Sandra Lüpkes

Die Inselvogtin

Historischer Roman

 

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Kursive Namen und Begriffe sind im Anhang erläutert.

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TEIL 1

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24. Dezember 1717

1

«Sie stirbt!»

Eine große Gestalt füllte die Tür. Die blonden Haare hingen dem Mann nass in die Stirn, und er drehte seltsam verkrampft seine Strickmütze in den Händen. Es waren kräftige Hände, gewohnt, zuzupacken. Aber jetzt wirkten sie hilflos. Die Weste aus Schweinsleder mit den golden glänzenden Knöpfen und das feste Leinenhemd mochten im trockenen Zustand etwas hermachen, der Sturmregen hatte sie jedoch zu triefend nassen Lappen werden lassen, die schwer am Körper des Besuchers hingen.

Tasso Nadeaus war gerade dabei, die Glut im Herd zu schüren, damit seine Mutter das Abendessen bereiten konnte. Er erinnerte sich nicht daran, den Inselvogt jemals auch nur in der Nähe ihrer Kate gesehen zu haben. Männer wie er hatten keinen Grund, ein windschiefes Häuschen wie das ihre zu besuchen. Und nun trat Vogt Boyunga ausgerechnet heute, am Heiligen Abend, direkt zu ihnen in die feuerwarme Hütte. Fast schien der Raum, in dem Tasso und seine Mutter sowohl aßen, arbeiteten und schliefen, durch die Anwesenheit des Vogtes zu klein geworden zu sein. Einer seiner Söhne, es war der blasse Gerjet, war ihm gefolgt, und gleich dahinter versuchte auch der eiskalte Sturm in die Stube einzudringen.

«Schließt die Tür, Vogt Boyunga, sonst erfrieren wir hier.» Geesche Nadeaus blickte den Inselvogt streng an, woraufhin sich der Mann eilig gegen die Holzplanken stemmte, aus denen vor Jahren notdürftig eine Tür zusammengenagelt worden war. Dann schob er den Riegel vor. Sein Sohn krallte sich an das Hosenbein des Vaters. Es war nicht zu übersehen, dass er sich fürchtete. Wahrscheinlich hatte er von geschwätzigen Weibern oder deren Kindern gehört, dass Tassos Mutter ein Grund zum Fürchten sei.

«Geeschemöh …», begann der Inselvogt.

«Über Euer Anliegen braucht Ihr mir gar nichts sagen. Ich kann mir schon denken, weswegen Ihr Euch mit Eurem Erstgeborenen in der Weihnachtsnacht zu mir verirrt. Wohl kaum, um meinem Sohn und mir ein gesegnetes Fest zu wünschen.»

Tassos Mutter blieb am Tisch neben dem Feuer stehen, schaute nicht einmal auf, rieb nur weiter die kleinen Fleischstücke mit einem Mus aus Meerwasser und getrockneten Kräutern ein. Der schwere Topf hing bereits über dem Herd, und die Schwarte aus fettem Speck begann allmählich auf dem schwarzen, heißer werdenden Eisen zu zischen und saftige Blasen zu schlagen.

Tasso wagte kaum zu atmen. Der Mann, den er bislang immer nur aus der Ferne bewundert hatte, war der Inselvogt von Juist. Aber was wollte er hier?

Seine Mutter wendete die hellroten Brocken, die ihr im Tauschgeschäft für eine Fettsalbe gegen Gliederschmerzen von einem großzügigen Nachbarn gebracht worden waren. Fleischreste, Schlachtabfall, dachte Tasso, gerade noch zu schade für die Katzen, mehr nicht.

«Ich bitte dich, Geeschemöh, schau nach ihr!» Die Stimme des Inselvogts war jetzt erstaunlich leise. Tasso hatte ihn schon oft brüllen hören, wenn er seiner Aufsicht nachging und die Insulaner anhielt, den Strand nach einer Sturmflut aufzuräumen. Oder wenn er in Wut darüber geriet, dass sich unvernünftige Menschen wie Bauer Switterts trotz der vom Fürsten unterzeichneten Strandverordnung noch immer nicht an das strikte Weideverbot in den Dünen hielten.

Nun aber wirkte er blass und still, wie sein wortloser Sohn neben ihm, der einige Jahre jünger als der zwölfjährige Tasso war.

«Sie schreit schon seit Stunden. Ich kann ihr nicht helfen, beim besten Willen nicht.»

«Vor neun Monaten hättet Ihr die Finger von ihr lassen sollen, Vogt, das hätte ihr geholfen.»

«Ich weiß.» Er blickte zu Boden und seufzte schuldbewusst. «Du hast es mir ja gesagt, mehr als einmal. Was gäbe ich jetzt darum, auf dich gehört zu haben! Aber heute kommt das Kind, und ich mache mir solche Sorgen um Imke.» Nun schaute er auf. In seinen hellgrauen Augen sah Tasso den Widerschein des Kaminfeuers flackern, aber noch mehr flackerte die Angst in ihnen.

«Ich flehe dich an, Geesche Nadeaus. Ich weiß, der Sturm ist schlimm heute Abend, aber wir haben Ebbe, und der Hammrich ist noch trockenen Fußes zu überqueren. Wir werden dir helfen.»

«Ich brauche keinen Beistand von einem Schwächling wie Euch.»

Tasso erschrak. Wie konnte seine Mutter so reden? Der Pastor und der Inselvogt waren die mächtigsten Männer auf der Insel, sie machten die Gesetze. Beide unterstanden direkt dem Amtmann, und dieser wiederum korrespondierte mit dem Fürstenhaus. Jedermann kuschte vor ihren Predigten, die sowohl in der Kirche wie überall auf Juist gehalten wurden. Immer ging es darum, das sandige Eiland, auf dem sie alle lebten, zu erhalten.

