Nonchalance

von Peter Lohmann

 

 

Roman

 

 

Renate Götz Verlag

 

© Renate Götz Verlag, A-2731 Dörfles, Römerweg 6

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Umschlagfoto: Eva Denk, eva@outlinegrafik.at

EBOOK: C.E.Z.-Software HgmbH

e-ISBN: 9783958495555  


 

 

Der Autor

 

Peter Lohmann wurde 1941 in Innsbruck geboren. Als Kellner lernte er die Welt kennen, als Hotelier die Menschen. Aus diesem Milieu stammen seine Personen, seine Geschichten. Während seiner Lehrzeit als Kellner schrieb er Wild-West-Geschichten, um sein Einkommen aufzubessern. Heute, nach vielzig Jahren, Lebt er zusammen mit seiner Frau auf einem Weingut in der Steiermark und schreibt Romane.

 

1.

Die Gäste an der Bar drehen sich um, an den Tischen sitzt man mit Blick zur Tanzfläche.

Mandy hat ihren Auftritt.

Charly, unser Chef, hatte mal wieder den richtigen Riecher. Er hat Mandy von der Straße geholt, vom Straßenstrich, und ein gutes Geschäft damit gemacht. Nicht, dass sie besonders gut singen oder tanzen könnte, wirklich nicht, aber sie kann sich bewegen. Und wie!

Sie steckt in einem tomatenroten Wollkleid, hochgeschlossen, und alles an ihr ist gleitend, fließend, ähnlich einer Coca-Cola-Flasche. Keine Boa, keine Handschuhe oder sonstiger Firlefanz, den andere Stripperinnen brauchen: ihr Kleid, ein Barhocker und raffiniertes Licht sind ihre einzigen Utensilien. Ohne Eile, aber auch ohne zeitraubende Gesten, schält sie sich aus dem Kleid. Ein langer Reißverschluss teilt es von oben bis unten. Und dann legt Mandy los. Laszive Bewegungen, ordinär angedeutete Gestik: Sie weiß genau, wie sie die Phantasie ihres Publikums weckt! Nicht nur bei den Herren steigen Blutdruck und Atemfrequenz, auch die Damen kriegen große Augen und feine Schweißperlen um die Nase.

Dabei ist Mandy eine umgängliche Person. Wir unterhalten uns ab uns zu. Vor der Show trinkt sie immer ein Glas Champagner, sonst nur Mineralwasser. Ihr Lächeln, wenn sie mir zutrinkt, könnte ich als Einladung auffassen. Doch ich habe regelrecht Angst vor einer Frau, die solche Bewegungen drauf hat.

Ihre Maße von 85, 55, 85 stimmen auch. Ich habe nicht nachgemessen, sondern weiß es von Stutzi, meiner Schwester, die auch in diesem Laden arbeitet und Mandy manchmal ein Getränk in die Garderobe bringt. Stutzi und ich sind ein gutes Team, sie vor, ich hinter dem Tresen.

„Los, Brüderchen, meine Gäste sind hitzig und wollen löschen: Zwei Highball, drei Gin-Fizz, drei Champagner-Cocktail, eine halbe Moet“, lautet ihr Part.

Während ich mixe, ist Stutzi schon wieder weg, neue Bestellungen aufnehmen. Lauter Beifall bricht los, als Mandy noch einmal ihre rasierte und kreideweiß gepuderte Muschi bewegt und mit dem Hintern wackelt, dessen Falte mit Schminke bis ins Kreuz verlängert ist. Die Stripperin kriegt Standing Ovations.

 

Um halb fünf schlüpfen Stutzi und ich in unsere Mäntel. Die Kragen hochgeschlagen, lehnen wir uns müde gegen Wind und Regen. Aggressiv klatschen mir die Tropfen ins Gesicht, als hätten sie es alleine auf mich abgesehen.

Endlich sitzen wir im Taxi. Stutzi lehnt sich an mich und schläft gleich ein. Die Fahrt dauert eine halbe Stunde. Wir wohnen etwas außerhalb. Brummer zuliebe.

Als wir aus dem Wagen klettern und ins Haus stolpern, schießt ein schwarzes Ungetüm mit quietschendem Gejaule auf uns. Brummer, unser dritter im Bunde. Brummer zelebriert die Begrüßung immer mit ungestümer Zärtlichkeit.

Was ein Neufundländer ist, weiß man ja.

Was ein Neufundländer sein kann, wissen nur Stutzi und ich. Wer kann schon begreifen, wie eng die Freundschaft mit diesem siebzig Kilo schweren Koloss sein kann, mit welch bedingungsloser Hingabe dieser zottige, bullige Hund an meiner Schwester hängt und mit welch souveräner Überlegenheit er meine Existenz duldet. Brummer gehört Stutzi und sie gehört ihm, und wehe dem, der daran zweifelt! Dieser schwarze Satan mit der hellroten Zunge beißt mit einem Schnapper ein solides Holzscheit durch, rennt Türen ein und wirft jeden Mann über den Haufen, wenn’s sein muss.

 

Meine Schwester kniet auf der nassen Erde, krault zärtlich in seinem Fell. „Dummer Kerl, wirst ja pitschnass. Ab schnell ins Haus.“

Lautlos schleichen wir die Treppe hoch. Stutzi drückt mir in der Wohnung ihre Tasche, den Mantel und Schal in die Hand und wankt ins Bad. Sie ist todmüde. Für einen Augenblick tut sie mir leid.

Nach einer halben Stunde sehe ich nach ihr. Sie sitzt noch immer in der Wanne. Der Schaum hat sich schon aufgelöste. Ich tippe ihr auf die Schulter: „Schlaf nicht ein, das Wasser wird kalt.“

Sie dreht den Kopf und nickt. Wenig später höre ich sie kommen. In ihrem weiten Pyjama sieht sie noch kleiner, noch zerbrechlicher aus. Mit geschlossenen Augen schleicht sie zu ihrem Bett, richtet das Kopfkissen und krabbelt unter die Decke. Ich zünde eine Zigarette an, stecke sie zwischen ihre Lippen; Sie nimmt einen Zug und morst mit den Augenlidern noch schnell: Gute Nacht.

