Umschlag

Hannes Nygaard ist das Pseudonym von Rainer Dissars-Nygaard. 1949 in Hamburg geboren, hat er sein halbes Leben in Schleswig-Holstein verbracht. Er studierte Betriebswirtschaft und war viele Jahre als Unternehmensberater tätig. Hannes Nygaard lebt auf der Insel Nordstrand.
www.hannes-nygaard.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur EDITIO DIALOG, Dr. Michael Wenzel, Lille, Frankreich (www.editio-dialog.com).

© 2015 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: photocase.com/joexx
Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch
Lektorat: Dr. Marion Heister
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-86358-875-5
Hinterm Deich Krimi
Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons:
Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de

Ariane und Leif

Gesegnet soll der Trunk uns sein,
das Wasser euch und mir der Wein.

Heinrich Hoffmann,
Frankfurter Nervenarzt,
Verfasser des »Struwwelpeter«

EINS

»Seid vorsichtig«, hatte ihm seine Frau hinterhergerufen. Dirk Grützmacher lächelte. Die achtzig PS des alten Ford Focus ließen keine Experimente zu. Außerdem schienen viele andere Autofahrer das gleiche Ziel zu haben wie er.

»Wie lange dauert es noch?«, meldete sich Alexander von der Rückbank.

»Du wirst dich noch eine Weile gedulden müssen«, gab Grützmacher zurück.

»Autofahren ist doof«, erwiderte der Neunjährige. »Oder?« Die Frage galt dem gleichaltrigen Kojadin, den Grützmacher mitgenommen hatte. Dessen alleinerziehende Mutter hatte sich zunächst reserviert gezeigt und das Angebot, dass Kojadin mitfahren sollte, abgelehnt. Grützmacher hatte geahnt, dass die Frau das Geld nicht aufbringen konnte. »Kojadin ist eingeladen«, hatte er versichert. Erst auf Drängen ihres Sohnes hatte die Frau eingewilligt. Auch Alexander hatte sich begeistert gezeigt, dieses Abenteuer mit seinem Spielkameraden gemeinsam zu bestreiten. Seine sechsjährige Schwester hingegen hatte ihren ganzen Unmut herausgebrüllt, weil sie bei der Mutter bleiben musste. Auch sein »Das ist nichts für Frauen« hatte das Mädchen nicht beruhigt.

Grützmacher schwamm in der Kolonne auf der Bundesstraße mit. Auch für ihn war es ein kleiner Ausbruch aus dem Alltag in der himmelblauen Hochhaussiedlung am Thesdorfer Bahnhof. Als Malergeselle in Pinneberg musste man mit dem auskommen, was einem zur Verfügung stand. Er war froh, seit zwei Jahren bei Murat Aikem einen Job in seinem Beruf gefunden zu haben.

Die beiden Jungs auf dem Rücksitz wurden unruhiger, als es vor Bad Segeberg nur noch schrittweise voranging. Grützmacher kannte die Kreuzung in Bad Segeberg. Von allen Seiten knubbelte es sich dort, wo sich die beiden stark befahrenen Bundesstraßen begegneten. Die Autobahn würde eine Lösung des Problems bedeuten, aber eine Fledermauseinflugschneise hatte den Bau der Schnellstraße gestoppt.

»Hast du schon mal gehört, dass eine Fledermaus mit ihrem Ultraschallortungssystem irgendwo gegengeflogen ist?«, hatte ein Nachbar in einer Diskussion eingeworfen. Heute, in der Warteschlange vor der Ampel, musste Grützmacher ihm recht geben.

»Ich muss mal«, schlug Alexander ein neues Thema an. Kojadin stimmte sofort ein.

»Es dauert nicht mehr lange.«

Die beiden Kinder schafften es, seine Gelassenheit zu strapazieren. Warum hatte er sich überhaupt darauf eingelassen? Weil er sich selbst auf das Ereignis freute?

Stoßstange an Stoßstange schoben sie sich weiter Richtung Lübeck, bis das Hinweisschild »Parkplatz 3« sie von der Bundesstraße führte. Von hier folgte Grützmacher den Anweisungen des Wachpersonals mit den orangefarbenen Leibchen. Er hatte keine andere Chance. Der Parkplatz wurde zugewiesen.

