scharfkantiges Loch. Auf Spuren­­suche bückte ich mich noch einmal, scheitelte die wohlgestutzten Grashalme und brachte schließlich zwei kleinere Objekte zum Vorschein. Die fehlende Nase und einen mittelgroßen Stein. Einen von der Art, die Menschen benutzen, um sie auf anderer Leute Zwerge zu werfen. Die Sache war eindeutig. In meinem Schrebergarten fand man nicht einfach so irgendwelche Steine. Und schon gar keine nasenlosen Zwerge.

»Wer macht denn so was?«, flüsterte ich fassungslos, die entstellte Figur tröstend an meine Wange gedrückt.

»Mensch, Frau Mustermann«, unterbrach die schneidende Stimme des Postboten jäh meine düsteren Gedanken, »Sie sind ja über den heiligen Rasen gelaufen! Nicht, dass Sie noch einen Grashalm abknicken!«

»Das geht dich gar nichts an, du Brieftaube!«, sagte ich leise in die kalte Zipfelmütze in meinem Gesicht.

»Wie bitte?«

»Das geht dich gar nichts an, du blöde Brieftaube!« Ich schrie jetzt, so laut ich konnte. »Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß!«

Mit aller Kraft schleuderte ich dem Mann den ramponierten Zwerg entgegen. Er flog gut – auch ohne Nase – und zersprang mit einem dramatischen Scheppern neben dem gelben Postfahrrad in tausend Stücke. Das fehlende Riechorgan sollte von nun an nicht mehr sein größtes Problem sein.

»Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?« Mit einem beherzten Sprung rettete der Briefträger sich hinter seinen Drahtesel. Das süffisante Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden. »Das war doch nur ein Scherz!«

»Siehst du mich lachen?«, brüllte ich. »Siehst du hier irgendjemanden lachen?«

Wie von Sinnen packte ich den Sängerzwerg und warf ihn seinem nasenlosen Genossen hinterher. Der Postbote schrie laut um Hilfe.

»Halt den Mund und verteil deine Briefe!«

Als Nächstes war der Pfeifen-Opa an der Reihe. Dann der Pausbäckige mit der Säufernase. Der Ziehharmonikazwerg zerschellte besonders imposant – das musste ich mir merken. Rasend vor Wut griff ich nach der nächsten Figur und stolperte ungelenk über den verträumten Flötenspieler. Als ich mich wieder aufgerappelt hatte, den Zwerg wurfbereit in der rechten Hand, war der Briefträger verschwunden.

»Ja, lauf nur weg!«, schrie ich hysterisch. »Bevor ich noch einen Grashalm abknicke!«

Wie eine Furie schwang ich herum. Die Gartenzwergarmee bot einen Anblick der Verwüstung. Jenseits des Jägerzauns glänzten die bunten Leichenteile der Gefallenen in der Sonne. Die Stockrosen wiegten sich selbstgefällig in der lauen Sommerbrise, als wäre nie etwas geschehen. Fröhlich summend landete eine Hummel auf den prächtigen Blüten. Das perfekte Idyll am Münchner Stadtrand. Und die blumengewordene Provokation.

»Euch wird das Grinsen auch noch vergehen!«, brüllte ich.

Ich griff nach der Harke, die an der Wand meines Geräteschuppens lehnte. Mit einem gezielten Schlag enthauptete ich die üppige Stockrose, die mir am nächsten stand. Bunte Blütenblätter landeten lautlos auf dem gepflegten Rasen. Pinke, rote, weiße und gelbe. Zischend sauste die Harke durch die Luft und fraß eine Schneise der Zerstörung durch die geschmackvoll angelegten Blumenrabatten.

Keuchend betrachtete ich das Chaos, das einmal mein Garten gewesen war. Ich war noch lange nicht fertig.

»Legen Sie die Harke weg!«, befahl eine Männerstimme vom Eingang des Grundstücks her.