Nun ist es ganz still. Auch draußen rührt sich noch nichts. Am Fenster neben mir blähen sich die Vorhänge, der Wind fängt sich in ihnen. Feiner Wasserstaub legt sich auf mein Gesicht. Es ist sechs Uhr früh. Ich tippe auf den Knopf der Nachtischlampe, die auf einem Tischchen steht, das zwischen Stutzis und meinem Bett eingeklemmt ist.

Jetzt spüre ich erst, wie weh mir die Knochen tun. Jeden einzelnen spüre ich. Das verdammte Wetter muss daran schuld sein. Mitte Mai, und Stutzi trägt ihren dicken Lodenmantel und ich meine Felljacke. Seit Tagen fällt nasskaltes Wasser vom Himmel, und je mehr wir auf Besserung hoffen desto kälter wird der Regen. Stutzi bockt schon seit ein paar Tagen. Das kann sie verdammt gut.

Überhaupt: Stutzi! Bald wird sie neunzehn. Eigentlich heißt sie Amanda, die Liebenswerte, aber so recht hat sie sich nie mit ihrem angetauften Namen abgefunden. Tante Agathe, die Urheberin dieser Geschmacklosigkeit, bekam Stielaugen, als Stutzi ihr vor vielen Jahren die unverblümte Meinung sagte. Damals lebte unser Vater noch. Er lachte schallend und rieb sich vergnügt die Hände, als Tante Agathe beleidigt abreiste. Anschließend wollte er aus Prinzip Stutzi den Hintern versohlen, doch sie gab ihm einen Tritt in den Bauch und sprang aus dem Fenster.

Bis zu ihrem elften Lebensjahr trug Stutzi Lederhosen. Speckige, krachende Lederhosen. Sie trug sie daheim, im Kino und in der Schule. Ihre Lehrerinnen bombardierten deswegen Vater mit Fleh- und Drohbriefen. Er schoss scharf zurück. Auf gehämmertem Büttenpapier verbat er sich jede Einmischung. Stutzi galt dann als bedauernswertes Geschöpf eines spleenigen Vaters.

 

Bei der Auswahl unserer Eltern sind wir wirklich etwas leichtsinnig gewesen. Ich hatte den Vortritt, konnte aber nicht viel damit anfangen. Nach fast vier, meist verschlafenen, Jahren bekam ich Stutzi dazu. Zwar wäre mir eine Eisenbahn zum Aufziehen lieber gewesen, aber auch meine Schwester hatte viele Hebel und Schalter zum Drücken und Biegen - die Enttäuschung hielt sich daher in Grenzen. Dass wir seit ihrem Auftauchen keine Mama mehr hatten, fiel mir erst später auf. Dunkel erinnere ich mich noch an allerhand langhaarige, junge Frauen, die mich in den folgenden Jahren zum Essen zwangen, mir den Mund abwischten, mich ins Bett schickten, das Licht löschten und mir auch sonst das Leben vermiesten.

Ich war gerade zwölf und Stutzi acht, als Vater eine Militärdiktatur einführte: Er, der Große Fritz, übernahm den Oberbefehl und ernannte eine ältere Dame, unsere Haushälterin, zum Hauptmann. Sie hatte mir zu befehlen. Ich wiederum, als Unteroffizier, durfte Stutzi Befehle erteilen, die es nur bis zum Obergefreiten gebracht hatte. Stutzi schrie Zeter und Mordio: Leutnant war das mindeste, was sie sein wollte. Also wurden wir alle befördert, Stutzi zum Leutnant, ich zum Oberleutnant, und alle waren zufrieden. Unser Staatswesen funktionierte. Bis plötzlich eines Tages mein Untergebener nicht mehr mitspielte.

Stutzi muss so um die dreizehn gewesen sein, als sie überschnappte. Sie verweigerte den Gehorsam, setzte sich stundenlang vor den Spiegel, brannte sich mit einer glühenden Schere Wirrwarr ins Haar, putzte sich die Ränder unter den Fingernägeln weg und trug Kleider. Täglich weinte sie zwei Stunden, weigerte sich, weiterhin mit mir in einem Zimmer zu schlafen, verlangte – und bekam sogar – ein eigenes, und ging mit mir um, als wäre ich etwas Unanständiges, Ekelhaftes. Sie kreischte wie am Spieß, wenn ich mal ins Bad kam, und ließ sich von mir nicht mehr den Rücken waschen.

Anfangs übersah ich das blöde Getue, aber mit der Zeit nervte es mich doch. Erstens war ich neugierig, und zweitens immerhin schon siebzehn und ein Mann! Es war unter meiner Würde, mich mit einer Verrückten herumzuärgern.

 

Bei einer Offiziersbesprechung informierte ich den Oberbefehlshaber.

Vater malmte mit den Zähnen und gab mir den dienstlichen Befehl, mich ausgehfertig zu machen. Ich weiß es noch genau, es war ein brütend heißer Nachmittag. Er führte mich in eine Cafébar und bot mir eine Zigarette an. Donnerwetter! Er erzählte von Mama und redete volle zwei Stunden. Nicht von Bienen und Störchen, dafür war ich mindestens sieben Jahre zu alt, aber von Mädchen und Frauen, von Wachstum und Zyklus, von Eierstöcken und Gebärmutter.

Guter Himmel, wie ich versuchte, die manchmal aufkommende Verlegenheit zu unterdrücken! Zum Schluss dankte ich dem lieben Gott, der mich damit verschont hatte, ein Mädchen zu sein. Seit damals weiß ich, was für furchtbar vertrackte Wesen Frauen sind.

Jedenfalls versuchte ich in nächster Zeit, kein Sand in Stutzis kompliziertem Getriebe zu sein. Mein guter Vorsatz wurde arg strapaziert. Monatelang dominierten ihre meist tränenreichen Launen, und Woche für Woche opferte ich die Hälfte meines Taschengeldes, um sie zu bestechen. Ich brachte Dauerlutscher, Fahrradwimpel, Abziehbilder und sogar eine Mundharmonika. Meistens feuerte sie mir die Geschenke an den Kopf. Vater empfahl mir Alternativen. Anstatt Zuckerzeug versuchte ich es nun mit einem großen Kamm, mit blinkenden Ohrringen, mit einer Puderdose. Siehe da, sie nahm es an, ihre umflorten Augen billigten mir mildernde Umstände zu.

