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Wolfgang Kaschuba

Einführung in die
Europäische Ethnologie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck München

Zum Buch

Diese Einführung in die Europäische Ethnologie – eine neue Forschungsdisziplin zwischen den traditionellen Perspektiven der Volkskunde einerseits und der Völkerkunde andererseits – bietet einen komprimierten Überblick über die Geschichte dieser Wissenschaft, vermittelt und diskutiert Begriffe und Theorien des Fachs und stellt die wichtigsten Felder und Methoden ethnologischer Forschung vor.

Für Studienanfänger und Fortgeschrittene dieser interdisziplinären Fachrichtung ist der Band ein wichtiges Arbeitsinstrument.

Über den Autor

Wolfgang Kaschuba ist Professor für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Inhalt

Einleitung

I. Zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte

1. Anfänge: Aufklärung, Romantik und „Volks-Kunde“

Erkundungen „des Volkes“

Eine neue Zeit

Bürgerlicher Kulturnationalismus

„Volks-Kunde“ als Wissenschaftsdiskurs

Reise und Ethnographie

Romantisches Volk

Germanistik als „deutsche Art“

Das „ethnische Paradigma“

2. Programme: „Volkskunde als Wissenschaft“

Sozialistische Gesellschaftstheorie

Wilhelm Heinrich Riehl: „Volkskunde als Wissenschaft“

Väter und Erbschaften

Durchbruch zur Wissenschaft

Ortsbestimmungen und Abgrenzungen

Völkerkunde und Naturwissenschaften

3. Verwicklungen: Vom „Volkstum“ zur „Volksgemeinschaft“

Bilder einer „Menschenwerkstatt“

Welches „Volk“?

Gesellschaft statt Volk

„Gesunkenes Kulturgut“?

Bronislaw Malinowski und das Feldforschungsparadigma

„Fremdheit“ als methodisches Prinzip

Volkskunde in der „Volksgemeinschaft“

Dennoch: Viele Gesichter

Eine „nützliche“ Wissenschaft?

4. Entwicklungen: Volkskunde als Sozialwissenschaft?

Noch und wieder: „Erhobenen Hauptes“?

Die „Münchner Schule“

„Volkskultur in der technischen Welt“

Neue Gesichter der Volkskunde

Ethnographie in der DDR

Claude Lévi-Strauss und der Strukturalismus

„Kritische Theorie“

1968 und die Volkskunde

Abschied von der Idylle

5. Erweiterungen: Zum Programm einer Europäischen Ethnologie

Kontexte

Neue Sichtweisen

Blicke von draußen und nach draußen

Selbstverständigungen

Europäisches Denken?

II. Begriffe und Theorien

1. Perspektiven: Kultur und Alltag

Kultur(be)deutungen

„Zivilisation“ und „Lebensweise“

Ein „semiotischer“ Kulturbegriff?

Alltägliche Lebenswelt

Gemeindestudien

Kulturalisierung: Zuviel Kultur?

2. Konstruktionen: Identität und Ethnizität

Kollektive Identitäten

„Wieviel Heimat braucht der Mensch?“

Das „ethnische Paradigma“ als Identitätskonzept

Ethnische Gemeinschaft: Inklusion durch Exklusion

Bilder und Praktiken

3. Verortungen: Schicht und Geschlecht

Theorien sozialer Ungleichheit

Marx versus Weber?

Kulturordnungen und -praxen

„Die feinen Unterschiede“

„Geschlechtscharaktere“

„Weiblich“ und „männlich“ jenseits der Körper?

Forschung und/als Gender

4. Prozesse: Kontinuität und Wandel

Magische Daten

Leitwert „Kontinuität“

Traditionen: „Fund und Erfindung“

Folklorismus oder: „God save the king“

Ungleichzeitiges

Form und Funktion: Weihnachten

Transformationen

5. Zeichen: Symbol und Ritual

Zeichentheorien

Rites de passage

Symbolisches Krisenmanagement

Europäische Übergänge

III. Methoden und Felder

1. Feldforschung: Teilnehmende Beobachtung als Interaktion

Verstehen oder Verfremden?

Konstruktion des Gegenstandes?

Rite de recherche?

„Research up“ Der Blick nach oben

Im Angesicht des Feldes

Teilnehmende Beobachtung

Quellen, Medien und Techniken

Be-Schreiben

2. Mikrohistorie: Quellenerschließung und Quellenkritik

„Der Käse und die Würmer“

Bilder vom Anderen in der Geschichte

Geschichte in „dichter Beschreibung“

Quellen

„Research up“ in der Geschichte?

3. Materielle Kultur: Die Sprache der Dinge

Zeugnis und Mythos

„Sachuniversen“

Aura und Archaik

Ästhetik und Distinktion

„Umgang mit Technik“

4. Diskursanalyse: Wissensordnungen und Argumentationsweisen

Denken, Argumentieren, Handeln

Jürgen Habermas und Michel Foucault: Verständigung versus Herrschaft?

Werte-Fundamentalismus

Worte

… und Bilder

5. Ethnologisches Schreiben: Texte und/als Repräsentation

Wer spricht – wie, über wen, zu wem?

Schreiben nach dem linguistic turn

Wahrheitsfragmente

„Dichte Beschreibung“ und „dialogische Anthropologie“

Schrei(b)k(r)ämpfe

Schreiben als Beruf?

Anhang

Abkürzungen

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Personenregister

Sachregister

Einleitung

Wissenschaftliche Einführungstexte in die Geschichte und die Perspektiven eines Faches sind stets „Problembücher“ – und dies in doppeltem Sinn: Sie handeln von Problemen, und sie sind selbst ein Problem. Was damit gemeint ist, im allgemeinen wie im speziellen Fall der Europäischen Ethnologie, soll im folgenden ein wenig erläutert werden. Ich beginne dabei mit der zweiten Problemstellung.

Eine Einführung ist primär gedacht für Studierende und Interessierte, denen sie einen Einblick in die Denkweisen eines Faches vermitteln sowie konkrete Orientierungshilfen geben will auf dem oft unübersichtlichen Weg durch Seminare, Themen und Theorien. Diese Bestimmung hat Konsequenzen für die Darstellung, die sich daher auf das Wesentliche des Stoffes begrenzen und dazu im Stil möglichst lesbar und verständlich sein soll. So wird man jedenfalls vernünftigerweise als Autor denken müssen – aber man wird vielleicht nicht ganz so vernünftig dann auch handeln und schreiben können. Denn es kommt noch ein anderer Umstand ins Spiel, über den man eher selten spricht: Jeder Verfasser einer Einführung wendet sich beim Schreiben zwar mit den besten Absichten an die Studierenden als die künftigen Leser. Er schielt hinter deren Rücken aber natürlich schon auch zu den Kolleginnen und Kollegen im Fach hinüber, deren sachkundige Reaktionen und Urteile folgen werden. Und da es bei einer Einführung um nicht weniger als das „Gesamte“ einer Wissenschaft geht, muß er schon vorher vermuten, daß deren spätere Kommentare eigentlich nur kritisch bis negativ ausfallen können, denn (fast) alles ließe sich auch ganz anders sehen und wesentlich anspruchsvoller darstellen. Diese ungemütliche Erwartung wiederum begünstigt – wie wir dann ahnungsvoll an unserem eigenen Schreiben beobachten – eine gewisse Tendenz zur Langatmigkeit und Umständlichkeit der Darstellung, um solcher Kritik antizipierend zumindest einige schützende Nebelwände entgegenzustellen. Gerade dies aber wollte man ja eigentlich vermeiden… – Ich breche hier ab, weil damit jenes Dilemma hinreichend deutlich geworden sein dürfte und zugleich auch die darin angedeutete Bitte um Nachsicht, wenn nicht immer eine „uneitle“ literarische Lösung des Problems gefunden wurde.