Wie in Trance fuhr ich herum, die Harke zum nächsten Schlag bereit. Am Gartenzaun standen zwei Polizisten in ­Uniform, die behandschuhten Hände an den Halftern ihrer Dienstwaffen.

»Legen Sie die Harke langsam weg und kommen Sie zu uns!«

»Ich denk ja nicht dran!«, schrie ich aufmüpfig. »Das ist mein Garten. Mein Eigentum! Was ich hier mache, geht Sie gar nichts an!«

Wild entschlossen schwang ich die Harke durch die Luft und fällte die riesige Sonnenblume, die mit einem erstaunten »Plopp« zu Boden ging.

»Ich sage es Ihnen nicht noch mal!«, drohte der ältere der beiden Polizisten.

»Dann ist ja gut!«

Ich hob die Harke, trat näher an die ausladende Hortensie, setzte zum Schlag an – und fand mich im nächsten Moment auf dem Boden wieder. Auf mir die Polizisten. Unter mir die Harke, die sich schmerzhaft in meinen Rücken bohrte. Um mich herum das Stockrosenmassaker, Gartenzwergleichen und schockierte Nachbarn. Nur die Hummel summte noch immer unbeeindruckt durch ihr kleines Paradies.

Ich kicherte. Erst leise, dann immer lauter und hysterischer. Zum ersten Mal seit Jahren lachte ich, bis mir die Tränen kamen. Japsend beobachtete ich, wie die Polizisten sich aus meinem Blumenbeet schälten, die Erde von den Hosen und die dahingemetzelten Blütenblätter aus den verschwitzten Haaren klopften. Als sie mir Handschellen anlegten und mich unsanft in ihren Streifenwagen verfrachteten, lachte ich noch immer.

Hier und heute: Auf dem
Boden der Tatsachen

»Eigentlich bin ich ganz normal.«

Etwas unbehaglich rückte ich das kratzige Kissen unter meinem Kopf zurecht. Toll. Das sagen Psychopathen bestimmt auch immer, dachte ich nervös.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte der Mann.

Als ob Zeit etwas ändern würde! Ich ließ den Blick durch den hellen Raum schweifen. Er hatte sich Mühe gegeben, das musste man ihm lassen. Das beigefarbene Sofa sah genauso aus wie mein eigenes. Genauso wie die Couchgarnituren von rund achtzig Prozent der Bundesbürger. Grob geschätzt. Selbst die Liegekuhle, in die ich mich gleich noch etwas tiefer hineindrückte, erinnerte mich an meine eigene, in jahrelanger Arbeit selbst zerschlissene Lieblingscouch. Verrückt!

Gedankenverloren sah ich mich weiter in dem quadratischen Raum um. Vom fleckenunempfindlichen Veloursteppich über die hellholzige Schrankwand bis hin zur weißen Raufasertapete eine perfekte Kopie meines eigenen Wohnzimmers.

Clever, dachte ich nicht ohne Bewunderung. Aber eigentlich wusste ich es besser. Das war kein kluger Schachzug, um mein Vertrauen zu gewinnen – das war einfach nur Standard. Die klassische Einrichtung des Durchschnittsdeutschen. Kein ­Wunder, dass mich das an etwas erinnerte.

Es kostete eine gute Portion Willenskraft, mich wieder auf den Sessel mir gegenüber zu konzentrieren. Auf den Mann, der darin saß und sehr wahrscheinlich für die Einrichtung in diesem Raum verantwortlich war. Ein Mittel-Mann: mittelgroß, mittelalt, mittelblond, mittelattraktiv. In seiner beigen Hose und dem hellgrauen Hemd verschmolz er mit der farblosen Umgebung wie ein bleiches Chamäleon. Bestimmt konnte er auch seine Augen in schönster Echsenmanier unabhängig voneinander bewegen. Im Moment jedoch waren beide Augen fest auf mich gerichtet.

