Barbara Knab

So kommt Ihr Kind gut durch die Schule

30 Tipps für Eltern

KREUZ

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2013

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagmotiv: © kristian sekulic / istockphoto.com

Autorenfoto: © Sylvie Köker

ISBN (E-Book) 978-3-451-34585-2

ISBN (Buch) 978-3-451-61159-9

Inhalt

Vorwort

Teil A
Im Unterricht Kompetenzen erwerben

1.Lernen braucht Verstehen
Die Grundleistung des Gedächtnisses · Langzeitgedächtnis und Wissen · Verstehen

2.Nachhaltiges Lernen geht nicht ganz von selbst
Inzidentelles Gedächtnis und die eigene Lebensgeschichte · Verstehen und »darüber sprechen« · Leichter lernen durch Lerntyp-Diagnose? · Erleichtern elektronische Medien das Lernen?

3.Gute Schule macht nicht einfach Spaß
Explizites und implizites Gedächtnis · Lernen in der Schule – was braucht das Gehirn? · Und wenn elektronische Lehrmedien eben mehr Spaß machen? · Wie steht es also um die These mit dem Spaß?

4.Begabung, Selbstwertgefühl und die Kultur der Rückmeldung
Intelligenz messen · Begabung und Schulform · Lernfreundliche Rückmeldung und Noten · Selbstwertgefühl

5.Bildung fordert Zeit und Pausen
Speichern ins Langzeitgedächtnis braucht Zeit · Komplexe Inhalte werden in mehreren Schleifen verarbeitet · Implizites Lernen in der Schule – vom Sport bis zum Benehmen · Biologische Tagesrhythmen, Mittagstief und Ganztagsschule

6.Aufmerksam sein im Klassenzimmer
Aufmerksamkeit ist zunächst einmal biologisch · Sprache muss man richtig hören · Die Akustik in Klassenräumen · Selektive Aufmerksamkeit

7.Gutes Licht kann Lernen fördern
Menschliches Sehen, Lichtfarben und Helligkeit · Künstliche Beleuchtung · Klassenzimmerbeleuchtung und Kognition · Licht, Raumausstattung und Wohlbefinden

Teil B Schlafen – das Nachtprogramm des Gehirns

8.Jugendliche Nachteulen – Abend- und Morgentypen
Die Chronotypen in der Schlafforschung · Der Chronotyp verändert sich mit dem Lebensalter · Äußere Einflüsse · Ist die Verschiebung des inneren Rhythmus gefährlich? · Können Eltern gegensteuern und ist das sinnvoll?

9.Schlafen – die andere Bewusstseinsform
Was der Schlaf ist · Schlafen, Wachen und Wahrnehmung · REM-Schlaf und Träume · Schlafzyklen und Tiefschlaf

10.Schlaf verbessert Lernergebnisse
Schlaf und Lernen: eine neue Forschungsrichtung · Wissen konsolidiert sich im Schlaf · Richtig wach sein erleichtert Aufnahme und Abruf von Wissen · Kreativität, implizites Gedächtnis und Schlaf

11.Wie viel Schlaf brauchen Kinder und Jugendliche?
Die richtige Schlafdauer und wie sie sich verändert · Schlafzeiten – nur nachts oder auch am Tag? · Müde Jugendliche · Müdigkeit und Schulleistung

12.Wie Licht den »blauen Montag« zähmt
Party am Wochenende · Sonntags schlafen Jugendliche oft noch schlechter · Zeitgeber, Melatonin und Licht · Den blauen Montag entschärfen

13.Schlaf und Stress
Was man in der Psychologie unter Stress versteht · Ursachen für Stress · Stress beeinflusst den Schlaf und umgekehrt · Den Stress klein halten

14.Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen
Häufige Schlafstörungen im Kindes- und Jugendalter · Ein- und Durchschlafprobleme bei Jugendlichen · Wie viele Kinder und Jugendliche sind betroffen?