Nun hat jede Not angeblich auch ihre Tugend. Wenn dem so ist, könnte sie hier darin bestehen, daß allein schon die zu behandelnde Stofffülle fast nur auswählende und vereinfachende Darstellungsformen zuläßt. Und eine einfache Darlegung komplexer Sachverhalte gehört bekanntlich zu den kompliziertesten Übungen im Wissenschaftsgeschäft überhaupt. Zudem zwingt eine Einführung zu dem Versuch, über wissenschaftliche Einzelfragen und Einzelthemen hinaus ein zusammenhängendes Bild eines Faches zu entwerfen, das sich mit seinen vielen Bereichen und Feldern meist recht energisch gegen solche Überblicksdarstellungen sperrt.

Ein zweites Problem ergibt sich bereits aus dem Titel dieses Bandes: Was meint Europäische Ethnologie im disziplinären Sinn? Wer deutsche oder europäische Universitätsverzeichnisse durchblättert, wird auf diese Fachbezeichnung eher selten treffen. Unter den gegenwärtig 19 deutschen bzw. 26 deutschsprachigen volkskundlich orientierten Instituten gibt es nur fünf, die sich – teils in variierenden Begriffsverbindungen – so nennen. In Schweden hingegen ist diese Bezeichnung selbstverständlich, und auch in den osteuropäischen Ländern wird sie zunehmend benutzt – vor allem, wenn dort Konzepte aus der amerikanischen Anthropologie dem Fach Pate standen. Bis vor wenigen Jahren noch erschien die Verknüpfung von „Europa“ und „Ethnologie“ in Deutschland ohnehin als eher unangemessen, da mit dem Stichwort „Ethnologie“ in aller Regel die Völkerkunde assoziiert wurde, die ihre Forschungsfelder überwiegend außerhalb Europas gefunden hatte. Dies hat sich inzwischen insofern verändert, als sich im Rahmen einer Europäischen Ethnologie heute Forschungsrichtungen begegnen, die einerseits aus der Tradition der deutschen Volkskunde, andererseits aus den Theorie- und Methodenbeständen der Völkerkunde wie der Kultur- und Sozialanthropologie stammen. Bei allen Unterschieden im Zugang wie im Verständnis besteht ein gemeinsames Interesse daran, Kultur in der Vielfalt ihrer Bedeutungen und Praktiken vor dem Horizont europäischer Geschichte und Gesellschaftlichkeit auszuleuchten und diesen wiederum – nicht erst seit 1989, aber seitdem verstärkt – in globalen Zusammenhängen zu betrachten.

Ein Copyright auf die Fachbezeichnung „Europäische Ethnologie“ gibt es also nicht, da sie weder in der volkskundlichen noch in der völkerkundlichen Fachtradition systematisch festgeschrieben war und da sich bei den Versuchen ihrer inhaltlichen Füllung zugleich vielfache Berührungspunkte zwischen den beiden Nachbardisziplinen ergeben. Ich werde hier eine aus der ehemaligen Volkskunde entwickelte Perspektive vertreten, die für mich eine/meine eigenständige und neue Fachidentität verkörpert. So wird auch verständlich, daß diese Darstellung immer mehr eine deutsche sein wird als eine europäische, die eben auch nicht einfach aus „nationalen“ Blicken zusammengesetzt werden kann.

Damit ist bereits ein drittes Problem angeschnitten, nämlich die Frage, wie sich die Europäische Ethnologie in ihrem thematischen, theoretischen wie methodischen Selbstverständnis definieren läßt. Eine ausführliche Antwort darauf soll in diesem Buch versucht werden. In dieser Einleitung will ich jedoch zunächst nur skizzieren, was sie meiner Auffassung nach jedenfalls nicht ist oder sein soll: Sie ist nicht die Wissenschaft vom Ethnos, wenn damit ein vermeintlich historisches Prinzip abstammungsgemeinschaftlicher Entwicklung gemeint sein soll. Sie kann auch nicht die europäischen Gesellschaften als die „eigene“ und die außereuropäische Welt als die „fremde Kultur“ betrachten, analog den früheren Definitionen einer „deutschen“ Volks- und einer „überseeischen“ Völkerkunde. Und sie darf meiner Auffassung nach ebensowenig als eine „europäische Völkerkunde“ mißverstanden werden, die einen bunten Bilderbogen vorgeblich homogener National- oder Regionalkulturen von Island bis Italien zu entwerfen hätte. Nun könnte man natürlich versuchen, das Fach gleichsam von innen her zu beschreiben, etwa indem die empirischen Gegenstände, die theoretischen Orientierungen oder die methodischen Zugänge aufgeführt werden, um die es hier geht. Allerdings ist auch dieser Weg nicht sonderlich erfolgversprechend, denn weder ergibt sich aus der bloßen Addition von Gegenständen und Werkzeugen ein tragfähiges Gebäude, noch befinden sich die meisten Themen, Theorien und Methoden im Alleinbesitz des Faches.

Ich beende daher die Aufzählung solcher negativen oder unzulänglichen Bestimmungsversuche mit dem Hinweis, daß handbuchartige Definitionen eben meist wenig hilfreich sind. Dies ist nun allerdings kein Fachspezifikum der Europäischen Ethnologie. Entsprechende Kurzformeln für die Psychologie oder die Mathematik erscheinen uns auch nur solange befriedigend, wie wir uns nicht näher damit beschäftigen. Zu verstehen, was Europäische Ethnologie bedeuten soll, heißt letztlich also, jene Problemsichten in einiger Ausführlichkeit nachzuvollziehen, die das Fach im Laufe seiner Geschichte entwickelt hat. Dabei will dieses Buch mit mehr als einem Satz behilflich sein.