Doch langsam kapierte auch ich, dass ich ein richtiges Mädchen zur Schwester hatte. Da sie sich nicht beeilte, nach oben zu wachsen, wuchs sie eben nach vorne. Dort, eine gute Handbreite unter dem Hals, legte sie Depots für schlechte Zeiten an. Der Leutnant hatte seinen Wehrdienst beendet. Außerdem meinten meine Kameraden, dass Stutzi ein niedlicher Teenager sei. Als ich es oft genug hörte, glaubte ich es selbst.

In einem Anfall von Leichtsinn nahm ich bei Vater einen größeren Kredit auf und kaufte ihr einen Hund. Ein schwarzes, wolliges Knäuel, das nur aus Zunge, Pfoten und Fell bestand. Ich konnte nicht ahnen, was ich damit anstellte! Als erstes bekam ich einen Kuss. Den ersten nach vielen Monaten. Dann nahm sie das schwarze Etwas, und alles war harmonische Wonne. Ihre ganze Zeit widmete sie dem Hund. Unter ihren streichelnden, kosenden, fütternden Händen schnurrte und brummte der Welpe von früh bis spät, mal laut, mal leise, mal melodisch sonor, plötzlich erschreckt quietschend. Wir nannten ihn Brummerle, eigentlich logisch, und später dann Brummer.

Er revanchierte sich bald.

Ein halbes Jahr später starb Vater. Für uns beide brach eine Welt zusammen, aber Stutzi fiel bodenlos. Sie verfiel der Melancholie und dem In-die-Luft-starren. So oft ich auch mit ihr redete – sie schaute durch mich hindurch. Ich hatte richtig Angst, wusste nicht mehr, wie ich sie aus dieser Lethargie lösen konnte. Dann kam Brummer und nahm mir diese Sorge ab. Mit sagenhafter Ausdauer und Sturheit stupste er Stutzi an, brummte die Tonleiter rauf und runter und lief zwischen ihren Füßen herum. Er wog schon dreißig Kilo und hielt viel von Bewegung. Stundenlang zog er meine Schwester an der Leine hinter sich her, wirbelte mit einem Schulterstoß andere Hunde durch den Straßenstaub und zögerte auch nicht, mit Stutzi zu raufen. Zwar kam die Lederhose nicht mehr zu Ehren, dafür Jeans. Bald hingen in ihrem Schrank mehr Hosen als Röcke. Sie lebte wieder.

Dann kam Tante Agathe mit Koffern und Familiensinn.

Stutzi magerte ab, und Brummer bekam den bösen Blick. Als Tante Agathe uns wissen ließ, sie werde für Stutzi die Vormundschaft beantragen, gab ich ihr Hausverbot.

Sie konnte es nicht fassen! Ein Bengel von gerade achtzehn schmiss sie aus dem Haus ihres Bruders! Ihre Rache spürten wir postwendend. Beamte kamen und beschmutzten unsere Teppiche. Nachlass- und Vormundschaftsgericht, Jugendamt, Sterbe- und Waisenkasse, Versicherungen – alle schickten uns neugierige Personen ins Haus, die dämlich fragten, indiskret die Einrichtung musterten und wissen wollten, wie es uns denn so gehe!

Tante Agathe ließ nicht locker, wollte Stutzi unbedingt bei sich haben. Doch so schnell lässt ein Münchner Gericht nicht zu, dass ein Bayer nördlich des Mains verschleppt wird. Die Schule gab den Ausschlag. Stutzi pochte darauf, in ihrer Schule zu bleiben und ließ an unserer Tante kein gutes Haar. Ich redete mit Händen und Füßen, es sei unmenschlich, Geschwister auseinander zu reißen, grundlos, eigentlich nur, weil eine alte Frau Langweile habe.

Da ich schon achtzehn war, gab es einen Kompromiss: Ein Amtspfleger wurde bestellt, dessen Namen wir heute gar nicht mehr wissen. Dieser Sieg brachte uns ein gehöriges Stück näher. Ab diesem Moment rückten wir enger zusammen. Gemeinsam hatten wir etwas erreicht.

Als Stutzi ihr Abschlusszeugnis bekam, versuchte sie es mit Arbeit. Nach einigen erfolglosen Experimenten vernagelten wir Türen und Fenster und brachten Koffer und Hund zum Bahnhof. Über ein Jahr lang durchstreiften wir die deutschen Großstädte: Köln, Hamburg, Frankfurt. Es war eine irrwitzige Zeit! Man konnte Stutzi nicht alleinlassen! Sie legte sich mit allem und jedem an. Erst, als wir zusammen im gleichen Betrieb arbeiteten, herrschte Ruhe.

Der eigentlich Leidtragende in dieser Zeit war Brummer. Personal braucht sehr wenig Wohnraum. Unsere Unterkünfte maßen drei mal drei, bestens vier mal vier Meter. Wenn Brummer sich einmal umdrehte, flog das Tischchen um, wenn er sich bei Regenwetter einmal schüttelte, hatten die Tapeten neue Muster. Schmutzwäsche wurde unter die Stockbetten geschoben, Brot oder Wurst schimmelte nach einem Tag. Wir wechselten den Job, sobald der Dreck überhand nahm.

Mit der Zeit gewöhnten wir uns an das Nomadendasein, waren nirgends lange genug, um aufzufallen, und verdienten Geld. Nicht genug, um davon leben zu können, wir mussten jeden Monat von unserem kleinen Erbe dazulegen, aber es waren eben Lehr- und nicht Herrenjahre.

Stutzi hat bis heute keinen eigentlichen Beruf. Es stört sie bisher nicht, und sie ist jung genug, um das nachzuholen, sollte es mal wichtig für sie sein. Das Geld dafür ist angelegt, unsere Bank verwaltet diese Wertpapiere.