15.Eltern unterstützen den Schlaf ihrer Kinder
Die individuell richtige Schlafdauer · Guter Schlaf braucht ein gutes Image · Wie Eltern sich verhalten · Regeln für den guten Schlaf

Teil C
Selbstständig geistig arbeiten

16.Wiederholen und Wissen, Üben und Können
Wiederholen und das explizite Gedächtnis · Nachhaltiges, stabiles Wissen · Üben, trainieren und das implizite Gedächtnis · Belohnung und Bestrafung · Automatisieren – Explizites wird implizit

17.Besser lernen? Gedächtnistechniken und Lernstrategien
Gedächtnistechniken · Eselsbrücken in der Schule · Lernstrategien für Schüler von heute

18.Eltern bereiten den Boden für gute Bildung
Noch einmal PISA-Erfolgsfaktoren · PISA-Erfolgsfaktor Selbstvertrauen · PISA-Erfolgsfaktor Motivation · Keine Bildung ohne Sprache

19.Mathematische Kompetenzen erwerben
Mathematik · Mathematiklehrer · Mathematisches Selbstvertrauen · Mädchen und Mathematik · Üben, Automatisieren und Verstehen

20.Sich Sprachen aneignen
Sprachenvielfalt · Sprache erwerben – implizit und explizit · Muttersprache, Erst- und Zweitsprache entwickeln · Fremdsprachen lernen

21.»Lernfächer«: Sich Wissen erwerben – oder suchen können?
Lernfächer – jenseits von Sport und Sprachen · »Fakten« – wo kommt das Wissen her? · Wissen wird schnell ergänzt und veraltet nur langsam · Das Netz – sich Wissen schnell besorgen? · Sich Lernfächerstoff aneignen

22.Konzentration fördern
Hintergrundmusik und Konzentration · Laute Musik · Multitasking senkt die Konzentration · Aufgaben selbst beeinflussen die Konzentration · Sich selbstständig konzentrieren

23.Prüfungen gut vorbereiten
Prüfungsangst · Einstellung der Eltern zu Schulleistungen · In der Prüfung · Täglich geistig arbeiten – Pausen eingeschlossen

Teil D
Schule und der Rest des Tages

24.Rhythmen und Familienleben
Tagesrhythmik und Gespräche · Längere Rhythmen und der Sonntag · Jahresrhythmen und Ferien

25.Körperliche Gesundheit
Akute Erkrankungen von Schülerinnen und Schülern · Schmerzen · Krankheiten früh erkennen und die Kinder begleiten · Gesundheit – Stellenwert in der Familie

26.Seelische Gesundheit
Seelische Probleme im Schulalter · Drogen · Nikotin · Alkohol

27.Elektronische Medien und das Internet
Digitalien · Sind Netz und Computer gefährlich? · Machen Computerspiele aggressiv? · Kompetent mit dem Netz umgehen

28.Ernährung
Nährstoffe · Gemeinsam essen · Essen lernen – was soll das? · Zu dick oder zu dünn? Beides ungesund

29.Bewegung und Sport
Wie sich Kinder und Jugendliche bewegen · Was haben Jugendliche gemeinsam, die sich mehr bewegen? · Bewegung und Schlaf · Warum Jugendliche Sport treiben

30.Erwachsen werden
Selbstkonzept und Identität · Liebe und Sexualität · Kunst und Kultur

Ausblick

Literatur

Register

Vorwort

Menschenkinder sind grundsätzlich neugierig. Sie wollen unbedingt alles erproben und lernen, was sie dem Erwachsensein näher bringt. Manche nennen dieses starke innere Bedürfnis »Spaß«. Doch spätestens wenn es um die Schule geht, kann das leicht auf eine falsche Fährte führen.

Wir haben uns etwas eingerichtet, was wir gerne »Wissensgesellschaft« nennen. Das Wissen kann man nicht kaufen und nicht konsumieren. Es fliegt einem nicht in den Kopf und lässt sich nicht von außen eintrichtern. Wir können es nur erwerben, indem wir es uns aktiv aneignen. Völlig selbstständig schaffen wir das nur in Bereichen, in denen wir bereits einiges wissen. Das ist bei Kindern nicht der Fall, bei Jugendlichen nur punktuell. Deshalb brauchen sie kundige Experten, die ihnen dabei helfen, neues Wissen zu erwerben. Das sind die Lehrer.

Wie wir die Schulzeit gut gestalten, als Gemeinwesen, als Lehrkräfte, als Eltern, daran scheiden sich die Geister. Ich finde, wir sollten bei dieser Entscheidung die Wissenschaft zurate ziehen. Kognitionspsychologie und Lehr-Lern-Forschung wissen nämlich ganz gut, wie Kinder welche Kompetenzen in der Schule besser erwerben und was sie dabei behindert.

Dieses Buch wendet sich schwerpunktmäßig an Eltern, deren Kinder die Sekundarstufe besuchen. Da aber alles schon viel früher beginnt und niemals endet, ist es nicht auf diese Klassenstufen beschränkt – und natürlich auch nicht auf Eltern. Sogar Lehrkräfte werden das eine oder andere darin finden, was ihre Arbeit unterstützt.