Damit bin ich bei einem vierten Problem. Als universitäres Fach ist die Europäische Ethnologie eine verhältnismäßig junge Disziplin, die ihr Selbstverständnis immer wieder neu suchen muß und sich deshalb in ihren Orientierungen vielleicht auch schneller bewegt und verändert als andere Studienfächer. Das ist einerseits ihrem volkskundlichen Erbe geschuldet, das nach 1945 dazu zwang, sich in einem mühevollen Prozeß von den Traditionen völkischer Wissenschaft zu lösen. Zum andern läßt ihr zentraler Gegenstand, die Kultur in all ihren vielfältigen Erscheinungsformen und Wandlungen, eine Statik der Begriffe wie ein bequemes Sich-Einrichten in stabilen Selbstverständnissen kaum zu. Betrachtet man die Dissertationsthemen im Fach über die letzten Jahrzehnte hinweg, so zeigt sich dieser schnelle Wechsel der Perspektive sehr deutlich – vielleicht nicht unmittelbar in der vordergründigen Themenwahl, aber doch in bezug auf den Themenschnitt und den Themenzugang. Forschungen zu Karneval, Festen oder Kleidung etwa finden sich in den 1950er Jahren ebenso wie heute. Aber sie sind nunmehr doch einer vielfach anderen, aus den Gegenwartsinteressen und -erkenntnissen formulierten Fragestellung unterworfen und begnügen sich meist nicht mehr mit einem historischen Rückblick auf vermeintlich abgeschlossene historische Welten und Prozesse.

So ist das Fach in seinen Themen und Leitbegriffen ständig in Bewegung. Das macht es spannend und schwierig zugleich, vor allem für Studienanfänger und -anfängerinnen, die verständlicherweise klare Orientierungslinien und Verständnishilfen suchen. Die bietet das komplizierte Gelände der Kultur nun leider weniger an, dafür aber eine interessante Herausforderung für diejenigen, die sich auf Wege begeben, deren Verlauf sie an deren Beginn noch nicht klar übersehen können. Das klingt vielleicht nach Abenteuerstudium, meint jedoch Wissenschaft in ihrem vollen Wortsinn.

Kaum gemildert wird dieses Orientierungsproblem durch das Außenbild der Europäischen Ethnologie, das in mancher Hinsicht schillernd wirkt. Das Fach scheint zuständig für vieles, was zum klassischen Repertoire der Volkskunde gehörte wie Feste, Bräuche und Trachten, aber eben auch für viele ganz aktuelle Phänomene im Zusammenhang von Migration, Tourismus oder Medien. Zum Teil drückt sich in dieser sehr unterschiedlichen Außenwahrnehmung auch der Wandel im Selbstverständnis des Faches aus, der in der Öffentlichkeit nur mit zeitlicher Verzögerung vermittelt werden kann. Dabei geht es keineswegs darum, sich beispielsweise für die Trachtenfrage unzuständig zu erklären, sondern um die Vermittlung neuer Perspektiven dazu im Sinne einer Kleidungs- oder Symbolforschung. Doch hat diese verschobene Außenwahrnehmung neben einigen negativen auch gute Seiten, denn sie verweist auf das breite Spektrum des in unserem Fach – vermeintlich oder tatsächlich – produzierten Wissens, das wiederum ein vergleichsweise breites Spektrum von Berufsmöglichkeiten für seine Absolventen eröffnet. Denn auch in dieser Hinsicht hat sich viel „bewegt“: Neben den klassischen Berufsbereich der Museen und Ausstellungen sind längst Arbeitsbereiche in der Erwachsenen- und Weiterbildung getreten, in den verschiedenen Medien, in der Kulturplanung wie im Kulturmanagement. Auch dies gehört also zur Charakteristik des Faches, zu jenem Wechselspiel von Selbstbildern und Außenbildern, von dessen Reibung und Spannung wir letztlich profitieren.

Dennoch bleibt ein fünftes Problem: die Frage nach dem spezifischen Profil Europäischer Ethnologie. Denn mit dem Hinweis auf die Veränderungen im Verlauf der jüngeren Fachgeschichte, auf die vielfältigen Verbindungen und Schwerpunkte, die im interdisziplinären Raum gesucht und gefunden worden sind, auf die Vielfalt der gängigen Theorien und Methoden kann keinesfalls gemeint sein, daß wir auf dem Wege zu einem beliebigen Sammelfach und zu einer thematischen Trendbörse sind. Sich in vielfältigen Feldern erfolgreich zu bewegen setzt vielmehr eine markante Handschrift voraus, die sich im Falle der Europäischen Ethnologie sicherlich aus der Mischung von Themen, von Betrachtungswinkeln und von Darstellungsweisen ergibt. Keiner dieser drei Faktoren reicht für sich genommen aus, sondern es ist deren Mischung, die das Fach ausmacht. Dies zeigt sich gerade in Themenfeldern nahe den großen Forschungsautobahnen. Im Bereich der Reise- und Tourismusforschung etwa tummeln sich neben Volkskunde/Europäischer Ethnologie längst auch Germanistik und Geschichtswissenschaft, Soziologie und Geographie, Kunstgeschichte und Wirtschaftswissenschaften. Auch dort wird erfolgreich gearbeitet, aber eben nicht mit jenem kulturellen oder ethnologischen Blick, der uns bestimmte Problemsichten und Theorien nahelegt, der uns zu bestimmten methodischen Annäherungen an Thema und Feld auffordert, um – jedenfalls meistens – dadurch zu einer Perspektive mit unverwechselbarer Handschrift zu gelangen.

Nun mehren sich gegenwärtig Stimmen im Fach, die davor warnen, daß dieses neue Profil zu schwach sein könne. Daß es strategisch vernünftiger sei, sich wieder stärker auf thematische Schwerpunkte zu konzentrieren, wie sie in der volkskundlichen Fachgeschichte erfolgreich herausgebildet worden seien – Schwerpunkte etwa in der historischen Kulturforschung oder in der Folkloristik. Erfolge diese Rückbesinnung nicht, würden diese Stammlande des Faches von anderen, expansiveren Disziplinen besiedelt. Und in den neueren, oft auch stärker gegenwartsbezogenen Feldern werde ein kleines Fach von der großen sozialwissenschaftlichen und sozialgeschichtlichen Konkurrenz ohnehin leicht erdrückt.

Gewiß muß man sich um die „kognitive Identität“ (Lepenies 1981: 1) des Faches Gedanken machen, also um jenes Verhältnis von innerem Selbstverständnis und öffentlicher Wahrnehmung, das letztlich auch über universitäre Haushalte, über Forschungsressourcen und insbesondere über die Berufschancen der Absolventinnen und Absolventen entscheidet. Und daß Kultur Konjunktur hat, daß kulturwissenschaftliche Studiengänge gegenwärtig gleichsam wie Pilze aus dem Boden schießen, sollte uns gewiß veranlassen, diese Schwemme skeptisch zu beobachten und genau zu überlegen, ob und wo wir unseren Stand auf diesem überlaufenen Markt plazieren wollen.