Und nun redete seine Mutter, die kleine, gebeugte Geesche Nadeaus, von der alle behaupteten, sie sei eine Hexe mit einem vaterlosen Sohn, ausgerechnet seine Mutter redete in einem solchen Ton mit diesem Mann. Was, wenn sie für ihre Worte belangt würde? Niemand sprach ungestraft auf diese Weise mit dem Inselvogt.

Endlich schaute sie auf. «Geht in die Kirche und betet für Euer armes Weib. Und für das Kind, welches sie zu zerreißen droht. Ich habe Euch gewarnt, Imke ist zu schmal und zu schwach, um immer und immer wieder geschwängert zu werden. Sie ist nicht wie die anderen Insulanerinnen, die es an Kraft und Gestalt mit den meisten Mannsbildern aufnehmen können. Das müsste Euch klar sein.»

Das Nicken des Beschuldigten wirkte wie bei einem kleinen Jungen, der Schelte für einen üblen Streich bezog. Schuldbewusst wiegte er sich vor und zurück.

«Ihr erinnert Euch an die letzte Geburt?»

Der Vogt nickte.

«Das Kind war schon tot, als ich es aus ihr herausgezogen habe. Und Eure Frau wäre auch beinahe krepiert, blutleer, wie sie war. Die Möglichkeit, dass Euer Weib diese Nacht überleben wird, ist so groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass bei Ebbe der Hammrich mit Wasser bedeckt ist.»

Die Augen des Mannes wurden groß. In ihnen waren gleichzeitig Angst und Hoffnung abzulesen. «Aber das kommt vor, nicht wahr? Manchmal bleibt auch bei Niedrigwasser das Meer auf dem Inseldurchbruch liegen. Sie kann es also schaffen?»

«Ihr solltet es wissen», gab Tassos Mutter zurück. «Die Höhe des Meeres und alles andere liegt in Gottes Hand. Also geht zu Eurem Freund Pastor Altmann und kniet nieder, wenn Ihr in der winzigen Kirche den Platz dafür findet. Dies ist das Einzige, was Ihr für Eure Frau tun könnt, Vogt Boyunga.»

Das Seufzen des Mannes klang gerade so wie die Jammerlaute, die das alte Haus bei einem Nordweststurm wie heute von sich gab. Seine eigentlich hochgewachsene Gestalt schien in sich zusammenzusinken.

«Ihr wisst, was der Vorgänger des Pfaffen einmal gesagt hat. Damals, bevor Ihr ihn von der Insel gejagt habt.»

«Elias Thielen, der Spökenkieker? Du meinst doch nicht etwa …» Der Vogt richtete sich so schnell auf, dass er sich den Kopf an einem der rauchgeschwärzten Balken stieß. Die Schnur mit den getrockneten Bohnen schwankte hin und her.

«Heute ist die Nacht, von der er sprach.»

«Er war ein falscher Prophet, Geesche Nadeaus. Was er voraussagte, entsprang seinem kranken Hirn.» Das Verhalten des eben noch so unterwürfigen Besuchers änderte sich mit einem Schlag. Er schien jetzt aufgebracht über die Worte der Mutter zu sein. Tasso konnte die Adern an der Stirn des Inselvogtes schwellen sehen.

Doch seine Mutter fuhr unbeirrt fort. Fast leierte sie die nächsten Sätze herunter wie ein tausendfach gesprochenes Gebet: «Das gottlose Streben der Insulaner, das Geifern nach dem Unglück der Schiffbrüchigen, der Neid und die Unbarmherzigkeit untereinander, es wird ein Urteil vollstreckt werden für die Sünden der Insulaner –»

«Hör auf, so zu reden, altes Weib!», rief der Vogt dazwischen.

«… in einer Nacht, die das Weltenheil verspricht, wird »

«Ich habe gesagt, du sollst schweigen!»

«… Gott selbst gegen die Regeln verstoßen und –»

«Ich warne dich!»

«… sie alle verschlucken, als wären sie nichts weiter als Sandkörner im Fluge des Sturms.»

Es war nun still in der Kate. Der Vogt atmete heftig ein und aus, sein Sohn umklammerte angstvoll seinen Unterarm. Ein Holzscheit fiel Tasso aus der Hand und landete mit einem kurzen Knacken im Feuer. Niemand sagte ein Wort. Selbst der Orkan schien sich einen Wimpernschlag lang an ein unausgesprochenes Schweigegebot zu halten. Und obwohl sie zu viert auf engstem Raum und nah bei der Feuerstelle standen, lief Tasso ein frostiger Schauer über den Rücken.

Erst Tassos Mutter beendete den gespenstischen Augenblick. Sie wischte sich die feuchten Hände an ihrem Rock ab. «Gut, Vogt Boyunga, ich werde nach ihr sehen. Geht in die Kirche zu den anderen. Sagt ihnen, dass die Nacht, von der Elias Thielen sprach, gekommen ist. Vielleicht haben sie noch eine Möglichkeit, das Schicksal abzuwenden, ich weiß es nicht. Schließt mich und meinen Sohn Tasso in Eure Gebete ein.»

«Das werden wir, nicht wahr, Gerjet?» Er streichelte den Kopf des Jungen. «Und auch meine anderen Söhne, die bereits beim Pastor warten. Wir werden beten. Das schwöre ich bei meinem Leben!»

«Schwört lieber nicht, Vogt Boyunga, nicht heute Nacht.» Sie legte das Fleisch in ein Tuch und schlug die Zipfel fest darüber. Dann schwenkte sie den Topf mit der schon kross gebratenen Speckschwarte zur Seite, sodass die Flammen ihn nicht mehr weiter erhitzten. Tasso verstand, was dies zu bedeuten hatte: Den mit Vorfreude erwarteten Weihnachtsbraten würde es so bald nicht geben.

«Ich werde dir dankbar sein, solange ich lebe», sagte der Inselvogt, als seine Mutter nach ihrem Beutel griff. Jeder Inselbewohner wusste, dass dessen Inhalt für die Besitzerin zu Zeiten der Hexenverfolgung noch das Todesurteil bedeutet hätte.