 

Stutzis achtzehnten Geburtstag feierten wir ziemlich schwankend im Schlafwagen zwischen Köln und München. Um zwölf krabbelte sie die Leiter zu meiner Koje herab, öffnete eine Flasche Champagner und seufzte herzerweichend. Wir waren endgültig auf dem Heimweg.

Das Haus verkauften wir - es brachte trotz Hypothek noch einen Batzen Geld - und zogen in eine kleine versteckte Villa am Rande Münchens. Ein großer Park mit Bäumen, Büschen und Hecken umgibt unsere Bleibe.

Um das Bild gerade zu rücken: Eigentlich haben wir nur zwei Zimmer: ein gemeinsames Schlafzimmer und ein übergroßes Wohnzimmer. Eingerichtet haben wir uns a la Pariser Mansarde, mit vielen kleinen Teppichen, wenigen, aber noblen Möbelstücken, mit Büchern, Schallplatten und CDs, und natürlich immer unaufgeräumt. Unten im Keller gibt es noch eine Rumpelkammer, vollgestopft mit Möbeln aus unserem Elternhaus. Ein Chaos, aber bequem genug, um ab und zu flüchten zu können. Auch ein paar Flaschen Wein lagern hier. Für diese Bleibe plus Hundehütte bezahlen wir neunhundert Mark. Über uns wohnt nur noch der Besitzer, und der hat außerdem eine Penthauswohnung in der City. Wir sehen ihn vier-, fünfmal im Jahr.

Unser Geld für diesen Luxus verdienen wir zur Zeit im Eve, einem der bekannteren Nachtclubs Münchens. Wenn ich unseren Background so überdenke – eigentlich nichts Besonders.

 

Es regnet noch immer. Blöd-grau starrt der Tag ins Zimmer. Brummer wäscht mir das Gesicht. Ich gebe ihm eine Ohrfeige.

„Winnetou?“

Diesen Ton kenne ich. Moll. Cis Moll. Einschmeichelnd. Ich höre, wie sie aus dem Bett steigt, sich auf meine Daunen setzt.

„Schau doch mal aus dem Fenster. Es ist trostlos. Es regnet. Wie gestern, wie vorgestern, wie vorige Woche. Das Barometer schämt sich, und ich bekomme eine Gänsehaut.“

Es klingt, als stelle sie mich unter Anklage. Ihre teakholzbraune Windstoßfrisur umrahmt das noch leicht verschlafene, schmollende Gesicht. Der zerknitterte Pyjama hängt formlos an ihrem Körper. Winnetou sagt sie immer dann, wenn sie was will. Ich weiß es, sie weiß es. Brummer reibt sich an ihren Beinen. Er weiß es auch.

Ihre schmalen Finger spazieren über mein Gesicht.

„Ich meine“, plappert sie weiter, „wir sollten die Initiative ergreifen. Wenn die Sonne nicht zu uns kommt – gut, dann müssen wir eben zu ihr. Schau her, ich bin schon ganz blass.“

Sie zieht die Jacke ihres Pyjamas über die Schulter.

Ich tue so, als sei ich nicht neugierig. „Setz dich vor die Höhensonne“, rate ich ihr.

Sie zieht einen Flunsch. „Unter einer Höhensonne kann man nicht segeln.“

„Und wie willst du nach Riva kommen? Wovon willst du leben?“

Ich frage, obwohl ich die Antwort kenne. Viele Sommer am Gardesee liegen hinter uns, und zwei davon, wie man sie nur aus Werbefilmen kennt. Zwei Sommer, vollgepackt mit Sonne, Wind, türkisblauem See und mit unendlichem Wohlbehagen.

Sie wird ganz aufgeregt: „Oh, du, pass auf! Ich sorge für Fahrgelegenheit, bestimmt! Und du ziehst wieder jemanden aus dem Wasser. Das hat letztes Mal auch geklappt!“

Ihre Logik hat etwas für sich. Ein Wimpel an unserem Boot, der Luckystar, bezeugt: Wir haben jemanden aus den Wellen des Gardasees gefischt! Der fast Ertrunkene schätzte sein bisschen Leben hoch ein und opferte. Die Opfergaben reichten aus, um uns ein Vierteljahr Urlaub zu finanzieren. Wenn Stutzi also auf das Gesetz der Serie spekuliert, dann tut sie es nicht ganz zu unrecht. Trotzdem bin ich nicht begeistert. Gabi würde mich fragen, ob ich total spinne. Ich kann wirklich nicht für Wochen verschwinden - gerade jetzt, wo das Eis zwischen uns schmilzt. Und gut bei Kasse sind wir auch nicht. Was, wenn niemand uns den Gefallen tut und ersäuft?

„Bitte, Winnetou, bitte.“

Aussichtslos! Dagegen komme ich nicht an. Ich weiß es, wir wissen es beide.

„Ich finde schon einen, der uns mitnimmt. Bestimmt!“

Diese Masche von ihr kenne ich auch. Genaueres will ich gar nicht wissen. Morgen, spätestens übermorgen jedenfalls wird einer sie abholen, große Augen machen, weil Brummer und ich auch einsteigen und sich zu sehr schämen, um uns wieder aus dem Auto zu werfen.

„Also gut.“

Sie vibriert vor Energie und Aufregung, vergessen sind Regen, Kühle, Schnupfen. Stutzi wirbelt durchs Zimmer, sucht Koffer, fängt an zu packen.

Brummer macht mit dem Unsinn Schluss. Mit einem zärtlichen Schlag wirft er sie zu Boden und wäscht sie gründlich. Stutzi quietscht in den höchsten Tönen, klammert sich an ihm fest. Stück für Stück schleift er sie zur Tür. Brummer weiß nicht, was ein Pyjama ist, er würde meine halbnackte Schwester glatt ins Freie schleppen.

Wir schlüpfen in die Trainingsanzüge. Dann kommt Brummer auf seine Kosten. Wie Verrückte hüpfen wir durch den Park, raufen mit dem Hund, strapazieren seine und unsere Muskeln. Ein tägliches Spiel.

Der Regen weicht uns auf. Stutzi reitet auf dem Hund ins Haus. Zwanzig Minuten braucht sie sicher, um ihn zu trocknen. Ich gehe inzwischen zum Metzger und hole sein Frühstück. Außer Dosenfutter, vermischt mit Hackfleisch, kriegt Brummer jeden Tag Kalbsknochen.