Die beiden Jungs murrten, als die drei in der Masse mitschwammen und zunächst über Trampelpfade und dann durch einen Segeberger Vorort bis zum Kalkberg marschieren mussten. Hier wimmelte es vor Menschen. Buden boten Getränke und Snacks, aber auch Krimskrams an. Die Toiletten waren stark frequentiert, und Grützmacher bedauerte die Frauen, die sich in einer sehr langen Schlange gedulden mussten.

Endlich wurden die Tore des Palisaden nachgebildeten Zauns geöffnet und gaben den Zutritt zum Theater frei. Viele verharrten einen Moment vor der Kulisse eines der schönsten Freilichttheater Europas. Der Kalkberg im Hintergrund und die phantasievollen Ergänzungen der Bühnenbildner schufen eine zauberhafte Illusion des Wilden Westens, zumindest so, wie es sich Karl May und seine Leser ausmalten.

Grützmacher schaffte es, den lauten Protest der beiden Kinder zu ersticken und sie an den auch im Inneren zahlreich vorhandenen Imbissständen und anderen Einrichtungen vorbeizulotsen, in denen für teures Geld Tand angeboten wurde, dem die jungen Besucher sich nur schwer entziehen konnten. Sie stapften die steile Treppe hinab, bis sie die Reihe mit ihren Sitzplätzen gefunden hatten, und zwängten sich an den bereits sitzenden anderen Besuchern zu ihren Plätzen vor.

Natürlich wollten die Jungs nebeneinandersitzen. Grützmacher ärgerte sich im Stillen, als er sah, dass erfahrene Karl-May-Fans sich Sitzkissen und Decken mitgebracht hatten. Die Kinder und er selbst mussten die nächsten Stunden auf den schmalen harten Holzbänken ausharren.

Seitlich versetzt hatte sich eine Truppe munterer Erwachsener eingefunden, die keine Alibikinder für den Besuch des Spektakels nötig hatten. Ein beleibter Mann mit einem breitkrempigen Cowboyhut schleppte eine große Kühltasche mit sich, aus der, nachdem seine Begleiter Platz gefunden hatten, die Mitglieder der Gruppe mit Getränken versorgt wurden. Die Männer rissen die Verschlüsse der Bierdosen auf, während die vier Frauen kleine »Wodka mit Feige« in den Händen hielten, die Flaschen gegeneinanderstießen und mit einem »Stößchen« auf den Lippen den Inhalt in sich hineinlaufen ließen.

Das Theater füllte sich zunehmend. Grützmacher fand Zeit, sich umsehen. Unter den siebeneinhalbtausend Besuchern waren Einzelne oder gar Gesichter nicht mehr auszumachen. Die Menschen verschwammen zu einer Masse bunter Farbtupfer. Das weite Rund war von einem Stimmengewirr erfüllt, bis sich schließlich auch die Gäste vor ihnen eingefunden hatten. Ein Vater – Grützmacher unterstellte es – nahm zwischen einem vielleicht neunjährigen Mädchen und einem gelangweilt aussehenden pubertierenden Jungen Platz. Während das Mädchen sich zum Vater beugte und auf die Kulisse zeigte, die bunte Westernstadt, die Wigwams der Indianer auf einer kleinen Anhöhe, die zerbrochene Kutsche und den Marterpfahl im Zentrum der Arena, stierte der Sohn starr auf seine Füße.

Grützmacher warf einen kurzen Blick auf das kahle Rund am Hinterkopf des Mannes, der direkt vor ihm saß. Die dunklen Haare waren an den Seiten mit Silberfäden durchzogen. Unter dem Kragen des Edelblousons lugte ein Hemd hervor. Was der im Freilichttheater trägt, überlegte Grützmacher, habe ich nicht einmal zu meiner Hochzeit angehabt. Wieso sitzt so ein feiner Pinkel auf diesen Plätzen? Der hätte sich doch eine teure Loge direkt unten an der Bühne leisten können. Aber hier, so befand er, hat man einfach mehr Übersicht. Er wollte nicht unzufrieden sein. Weder mit dem Platz noch mit seinem Leben.

Das Stimmengewirr ebbte langsam ab, als eine Lautsprecherstimme erscholl, die Besucher begrüßte und Sicherheitshinweise durchgab. Dann erfüllte die unvergessene »Winnetou«-Melodie Martin Böttchers die Arena. Gebannt warteten die Zuschauer auf den Star des Abends. Ein raunendes »Ahhh« und »Ohhh« ging durch die Menge, als der Häuptling der Apachen auf seinem Pferd oberhalb der Zuschauerränge erschien und über eine lange Rampe zur Bühne hinabritt.