«Gib mir die dicke Wolldecke, Tasso, und nimm das Fell. Wir müssen über den Hammrich, Junge. Du weißt, wie weit der Weg ist.»

2

Im Winter war der Hammrich ein Ort, den man nur schnell genug hinter sich lassen wollte.

Schon die ersten Schritte, die Tasso und seine Mutter aus dem Dorf an der Bill auf das Stück Niemandsland setzten, wurden vom Sand gebremst. Schwer hing der Brei aus Schlick und zermahlten Muschelschalen an den Sohlen, immer tiefer sank der Fuß. Kaum waren sie aus dem Windschatten der letzten Randdünen getreten, kam es Tasso vor, als säße dort unter der Insel ein Wesen und versuchte, ihn festzuhalten. Es zog an seinen Beinen und machte ihm das Gehen fast unmöglich.

«Mutter, ich schaffe das nicht.» Wenn Tasso daran dachte, dass sie erst den kleinsten Teil der Strecke hinter sich gebracht hatten, wuchs seine Angst. «Lass uns umkehren», flehte er.

Er musste schreien, um im tobenden Wind die Ohren seiner Mutter zu erreichen. Sie hatte ihre schwere Wolldecke fest um den Kopf gebunden und blickte stur geradeaus.

Tasso hielt sich die Hand vor den Mund, um noch atmen zu können. Denn obwohl der Sturm sie im Rücken anschob, wehten einige kalte Böen immer wieder mitten in sein Gesicht und erstickten ihn beinahe mit ihrer Gewalt.

Er versuchte, einen Zipfel ihres Umhangs zu greifen. Doch die Mutter verlangsamte noch nicht einmal den Schritt.

Der Regen war dicht wie ein Schleier, und die Nacht brach allmählich herein, auch wenn man den Unterschied kaum bemerkte, da der Sturm bereits alles verdunkelt hatte. Tasso verspürte schreckliche Angst, die Mutter aus den Augen zu verlieren.

Er schluckte ein paar Tränen herunter.

Plötzlich erfüllte ein dumpfes Krachen die Sturmnacht. Von der Seeseite her grollte es wie ein Donnerhall. Das konnte kein Gewitter sein, dachte Tasso, denn der Blitz, den er in weiter Entfernung ausmachte, flackerte direkt über der Wasseroberfläche und war zu klein, um aus den schweren Wolken zu stammen. Selbst seine Mutter blieb jetzt erschreckt stehen. Tasso näherte sich ihr.

«Eine Kanone, Mutter! Da draußen ist ein Schiff. Direkt auf dem Koper Sand

«Sie sind in Seenot, Tasso. Sie schießen mit ihren Kanonen, damit wir ihnen zu Hilfe eilen.»

Der Koper Sand, eine tückische Untiefe zwischen zwei scheinbar bodenlosen Seegatts, war nur knapp zwei Meilen entfernt. Es geschah nicht selten, dass hier Schiffe stecken blieben. Bei ruhiger See war dies auch kein Grund zur Aufregung. Doch bei einem Sturm wie an diesem Abend konnte das gewaltsame Zusammenspiel von Wasser, Wind und scheuerndem Meeresgrund den größten Dreimaster zu Kleinholz zerbersten.

Tasso ließ seine Augen dorthin wandern, wo er mit viel Anstrengung die schwachen Lichter der Inselkirche ausmachen konnte.

«Die Leute in der Billkirche haben den Kanonenschuss mit Sicherheit auch gehört. Gleich werden sie herausstürmen und die Boote klarmachen.»

Mutter schloss die Augen. Noch immer machte sie keine Anstalten, ihren Weg fortzusetzen. Tasso war verwundert, denn es war ganz und gar nicht ihre Art, sich von irgendetwas aufhalten zu lassen.

«Es ist die Prüfung, von der Elias Thielen sprach», flüsterte sie.

Tasso erinnerte sich, dass seine Mutter diesen Namen auch im Beisein des Inselvogtes ausgesprochen hatte. Fragend sah er sie an.

«Elias Thielen war ein weiser Mann, Tasso. Er hat den Juistern oft gepredigt, dass ihr scheußliches Handeln nicht ohne Strafe bleiben wird.»

«Was haben sie denn getan?»

«Nicht selten setzen die Leute hier falsche Lichter, damit es noch anderen so ergeht wie diesem Kriegsschiff da draußen. Sie eilen dann erst zum Strand, wenn es Zeit ist, sich um das Treibgut zu streiten. Elias Thielen wollte, dass seine Gemeinde damit aufhört. Sogar das Abendmahl hat er ihnen verwehrt, mit der Begründung, dass ein bisschen Brot und Wein die schweren Sünden der Insulaner ohnehin nicht vergeben könnten. Da haben sie ihn von der Insel gejagt.»

«Und von welcher Prüfung hat er denn gesprochen?»

«Er hat eine Sturmflut kommen sehen, zerstörerischer und mächtiger als ein Heer gerüsteter Soldaten, aber ebenso unberechenbar. In einer Heiligen Nacht sollen die Wasser hereinbrechen, wenn keiner damit rechnet. Und es wird eine Gottesstrafe sein.»

«Mutter …» Tasso stand steif vor Schreck, der Sand hatte ihn längst schon bis zur Mitte des Schienbeins verschluckt, doch es kümmerte ihn nicht.

Die Mutter strich ihm kurz über den Kopf, als wolle sie ihn beruhigen, doch er wusste, dass sie mit den Gedanken ganz woanders war.

Ein zweiter Kanonenschuss dröhnte.

Tassos Herz schlug schmerzhaft schnell und heftig, und er versuchte krampfhaft, seine Füße aus dem Sog des Untergrunds zu befreien. Doch er schlug der Länge nach ins Wasser. Die feuchte Kälte fraß sich sofort in seine Kleidung, sein Mund war voller Sand und Salz, und die Augen brannten. Seine Hände krallten sich in den Schlick. Er wollte die Ellenbogen gerade stemmen, aber es ging nicht, ihm fehlte die Kraft.