Sie können das Buch von vorne nach hinten durchlesen – dann haben Sie vermutlich am meisten davon. Es geht aber auch anders, weil die einzelnen Kapitel in sich weitgehend abgeschlossen sind. Falls Ihnen dann ein Begriff neu ist, finden Sie ihn im Register.

Dieses Buch ist mir ein besonderes Anliegen. Es führt nicht nur meine wissenschaftlichen und publizistischen Schwerpunkte Schlaf und Kognition zusammen, sondern auch meine persönliche Geschichte. Schließlich habe ich ursprünglich Psychologie studiert, weil ich wissen wollte, warum so viele Jugendliche Schwierigkeiten mit Mathematik haben. Dass ich trotz meines Staatsexamens in Mathematik und Geografie dann doch nicht Lehrerin geworden bin, hat damit zu tun, dass ich dem Reiz der Wissenschaft erlegen bin.

Ich danke Imke Rötger vom Kreuz Verlag, die dieses Projekt angeregt und professionell begleitet hat. Ich danke vielen Teilnehmern in meinen Vorträgen und Seminaren zum Gedächtnis, die häufig kamen, weil sie mehr über das Lernen ihrer Kinder oder Schüler erfahren wollten. Und schließlich danke ich dem Informationsdienst Wissenschaft und der Bayerischen Staatsbibliothek, ohne die auch dieses Buch niemals entstanden wäre.

Barbara Knab

TEIL A
Im Unterricht Kompetenzen erwerben

Die Schule soll Ihrem Kind mitgeben, was es braucht, um ein gutes Leben zu führen. Das bedeutet heute auch: in einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft im Europa des 21. Jahrhunderts seinen Platz finden. Die meisten Erwachsenen haben eine Meinung darüber, wie die Schule das besser oder schlechter tun kann. Auch Experten vielerlei Provenienz stellen jede Menge Ratschläge oder Vorgaben zur Verfügung, wie »die Schule« das tun soll; tatsächlich handelt es sich dabei immer noch um Lehrerinnen und Lehrer aus Fleisch und Blut.

Der erste Teil dieses Buches handelt von Aspekten des Lernens, wie sie im sozialen Umfeld Schule vorkommen. Er konzentriert sich auf das Lernen selbst und seine Bedingungen, wie es die Psychologie als Grundlagenwissenschaft heute sieht. Das tut sie immer auf zwei Ebenen, der des Verhaltens und der des Gehirns. Sie können mit Recht erwarten, dass in »Ihrer« Schule diese Erkenntnisse berücksichtigt werden.

Als Eltern helfen Sie ihrem Kind, wenn Sie seiner Schule grundsätzlich positiv gegenüberstehen und dennoch kritisch begleiten, was es von dort mitbringt. Die Unterrichtsmethoden selbst jedoch liegen in der Profession der Lehrer. Die Lehrkräfte und Sie haben normalerweise das gleiche Ziel: dass Ihr Kind seine Kompetenzen erweitert und sich grundsätzlich wohlfühlt. In diesem Teil geht es deshalb auch darum, wie Sie als Eltern die kognitiven Vorgänge besser verstehen, die das ermöglichen.

1.Lernen braucht Verstehen

Alle Eltern hierzulande haben viele Jahre Schulen besucht. Von daher haben sie eine Meinung zur Schule und zum Lernen allgemein. Die meisten haben auch eine Vorstellung davon, wie Lehrer sein sollten. All das basiert auf ihrer eigenen Erfahrung, ihrem eigenen Nachdenken, dem, was das eigene Kind aus der Schule mitbringt – und dem, wie sie all das bewerten.

Wie viele unsere Bewertungen sind auch diese elementar, sie sind persönlich und sie sind uns wichtig. Wenn Menschen eine Sache extrem wichtig finden, sie aber völlig unterschiedlich bewerten, dann geraten sie schon mal in Streit. Für viele Eltern ist die Schule ein solches Thema. Deshalb hat es viel für sich, der Basis der Bewertung etwas hinzuzufügen, was man selbst in der Schule eher nicht gelernt hat: Wissen darüber, wie Menschen Wissen erwerben. Damit können Sie Ihr Kind besonders kompetent auf seinem Weg durch die Schule unterstützen und ihm die Freude daran erhalten.