Während Brummer frisst, kultiviere ich mich. Unsere Dusche hat Pfiff. Sie lässt nicht nur von oben Wasser fallen, nein, es spritzt aus noch acht Düsen in jeder Höhe. Obendrein kann man jede Düse einzeln temperieren. Der totale Luxus!

„Du, Stutzi!“, rufe ich durch die Duschverglasung, „fährst du noch mit Brummer in die Tierklinik? Er muss noch geimpft werden.“

„Klar.“

Nanu, das ging aber schnell! Solche Wege versucht sie eigentlich immer mir anzuhängen. Richtig, einmal hat sie kurz einen Tierarzt erwähnt.

Ich drehe das Wasser ab. „Du sollst wegen Brummer zum Tierarzt. Oder hast du ihn auch nötig?“

„Noch einen Ton, und mich befällt die Tollwut!“

Während Stutzi sich anzieht, spendiere ich weitere Knochen. Eine Wonne zuzuschauen, wie sie zwischen Brummers Zähnen verschwinden. Ich spüre, wie mein Magen knurrt

Da kommt sie. Frech, charmant, lieb, sehenswert verpackt in einem rehbraunen Lederkostüm. Ein Hauch Kölnisch Wasser weht um sie. Sie drückt mir einen Zettel in die Hand: „Schuhe von der Reparatur holen. Wäsche aus der Reinigung. Einmal parfümierte Taschentücher, einmal mit Menthol. Ein Paar Strümpfe nicht vergessen. Marke Gazelle.“

Endlich sitzen wir im Café, gleich neben unserer Wohnung.

Es ist vier, unsere Frühstückszeit.

Stutzi futtert Apfelstrudel, dazu Kaffee und Orangensaft, ich genieße Croissant mit Butter und Marmelade. Dann die erste Zigarette. Tief ziehe ich den Rauch in die Lungen; das leichte Benebeltsein ist herrlich, entspannt.

„Na, na“, beschwert sie sich, „Manieren wirst du wohl nie lernen. Man gähnt eine Dame am Tisch nicht an.“

„Schwestern sind keine Damen.“

„Was dann?“

„Nervtötende und kostspielige kleine Luder.“

„Dein letztes Wort?“

„Meine tiefste Überzeugung!“

Sie steht auf, beugt sich zu mir, haucht mir einen Kuss auf die Wange. „Dann will ich dir nicht zumuten, mit einem Luder im gleichen Taxi zu sitzen. Servus.“

Sie nimmt die Leine und geht zur Tür. Ich wette mit mir selbst um einen Cognac gegen einen Armagnac: Wetten, gleich kommt sie zurück, weil sie was vergessen hat!

Helmut, der Besitzer des Cafés, setzt sich zu mir. „Ist sie wirklich deine Schwester? Ich glaub’s einfach nicht.“

„Beschwören kann ich es nicht.“

Er sieht versonnen zum Eingang. „Wie groß ist sie eigentlich? Ich glaube, in meiner Manteltasche hätte sie bequem Platz."

„Fast. Immerhin Einsfünfzig, umwickelt mit achtundvierzig Kilo zartrosa Spanferkelspeck.“

„Mein Gott! Das nennt man Perlen vor die Säue werfen! Ich könnte heulen.“

„Erzähle es ihr, nicht mir. Auf diesem Ohr bin ich taub.“

Er starrt noch immer zum Eingang. „Deine Schwester hat so was an sich... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll, aber sobald ich sie sehe, möchte ich Schild und Schwert holen und sie beschützen. Diese winzige Niedlichkeit kramt die letzten Reste von edlen Instinkten hervor. Man kommt sich so stark vor.“

Ich lasse ihm seine Illusion. Stark kommt er sich vor. Dass ich nicht lache! Weich und wabbelig würde er in ihren Händen werden. Außerdem gewinne ich gerade einen Cognac, denn atemlos trippelt sie auf mich zu. „Ich habe was vergessen. Schau doch bitte bei der Bank vorbei und frage nach meinem Kontostand. Hier ist die Kontonummer. Holst du mich beim Friseur ab? Um acht bin ich fertig. Bitte.“

„Schon gut, aber die Klinik macht bald zu.“

Ein Schmunzeln huscht um ihre Lippen: „Für mich nicht“, und weg ist sie.

„Bring mir einen Cognac, Helmut, hab ihn eben gewonnen.“

„Gewonnen? Von wem?“

„Von mir.“

„Und wenn du verloren hättest?“

„Dann dürfte ich einen Armagnac trinken.“

„Spinnern widerspreche ich nicht.“

 

Die Bank hat auch schon zu. Aber wenn Stutzi nach Dienstschluss Zutritt in die Klinik hat, dann erfahre ich nach Dienstschluss auch den Kontostand. Gabi kennt meine Stimme. Sie nennt mir die Summen und sagt noch eine Menge Dinge, die nichts mit Bank und Geld zu tun haben. Ich weiß, ich bin ein Schurke, weil ich Hals über Kopf für unbestimmte Zeit verreisen werde. Durch die nächste Blumenhandlung schicke ich Gabi einen Frühlingsstrauß.

In der Schnellsohlerei hole ich Stutzis Schuhe. Schwarze, hochhackige Puppenschuhe; kaum zwei Finger bringe ich hinein.

Shopping macht mir Spaß. Ich verstehe die Männer nicht, die sich weigern, einzukaufen. Mit amüsierter Überheblichkeit lasse ich mich von eilenden, hastenden und ruppigen Passanten zur Seite schieben, mir ihre Taschen und Pakete in die Rippen stoßen, mich beim Anstellen und Warten betrügen. Ich ernte verwirrte, erstaunte und schräge Blicke, weil ich den nach mir Kommenden die großen Flügeltüren offen halte und weil ich zurückweiche, wenn im Gedränge eine Frau an mich gepresst wird.

Manche Leute nennen mich einen Snob. Ich halte mich nur für höflich.