Grützmacher beobachtete mit einer Spur Belustigung, wie die beiden Jungs sich vorbeugten und sich ganz dem Geschehen vor ihren Augen hingaben. Den Veranstaltern war es jedes Jahr gelungen, namhafte Darsteller für die Festspiele zu gewinnen. Nicht nur der unvergessene Pierre Brice, auch andere bekannte Größen des Showgeschäfts mischten hier in Bad Segeberg mit. Eine nur grob an Karl May angelehnte Handlung, gewürzt mit viel Humor und spaßigen Einlagen, atemberaubende Stunts und viel Pyrotechnik versprachen kurzweilige Stunden. Die selbst ernannten Westmänner mit der Getränketasche kühlten die heiße Atmosphäre mit kaltem Bier, während die sie begleitenden Frauen in immer kürzeren Abständen die kleinen Fläschchen ansetzten und das »Stößchen« zunehmend unklarer über die Lippen kam. Dafür wurden die Aktionen der Schauspieler mit lautem Gekicher kommentiert.

Alexander Grützmacher stieß seinen Vater an.

»Winnetou lässt sich nicht unterkriegen«, strahlte der Junge. »Geil, wie der eben den Verbrecher da … da …« Alexander war so gefesselt, dass er vergaß, den Satz zu vollenden. Erneut landete der Ellenbogen des Kindes in Grützmachers Rippen. »Guck mal, da, da drüben, da kommt einer aus dem Felsen.« Die Hand streckte sich vor. »Da. Gleich darüber. Da sitzt auch ein Indianer.«

»Da und da und da«, wies sein Freund Kojadin auf weitere Stellen im Felsen, wo sich Indianer bewegten. »Pass auf«, ereiferte er sich. »Da gibt es gleich einen Überfall.«

Alexander sah seinen Vater an und tippte ihm dann auf die Brust. »Was ist das für ein roter Punkt?«

Grützmacher blickte an sich herab. Er sah einen roten Punkt, der an seinem Bauch abwärts wanderte, kurz verschwand und dann auf der kahlen Stelle des Mannes vor ihm wieder auftauchte. Langsam wanderte der Punkt über den Kopf des Mannes und entzog sich dann Grützmachers Blickfeld.

»Was war das?«, fragte Alexander.

»Weiß nicht«, erwiderte sein Vater.

In diesem Moment zuckten sie zusammen. Urplötzlich brach es aus dem Felsen heraus. Winnetou, Old Shatterhand und ihre Begleiter warfen sich in den Staub der Arena und ließen es aus ihren Gewehren zurückkrachen. Pulverdampf zog durch das Rund. Mündungsblitze, Rauchschwaden, ohrenbetäubender Lärm. All das erfüllte die Illusion, mitten in einem der heftigsten Gefechte zu sein, die je im Wilden Westen stattgefunden hatten.

Mit großem Aufschrei der Zuschauer wurde der Fall eines Indianers begleitet, der von einer höheren Felsnase theatralisch in die Tiefe stürzte und dabei ein markerschütterndes Geschrei vernehmen ließ, bevor er hinter einer Kulisse verschwand. Ob die Kinder wussten, dass der Stuntman durch hohe Kissen aufgefangen wurde?, überlegte Grützmacher und bemerkte, dass selbst der uninteressierte Jugendliche vor ihm den Indianerüberfall gebannt verfolgte.

Er knallte noch eine Weile weiter, bis ein lauter Indianerruf durch das Theater schallte und sich die Darsteller behände wie Bergziegen von Felsvorsprung zu Felsvorsprung zurückzogen und in die Kulissen untertauchten. Die passende Musik flammte auf und begleitete die erfolgreiche Abwehr des Überfalls. Die Aktionen der Darsteller, aber auch die Pyrotechnik wurden durch einen begeisternden Zwischenapplaus der Zuschauer honoriert.