Jedoch scheint mir die Gefahr des Aufgehens im Modischen, in Konjunkturen und ihrem schnellebigen Sinnstiftungsgeschäft letztlich erheblich geringer zu sein als jene andere Gefährdung, die aus solchen Bedrohtheitsszenarien entsteht und die das Fach mit dem Rückverweis auf angeblich glorreiche Vergangenheiten lähmt. Gerade die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte: das Zugehen auf Gegenwartsprobleme, ohne die historische Dimension zu verlassen, die Öffnung zu sozialwissenschaftlichen, sozialgeschichtlichen und kulturanthropologischen Theorien und Methoden, ohne das volkskundliche Handwerkszeug beiseite zu legen, die theoretische Anstrengung, ohne deren empirischen Ausgangspunkt aus den Augen zu verlieren – gerade diese Beweglichkeit des Faches also hat es aus einer beschaulichen Nische der Wissenschaftslandschaft der Nachkriegszeit in wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskussionszusammenhänge treten lassen, aus denen wir unsere heutige kognitive Identität wesentlich beziehen. Und diese veränderte Identität scheint mir nicht beliebig, sondern zeigt wiederum spezifische Züge. Unsere Handschrift bleibt erkennbar, auch wenn unser Außenbild in durchaus unterschiedlicher Facettierung wahrgenommen wird. Damit aber können wir leben, sogar gut leben, weil dies einer tatsächlichen Pluralität und Vielseitigkeit unseres Faches entspricht. Von dieser Vielgestaltigkeit unserer Institute und Arbeitsgebiete profitieren wir – solange daraus nicht Beliebigkeit wird. Und die sehe ich bislang nur in Einzelfällen. Nichts wäre daher wohl kontraproduktiver, als sich im wissenschaftlichen Gelände wieder in das Fachwerkhaus zurückzuziehen, dessen dicke Butzenscheiben Ein- wie Ausblicke verhindern.

Mit den genannten Problemen ist zugleich auch die Absicht dieser Einführung beschrieben. Sie kann und will keine kurzen, oberflächlichen Antworten darauf geben, was Europäische Ethnologie als Fachbezeichnung oder Kultur als Beobachtungsgegenstand meint; sie soll vielmehr dabei helfen, zunächst die richtigen Fragen zu entwickeln. Denn diese Fähigkeit, Erkenntnis erschließende Fragen an den Gegenstand zu formulieren und zu wissen, daß diese meist langlebiger sind als schnelle Antworten, ist für mich eine ganz wesentliche Qualität von Kulturwissenschaft.

Nun gibt es gewiß viele Möglichkeiten, eine solche Einführung zu konzipieren. Die hier gewählte Form und Gliederung mag vielleicht wenig originell erscheinen, weil sie mit dem üblichen Zugang über die Entwicklung der Fachgeschichte beginnt, dann in einem zweiten Teil zentrale Begriffe und Theorien diskutiert und in einem dritten Abschnitt Felder und Methoden der Forschung vorstellt. Doch hat diese Konventionalität auch ihre Logik: Sie will es ermöglichen, das Fach auf dem Wege der Veränderung seiner Selbstverständnisse und seiner Begriffe zu begleiten, seine Abhängigkeit vom jeweiligen Zeitgeist zu reflektieren, die Pfade der Erschließung neuer Themen- und Forschungsfelder mitzugehen. Das scheint mir unverzichtbar angesichts des ständigen Wandels unserer Leitbegriffe und ihres zusätzlichen Bedeutungswandels: Volk, Tradition, Kultur …

Die relativ breite Berücksichtigung der Fachgeschichte hat aber noch einen zweiten Grund. Neben dem Hinweis darauf, wie sehr stets Veränderungen die Geschichte unseres Faches begleitet haben und prägten, wie oft zentrale Begriffe wechselten oder – häufiger noch – blieben, jedoch mit veränderter Bedeutung, mag sie uns auch als Mahnung für unser gegenwärtiges Verständnis von Kultur und Gesellschaft dienen. Sie soll uns mahnen, nicht dem Irrtum zu verfallen, wir sähen heutige gesellschaftliche Problemlagen sozusagen von einem Gipfel der Erkenntnis, der letztgültige Klarsicht bedeute. Das Wissen um die Zeitgebundenheit von Deutung und Erkenntnis gehört vielmehr zur Grundauffassung gerade einer Wissenschaft, die sich mit Erscheinungsformen der Kultur beschäftigt.

Andererseits kann diese Einführung keine Gesamtdarstellung der Fachgeschichte und Fachlandschaft bieten. Dazu sind die Felder und Themen inzwischen zu breit, die Theorien und Methoden zu vielfältig geworden. Was dargestellt wird, folgt vielmehr einer subjektiven Auswahl, die sich darum bemüht, an exemplarischen Ausschnitten möglichst plastisch die Entwicklung hin zum Problem- und Themenhorizont der späten 1990er Jahre nachzuzeichnen. Ein anderer Autor – oder auch derselbe ein Jahrzehnt später – würde vielleicht manchen anderen Ausschnitt wählen. Und jeder wird in dem hier Vorgestellten vieles vermissen, auch ich. Bei allen Überlegungen zu einem systematischen Aufbau solch einer Einführung soll sie aber auch die Möglichkeit bieten, quer gelesen und als Nachschlagewerk gebraucht zu werden. Sie ist gedacht als Einstiegshilfe für Neugierige, als Orientierung für Studierende, als Hilfsmittel für „einsam“ Forschende – und sei es nur als ein stiller Dialogpartner, dessen Erkenntnisse sich vielleicht gar nicht neu und deshalb beruhigend für das eigene Arbeiten lesen.

Am Ende dieses Anfangs ist schließlich Dank abzustatten. Dank an die Studierenden unseres Berliner Instituts, die meine Einführungsvorlesungen – wie sie zumeist versichern – ohne größere Schäden überstanden haben und mir dabei Kritik und Ermutigung zurückgaben. Dank an die Kolleginnen und Kollegen am Berliner Schiffbauerdamm, von deren ähnlichen wie anderen Betrachtungsweisen des Faches und seiner Themen ich viel gelernt habe. Dank namentlich an Beate Wagner und Evelyn Riegel, ohne die das Manuskript, an Victoria Schwenzer, Alexa Färber und Cornelia Kühn, ohne die Anmerkungen und Literaturverzeichnis nie zustande gekommen wären, und an Hermann Bausinger, Stefan Beck, Gisela Kirschberg, Stefanie Krug, Peter Niedermüller und Gisela Welz, die manchem nicht zu Ende Gedachten noch zu einem Sinn verhalfen. Dank insbesondere auch an Karin Beth, ohne deren beharrliche Nachfragen und freundliche Ermutigung und Betreuung das Buchprojekt sicherlich im Status der Oral History verblieben wäre. Und Dank schließlich auch an Gisela und Nojo für den geduldigen Umgang mit einem oft nur „flüchtig“ anwesenden Familienmitglied.

I. Zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte

Die Wissenschaftsgeschichte eines Faches darzustellen ähnelt in vieler Hinsicht dem Abfassen eines Lebenslaufes für die Bewerbung um eine Stelle: Am Ende sollte plausibel geworden sein, weshalb und wie der Lebenslauf, die Ausbildung, die vorherigen beruflichen Stationen fast zwangsläufig jene Qualifikation ergeben haben, die haargenau auf die gewünschte Stelle paßt. Ein Werdegang wird so dargestellt, als sei er linear auf diesen Punkt zugelaufen – auf ein Ziel, das vorher doch unabsehbar in der Zukunft lag.