«Mutter!», schrie er. Doch sie ging bereits weiter, und allmählich verschwand die umhüllte Gestalt aus seinem Blick. Würde sie ihn tatsächlich hier alleine lassen?

Tasso wusste, er durfte nicht länger im Schlick stecken bleiben und tatenlos die Flut abwarten. Er musste ein Mann werden, ein starker Mann wie der Inselvogt – mit dem Unterschied, dass er niemals vor einem Menschen kuschen würde, wie Boyunga es heute getan hatte. Wer Schwäche zeigte, der würde im Leben verlieren. Das hatte er selbst allzu oft erfahren müssen, wenn die anderen Insulaner ihn gehänselt, ihn ausgegrenzt hatten. Nur wer sich wehrte gegen die vermeintlich Stärkeren, der würde überleben.

Ein letztes Mal versuchte Tasso, die Muskeln in den Armen anzuspannen. Aber die Hände gehorchten ihm nicht mehr, denn seine Finger waren inzwischen steif vor Kälte und fühlten sich an wie aus Stein. Doch die Arme gaben noch etwas her, und mühsam bekam er die Beine frei. Langsam wanden sie sich im schmatzenden Schlick.

Tasso Nadeaus wusste, er würde es schaffen, und nach heute Nacht würde er auch alles andere im Leben schaffen. Nie wieder würde er dabei nach seiner Mutter rufen.

Ein weiterer Kanonenschuss fiel, und Tasso spürte die Schwingungen des Grollens. Im selben Moment kam er frei. Er stemmte sich hoch. Das Wasser lief als grauer Brei an ihm herunter.

Und mit einem Mal war auch die Angst weg, sie war in diesem Loch steckengeblieben. Er hatte sich nicht nur aus dem Schlick, sondern auch von seiner Feigheit befreien können.

3

Das Schreien der Frau klang fürchterlich. Es wechselte in regelmäßigem Abstand von kläglichem Jammern zu einem unerträglichen Geheule. Der Anblick der gequälten Imke Boyunga tat sein Übriges, damit Tasso bereute, der Mutter zum Vogthaus gefolgt zu sein.

Seine Kleider waren inzwischen wieder getrocknet, und jetzt juckte der salzige Sand auf seiner Haut. Doch das war nicht das Schlimmste, auch nicht der Hunger, der sich inzwischen wie ein wundes Loch in der Mitte seines Körpers ausbreitete. Nein, am schlimmsten war das lautstarke Leiden der Frau, die sich dort auf dem mit Stroh gepolsterten Bodenbett hin und her warf.

Tasso drückte sich ganz eng an die Wand, die hinter dem Bett lag. Er wollte nicht mit ansehen, was seine Mutter dort zwischen den gespreizten Beinen der Ärmsten verrichtete.

Die Frau stöhnte und stieß immer wieder Worte zwischen den trockenen Lippen hervor. Mal waren es Gebete, doch meistens Flüche, die Tasso lieber gleich vergessen wollte, so gottlos kamen sie ihm vor.

Tasso kannte die Frau des Inselvogts. Angeblich kam sie vom Fürstensitz der Cirksena in Aurich. Imke Boyunga war früher eine blonde, anmutige Frau mit rosigen Wangen gewesen und einem Lächeln, das von der Leichtigkeit des Lebens erzählte.

Doch heute Nacht stand ihr der Schweiß auf der weißen Stirn, und sie zitterte, dass ihre Zähne aufeinanderschlugen und die hohlen Wangen bebten.

Tasso glaubte nicht, dass Imke Boyunga und das Kind noch gerettet werden konnten.

Seine Mutter hingegen blieb wie immer ruhig und hantierte gelassen, wenngleich sie nicht zimperlich war im Umgang mit dem geschundenen Körper. Eine Hand tauchte jetzt tief in den Leib hinein, während die andere so fest auf den runden Bauch drückte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

«Ich habe es gedreht, Imke, nun liegt es endlich richtig. Das Köpfchen ist in meiner Hand, ich fühle die langen Haare.»

Imke Boyunga stöhnte. «Du belügst mich doch. Es ist alles aus, das spüre ich. Ich sterbe!»

«So leicht stirbt es sich nicht. Reiß dich zusammen. Die Flut hat eingesetzt, hörst du, Imke? Fast alle Inselkinder werden bei auflaufendem Wasser geboren. Du musst pressen, mit all deiner Kraft, dann haben wir es bald.»

«Ich bin nicht stark genug, es wird mich zerreißen …»

«Unsinn, wenn du jetzt nicht presst, werdet ihr beide krepieren, das kann ich dir versprechen. Aber das Kind, Imke! Es muss leben! Gott hat einiges mit ihm vor! Elias Thielen hat es gesagt. In der Nacht wird ein Kind geboren –»

«Aber er meinte doch Weihnachten … Christus … und nicht dieses …» Der Rest des Satzes verlor sich in einem Schmerzensschrei.

Geesche Nadeaus schob sich weiter nach oben, legte ihren Arm unter die Brust der Frau und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht nach unten. Imke Boyunga schrie erbärmlich.

Tasso hielt sich die Ohren zu, bis er am Gesicht der Liegenden ablesen konnte, dass die Wehe vorüber war. Am liebsten wäre er davongelaufen.

«Soll ich Wasser holen, Mutter?», fragte er hoffnungsvoll.

«Wasser? Wozu brauchen wir Wasser, wenn das Blut hier in Strömen fließt? Komm her, mein Junge, du kannst mir helfen.»

Um Gottes willen, dachte Tasso, bitte nicht das. Er rührte sich nicht.

«Ohne dich wird es nicht gehen. Der verdammte Winter hat mir das nötige Gewicht geraubt. Ich bin zu leicht, um das Kind allein herauszupressen. Komm her.»