Dabei kann es nicht darum gehen, wie die Lehrer ihren Unterricht gestalten sollen. Damit würden Sie in die Professionalität der Lehrer eingreifen, auch wenn die gelegentlich verbesserbar wäre. Für Sie als Eltern stellen sich eher Fragen der Art: Wie kann Schule, wie können Lehrer, wie können wir selbst das Lernen unseres Kindes im Hintergrund befördern, und wie vermeiden wir, es dabei unbeabsichtigt zu behindern? Am Beginn steht die Frage: Wie lernen Kinder und Jugendliche überhaupt?

Die Grundleistung des Gedächtnisses

Die grundlegende Frage nach dem Lernen ist psychologisch. Im psychologischen Sinn hat ein Kind etwas gelernt, sobald es eine neue Verhaltensweise zeigt, eine, die es zuvor nicht kannte oder beherrschte: Vielleicht benutzt es ein neues Wort oder den Konjunktiv, singt ein neues Lied, zählt drei und fünf korrekt zusammen, kann einen Stadtplan lesen oder auf einem Bein hüpfen. All das hat es nicht erfunden. Es ist ihm begegnet und im Anschluss hat es das gelernt. Gedächtnis beginnt, sobald dem Kind etwas aus dieser Begegnung zumindest kurz »im Kopf« bleibt.

Das ist bei Erwachsenen genauso. Stellen Sie sich vor, der Klassenlehrer Ihres Kindes sagt Ihnen seine Telefonnummer, ziffernweise. Nehmen wir 7835126. Nach wie vielen Zahlen muss er eine Pause machen, damit Sie die fehlerfrei aufschreiben können? Die Anzahl bis zur Pause hat einen Namen: Es ist Ihre »Gedächtnisspanne«, der Umfang Ihres sensorischen Gedächtnisses.

Die meisten Erwachsenen behalten mindestens fünf solche Einheiten ohne Pause, 20-jährige Studenten im Mittel sieben. Um sich mehr als neun zu merken, benötigt man dagegen Tricks. Wegen des Mittelwerts sprach man lange von der »magischen Sieben« als dem Umfang der Gedächtnisspanne.

Die Sache ändert sich, wenn der Klassenlehrer ein Späßchen macht und Ihnen seine Telefonnummer nicht auf Deutsch, sondern zum Beispiel auf Hindi vorsagt. In diesem Fall schaffen Sie allerhöchstens fünf »Zahlen«. Das liegt daran, dass diese »Zahlen« für Sie akustische Reize sind, die für Sie keinen Sinn ergeben. In solchen Fällen schrumpft die durchschnittliche Gedächtnisspanne auf eine relativ magere »magische Vier«. Das bedeutet: Sinn erweitert bereits deutlich die Gedächtnisspanne.

Doch selbst wenn Sie die Telefonnummer auf Deutsch gehört haben, ist sie wenige Sekunden später wieder verschwunden. Dieses Vergessen ist normal und vorteilhaft, schließlich ist die Nummer notiert. Anders ist es, wenn Ihr Stift nicht funktioniert. Dann müssen Sie entweder einen anderen suchen oder Ihr Mobiltelefon. Was tun Sie, wenn Sie den Lehrer nicht bitten wollen, die Nummer zu wiederholen? Klar, Sie sagen sie sich vor. Das ist Arbeitsgedächtnis. Damit beginnt nachhaltiges Lernen.

Noch anders liegt der Fall, wenn Sie eine Ähnlichkeit feststellen. Nehmen wir an, die Telefonnummer Ihrer besten Freundin ist 7885126. Die kennen Sie auswendig; Sie stutzen und vergleichen die beiden Nummern im Kopf. Sobald Sie so etwas tun, hantieren Sie geistig mit der Information. Das ist kognitiv mehr als Gedächtnisspanne. Auch dabei nutzen Sie das »Arbeitsgedächtnis«.

Sensorisches Gedächtnis und Arbeitsgedächtnis zusammen bilden das Kurzzeitgedächtnis. Damit ist die Nummer noch immer nicht längerfristig gespeichert, noch können Sie später nicht mehr aktiv darauf zugreifen. Dafür muss sie erst dort »ankommen«, was Psychologen das Langzeitgedächtnis nennen.