Die Leuchtröhren fangen flackernd an, ihr grelles, neugieriges Licht zu verstreuen. Müde kriechen Autos durch vollgestopfte Straßen, mit peinigendem Schrillen bestehen die Trambahnen auf Vorfahrt. Behandschuhte Hände schieben sich vor hustende Münder und niesende Nasen. Überhaupt scheint in der Luft ein heiserer, krächzender Ton zu hängen. Die Bänke in den Grünanlagen sind vereinsamt; Glänzend rinnen die Regentropfen über die lackierten Bretter. In den Passagen stauen sich die Leute und warten auf das Aufhören des Regens, auf die Tram, die Freundin, ein Taxi oder eben nur so. Regenschirme flirten in der Luft, werden ärgerlich auseinander gerissen. Am Rande des Gehsteigs quietschen Frauen und besehen sich die besudelten Strümpfe.

 

Um halb acht bin ich beim Friseur. Stutzi sitzt noch unter der Haube und blättert in Illustrierten. Brummer liegt neben ihr. Sie winkt mir zu, er erhebt sich träge, schiebt die Schnauze in meine Tasche. Nichts drin für ihn.

Außer dem Chef-Coiffeur bin ich das einzige männliche Wesen in diesem Damensalon und ernte gereizte Blicke. Die Damen wollen nicht, wie ein Mann sieht, was für Kunststücke nötig sind, um ihre Haare zu färben und zu formen. Ein heißer Teenager im rosa Miniarbeitsmantel mit fünf Farben im Haar und jede Menge Piercings im Gesicht, stutzt mir die Fingernägel und versucht, mir nicht wehzutun. Meine zu manikürende Hand liegt auf ihrem Knie, und sooft ich das Mädchen ansehe, kriege ich einen Stich ins Nagelbett.

 

Im Theatiner-Grill essen wir zu Abend. Eigentlich viel zu teuer für uns, und mir wäre eine Portion Spanferkel mit Knödel und Speckkrautsalat auch lieber, aber Stutzi! Sie schwärmt für Silber, für Warmhalteplatten und für gegrilltes Kalbssteak mit Salat, das auf der Briefwaage berechnet wird.

„Wie viel Geld habe ich noch?“ Sie betupft sich vornehm mit der Serviette den Mund. Ihr Lippenstift muss kussecht sein.

„Eintausendeinhundertachtzehn Mark.“

Sie schaut mich betroffen an. „Mehr nicht? Und du?“

„Dreieinhalb Millionen Lire.“

Sie streckt mir über den Tisch hinweg die kussechten Lippen entgegen und haucht mir etwas auf die Wange. „Winnetou, du bist ein Engel. Ich strenge mich auch ganz bestimmt an. Vielleicht sind wir morgen schon unterwegs. Du, ich freue mich ja so verrückt!“

 

Im Eve schwirren noch die Raumpflegerinnen herum. Stutzi zieht sich um, setzt sich zu mir an die Bar. Sie hat schon ihre Uniform an. Schwarze Netzstrümpfe und einen knallengen Einteiler wie ein Badeanzug. Aus Samt, nach Häschen-Art. Soll angeblich erotisch aussehen. Hat aber einen dicken Pferdefuß: Dieses Dress wird für jede Serviererin maßgeschneidert. Nimmt sie zu und passt nicht mehr hinein – nun, dann ist sie ihren Job los. Ohne viel Federlesens.

Betont herablassend klopft Stutzi mit dem Knöchel auf die Theke. „Keeper, ist das eine Bar oder ein Wartesaal? Einen Manhattan, and just now, I’m in a hurry!“

„Sorry, junger Mann, aber an Betrunkene schenken wir nichts aus. Darf es ein Glas Selters sein?“

Solche Spielchen wiederholen sich jeden Abend, man muss die Zeit totschlagen. Wie jeder Keeper verfüge ich über schwarze Bestände, und das nicht zu knapp. Sie kriegt ihren Manhattan und erzählt mir von Riva, der Luckystar und von Castelletto.

Plötzlich steht Charly, der Geschäftsführer, bei uns. „Na, ihr Familie, so quietschvergnügt? Darf man mitfeiern? Gib mir eine Bloody Mary, Rolf.“

Mit dem Glas gebe ihm auch den Beleg zum Abzeichnen. Er wirft mir einen bösen Blick zu. „Dein Überschuss reicht für eine Division Kosaken!“

Er streichelt Stutzi über den Arm. Sie rutscht zur Seite.

„Nichts zu machen, Chef“, grinse ich ihn an, „korrekt bleibt korrekt, vielleicht wollen Sie mich ja nur testen.“

Charly würde ins Werbefernsehen passen. Er ist so groß wie ich, gut gebaut und teuflisch elegant. Volles, schwarzes Haar fließt in weichen Wellen über seinen Kopf, an den Ohren scharf geschnitten; darunter tiefliegende, dunkle Augen, eckiges Kinn, harte Lippen. Ich glaube, die können bei Frauen fordern, was sie wollen, sie kriegen es.

Stutzi fürchtet ihn. Wo es geht, weicht sie ihm aus.

Auf den Tischen brennen die Kerzen, kein Stäubchen liegt auf den Teppichen. Die Band spielt leise Evergreens, es wird noch eine Stunde dauern, bis der Laden sich füllt.

Nach zwei Stunden habe ich alle Hände voll zu tun. Die Gäste wollen in Stimmung kommen und schütten jede Menge Alkohol in sich hinein; an der Bar sammeln sich die Einzelgänger. So oft ich Zeit habe, flitze ich in die kleine Spülküche neben der Bar. Brummer liegt dort und wartet darauf, bis wir nach Hause gehen. Erst als Mandy ihren Auftritt hat, kann ich verschnaufen.

 

Kurz nach zwei fliegt Stutzi mit glühendem Gesicht auf mich zu und zieht mich in die Spülküche. „Ich hab’s gewusst!“, jubiliert sie, „ich hab’s gewusst, Rolf! Morgen sind wir in Riva! Bau deine Bestände ab und mixe mir einen Drink, ja? Darf ruhig kräftig sein.“

Ich verschwinde wieder an die Bar, während sie Brummer ihre Geschichte erzählt.