Langsam schob Tasso einen Schritt vor den anderen. Ein widerlicher Geruch von Blut, saurem Schweiß und Exkrementen stieg ihm in die Nase, je näher er kam.

«Mach schon!», befahl seine Mutter unbarmherzig. Das aufflammende Stöhnen der Frau kündigte bereits die nächste Schmerzenswelle an. «Leg dich auf ihre Brust, Tasso. Du musst es tun!»

Übelkeit stieg in ihm auf. Warum quälte seine Mutter ihn so, warum ließ sie ihm nie die Möglichkeit, einer unerträglichen Situation zu entfliehen?

Hart umfassten ihre knochigen Finger seinen Nacken und schoben ihn dorthin, wo der säuerliche Atem der Schreienden zu riechen war. Tassos Hände ertasteten den Berg, unter dessen Oberfläche sich ein lebendiges Wesen verbarg. Ihm grauste, und doch folgte er den Anweisungen seiner Mutter. Er drückte und schob und wehrte sich gegen die Schläge der Frau, die wie von Sinnen versuchte, ihn loszuwerden.

Die Wehen folgten nun so kurz aufeinander, dass keine Zeit mehr zum Atemholen blieb. Tasso blickte in zwei schreckensstarre Augen, in denen das ehemals Weiße nun so blutrot war, dass man keinen Übergang mehr zur braunen Iris, zur schwarzen Pupille ausmachen konnte. Wie leblose, unergründliche Höhlen klafften die Augen in dem bleichen Gesicht, sie schauten ihn an und durch ihn hindurch.

Doch Imke Boyunga war nicht tot. Sie war nur stehengeblieben, auf dem Höhepunkt dieser Welle, ohne Luft und ohne Worte, bis endlich eine Abwärtsbewegung auszumachen war. Der Berg unter Tasso glitt plötzlich dahin, und kurz darauf war ein zarter Schrei zu hören. Ein leiser Schrei, fast ein Singen.

«Es ist ein Mädchen, Imke», sagte seine Mutter und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht.

«Ein Mädchen?», fragte die Frau des Inselvogts mit erschöpfter Stimme. «Siehst du, nichts hat es auf sich mit deinem Gerede von Elias Thielen. Ein Mädchen bedeutet nicht viel. Es kann keine Gottesaufgabe sein. Niemals!»

«Das werden wir sehen, Imke Boyunga.» Tassos Mutter saß noch immer zwischen den gespreizten Beinen und zog an der blutigen Schnur, die den Säugling mit der Mutter verbunden hatte. Ein Schwall dunkelroten Fleisches rutschte auf das Strohbett. Tasso musste würgen.

«Renn los, Junge, und such den Inselvogt. Sag ihm, wir haben unsere Aufgabe erfüllt. Das Kind ist da. Es lebt. Genau wie die Mutter.»

4

Tasso stemmte sich gegen den Sturm. Der Wind hatte weiter zugenommen, und es war, als hätte die Natur heute all ihre Kräfte mobilisiert, um es ihm besonders schwer zu machen.

Er versuchte zu rennen, doch er prallte gegen eine Wand aus Luft. Für die Strecke über den Inseldurchbruch würde er sicher mehr als doppelt so lange brauchen wie für den Hinweg. Zudem stand schon viel Wasser auf dem Hammrich, obwohl die Flut gerade erst eingesetzt hatte. Wenn er sich nicht beeilte, war der Weg gen Westen bald abgeschnitten.

Angestrengt lauschte er in den Orkan hinein. Ob am Koper Sand noch immer Kanonenschüsse abgefeuert wurden? Doch Tasso hörte nur das Brausen des Meeres und die tausendfach variierenden Töne, die ein Sturm hervorbringen konnte.

Er lief bereits durch tieferes Wasser, als plötzlich etwas Hartes an sein Schienbein stieß.

Es war ein Stück gebrochenes Holz, eine zersplitterte Schiffsplanke. Nur eine Handbreit weiter schwamm ein ähnliches Stück Treibgut im breiten Priel. Tasso hob das Brett aus dem Wasser, die Fasern waren noch fest. Undeutlich erkannte er die Maserung, ebenso die Stellen, an der einst ein Schiffsbauer mit dem Hobel entlanggefahren war. Kein Zweifel, dieses Stück Holz hatte noch nicht lange im Wasser gelegen. Es war nicht unförmig aufgequollen, keine Seepocken hatten sich daran festgemacht. Nicht weit von hier musste ein Schiff gesunken sein.

Das Kriegsschiff? Ob es Überlebende gab?

Tasso watete weiter durch den Priel, ohne auf die Splitter zu achten, die vorbeitreibendes Holz in seine Haut rammte.

Und wenn die Seeleute nun nicht gerettet worden waren?

Die Leichen brachte das Meer immer erst ein paar Tage später, das wusste Tasso bereits. Menschenkörper verhielten sich anders als Holz, sie sanken erst auf den Grund, wurden dort von den Unterströmungen ergriffen und in unterschiedliche Richtungen auf Reisen geschickt. Erst später blähten sich die Bäuche, dann trieben die Ertrunkenen oben und folgten wieder den Wellen Richtung Strand.

In der Nähe meinte Tasso nun kleine, flackernde Punkte zu erkennen. Die Fackeln der Kirchgänger! Es mussten die Loogster sein, die sich nach der Messe gemeinsam auf den Weg über den Hammrich machten. War es vielleicht möglich, dass sie von den Kanonenschüssen gar nichts gehört hatten?

Tasso rannte los. Trotz der vorbeischwimmenden Trümmer ringsherum gab es ja noch eine winzige Hoffnung, dass einige Seeleute das Unglück überlebt hatten. Er wollte helfen. Er wollte beweisen, dass er eben doch falsch entschieden hatte, als er der Mutter gefolgt war, statt Alarm zu schlagen.