Grützmacher nahm seinen Sohn kurz in den Arm. »Toll was? Gefällt es dir?«

Alexander nickte heftig. »Super. Kommen wir morgen wieder hierher?«

Grützmacher lächelte. Sein Sohn konnte sich noch begeistern für die Aufführung. Ob er sich auch irgendwann so desinteressiert zeigen würde wie der Jugendliche vor ihnen? Der zuckte heftig mit der Schulter, weil sein Vater den Kopf darauf abgelegt hatte. Nachdem der Senior sich dadurch aber nicht beeindrucken ließ, versuchte der junge Mann zur Seite auszuweichen. Viel Platz blieb ihm nicht bei den engen Sitzen. Der Vater folgte ihm mit dem Kopf.

»Was soll das?«, fragte der Jugendliche und drehte sich zur Seite.

Grützmacher sah, wie sich augenblicklich der Gesichtsausdruck veränderte. Die Mischung aus Desinteresse und Arroganz wich einem Ausdruck des Erstaunens, der Ungläubigkeit. Der junge Mann riss die Augen weit auf und starrte auf seinen Vater. Dann sprang er panisch auf und wäre fast über die Rückenlehne der Reihe vor ihm gestürzt. »Nein!«, schrie er und wiederholte es mehrfach.

Die Zuschauer aus der Umgebung sahen sich irritiert um und wurden von der Handlung auf der Bühne abgelenkt. Grützmacher sah, wie sich der Oberkörper des Mannes vor ihm weiter zur Seite neigte, gegen einen anderen Zuschauer rutschte und, als dieser auch aufsprang, auf der hölzernen Bank zum Liegen kam. Grützmacher beugte sich vor und bemerkte das rote Loch knapp über dem Auge des Mannes, aus dem ein roter Blutfaden austrat, der über die Augenbraue die Wange hinunterrann.

»Um Himmels willen«, rief eine Frauenstimme.

»Mein Gott, das gehört aber nicht zur Aufführung«, mischte sich ein Mann ein. Selbst die fröhlichen Zecher mit dem unendlich erscheinenden Biervorrat waren ernst geworden.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte ein anderer.

Grützmacher beugte sich vor. »Das sieht aus, als wäre er erschossen worden«, stammelte er entsetzt.

»Das war aber nicht Winnetou«, sagte Alexander erschrocken. »Papa. Das war doch einer der Indianer. Oder?«

»Blödsinn. Das sind doch nur Platzpatronen«, erklärte ein korpulenter älterer Mann. »Toller Gag. Die lassen sich echt etwas einfallen.« Ein befreiendes Lachen begleitete diese Aussage. »Eh«, sagte der Mann. »Kannst aufstehen. Die Show geht weiter.«

Grützmacher hatte noch nie einen Toten gesehen. Er wusste nicht, woran man erkennen konnte, ob jemand das Leben verloren hatte.

»Das ist kein Schauspieler«, behauptete er trotzdem. »Der Mann ist tot.«

»Papi«, schrie die Tochter auf, die neben dem Opfer gesessen hatte. Der Entsetzensschrei hallte durch das Freilichttheater. Immer mehr Menschen sahen herüber, drängten neugierig in die enge Sitzreihe.

»Bleib, wo du bist!«, brüllte eine zornige Stimme hinter Grützmacher.

»Halt die Fresse, Alter«, erhielt er zur Antwort.

»Mann, Sie tun mir weh. Hier geht es nicht durch«, keifte eine Frauenstimme.

»Ist doch dein Problem, wenn du so dick bist«, erwiderte die »Fresse«.

Grützmacher konzentrierte sich wieder auf den Mann vor ihm. Er legte seine zwei Finger an die Halsschlagader, zumindest an die Stelle, an der er sie vermutete.

»Und?«, fragte der Sitznachbar.

»Weiß nicht«, antwortete Grützmacher.

»Wir müssen einen Arzt holen«, ergriff endlich jemand die Initiative, stellte sich auf die Sitzbank und fuchtelte wild mit den Armen in der Luft. »Sanitäter«, rief er aus Leibeskräften. »Wir brauchen einen Sanitäter. Einen Arzt«, verbesserte er sich.

Aus den hinteren Sitzreihen wurde die Forderung wie in einer Stafette weiter nach oben getragen. Immer mehr Menschen riefen: »Sanitäter!«

Inzwischen hatten auch die Schauspieler mitbekommen, dass sich etwas Ungewöhnliches ereignet haben musste, und unterbrachen ihr Spiel. Ein wenig ratlos sahen sie zur Zuschauerbühne empor.