Langzeitgedächtnis und Wissen

Das Erste, was Ihr Kind in der Schule lernen sollte, ist lesen, schreiben und rechnen. Sie erwarten aber sicherlich mehr: dass es lernt, sich auf Deutsch verständlich auszudrücken, und möglichst in mindestens noch einer anderen Sprache. Sie erwarten, dass es eine Ahnung davon bekommt, wie die Welt beschaffen ist, vom Universum bis zum Einzeller, wie der Mensch gebaut ist und wie er die Welt gestaltet hat, was er gedanklich entwickelt und künstlerisch geschaffen hat, wie wir uns heute die Welt einrichten – und vieles mehr.

Logisch: Eine Gedächtnisspanne von gerade mal vier beziehungsweise sieben Elementen genügt nicht, damit Ihr Kind all diese Kompetenzen erwirbt. Das Gedächtnis muss mehr umfassen. Tatsächlich unterscheidet die Psychologie Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Auf Inhalte des Langzeitgedächtnisses kann man auch nach mehreren Tagen zurückgreifen, manchmal auch länger. Aber nicht jeder Inhalt wird längerfristig gespeichert. Dafür muss er zunächst einen Prozess durchlaufen, und zwar mehrfach.

Dieser Prozess hat drei Stufen. Auf der ersten Stufe nehmen wir den Inhalt auf. Man könnte auch sagen, wir nehmen ihn möglichst bewusst wahr. Je besser und je genauer wir den Inhalt aufnehmen, umso besser kann ihn das Gehirn in seine Sprache übersetzen. Damit hat es die Information verschlüsselt oder »encodiert«. Diese verschlüsselte Information wird automatisch gespeichert; das ist die zweite Stufe. Auf der dritten Stufe rufen wir den Inhalt wieder ab.

Rufen wir einen Inhalt ab, hantieren wir im Arbeitsgedächtnis damit. Dabei wird er neu verschlüsselt und neu gespeichert. Wirklich langfristig behalten wir fast ausschließlich Inhalte, die diesen Prozess mehrfach durchlaufen haben. Alles andere vergessen wir auf lange Sicht. Und was wir verfälscht abrufen, wird verfälscht gespeichert.

Verstehen

Das mit dem Vergessen zeigt schon: Die drei Gedächtnisstufen sind keine »Copy-and-paste«-Funktion des Gehirns, das Gedächtnis ist keine Computerfestplatte. Ein Rechner speichert nämlich alles, was er im passenden Format bekommt, bis es jemand aktiv löscht. Wir Menschen nicht. Wir speichern Inhalte vor allem dann, wenn sie Sinn haben und sich mit vorhandenem Wissen verknüpfen lassen.

Sinnloses Material dagegen überfordert uns meistens. Genau deshalb steht es am Beginn der Gedächtnispsychologie: Hermann Ebbinghaus (1859–1909) experimentierte mit »sinnlosen Silben«, um dem Gedächtnis »an sich« auf die Spur zu kommen: Er konstruierte Hunderte sinnlose Silben, lernte immer 13 davon auswendig und prüfte, wie lange er sie behielt. Seitdem wissen wir, was herauskommt, wenn wir sinnloses Material lernen: wenig. Wenn er sie einen Tag lang nicht wiederholte, hatte er zwei Drittel davon vergessen, und nach einem Monat praktisch alles.

Ganz ähnlich ist es, wenn Schüler Massen an Informationen in sich hineinstopfen, ohne sie mit ihrem vorhandenen Wissen zu verknüpfen. In der Prüfung spucken sie sie wieder aus. Anschließend vergessen sie alles gründlich. Man nennt das auch binge-learning; das spielt auf binge-eating an, das Kernverhalten der Essstörung Bulimie. Die Betroffenen essen riesige Mengen und erbrechen sie im Anschluss absichtlich wieder. Beim Lernen ist Hineinstopfen-Ausspucken keine Diagnose, ungesund ist es trotzdem: Die Inhalte sind wie bei der Bulimie verschwunden und nutzlos. Wissen erwirbt man so nicht.

Sicher ins Langzeitgedächtnis gelangen nur Inhalte, die »gehirngerecht« verschlüsselt wurden. Das heißt: Die Information ist kognitiv verarbeitet. Dafür wälzt Ihr Kind sie zunächst im Arbeitsgedächtnis und fahndet nach dem Sinn der neuen Information. Es vergleicht die neue Information mit dem, was es bereits weiß, es vergleicht, wo Neues zum alten Wissen passt, wo es etwas ergänzt, wo sich Zusammenhänge finden lassen. Dabei nimmt es das Neue präziser wahr und ordnet es ein. Je tiefer das Neue verarbeitet wird, umso besser ist es verstanden.