«Braucht ihr noch einen starken Mann?», schrie er gegen den Sturm an und versuchte, auf sich aufmerksam zu machen.

«Wer ist da? Bist du es, Hexenbastard?», antwortete eine dröhnende Männerstimme. Es war Bauer Switterts. Er trug eine Fackel und führte die Truppe an. Seine massige Gestalt war nun gut zu erkennen.

«Das Schiff! Am Koper Sand! Habt ihr die Kanonenschüsse nicht gehört?» Tasso bekam kaum noch Luft, so schnell war er den Insulanern entgegengerannt.

«Da kommen wir wohl schon zu spät», erwiderte der Fackelträger nur. «Die hat’s erwischt.»

«Warum habt ihr sie nicht retten können?»

Bauer Switterts lachte kurz: «Sind wir lebensmüde?»

«Aber … ihr hättet doch …»

«Tasso Nadeaus!» Die Stimme des Inselvogts klang sorgenvoll. Der Mann lief weiter hinten, er hielt seine jüngsten Söhne links und rechts an der Hand. Als er Tasso erkannte, ließ er die Jungen los und rannte auf ihn zu. «Erzähl, was ist mit meiner Frau? Ich habe gebetet! Wie ein Wahnsinniger habe ich gebetet!»

«Es ist ein Mädchen», fasste Tasso sich kurz. «Inselvogt, was ist mit dem Schiff? Da war ein Kriegsschiff in Seenot! Habt Ihr die Kanonen nicht –»

Der Inselvogt packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran. «Ob meine Frau noch am Leben ist, will ich von dir wissen!»

«Vorhin hat sie noch geatmet.»

«Was heißt vorhin?»

«Bevor meine Mutter mich losgeschickt hat, um Euch zu holen.» War das wirklich das Einzige, was den Inselvogt interessierte? «Was ist mit den Schiffbrüchigen?», fragte er abermals, doch niemand schien es für nötig zu halten, ihm zu antworten.

«Ich muss zu Imke!», entgegnete der Inselvogt nur, und die Ungeduld war ihm anzumerken. «Gott gebe, dass sie noch lebt.»

Tasso hielt ihn am Ärmel fest. «Warum hat denn niemand geholfen?»

Boyunga seufzte gereizt. «Wir haben auch für die Männer da draußen gebetet. Aber wenn wir ins Boot gestiegen wären …» Er drängte weiter.

«Was dann?» Glaubte er wirklich, das reichte ihm aus?

«Wir wären ertrunken. Wir alle. Und was wäre dann aus Imke geworden? Und den Kindern? Manchmal muss man eben Entscheidungen treffen, die für den einen den Tod bedeuten können … und für den anderen das Leben. Wenn du groß genug bist, Junge, dann wirst du verstehen, wovon ich rede.» Mit diesen Worten riss er sich los und rief nach seinen beiden Söhnen.

Der ältere von ihnen starrte mit schreckensweiten Augen in die Richtung, in die sie zu gehen hatten. «Da ist gar kein Land mehr, Vater! Ich habe Angst.»

«Was sagst du?» Der Inselvogt lief weiter und stand wenige Schritte später im Priel. «Aber … wie kann das sein? Wir hatten doch gerade noch Ebbe!»

«Das Wasser steht schon sehr hoch, Vogt, wir hätten nicht so lang auf der Bill bleiben sollen.» Evert Janssen, einer der Schiffer, schien beunruhigt. Tasso konnte seine großgewachsene Gestalt vor dem Sturmhimmel ausmachen. Er trug ein kleines Mädchen auf den Schultern.

«Musst ausgerechnet du dich jetzt beschweren?», höhnte Bauer Switterts. «Du warst es doch, der die ganze Zeit gedrängt hat, zum Koper Sand zu fahren. Ohne dich wären wir längst schon zu Hause beim Weihnachtsbraten!» Auf Bauer Switterts’ feistem Gesicht lag der rotgelbe Schein der Fackel.

«Hier kommen wir mit den Kindern tatsächlich nicht rüber, das Wasser ist bereits zu tief», rief der Inselvogt und zeigte in die Richtung, aus der Tasso gekommen war. «Weiter nördlich wird es besser sein. Schaut nach!» Seine Stimme hatte wieder den üblichen Befehlston.

«Dort ist es nicht besser, das kann ich Euch erzählen! Ich stand eben schon bis zu den Knien im Wasser», warnte Tasso. Doch niemand hörte auf ihn.

«Bestes Holz, meine Herren», johlte Bauer Switterts und hob einen Balken in die Höhe. «So eine Bescherung lasse ich mir am Weihnachtsabend gern gefallen.»

«Lass es liegen, Switterts», mahnte Evert Janssen. «Was du hier machst, ist gottlos!»

«Wenn ich für meine Familie Feuerholz besorge, wird es Gott nicht großartig stören. Vergiss nicht, mein jüngster Sohn Weert wartet mit der Mutter zu Hause und –»

«Vor ein paar Stunden war es noch Teil eines Schiffes», erwiderte der Seemann. «Es klebt Blut daran!»

Bauer Switterts drehte und wendete das Holz. «Ich kann nichts sehen …»

«Verdammt!», erklang weiter entfernt der Fluch eines anderen Insulaners. «Das Wasser wird immer tiefer. Wie kann das sein?»

Eine der Frauen mischte sich jetzt ein: «Vogt Boyunga, wir hätten auf Pastor Altmann hören sollen. Es war falsch, die Hilferufe zu ignorieren. Wir sind …»

«Halt den Mund, Trientje. Wären wir hinausgefahren, dann wärst du jetzt Witwe und würdest über die Planken unseres Bootes stolpern!»

«Aber der Pastor hat gesagt, es sei unsere Christenpflicht!»

Bauer Switterts lachte laut. «Der Pastor bleibt auch immer fein in seiner Kirche. Sein Beitrag zur Rettung hätte sich auf Beten beschränkt, deswegen konnte er uns auch gefahrlos etwas über angebliche Christenpflichten erzählen. Seinen Anteil am Strandgut hingegen nimmt er dann aber doch ganz gern, möchte ich wetten!»