»Meine Damen und Herren«, dröhnte die Stimme des Theatersprechers durch die Arena und brach sich am Felsen des Kalkbergs. »Bitte bewahren Sie Ruhe und bleiben Sie auf Ihren Plätzen. Wir unterbrechen die Vorstellung für eine kurze Zeit. Bitte bleiben Sie sitzen. Es geht gleich weiter. Vielen Dank.«

ZWEI

Es war ein schönes Wochenende gewesen. Das Wetter hatte zahlreiche Besucher und Einheimische an die Förde gelockt. Die Kiellinie war dicht bevölkert, in den Eiscafés kein freier Platz verfügbar, und aus den benachbarten Gärten waberte verführerisch der Duft von Gegrilltem herüber.

Auch in Lüder Lüders’ Patchworkfamilie war am Sonntag der Grill in Betrieb gesetzt worden. Sein Freund Horst Schönberg hatte sich angekündigt und eine üppige Blondine im Schlepptau gehabt. Der erwiesene Feinschmecker hatte sein Versprechen eingelöst und das Grillgut mitgebracht. Lüder erschien es fast ein wenig frevelhaft, bestes Galloway-Rinderfilet auf den Grillrost zu legen. Horst hatte darauf gedrungen.

»Wenn es dir zu trocken ist«, hatte er lachend erklärt, »kannst du es hiermit herunterspülen.« Anschließend stellte er eine Flasche Champagner Pommery Noir und eine Flasche Tormore Single Malt auf den Tisch.

Von den vier Kindern war nur Sinje, die Jüngste, anwesend gewesen. Die hatte es aber vorgezogen, kleine Bratwürste zu essen.

Zu Lüders großer Freude hatten sich am Sonnabend auch die drei größeren Kinder eingefunden. Thorolf hatte seine Freundin im Schlepptau, und in großer Runde waren sie beim Lieblingsitaliener erschienen und hatten Tische zusammengestellt, um alle unterzubringen.

»Ich bringe auch meine Freundin mit«, hatte Jonas geknurrt.

»Welche?«, hatte ihn die kleine Schwester geneckt. »Paula? Kathrin? Meike?«

»Wie gut, dass du nicht mehr Namen genannt hast. Allein bei dem Gedanken daran müsste ich Insolvenz anmelden«, hatte Lüder lachend geantwortet.

Viveka hatte die Gabel ausgestreckt und auf Jonas gezeigt. »Müssen wir dich jetzt Ali bin-Jonas nennen?«

»Wie das denn?«, wollte Jonas wissen.

»Bei deinem Harem?«

»Halt du doch auf. Weshalb hast du dir für dein Smartphone den großen Speicher besorgt? Damit du die ganzen Adressen deiner Lover unterbringen kannst.«

Lüder hatte dem Geplänkel amüsiert gelauscht. Er lächelte und seufzte noch einmal, bevor er eine der Zeitungen aufschlug, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. Der Alltag hatte ihn wieder.

Nach einer Weile griff er zum Kaffeebecher, stand auf und ging die wenigen Schritte bis zum Geschäftszimmer.

»Guten Morgen, Herr Dr. Lüders«, begrüßte ihn die Abteilungssekretärin, die zugleich den Zugang zum Büro des Abteilungsleiters Dr. Starke bewachte.

»Ist er da?«, fragte Lüder, nachdem er den Gruß erwidert hatte, und zeigte auf die geschlossene Bürotür.

Edith Beyer nickte. »Offensichtlich ist er der Einzige an der ganzen Förde gewesen, der am Wochenende nichts von der Sonne abbekommen hat. Wie kann man nur so verdrießlich sein?«

»Dann bin ich zufrieden«, erwiderte Lüder und lächelte. »Wir müssten uns alle umgewöhnen, wenn der Scheiß-Starke«, er benutzte eine Formulierung des Husumers Große Jäger, »irgendwann freundlich hier aufkreuzen würde. Und wie geht es Ihnen?«

Edith Beyer strahlte. »Danke. Alles okay. Wir hatten ein schönes Wochenende. Sie auch?«

Lüder nickte. »Wunderbar.« Er ging zum Sideboard, auf dem die Kaffeemaschine stand, und schenkte sich den Becher voll. »Ich glaube, ich muss mal wieder etwas in die Kaffeekasse einzahlen.«

Die Sekretärin nickte. »Ich komme nachher zum Kassieren vorbei.«

Sie wurden abgelenkt, als sich die Bürotür öffnete und der Kriminaldirektor erschien. Er trug einen elegant geschnittenen sandfarbenen Anzug und ein pastellgelbes Hemd. Wie immer war er gebräunt, als wäre er gerade einem Solarium entstiegen. Dr. Starke breitete die Arme aus und steuerte auf Lüder zu.