Der Mann betrachtete mich mit einer Mischung aus professioneller Distanz und wissenschaftlichem Interesse. Ungefähr so, wie man einen Frosch auf dem Seziertisch ansieht. Vorausgesetzt, man seziert Frösche. Was ich in der Regel nicht mache. Ich töte nur Gartenzwerge.

Ob er wohl ahnte, dass er eine Massenmörderin vor sich hatte? Ich wagte es zu bezweifeln. Aber er würde es noch früh genug erfahren. Ihm als meinem Psychotherapeuten schuldete ich schonungslose, vollständige Offenheit. So war der Deal.

»Sie müssen an sich arbeiten, Frau Mustermann!«, hatte der Richter gesagt. »Ich möchte Sie nie wieder hier sitzen sehen. Wenn ich Sie jetzt gehen lasse, dann nur, wenn Sie mir das versprechen. Suchen Sie sich Hilfe!«

Und er hatte recht. Ich brauchte dringend Unterstützung. Ich entschuldigte mich bei dem Postboten, der im Zeugenstand ähnlich blass wirkte wie im Angesicht schnell näherkommender Gartenzwerge, und wälzte die Gelben Seiten. Die Wahl fiel auf Dr. Max Müller, Psychologischer Psychotherapeut mit Kas­senzulassung. Auch deshalb, weil er als einziger noch in diesem Jahrhundert einen freien Termin anzubieten hatte. Ob das wohl ein schlechtes Zeichen war? Die durchschnittliche Wartezeit bis zum Beginn einer Therapie beträgt in den deutschen Großstädten fünf Monate. Das hatte ich gerade erst gelesen. Ich hatte keine fünf Monate. Was ich hatte, waren ein traumatisierter Briefträger, ein verwüsteter Schrebergarten, zerfetzte Pflanzenleichen und verstümmelte Gartenzwerge. Und keine Ahnung, wie das alles passiert war. Denn eigentlich, ich sagte es bereits, war ich ganz normal. Ehrlich!

Ich richtete meinen Blick wieder auf den Mann im Sessel und stellte fest, dass auch er seine Musterung abgeschlossen hatte. Was er vor sich sah, war schnell zusammengefasst: Mich. 45 Jahre alt, unverheiratet, straßenköterblond. Größe: normal. Gewicht: normal. Besondere Kennzeichen: keine. Name: Erika Mustermann. Es konnte losgehen!

»Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte ich verlegen. Irgendjemand musste schließlich irgendwann etwas sagen. Diese Stille machte mich ganz nervös.

»Okay«, sagte Max Müller. Sonst nichts. Ich setzte mich auf meinem – seinem – Sofa auf und fand ihn blöd. Ganz offiziell. Hätte ich einen Gartenzwerg zur Hand gehabt, ich hätte für nichts garantieren können.

»Was wollen Sie denn wissen?«, fragte ich barsch. Wenn er jetzt »Alles« sagen würde, wär ich weg!

»Erzählen Sie mir doch erst mal, warum Sie hier sind.«

Also berichtete ich, was geschehen war. Von dem nasenlosen Gartenzwerg und der restlichen Gang. Wie sie fliegen lernten und neben einem vorlauten Postboten zerschellten. Wie die Stockrosen mit meiner Harke Bekanntschaft machten. Und ich mit zwei Polizisten, einer Arrestzelle und zu guter Letzt einem gnädigen Richter.

»Und was meinen Sie, warum das alles passiert ist?«, fragte Max Müller, als ich fertig war.

»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich kleinlaut.

»Dann schlage ich vor, Sie hören auf, mich blöd zu finden, und wir gehen der Sache auf den Grund.«

Mir war, als er hätte er mit seinen stechenden Reptilien­augen direkt in die schwärzeste Ecke meiner Seele geblickt. Ich spürte die Röte in meinem Gesicht aufsteigen und setzte mich in der seltsam vertrauten Sitzkuhle zurecht.

»Gut«, sagte ich.

»Gut«, sagte er. »Erzählen Sie mir mehr von sich. Wer ist Erika Mustermann?«