Niemand stimmte in Switterts’ schallendes Gelächter ein.

«Wenn man dich so reden hört, sollte man meinen, du hättest wieder einmal falsche Leuchtfeuer gezündet, Bauer Switterts.»

«Wo denkst du hin, Vogt Boyunga? Ich doch nicht!» Doch der Tonfall des Mannes konnte auch das Gegenteil bedeuten. Eifrig sammelte er weiter Treibgut ein, inzwischen trug er bereits so viel Holz im Arm, dass er bei jedem Schritt ächzte.

Evert Janssen wandte sich voll Verachtung ab und richtete sich an den Inselvogt, der in Richtung Norden laufen wollte. «Wir wären bereit gewesen, Vogt Boyunga. Wir wären da raus und hätten vielleicht noch ein paar arme Seelen retten können. Wenn du nicht darauf bestanden hättest, bis zum Morgen zu warten …»

Tasso schluckte. Konnte das wahr sein? Ausgerechnet der Inselvogt, den er bislang für so unerschrocken und stark gehalten hatte, ausgerechnet dieser starke Mann sollte eine Rettung verhindert haben?

«Und wenn es die Prüfung ist, von der Elias Thielen sprach?», fragte Tasso irritiert.

«Unsinn!» Der Inselvogt sah ihn drohend an. «Thielen war verrückt! Das habe ich schon deiner Mutter gesagt!» Die Adern auf der Stirn des Inselvogtes schwollen bedrohlich an. «Und jetzt geh aus dem Weg, sonst …»

«Sonst was?»

Plötzlich wurde Tasso von hinten gepackt und in die Höhe gehoben. In seinen Schultern knackte es, und er jaulte auf.

«Sonst brechen wir dir alle Knochen, du Bastard!»

Tasso erkannte die Stimme von Bauer Switterts. «Aber meine Mutter hat gesagt, es ist alles prophezeit worden: … in einer Nacht, die das Weltenheil »

Bauer Switterts gab wieder sein dröhnendes Lachen von sich und verstärkte den Griff, mit dem er Tasso hielt.

«Deine Mutter war das Liebchen des verrückten Pfaffen. Und du bist das kleine Andenken, das er ihr hinterlassen hat, bevor er abgehauen ist! Kein Wunder, dass du ebenso wirres Zeug daherredest.»

Tasso schwindelte. Er hatte höllische Schmerzen und konnte einen kurzen Schrei nicht unterdrücken.

«Lass ihn los, sofort!», befahl der Inselvogt. «Er ist doch noch ein Junge!»

Bauer Switterts gehorchte nicht ohne Widerwillen.

Als Tasso den Boden unter den Füßen spürte, rannte er los. Nicht Richtung Norden, wie die anderen, nein, er wollte zur Kirche, er wollte schauen, ob er dort vielleicht noch einen Menschen fand, der mutig genug wäre, zum Koper Sand zu fahren. Und wenn nicht, dann würde er es eben allein versuchen. Aber er wollte keinen Moment mehr mit diesen Feiglingen hier verbringen. Und er wollte keine Lügen mehr hören über seine Mutter und diesen Elias Thielen, der angeblich sein Vater sein sollte. Diese Insulaner waren bösartig und gemein. Aber vor allem waren sie feige. Er wollte nie wieder zu ihnen gehören.

5

«Bleibt nicht stehen, Kinder!» Die Befehle des Inselvogtes wurden vom Tosen des Sturmes verschluckt. «Männer, lasst das Treibholz liegen, wo es ist. Wir können es morgen sammeln. Wir müssen uns beeilen! Das Wasser steigt schnell.»

Aus der Entfernung hörte Tasso noch die Kinder schreien. Tatsächlich hatte sich die Flut weiter vorgearbeitet. Vor wenigen Minuten hatte das Salzwasser ihm erst bis zum Knöchel gestanden, und nun umspielten die Wellen, die von Norden heranrollten, bereits fast seine Knie. Eine solche Geschwindigkeit der Fluten hatte er noch nie erlebt. Als könne man dem Wasser beim Ansteigen zuschauen! Was für ein Spiel trieb das Meer heute bloß mit der Insel?

Die Kälte stieg immer weiter hinauf. Tasso zitterte am ganzen Körper. Das Wasser war im Dezember unbarmherzig eisig, und der nasse Stoff seiner Hose saugte die Feuchtigkeit auf und erschwerte jeden Schritt. Trotzdem rannte Tasso jetzt, als ginge es um Leben und Tod.

Von den anderen Juistern vernahm er nur noch die Rufe, die immer gellender und schriller klangen, und es war nicht mehr auszumachen, ob sie einer kindlichen oder einer erwachsenen Kehle entsprangen.

Doch mit einem Mal spürte Tasso, wie sich das Meer beruhigte. Es stieg nicht weiter an, im Gegenteil. Es erschien Tasso, als hätte die Flut ihr Versehen bemerkt und versuchte nun, ihr zu schnelles Auflaufen wieder rückgängig zu machen. Das ablaufende Wasser versickerte im Sand, das Treibholz um ihn herum knirschte, als es tiefer in den Boden sackte. Tasso blieb stehen.

Obwohl der Wind weiterhin wehte, war es still, fast unheimlich still. Die Bedrohung schien so plötzlich verschwunden, wie sie aufgetaucht war. Selbst der breite Priel war leer gelaufen. Aber nicht mal bei Niedrigwasser zeigte sich der Hammrich so unbedeckt und trocken.

Das war seltsam. Das war teuflisch, fand Tasso.

Weiter entfernt waren auch die Kirchgänger stehen geblieben. Sie hatten vorhin ein gutes Dutzend Fackeln dabeigehabt. Nun trugen nur noch zwei Männer ein Feuer, der Rest stand im Dunkeln.