All das geht umso besser, je mehr Ihr Kind bereits weiß. Je besser es in einem Gebiet Bescheid weiß, umso mehr Feinheiten der neuen Information kann es erfassen. Und umso einfacher wird das Neue dem vorhandenen Wissen angegliedert. Befasst sich das Kind mit einem Thema – wendet es zum Beispiel auf andere Fragestellungen an –, dann wird sowohl das Alte als auch das Neue ins Arbeitsgedächtnis hervorgeholt.

Die zentrale Bedingung dafür, dass Ihr Kind Wissen erwirbt, ist deshalb, dass es die Inhalte so tief und umfassend wie möglich verarbeitet und auf dieser Basis versteht. Das schließt ein, dass es das neue Wissen in eigenen Worten formulieren kann. Erst dann hat es verstanden und erst dann kann stabiles Wissen daraus werden.

Die Lehrer sind dafür verantwortlich, die Dinge so zu erklären, dass Ihr Kind sie versteht. Sie sind auch dafür verantwortlich, Ihrem Kind vertiefende Aufgaben zu stellen. Ihr Kind ist dafür verantwortlich, diese Aufgaben sorgfältig zu bearbeiten. Sie selbst sollten es unterstützen; lösen dürfen Sie die Aufgaben aber nicht.

2.Nachhaltiges Lernen geht nicht ganz von selbst

Nur was Ihr Kind verstanden und verarbeitet hat, kann es langfristig in sein Wissen einbauen. Könnte das nicht auch in einem Durchgang gehen? Dann könnten sie ihr Wissen direkt in der Schule erwerben, ohne Üben, Wiederholen und die lästigen Hausaufgaben? Solche Stimmen gibt es. Sie sagen, es müsste ausreichen, wenn die Schule nur »kindgerecht« und vor allem »gehirngerecht« wäre. Dann müssten sich die Kinder »selbstgesteuert und eigenverantwortlich« Inhalte erarbeiten, und schon wären Kompetenz und Wissen für immer da. Was sagt die Psychologie dazu?

Inzidentelles Gedächtnis und die eigene Lebensgeschichte

Zwei Formen des Gedächtnisses bewahren Inhalte, ohne dass wir sie bewusst wiederholen. Das eine heißt in der Psychologie »inzidentell«, was so viel wie »nebenbei« meint. Es greift vor allem im Alltag, wo uns viele Informationen begegnen, die wir nur nebenbei wahrnehmen, die uns abends aber trotzdem wieder einfallen. Wir haben sie gewissermaßen »aufgeschnappt«.

Das andere ist das Gedächtnis für wichtige Ereignisse oder Episoden Ihres eigenen Lebens. Wenn die wirklich wichtig sind und aus dem Alltag herausragen, dann behalten wir sie länger im Gedächtnis. Das kann der letzte Urlaub sein, Ihr eigener Schulabschluss oder die Geburt Ihres Kindes, wegen dessen schulischer Entwicklung Sie dieses Buch gekauft haben. Insgesamt prägen Episoden das, was wir als unsere Identität erleben. Am besten behalten wir Episoden, die uns emotional stark berührt haben, egal ob angenehm oder unangenehm. Diese Form des Gedächtnisses heißt »episodisch«.

Schule ohne Üben – das könnte ja inzidentell oder episodisch sein? Ist es dort einfach zu langweilig und bietet sie zu wenig Gefühle?

Ganz so einfach ist es nicht. Wenn wir inzidentell behaltene Informationen nicht wiederholen, vergessen wir sie genauso wie alles andere. Mit den Episoden täuscht man sich noch leichter. Gerade emotional bedeutsame Ereignisse wiederholen wir nämlich häufig: Wir denken darüber nach, erzählen sie oder schreiben sie sogar auf. Die Geschichte ist uns wichtig.

Gedächtnispsychologisch wiederholen wir dabei die ganze Episode und speichern sie jedes Mal neu ab. In einem guten Unterricht geschieht einerseits ganz Analoges: Die Kinder bearbeiten die Themen aus verschiedenen Perspektiven und sie wenden die Erkenntnisse direkt an. Andererseits ist gedächtnispsychologisch das Wesentliche daran der Inhalt und gerade nicht das, wie Ihr Kind die Situation erlebt. Nur das wäre episodisches Gedächtnis. Abgesehen davon, dass das episodische Gedächtnis sich erst ausdifferenziert. Das Wissensgedächtnis ist dagegen schon bei kleinen Kindern da.