Ein wissenschaftliches Fach schreibt seine Lebensgeschichte kaum anders. Es muß sie ebenfalls so darstellen, als habe ihre Entwicklung systematisch auf die Gegenwart zugeführt, als habe sie gewissermaßen nur so verlaufen können. Denn die Geschichte des Faches legitimiert seine Gegenwart. Sie rechtfertigt Kontinuitäten in den Themen, Theorien und Methoden. Sie rechtfertigt aber auch Veränderungen, Abweichungen, neue Horizonte – dann nämlich, wenn ein Bruch mit der Geschichte die Position der Gegenwart in ein besseres Licht zu rücken vermag. Damit ist Fachgeschichtsschreibung immer auch ein Stück Flurbereinigung: Die Vergangenheit wird als eine säuberlich gegliederte Landschaft hergerichtet, die auf die Gegenwart zuläuft bzw. die von der Gegenwart aus bequem als zurückgelegter Weg überblickt werden kann. Was in der geschichtlichen Landschaft an Umwegen, an Abweichungen und Verirrungen stattgefunden hatte, bleibt weithin ausgeblendet. Es wäre einmal ganz interessant, diese andere Geschichte der Ab- und Umwege zu schreiben, die in unser heutiges Bild nicht mehr passen. Dabei sind wir natürlich nicht die ersten Flurbereiniger, sondern wir setzen mit unserer Darstellung auf bereits vorhandenen Karten und Marksteinen auf, die von unseren Vorgängerinnen und Vorgängern im Fach gezeichnet und gesetzt wurden. So baut sich schichtweise das auf, was sich später unter dem Signum geschichtlicher Kontinuität und wissenschaftlicher Disziplinarität stolz vorweisen läßt.

Nun ist dieser Hinweis auf das vielfach Ausschnitt- und Konstrukthafte der Wissenschaftsgeschichte kein Argument gegen die Beschäftigung mit ihr. Im Gegenteil: Immer wieder ist neu zu rekonstruieren, wie wir die Fachgeschichte sehen, welche Themen, Felder, Methoden, Theorien, Begriffe wir aus welchen Gründen fortgeführt haben und weshalb anderes verändert wurde, auch was sich unter derselben Begrifflichkeit inhaltlich gewandelt hat. Denn diese Beschäftigung vermittelt wichtige Aufschlüsse über die Identität eines Faches, da sie nicht nur zeigt, wer wir sein wollen und daß wir uns dabei auf ständig wechselnde Selbstbilder beziehen. Vielmehr wird auch deutlich, welche Vorstellungen vom Fach „draußen“ in der Gesellschaft zu unterschiedlichen Zeiten existierten, welche Außenbilder und Fremdzuschreibungen uns also ebenfalls beeinflußt haben.

Der Sozialwissenschaftler Wolf Lepenies prägte vor einigen Jahren den Begriff der „kognitiven Identität“ einer Wissenschaft, deren Selbstverständnis sich immer in dieser Wechselwirkung von Innen- und Außenwahrnehmung, von Selbst- und Fremdbildern herstellt. In dieser Formel von der kognitiven Identität ist auch die Vermutung enthalten, daß nicht nur Zufälle darüber entscheiden, wer um 1900 Volkskunde betrieb oder wer heute Europäische Ethnologie studiert. Es ist vielmehr diese Fachidentität, so diffus und wenig konkret ihre Bilder gerade für StudienanfängerInnen sein mögen, die bestimmte Interessen weckt und Gruppen anzieht. Kleinere Umfragen in unseren Berliner Einführungsvorlesungen wie an anderen Instituten des Faches bestätigen immer wieder, daß die Studienentscheidung im Zusammenhang mit zum Teil doch recht präzisen Vorstellungen von den Themen des Faches wie von seiner spezifischen Wissenschaftskultur gefällt wird. Dazu zählt als Charakteristikum vor allem, daß viele der Themen und Fragen, die wir wissenschaftlich betrachten, reflexiv zwischen Wissenschaft und Gesellschaft vermitteln und daß sie zugleich Problemfelder unserer eigenen Lebens- und Alltagswelt verkörpern. Wer sich mit nationalen und ethnischen Bildern beschäftigt, mit Lebensgeschichten und Körpergeschichten, mit Fragen der Eßkultur oder der Reisekultur, der wird die daraus gewonnenen Erkenntnisse nur schwerlich getrennt halten können von den eigenen Alltagserfahrungen. Unsere Forschungsfelder sind in diesem Sinne selten isolierbar und distant, weil wir uns darin selbst als Faktoren wie Akteure erleben, meist in der Doppelrolle des beobachtenden Wissenschaftlers und des handelnden Alltagsmenschen.

Zugleich fordert diese spezifische Alltagsnähe unserer Themen und Felder die Öffentlichkeit außerhalb unseres Faches geradezu dazu auf, sich dafür aufgrund eigenen Alltagswissens ebenfalls zuständig zu fühlen. Diese Erfahrung, daß in vielen unserer Forschungsbereiche fast jeder mitreden zu können glaubt, ist vielleicht ernüchternd, wenn man sich unter Wissenschaft einen exklusiven Ort gelehrter Disputation über den gesellschaftlichen Niederungen vorstellt. Betrachten wir jedoch unsere Fachgeschichte, so ist diese Alltagsnähe stets ein Signum unseres Faches gewesen. Lediglich der Blick auf entferntere, „exotische“ Kulturen etwa in Übersee schützte eine Zeitlang durch die räumliche Distanz vor dieser Laienethnologie. Wer Wissenschaft freilich in der Nähe der Gesellschaft wissen will, dem wird dieser Umstand Bestätigung dafür sein, daß unsere Themen jedenfalls nicht in akademischen Elfenbeintürmen spielen, und der wird dies begrüßen.

Nun stellt sich diese Fachidentität in den verschiedenen europäischen Ländern und selbst innerhalb der deutschen Fachlandschaft von Institut zu Institut durchaus unterschiedlich dar. So mag es auf den ersten Blick irritieren, wenn man in München Volkskunde studieren kann, in Tübingen Empirische Kulturwissenschaft, in Frankfurt/Main Kulturanthropologie, in Berlin Europäische Ethnologie – um sich dann, im Wechsel von einem Institut zum anderen, doch im wesentlichen innerhalb eines Studienganges zu bewegen. Auf den zweiten Blick und nach einigen Semestern Studium wird dies schon weniger merkwürdig erscheinen, weil die Erfahrung hinzugekommen ist, daß sich jenseits der unterschiedlichen Institutsbezeichnungen doch auch gemeinsame Perspektiven zwischen den Instituten ergeben, die den Zusammenhang von Geschichte, Kultur und Gesellschaft zumindest von bestimmten Grundpositionen einer Fachidentität aus betrachten. In dieser Namensvielfalt drückt sich eben auch die spezifische Fachsituation der Nachkriegszeit aus, die von heftigen Positionskämpfen, von Versuchen einer theoretischen wie thematischen Neubestimmung gekennzeichnet war, in der gewissermaßen mit „Kampfbegriffen“ operiert werden mußte. Solche Kampfbegriffe dienten in oft ganz pragmatischer Weise dazu, sich von bestimmten Fachkontinuitäten abzugrenzen oder sich anderen Orientierungen zuzuordnen. Deshalb dokumentiert diese Namensvielfalt in der Tat, daß wir ein Fach „in Bewegung“ sind, daß jenseits konventioneller Disziplingrenzen Zwischenräume aufgesucht und Brückenschläge versucht werden, in denen sich schließlich etwas Neues konstituieren kann: ein anderes Selbstverständnis, eine neue Fachperspektive.