Beim Abrechnen verrechnet sich Charly dreimal, und viermal korrigiere ich ihn zu meinen Gunsten. Meine Dinner-Jacketts aus der Garderobe nehme ich mit, die Reservesocken nicht.

Endlich sind wir draußen. Stutzi malt mit dem Lippenstift drei Kreuze an die Tür. Das Eve ist für uns gestorben, sie würden uns nie wieder nehmen. Macht nichts.

Selbst in München ist es nicht leicht, um halb sechs ein offenes Lokal zu finden.

In einer Bar, noch offen oder schon wieder offen, finden wir Einlass. Die Frau hinter der Theke sieht aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gefallen. Ängstlich mustert sie Brummer und stellt unaufgefordert zwei Kännchen unter die Kaffeemaschine. Dabei hätten wir sogar Champagner bestellt.

Als die Zigaretten brennen, erzählt Stutzi: „Hast du die Typen an Tisch fünf gesehen? Den mit der Zigarettenspitze? Natürlich ist er mit Emilio Armani verwandt. Er fährt heute nach Rom, gab mordsmäßig damit an. Ich schwärmte von der Via Veneto, und es dauerte keine Minute, bis er Maß nahm und mir mein Glück in der ewigen Stadt versprach. Nach dreißig Sekunden wusste ich, dass er einen BMW Touring fährt. Groß genug für uns, Hund und Gepäck. Dich nehmen wir bis Trient mit, du bist nur Ballast, richte dich also danach. Na, was sagst du zu meinem Organisationstalent?“ Stolz schaut sie mich an.

Ich streichle ihr durch das frisch gewellte Haar. „Prima. Aber verwechsle Talent nicht mit Proportionen. Mit meiner Figur hättest du das kaum geschafft.“

Sie wirft ihre Brieftasche auf den Tisch, leert sie aus. „Hundert Wechselgeld und zweiundachtzig Tip. Und du?“

Ich komme auf über dreihundert.

„Oh! Manchmal bin ich fast ein bisschen stolz auf dich. Was machen wir mit soviel Geld?“

„Ganz einfach. Meine dreieinhalb Millionen Lire verprassen wir. Sind wir pleite, fahren wir heim und suchen uns einen neuen Job. Vorausgesetzt, du willst nicht doch bei Armani Model werden.“

Sie gackert. „Ich dürfte wohl eher im privaten Kreis durchsichtige und löchrige Dessous vorführen und froh sein, wenn ich mir nichts hole. Besten Dank für Fallobst. Ich freue mich auf Castelletto und möchte für einige Wochen keinen einzigen Playboy sehen.“

„Darf wenigstens ich deine Nähe genießen?“

Ganz eng rutscht sie an mich. „Weißt du, was ich sein möchte, wenn ich nochmals zur Welt käme? Ich! Ganz einfach ich. Amanda Morell, genannt Stutzi, Winnetous Schwester.“

In der letzten Zeit zeigt sie hin und wieder unverhohlen ihre Sympathie. Ich wiegle ab. „Verrate nicht zuviel. Sonst könnte ich womöglich Ansprüche stellen. Lerne erst mal kochen!“

Laut lacht sie auf. „Guter Gott, ich und kochen? Eher lernst du Stümpfe stopfen.“

Ich bezahle, wir fahren nach Hause.

 

Stutzi und ich verdienen für unser Alter ein schönes Stück Geld. Sie kommt auf über zweitausend netto, ich auf gut Zweifünf. Doch je mehr wir verdienen, um so mehr geben wir aus. Wir essen gut und gerne und immer auswärts. Klamotten kosten Geld, Taxi, Wäscherei; wir haben keine Waschmaschine. Wozu auch? Keiner von uns mag bügeln. Ich brauche Geld, wenn ich mit Gabi ausgehe. Es bleibt eigentlich nicht viel übrig. Nur die Trinkgelder, die sparen wir hin und wieder.

Stutzi unterbricht meine Bilanz: „Trägt man heuer weiß oder bunt oder was?“ Gemeint ist die Segelmode.

„Als waschechte Bayerin trägst du weiß-blau. Weiß für dich, du holde Unschuld, und blau für mich.“

„Komm mir ja nicht betrunken unter die Augen, das sag ich dir!“

„Ich meine ja auch blaumachen und nicht Blausein. So, lass sehen, hast du nichts vergessen?“

Es gab Zeiten, da hätte sie mich mit hysterischem Geschrei gelyncht, hätte ich in ihrer Wäsche gekramt. Heute klappt sie freudig den Deckel des weißen Lammleder-Koffers zurück und zeigt mir ihre Heimlichkeiten. Ihrer Absicht, möglichen Verehrern aus dem Wege zu gehen, messe ich danach keine Bedeutung mehr bei.

Mein Koffer ist auch gepackt, in den Matchsäcken sind die Luftmatratzen, Badeutensilien und Schuhe. Ich sage dem Hausverwalter noch schnell Bescheid. Von mir aus kann es losgehen.

Fünf vor zehn klingelt es, der BMW-Besitzer ist da. Um mir kein Urteil erlauben zu müssen, schaue ich ihn erst gar nicht richtig an und verstaue das Gepäck. Als Brummer zu mir in den Fond klettert, sehe ich Falten auf seiner Stirne. Ich lass mich zur Bank fahren, hole Lire und gebe Gabi eine Liste mit Aufträgen. An Charly soll sie ein Telegramm schicken; wir wissen doch, was sich gehört.

Traurig schaut sie mir nach.

Dann zieht der große Wagen los. Der Fahrer weiß, in Trient wird er mich los, und hat es eilig. Noch vor Mittag sind wir in Innsbruck und kurz nach Mittag in Bozen. Auf der Weiterfahrt nach Trient kriegt Stutzi Kopfschmerzen. Mit jedem Kilometer wird es schlimmer. Der Fahrer wird nervös, gibt noch mehr Gas.

Mit quietschenden Reifen hält er am Statione Centrale Trento.