Beim Wissenserwerb gibt es eine Gelegenheit, die Übung weniger nötig macht: Aha-Erlebnisse. Überflüssig wird das Üben dadurch aber nicht.

Verstehen und »darüber sprechen«

Wird ein Kind mit einem neuen Gedanken konfrontiert, will es sich einen Reim darauf machen. Es vergleicht den Gedanken mit dem, was es schon weiß. Das fällt ihm umso leichter, je mehr es über das Thema bereits weiß und je besser dieses Wissen organisiert ist. Nebenbei speichert es die Information ab, vorläufig, aber messbar.

In meinen Veranstaltungen zum Gedächtnis machen die Teilnehmer viele Übungen. In einer gebe ich ihnen 20 Begriffe, etwa fünf Tiere, fünf Pflanzen, fünf Verkehrsmittel und fünf Gebäudearten. Diese Begriffe stehen gemischt auf einem Zettel. Ich bitte die Teilnehmer, die (nicht genannten) Kategorien zu finden und jeden Begriff einer zuzuordnen. Wenn alle damit fertig sind, bitte ich sie, einfach die Begriffe aufzuschreiben, die ihnen noch einfallen.

Den meisten fallen fast alle 20 Begriffe ein. Das ist sehr viel, zwanzig Reize übersteigen die Gedächtnisspanne bei Weitem. Nun kann man sich vier Kategorien mit je fünf Begriffen sowieso leichter merken als 20 zufällige Begriffe. Das Material enthält schließlich Sinn. Doch in diesem Fall ist das Behalten nur die Nebenwirkung: Hauptsächlich haben sich die Teilnehmer schließlich inhaltlich mit den Begriffen beschäftigt, sie haben sie verarbeitet. Und zwar den Sinn: Wenn sie nach Anfangsbuchstaben sortieren, klappt es nicht.

Nehmen Sie jetzt folgende Liste und versuchen Sie auch hier, Kategorien zu finden und die Wörter zuzuordnen. Die Liste: »Arno, Becquerel, Eremitage, Gramm, Guadalquivir, Hertz, Iller, Lena, Liebesverbot, Loire, Louvre, Lumen, Maskenball, Norma, Ohm, Prado, Salome, Tiefland, Uffizien, Zwinger«. Wie gut Ihnen das gelingt, liegt nicht an Ihrer Intelligenz oder Ihrem Denkvermögen. Es liegt daran, ob Sie etwas über Kunstgeschichte, Physik, Geografie und Musik wissen. Fehlt Ihnen dieses Wissen, dann ergeht es Ihnen wie einem Jugendlichen, der die dritte binomische Formel »lernt«, aber das Einmaleins nur lückenhaft beherrscht: Sie werden scheitern. Dabei ist die Aufgabe als solche genauso »einfach« wie die oben.

Die Konsequenz: Wissen kann sich nur Stück um Stück erweitern; um Neues verstehen und verarbeiten zu können, benötigt man eine gewisse Menge an Vorwissen. Auch Schüler können nur so viel neu lernen, wie sie verstehen. Ein Wissensstückchen »landet« nur, wenn Vorwissen den Boden bereitet hat.

Jeder Mensch will verstehen, was ihm begegnet. Versteht einer etwas nicht, dann wendet er sich sofort ab oder er reimt sich eine eigene Erklärung zusammen. Die Lehrerin muss deshalb unbedingt herausfinden, was ihre Schüler verstanden haben, was sie wissen, und wo sie sich etwas Falsches zusammengereimt haben. Wie Erwachsene speichern Jugendliche nämlich exakt das, was sie verstanden haben. Erarbeiten sich Jugendliche also etwas selbst, so nützt es ihnen nur dann etwas, wenn der Lehrer das Ergebnis genau überprüft.

Leichter lernen durch Lerntyp-Diagnose?

Zugegeben, bestechend ist sie schon, die Idee der Lerntypen: Den eigenen »Lerntyp« herausfinden und die Inhalte entsprechend darbieten – schon gehe das Lernen »wie von selbst«. Der »Sehtyp«, der »Hörtyp«, der »Bewegungstyp« und so weiter – die Idee ist in Elternkreisen ähnlich beliebt wie bei Trainern in der beruflichen Weiterbildung. Es gibt sogar Anleitungen für Lehrkräfte und Schulklassen, die dann ihren Unterricht an die ermittelten »Typen« anpassen sollen. Wie das bei den verschiedenen Kindern in einer Klasse gehen soll, bleibt dabei allerdings verschwommen.