Dieser Umstand macht nochmals deutlich, wie sehr Wissenschaftsgeschichte immer auch Gesellschaftsgeschichte ist. Die Fragen, die Themen, die Theorien, die Methoden, mit denen wir uns beschäftigen, sind stets geprägt von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wirtschaftlicher und politischer Art. Und sie sind in gewisser Weise auch begrenzt von den zeitgenössischen Wert- und Denkhorizonten, die unseren Erkenntnismöglichkeiten und Erkenntnisfähigkeiten Grenzen setzen. Sie sind überdies abhängig von den je spezifischen Formen und Medien, in denen gesellschaftliches Wissen erzielt und verfügbar gemacht wird. Jede Epoche und jede Gesellschaft schreibt der Wissenschaft besondere Aufgaben vor bzw. weist sie ihr zu, so wie umgekehrt die Gesellschaft von den wissenschaftlichen Fragen und Antworten mit geprägt wird. Insofern ist die Wissenschaft immer zugleich eine Gefangene ihrer Zeit wie deren freie Mitgestalterin. Daher werde ich in dieser Einführung versuchen, im Raum der Wissenschaftsgeschichte diese gesellschaftlichen Zeitumstände jeweils mit zu bedenken und die Entwicklung zur Volkskunde und von dort zur Europäischen Ethnologie vor allem als eine Geschichte sich beständig verändernder Betrachtungsweisen unserer Gegenstände zu beschreiben. Das nimmt uns zwar etwas vom stolzen Nimbus der von der Welt unangefochtenen und nur ihrem Ideal verpflichteten wissenschaftlichen „Gralsritter“. Dafür aber gewinnen wir die tröstliche Gewißheit, daß Wissenschaft ein Teil der Gesellschaft ist und daß unsere Erkenntnisse zeitgebunden bleiben – also auch unsere Irrtümer.

1. Anfänge: Aufklärung, Romantik und „Volks-Kunde“

Wenn Fachgeschichte danach fragt, woher wir kommen, dann suchen wir wohl unwillkürlich nach einer Art Ausgangspunkt und Anfangsdatum, also gleichsam nach Geburtsort und Geburtsstunde. Nun ist dies einer jener Punkte, in denen sich menschliche Lebensgeschichten – jedenfalls in der Moderne und in Europa – dann doch von Fachgeschichten unterscheiden. Die Wissenschaftsgeschichte bietet uns selten das an, was man die Geburt einer Wissenschaft im Sinne einer exakten Datierung und Plazierung nennen könnte. Vielmehr bilden sich neue Wissenschaftsrichtungen im Rahmen allgemeiner gesellschaftlicher Wissensordnungen heraus, in denen sich Gesellschaften über ihre jeweiligen „Fragen der Zeit“ zu verständigen versuchen. Allmählich entstehen daraus Problemkerne, besondere Leitbegriffe, vielleicht bereits spezifische Theorien und Methoden, mit deren Hilfe Antworten darauf gesucht werden. Und erst damit, mit der Entwicklung eigenständiger „Paradigmen“, beginnt ein Prozeß der Institutionalisierung von Wissenschaft, indem besondere Artikel und Bücher zu einem Thema geschrieben werden, indem Zeitschriften sich solchen Themenkreisen kontinuierlich widmen, indem wissenschaftliche Netzwerke, Forschungsverbände und vor allem auch Finanzierungsstrategien entstehen, über die versucht wird, die Forschung und Lehre auf einem besonderen Gebiet akademisch zu etablieren. Historisch betrachtet, steht das Bild der Wissenschaft als eines Spektrums fest institutionalisierter Universitätsfächer also keineswegs am Anfang, sondern am Ende einer langen Entwicklung. Und der Weg der Volkskunde/Europäischen Ethnologie dahin war sogar ganz besonders lang.

Natürlich ist es andererseits ganz wesentlich, wann und wo eine Fachbezeichnung zum ersten Mal auftritt und wie sie in systematischer Absicht verwendet wird. Für den Fall der Europäischen Ethnologie gibt es darauf zwei Antworten: eine kurze und eine (sehr) lange. Die kurze – und eher spitzfindige – Antwort würde lauten, daß die Bezeichnung Europäische Ethnologie in Deutschland erst in den 1970er Jahren auftritt, als das Verhältnis des älteren Fächerspektrums der „Ethnowissenschaften“ endgültig aufgebrochen ist. Bis dahin wurden die Fachbezeichnungen jedenfalls im jeweiligen nationalen Rahmen relativ systematisch verwendet: Volkskunde und Völkerkunde in Deutschland, Ethnographie und Ethnologie in manchen osteuropäischen Ländern (wobei dies keineswegs der Aufgabenteilung zwischen Volkskunde und Völkerkunde entsprach), Sozialanthropologie oder Ethnologie in England und Anthropologie, später Kulturanthropologie in den Vereinigen Staaten. Nun diskutierte man in Deutschland jedoch über eine stärkere sozialwissenschaftliche Orientierung und über Fachumbenennungen. Als erstes wechselte das Tübinger Ludwig-Uhland-Institut 1971 zur Bezeichnung Empirische Kulturwissenschaft über.[1] Auch Europäische Ethnologie wurde vielfach ins Gespräch gebracht, doch entschied sich zunächst nur das Marburger Institut im Jahr 1971 für diesen Namen, und es wäre damit also die früheste deutsche Gründungsinstitution.