Ich packe meine Sachen und den Hund. Da wird Stutzi ohnmächtig. Sang- und klanglos kippt sie in meinen Armen zusammen, mit Speichelfäden an den Mundwinkeln. Große Aufregung, ängstliche Gesichter, mitleidige, lüsterne. Im Vorbeigehen beauftrage ich einen Gepäckträger, merke mir seine Nummer, zeige ihm unsere Koffer und Säcke. Ein Taxi kommt ungerufen. Ich hebe Stutzi hinein, Brummer springt hinterher, und ich rufe laut: Krankenhaus, Hospitale Kliniko, Dotore!

Nach ein paar Kurven wird sie munter: „War ich gut?“

 

Trient soll an die 70.000 Einwohner zählen. Wir bekommen kein halbes Dutzend zu sehen. Vor einer kleinen Albergo lasse ich das Taxi halten. Der Besitzer zwinkert vertraulich, als ich ein Doppelzimmer miete und ist echt enttäuscht, weil Stutzi genau so heißt wie ich. Er hält uns für verheiratet.

Ich gehe mit Brummer spazieren, kaufe Obst. Wir verziehen uns aufs Zimmer, haben Schlaf nachzuholen. Um unser Gepäck machen wir uns keine Sorgen. Ein italienischer Träger setzt seinen ganzen Stolz ein, um ihm Anvertrautes zu behüten. Er wird uns morgen die Sachen vollzählig übergeben und furchtbar stolz sein.

Brummer ist sauer, sein Blick nicht gerade freundlich, weil ich ihm Streicheleinheiten statt Futter anbiete. Ich muss ihn auf morgen vertrösten. Demonstrativ wickelt er seine Zunge um den linken Reißzahn.

 

Als ich aufwache, hängen bleigraue Wolken über den Dächern. Es riecht nach Regen. Um acht stehen wir am Bahnhof, suchen unseren Träger. Schon von weitem schwenkt er seine Mütze, gestikuliert wie ein Signalgast am Schiff und erkundigt sich nach Stutzis Befinden. Aus einem Verschlag mit drei Schlössern holt er unsere Sachen. Vollständig. Ich habe es nicht anders erwartet. Ein paar Scheine wechseln den Besitzer. Er bedankt sich mit einem bühnenreifen Handkuss.

Die Fahrt von Trient nach Riva ist für jeden Taxifahrer ein gutes Geschäft: rund eine Stunde Fahrt. Um sich dankbar zu zeigen, gibt der Kerl Vollgas, tut so, als wäre sein Fiat ein Ferrari und geht auch so in die Kurven. Mir wird übel. Brummer auch.

Castelletto di Brenzone nennt sich die kleine Ortschaft an der Ostseite des Gardasees gleich nach Malcesine. Für uns ist es ein Traum. Ein wahrgewordener Traum.

Unser Hotel steht auf einer Minihalbinsel in den See hineingeschoben, zwischen Pinien und Zypressen, Palmen und Holunderbüschen.

Wenn ich jemand bedauere, dann die Castellettaner. Denn sie können nicht nach Castelletto fahren, wissen nicht, wie sich ein Großstadtherz weitet, wenn es die schmalen Spielzeuggassen, den putzigen Hafen, die plappernden, malerisch gekleideten Einwohner sieht, und die würzige, von Wasser und Duft geschwängerte Luft einatmet.

Stutzi steigt aus. Vorsichtig setzt sie die Füße auf den Boden, lässt plötzlich die Handtasche fallen und streckt die Arme zum Himmel. Dann bringt sie es sogar fertig, dem Fahrer die Hand zu schütteln. So, als sei nichts gewesen.

Inzwischen erscheinen die Leute des Hotels, begrüßen uns wie alte Bekannte. Wir werden in die Halle bugsiert, kriegen Gläser in die Hand, Brummer wird gestreichelt und beklopft.

Endlich im Zimmer. Stutzi lässt sich ins Bett fallen, schlenkert die Schuhe von den Füßen, lächelt mich an. „Wir sind da! Langsam glaube ich es. Du, ich bin so glücklich! Nicht mal die Regenwolken können mich ärgern.“ Sie kommt ans Fenster und schaut auf den See. „Wenn ich jetzt hinausspucke, dann kann ich zusehen, wie es auf dem Wasser aufklatscht.“

Ihre Mundbewegung ist eindeutig. Soll sie doch!

Früher war das Hotel ein verwahrloster Palazzo. Ein pfiffiges Kerlchen machte ein Hotel daraus und lockte Touristen an. Zwei Etagen für Anspruchsvolle, die dritte und vierte für Neckermann und TUI, und die fünfte für uns. Für uns ganz allein! Zimmer mit kleinem Vorraum, Bad mit Fenster, Treppe zum Hinauf- und Hinuntersteigen, Klingel zum Läuten, und an der Tür die Nummer 1001. Vor ein paar Jahren wohnten hier bestimmt noch die Zimmermädchen. Doch seit es Personalmangel und Gewerkschaften gibt, kann diese Höhenluftwohnung nur noch Gästen angeboten werden. Der Fahrstuhl hört eine Etage tiefer auf. Die letzten zwei Treppen schafft man nur zu Fuß. Das gehört zu unserem Traum.

 

Sie schläft. Ich rasiere mich und klettere über eine Wendeltreppe aufs Dach. Wie ein kleiner Wachtrum ist es. Die Trikolore hängt schlapp am Mast. Ein Scheinwerfer mit gelbem Glas, der nachts den See beleuchtet, schaut blind über die Zinnen. Grünlich-graues Gemäuer schützt als halbhohe Barriere. Zufrieden lehne ich mich dagegen, rauche eine Zigarette. Sechzehn Meter unter mir rollen die kleinen Wellen mit ewiger Ausdauer ans Ufer, lecken neugierig am Fels, küssen den Strand, laufen zurück und kommen mit vorwitziger Keckheit wieder. Wie Moby-Dick schiebt sich ein Tragflächenboot über das Wasser. Möwen mit hellem Gefieder und eleganten schwarzen Flügelspitzen ziehen kreischend ihre Runden, kippen plötzlich senkrecht in die Tiefe.

Brummer schleicht heran, reißt seinen Rachen auf und wedelt mit der Zunge. Eine höfliche Aufforderung, endlich für sein Futter zu sorgen. Wir laufen die Treppe hinab, meiden den Lift. Brummer mag keine Aufzüge.