Psychologisch betrachtet allerdings gibt es ohnehin keine Lerntypen. Zwar haben manche Kinder eine besondere Vorliebe für ein Sinnessystem, aber das hat eher damit zu tun, dass einer der fünf Sinne besonders gut oder eben schlechter arbeitet. So haben Kurzsichtige oft zum Ausgleich ihr Gehör besonders gut trainiert, Schwerhörige sehen oder tasten intensiver und nehmen dann über diesen Kanal auch intensiver wahr als andere. Für das Lernen darf man daraus aber nur einen Schluss ziehen: Man muss die Wahrnehmung auch der weniger »guten« Sinne gezielt trainieren. Wir haben die fünf Sinne, weil sie uns gemeinsam das Leben erleichtern. Lernen funktioniert besser, wenn wir mehrere Sinneskanäle dabei einsetzen, statt dass wir die schwächeren gleich ganz ausschalten.

Doch selbst wenn es Lerntypen gäbe und der Input an den Vorliebe-Sinn angepasst wäre, würde Lernen nicht von selbst geschehen. Was wir wie lernen, hängt nämlich vom Inhalt ab. Man kann eben Musizieren nicht über das Sehen lehren (obwohl man Noten können und den Lehrer beobachten muss); man kann einen komplexen Gedankengang nur sehr eingeschränkt so visualisieren, dass ihn jemand anders versteht; weder eine Landkarte noch die Idee des Nationalstaats noch die binomischen Formeln werden wir verstehen, wenn wir sie anfassen.

Kinder und Jugendliche lernen besser, wenn sie die Wahrnehmung jedes Sinnes schärfen. Dann nehmen sie mehr wahr, verschlüsseln den Input besser, verarbeiten mehr und können mehr Zusammenhänge herstellen. Es ist auch sinnvoll, wenn sie zwischen den Sinnen hin- und herzugehen lernen. Hat Ihr Kind einen Inhalt verstanden? Dann bitten Sie es, ihn in seinen eigenen Worten zu erklären oder eine kleine Zeichnung oder Tabelle zu erstellen. Erst wenn es das kann, hat es wirklich verstanden; das gilt auch für Naturwissenschaften und Mathematik.

Lehrer müssen genau das von ihren Schülern fordern: Gelerntes in eigenen Worten zusammenfassen und erklären. Gerade ein Kind, das visuell fit ist, muss das üben. Wörter von Fremdsprachen lernen sich leichter, wenn man mehrere Sinne einbezieht und sowohl spricht als auch schreibt. Hören und darauf reagieren muss allerdings ein Mensch – und das ist die Lehrerin oder der Lehrer.

Erleichtern elektronische Medien das Lernen?

Am Anfang stand die Kreidetafel, dann kamen Overheadprojektor, schließlich Filme, Hörmedien oder Sprachlabore. Heute sind es Beamer und Powerpoint und »elektronisches« Lernen. Dieses »E-Learning« nutzt Smartphone oder Tablet-Computer, Whiteboards beziehungsweise Internetsuchen über den Beamer. Es gibt Lernprogramme, und weil die nicht sonderlich beliebt sind, immer mehr »Games«, Computer-Lernspiele. E-Learning sei die Methode des 21. Jahrhunderts, alles völlig einfach und spielerisch. Wer E-Learning verschmäht – was viele Lehrkräfte tun –, wird gerne als vorsintflutlich und altbacken gebrandmarkt. Frage ist nur: Was ist dran? Lernen die Kinder damit besser – oder winkt da vor allem ein gutes Geschäft?

Bisher gibt es viele Ankündigungen, aber kaum positive Belege und schon gar keine umfangreiche Begleitforschung von Pilotversuchen. In einigen Studien floppten elektronische Hilfsmittel gleich ganz, in anderen erzielten sie keinen besseren Effekt als lebendige Menschen. Warum sollte man sie dann in großem Stil einsetzen?

Gedächtnis- und lernpsychologisch ist es ziemlich einfach: Bei einfachen Aufgaben wie dem Einmaleins oder Vokabeln kann E-Learning gute Dienste leisten. Im nächsten Schritt geht es um die Frage, wie gut das Kind den Stoff durchdrungen und verarbeitet hat. Soll das ein elektronisches Medium auch nur annähernd angemessen tun, muss es dafür extrem umfassend und weitverzweigt programmiert