Erkundungen „des Volkes“

Die längere und ernsthaftere Antwort auf die Herkunftsfrage gibt allerdings die volkskundliche Fachgeschichte. Sie beginnt damit, daß die Begriffe Völkerkunde und Volkskunde in Deutschland zunächst im Zusammenhang der Aufklärung am Ende des 18. Jahrhunderts auftauchen. Im Jahr 1771 verfaßt der Göttinger Historiker August Ludwig Schlözer eine Schrift mit dem Titel (Allgemeine Nordische Geschichte), in der er versucht, die Geschichte der Völker, der Staaten und vor allem auch der Sprachen in Nord- und Osteuropa sowie in Teilen Asiens darzustellen. In diesem Zusammenhang gebraucht er „nicht nur die Begriffe ‚Völkerkunde‘ und ‚Ethnographie‘, sondern auch das Adjektiv ‚ethnographisch‘ und die Tätigkeitsbezeichnung ‚Ethnograph'“ (Vermeulen 1994: 331). Diese Begriffe besitzen bei Schlözer bereits systematischen Charakter, da er mit ihnen konkrete geschichts- und sprachwissenschaftliche Vorgehensweisen zu beschreiben versucht, die den Vergleich von Völkern und Gesellschaften ermöglichen sollen. Ob die Prägung des Wortes Ethnographie als „völkerkundliche Beschreibung“ für Schlözer eine Kategorie verkörpert, die auf geographischen und statistischen Verfahren der Staatsund Gesellschaftsbeobachtung aufbaut, oder ob er sie eher in einem geschichts- und sprachwissenschaftlichen Zusammenhang entwickelt, ist dabei noch eine offene Frage. Der Begriff „Volks-Kunde“ wiederum taucht elf Jahre später ebenfalls im Bereich der Göttinger Universität auf. Der damalige Bibliothekssekretär Friedrich Ekkard benutzt ihn in der Zeitschrift ‹Der Reisende›, um damit ein Beobachtungssystem zu umschreiben, mit dessen Hilfe Reisende im eigenen Land dessen Kultur und Geschichte beobachten und erforschen sollen. 1787 verwendet der Prager Statistiker Josef Mader dann den Begriff „Volkskunde“ sogar im Titel seines Buches über eine ‹Landes-, Volks- und Staatskunde Böhmens› (Bausinger 1971: 29). Dort durchaus auch im Kontext eines beginnenden „Tschechoslowakismus“, der sich als nationale Bewegung entfaltet (Hroch 1968).

Mit diesen Datierungen und Verortungen ist nun keine „Geburt“ oder „Erfindung“ bezeichnet, aber es sind immerhin Hinweise auf begriffliche Entstehungsbedingungen gegeben. Zum einen bildet die Universität Göttingen damals ein Zentrum der Beschäftigung mit der Frage, wie Staaten, Völker und Nationen in ihrem Inneren beschaffen sind, was sie zusammenhält und welche Unterschiede zwischen ihnen sich feststellen lassen. Damit ist eine Art vergleichende Volks- und Völkerforschung begonnen, die ganz im Zeichen der Aufklärung und mit vielfach „harten“ statistischen und geographischen Methoden die Bevölkerungs- und Wirtschaftsverhältnisse untersucht, in ihren wissenschaftlichen Erkenntnishorizont aber auch einen utopischen Gehalt einschließt: die Frage nämlich nach den Möglichkeiten menschlichen Fortschritts im Sinne einer neuen sozialen Humanität. Zum zweiten wird deutlich, daß die Begriffe „Völkerkunde“, „Volks-Kunde“ und „Ethnographie“ im Rahmen einer Gruppe von Forschern und Wissenschaftlern benutzt werden, die sich persönlich kennen und deren Arbeiten miteinander in Verbindung stehen. Zusammen mit Schlözer und Ekkard sind in Göttingen damals der Südseeforscher Johann Reinhold Forster, der Statistiker Gottfried Achenwall, der Kameralist Christoph Wilhelm Jakob Gatterer, der Geograph Johann Ernst Fabri oder der Historiker Matthias Christian Sprengel tätig, in deren Kreis vor allem ähnliche Konzepte französischer Aufklärer diskutiert werden. Zum dritten meinen „Volkskunde“ und „Völkerkunde“ in diesem Diskussionszusammenhang noch eine Art generelle „Bevölkerungswissenschaft“, werden also eher assoziativ und metaphorisch denn systematisch und dazu oft noch synonym gebraucht (Könenkamp 1988). Es gibt daher vorerst auch keine begriffliche Trennung zwischen beiden (Hartmann 1988). Und zum vierten entsteht daraus noch lange nicht das Universitätsfach Volkskunde oder Völkerkunde, sondern zunächst nur ein Verbund von Personen, Begriffen, Diskussionen und Publikationen, der in die Öffentlichkeit hineinwirkt und dort allmählich seine Leitbegriffe „besetzt“ bekannt macht. Was damit präzise gemeint ist, bleibt freilich umstritten bzw. offen, weil dieses völkerkundliche und volkskundliche Interesse eingebunden ist in andere thematische und fachliche Diskussionszusammenhänge, die disziplinär von der Staatswissenschaft bis zur Geographie und von der Geschichtsphilosophie bis zur Sprachwissenschaft reichen.

Es ist also eher ein bestimmtes Gegenstandsinteresse am Volk, das hier allmählich zu seinem Begriff findet, als daß die Frage selbst neu gestellt worden wäre. Vielmehr muß man noch sehr viel weiter in die Geschichte und Wissenschaftsgeschichte zurückgehen, um die Entstehung solcher Vorstellungen zu verfolgen. Wenn man nicht bereits bei Tacitus’ ‹Germania› als Beginn einer Landes- und Stammesbeschreibung beginnen will, muß zumindest die Zeit der Renaissance genannt werden, also des 14. und 15. Jahrhunderts, in der Humanisten und Reformatoren, anknüpfend an philosophische Traditionen der Antike, neu nachzudenken begannen über gesellschaftliche wie individuelle Bedingungen des Menschseins und der Menschlichkeit. Verbunden mit Namen wie Ulrich von Hutten und Philipp Melanchthon in Deutschland oder Thomas Morus in England wurde hier über die Idee eines menschlichen Lebens in Würde, über gemeinschaftliche Ethik und Moral, über einen freieren Umgang mit Religion und nicht zuletzt über die Anerkennung anderer Kulturen und Wissenstraditionen diskutiert und geschrieben. Aus der philosophischen Höhe der allgemeinen Bedingungen des Menschseins tauchten diese Ideen dann im 16. und 17. Jahrhundert gleichsam in die „Niederungen“ der materiellen Staatswissenschaften, der Landesbeschreibungen und der regionalen Kulturdarstellungen ein. Hier ging es bereits um Natur und Geographie als die stofflich-räumlichen Bedingungen menschlichen Lebens, um materielle Lebensweisen wie Arbeit, Hausbau und Ernährung in konkreten Regionen und um Traditionen und Bräuche als Hinweise auf regionale Eigenarten und Mentalitäten der Bewohner. Entworfen wurden also Bilder von europäischen Landschaften, von Wirtschaftsweisen und von Menschengruppen, die sich aus einzelnen Mosaiksteinen zu einem Ganzen zusammenfügten. Doch waren dies nur Vorläufer einer kommenden Neugier auf Volk und Gesellschaft, die sich erst jetzt, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, ihre breite Bahn bricht.