«Es ist vorbei!», rief eine Frau schließlich aus, und in der plötzlichen Stille waren ihre Worte zu hören, als stünde sie neben Tasso. «Was immer das auch war, es ist wieder ins Meer zurückgeflossen.»

Doch Tasso mochte sich nicht mit ihr freuen. Er überlegte kurz, ob er zu den anderen zurückkehren sollte. Aber irgendetwas hielt ihn zurück. Es war Zeit, von hier zu verschwinden.

Dann hörte er das Donnern. Erst dachte er, das Dröhnen säße nur in seinem Kopf, denn es war ein Geräusch, wie er es noch nie vernommen hatte. Es schien nicht von dieser Welt zu kommen, war tausendfach gewaltiger als die Kanonenschüsse und breitete sich plötzlich aus wie das Brüllen eines Ungeheuers. Der Boden vibrierte, die Insel erbebte unter seinen Füßen.

Tasso blickte aufs dunkle Meer. Und plötzlich sah er etwas Großes, etwas Mächtiges, von dem er keine Ahnung hatte, was es sein konnte. Er spürte, wie sich die Angst in seinen Armen und Beinen breitmachte.

Wenn das, was da heranrollte, die Strafe Gottes war, dann durfte sie ihn nicht treffen. Die feigen Juister, die nur an ihren eigenen Vorteil dachten, ihnen galt der Zorn des Allmächtigen. Aber er, Tasso Nadeaus, wollte der Gefahr trotzen. Er hatte ein solches Todesurteil nicht verdient.

Das Meer hatte sich zu einer Mauer erhoben. Und mit einem Mal verstand Tasso: Diese Welle hatte in den stillen Minuten alles Wasser gesammelt, hatte es an sich gerissen, um so gewaltig, so groß und furchteinflößend zu werden, deswegen war der Hammrich plötzlich so trocken gewesen.

Tasso hörte die Schreie der anderen, die jetzt in Panik auseinanderstoben, doch er konnte sie kaum noch verstehen. Er blickte sich um. Wohin sollte er rennen? Er war mitten auf dem Hammrich, es gab nichts, woran er sich hätte festhalten können.

Da erblickte er einen Kasten aus Holz. Es war eine riesige Kiste, die weiter südlich im Priel schaukelte. Tasso lief darauf zu. Als er näher kam, erkannte er in der Dämmerung die schmuckvollen Ornamente und Verzierungen im Holz.

Das unheimliche Grollen war jetzt ganz nah. Wenn er dieses Ding erreichte, dann … vielleicht … Er musste es schaffen!

Tasso streckte die Hände aus und erkannte, was es war. Am liebsten hätte er geheult vor Glück, denn es war ein Kapitänsstand. Der Kapitänsstand des gesunkenen Schiffs!

Mit aller Kraft krallten sich seine Finger in die Fugen. Seine Füße stemmte er gegen die Wand. Von allen Seiten schoss jetzt Wasser hinein. Alles geriet in Bewegung. Der Unterstand erzitterte, löste sich kurz vom Boden und prallte wieder zurück in den Sand.

Fast fühlte Tasso sich hochgehoben, als würde eine unsichtbare Hand unter ihn greifen, unter das Holz, an welchem er wie festgewachsen hing. Schemenhaft nahm er seine Arme wahr, erkannte an der langsamen, unwirklichen Bewegung, die sein schwebendes Hemd machte, dass er bereits im grauen Wasser schwamm.

Das Meer wirbelte alles herum. Tasso schluckte, saugte gierig nach Luft und bekam wieder Salzwasser in den Hals.

Der Kapitänsstand hatte sich gewendet, und was vorhin noch ein Dach gewesen war, befand sich nun unten. Es dauerte wertvolle Augenblicke, bis Tasso begriff, dass er nun darin schwamm.

Vorsichtig blickte er über den Rand, so als zwinge ihn diese übermenschliche Macht, die ihn eben in seinem Versteck gehalten hatte, nun dem Schicksal ins Auge zu blicken.

Ringsherum war nichts als Schaum, weiß glänzende Gischt vor einem tiefen, grauschwarzen Abgrund. Der Kapitänsstand schwebte auf dem höchsten Kamm einer Welle, eine Welle, die ihn über die Insel trug.

Vor sich erkannte Tasso plötzlich die Kate seiner Mutter mit dem faserigen Strohdach, daneben die Kirche aus Stein. Doch noch nie hatte er die vertrauten Gebäude aus diesem Winkel gesehen. Von oben, wie eine Möwe sein Zuhause sonst betrachtet haben mochte, konnte er für einen kurzen Moment alles überblicken.

Dann sah er, wie das Wasser sein Zuhause fraß, wie es das Dach der Kate verwirbelte, als wäre es ein federleichtes Nichts. Er erkannte ein paar menschliche Gestalten, beobachtete ein verzweifelt strampelndes Rind. Alles wurde verschluckt.

Und auf einmal klangen die Worte seiner Mutter in seinen Ohren wider, die Prophezeiung des Predigers, das leiernde Gebet:

«… in einer Nacht, die das Weltenheil verspricht, wird Gott selbst gegen die Regeln verstoßen und sie alle verschlucken, als wären sie nichts weiter als Sandkörner im Fluge des Sturms.»

Sie würden alle sterben. Auch er.

Und obwohl er dem Tod so nah war, graute Tasso mit einem Mal nicht mehr davor. Plötzlich war er stark. Doch seine Mutter würde dies wohl nie erfahren. Es würde keinen Moment mehr geben, in dem sie stolz auf ihn sein könnte. Denn er würde sie nie wieder sehen.

Die Welle spülte ihn fort, die Insel lag bereits hinter ihm. «Mutter», dachte er noch einmal.

Dann ritt Tasso Nadeaus auf der Welle und vergaß alles, was ihm bislang wichtig erschienen war. Er war oben. Ganz oben.

TEIL 2

***

Frühjahr 1729