Daß sich diese Entwicklung neben Frankreich, den Niederlanden, der Schweiz, Böhmen oder Ungarn insbesondere in Deutschland vollzieht, läßt sich wohl aus der spezifischen politisch-gesellschaftlichen Situation erklären. Deutschland ist in dieser Zeit vor und nach 1800 immer noch ein „Flickenteppich“ aus vielen Einzelstaaten, von kleinsten Stadtstaaten bis zu den großen Preußen und Osterreich. Dieser staatlich-politischen Zerrissenheit entsprechen zahllose innere Unterschiede: verschiedenartige wirtschaftliche Strukturen, zahllose Geldwährungen, unterschiedliches Recht, Maß und Gewicht, über Jahrhunderte gewachsene regionale Traditionen und Mentalitäten, schließlich auch der harte Konfessionsgegensatz zwischen Katholiken und Protestanten sowie ein religiös motivierter Antisemitismus. Diese konfessionelle Spaltung zeitigt vielleicht noch einschneidendere Wirkungen auf die Denk- und Wertehorizonte als die zahllosen Grenzen und Paßstellen, die alle paar Kilometer ein politisches Deutschland durchschneiden. Dieses fühlt sich noch keineswegs als ein gemeinsamer Raum und ist auch sprachlich in zahllose Dialekte und lokale Idiome aufgespalten, die ohne Dolmetscher untereinander kaum verständlich gemacht werden können.

Eine neue Zeit

Verbindendes Element ist in gewisser Weise ein „provinzieller Charakter“ des Alltagslebens: 90 Prozent der Bevölkerung wohnen auf dem Lande in kleinen Dörfern, die großen Städte zählen kaum 10.000 Einwohner, drei Viertel der Menschen leben noch von der Landwirtschaft.[2] Lokal übergreifende Medien in Form von Büchern und Zeitungen gibt es erst in Ansätzen, nicht zuletzt deshalb, weil sich erst jetzt in einem breiteren Publikum Lesefähigkeit und deutsche Hochsprache durchzusetzen beginnen und das Lateinische der Kirche bzw. das Französische des Adels zurückdrängen. Verbindend wirkt auch das Prinzip der Ständegesellschaft, in dem das Feudalsystem jeder gesellschaftlichen Gruppe einen festen Platz in der sozialen Ordnung zuweist. Adel und Geistlichkeit, städtische Beamte und zünftige Handwerker, Bauern und Tagelöhner haben wenig miteinander zu tun. Jede Gruppe besitzt ihre eigenen sozialen Räume, auch innerhalb einer scheinbar gemeinsamen Stadtgesellschaft; jeder ist ein eigener Kleidungsstil zugewiesen, ihre Geselligkeit folgt eigenen Regeln, ja bis zur Sargausstattung ist der „Standeshabitus“ festgelegt. Es ist eine Sozialordnung, die sich noch fest im Griff des aufgeklärten Spätabsolutismus befindet. Einerseits existieren noch Leibeigenschaft, Adelsherrschaft, es gibt noch keine Wanderungs- und Pressefreiheit, keine politischen Parteien und Medien. Andererseits beginnt der Staat, sich verantwortlich zu fühlen für das „Gemeinwohl“, zu dem die Anfänge einer systematischen Armenpolitik, einer Hygienepolitik, einer „kameralistischen“, also staatlich gelenkten Wirtschaftspolitik ebenso gehören wie der Beginn der Schulpflicht und einer allgemeinen Wehrpflicht.

Jenseits der deutschen Gebiete ist dies aber bereits das Zeitalter der Nationalstaaten, der sich ideologisch wie politisch formierenden Gesellschaften Englands, Frankreichs und der USA, die auch zu den dominanten Kulturmächten innerhalb wie außerhalb Europas werden. So verkörpern diese Jahre um 1800 eine zugleich nationale wie bürgerliche „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck), die einen epochalen Wandel ankündigt. Mit der Französischen Revolution von 1789 sind neue politische Vorstellungen und gesellschaftliche Wertordnungen entstanden, mit der Herausbildung neuer staatlicher Systeme neue Rechtsvorstellungen, Institutionen und Wirtschaftsordnungen, mit dem nationalen Denken neue Identitäten und Ideologien. Als Horizont über all dem spannt sich das Ideengebäude der Aufklärung, die Gesellschaft nicht mehr als gottgewollte Ordnung, sondern als menschengemachtes Werk erklärt und die das gesellschaftliche Wissen zu „verwissenschaftlichen“ beginnt.

Diese neue Zeit hat in der Tat auch die Zeit neu entdeckt: Geschichte kann nun als Vergangenheit und Zukunft gedacht werden. Sie wird nicht mehr als zyklisch sich wiederholend wahrgenommen, sondern als linear fortschreitender Prozeß, hin auf einen „zivilisatorisch“ wirkenden gesellschaftlichen Fortschritt. Zeit wird zu dem Schlagwort schlechthin: Das ‹Deutsche Wörterbuch› der Gebrüder Grimm notiert zwischen 1770 und 1830 über hundert neue Wortschöpfungen mit der Silbe „Zeit“ wie „Zeitanschauung“, „Zeitgeist“, „Vorzeit“ oder „Neue Zeit“. Gegen dieses Zeitdenken, das Vergänglichkeit und Wechsel, Geschwindigkeit und Hektik im geschäftlichen und gesellschaftlichen Leben ankündigt, inszenieren sich damals bereits symbolische Gegendemonstrationen: In Paris führen vornehme Spaziergänger an sonnigen Nachmittagen ihre Schildkröte an der Leine spazieren, um in diesem Habitus des beschaulichen Flaneurs ihr Recht auf Gemächlichkeit, auf Eigenzeit zu bekunden.

Auch in Deutschland wird dieser soziale und kulturelle Wandel allmählich spürbar. Die neue Zeit beginnt auch hier, das bürgerliche Zeitalter einzuläuten. „Bürgerlichkeit“ meint neue Ideen und neue Verhaltensweisen in allen gesellschaftlichen Bereichen. Es meint ein Nachdenken über Familie und Geschlechterrollen, über die Trennung von privatem und öffentlichem Leben, über Arbeitsethik und Bildung, über Individualität und Kindheit, über Politik und Fortschritt, über Wissenschaft und Technik. Die Orte dieses bürgerlichen Nachdenkens und Diskutierens sind einerseits die Salons der großen bürgerlichen Häuser, in denen über Literatur, Philosophie und Politik gesprochen wird, andererseits die zahllosen Geschichts-, Gesangs-, Wohltätigkeits- und Schützenvereine, in denen sich in jeder deutschen Stadt nun geselliges Leben mit sozialen Zwecken verbindet.

Diese in unglaublich kurzer Zeit entstehende bürgerliche Vereinslandschaft bildet auch die ersten institutionellen Formen „bürgerlicher Öffentlichkeit“ (Jürgen Habermas) heraus, die dann etwa in der Gestalt von „Museen“ auch Literatur- und Kulturpflege betreiben. Zunächst sind dies Versammlungsräume für die Vereinsmitglieder, oft ausgestattet mit Lesezimmern und Bibliotheken, aus denen sich später das moderne Museum als Sammlungsort von Gegenständen der Kunst oder der lokalen Geschichte entwickelt. In diesen Salons, Vereinen