»Mein lieber Herr Lüders. Schön, dass ich Sie sehe. Ich wollte gerade zu Ihnen. Hatten Sie ein schönes Wochenende?«

»Mit vielen netten und sympathischen Menschen«, erwiderte Lüder.

Der Abteilungsleiter schien die Spitze nicht bemerkt zu haben. »Ich habe eben einen Anruf erhalten. Wir beide sollen ins Landeshaus kommen.«

»Landeshaus?«

Der Kriminaldirektor nickte und musterte Lüder. »Haben Sie Ihr Jackett im Büro?« Er zupfte sich am Schlips. »Eine Krawatte … Die ist sicher nicht griffbereit.«

Lüder sah auf seinen Kaffeebecher. »Sofort?«

»Es eilt.«

Gemessenen Schrittes ging Lüder zu seinem Büro zurück, legte die Zeitungen zusammen, sicherte seinen Rechner und trank den heißen Kaffee aus, obwohl das ein schwieriges Unterfangen war. Dann warf er sich den Pullover über die Schulter und kehrte zum Geschäftszimmer zurück. Dr. Starke erwartete ihn schon ungeduldig.

»Ich kann Ihnen nicht genau sagen, um was es geht«, berichtete der Abteilungsleiter unterwegs, nachdem sie in seinen Mercedes E-Klasse eingestiegen waren. »Der Innenminister möchte mit uns sprechen.«

»Im Landtag?«

»Er hat dort zu tun.«

Für die knapp fünf Kilometer benötigten sie nur wenige Minuten. Obwohl Lüder schon lange in Kiel lebte und die Landeshauptstadt kannte, faszinierte ihn immer wieder die historische Backsteinarchitektur der alten Arbeiterstadt. Auch wenn die Wohnungen oft schlicht geplant waren, hatten die Baumeister vergangener Tage es verstanden, den Fassaden eine Spur Ästhetik mitzugeben.

Dr. Starke steuerte das Parkhaus am Ende der Reventlouallee an.

Zu Fuß überquerten sie den Düsternbrooker Weg, dessen Name sich in der Adresse zahlreicher Ministerien wiederfand. Den Anfang machte das Finanzministerium direkt an der Reventloubrücke. Gleich daneben lag das Landeshaus, das Herzstück der schleswig-holsteinischen Demokratie.

Über die gepflasterte Einfahrt erreichten die beiden Beamten das Hauptportal der ehemaligen kaiserlichen Marineakademie. Hinter Panzerglas saßen die Mitarbeiter der Pförtnerei. Über eine Lautsprecheranlage wurden sie nach ihrem Besuchswunsch gefragt.

»Wir möchten den Innenminister sprechen«, erklärte Lüder, bevor sein Abteilungsleiter etwas sagen konnte.

»Da sind Sie hier falsch«, erklärte der Mitarbeiter und streckte den Arm aus. »Das Innenministerium ist –«

»Warte mal«, unterbrach ihn sein Kollege und beugte sich zum Mikrofon. »Sind Sie Dr. Lüders vom LKA?« Den Kriminaldirektor erwähnte er nicht.

Lüder nickte.

»Der ist angemeldet. Das geht in Ordnung«, bestätigte der zweite Mann. Daraufhin öffneten sich beide Automatiktüren, und die Beamten konnte die Schleuse passieren.

Eine Mitarbeiterin der Landtagsverwaltung erwartete sie bereits an der Pförtnerei.

»Der Herr Minister ist noch im Gespräch. Er bittet Sie, in der Kantine zu warten«, sagte sie und ging voran.

»Zeitgemäße Funktionalität und große Transparenz« war das Motto, nach dem das Landeshaus gestaltet worden war. Die Säulen aus der Gründerzeit waren erhalten geblieben und lenkten den Blick durch das großzügige Foyer. Der Plenarsaal war durch eine Glasfront abgegrenzt. Die gestattete die Sicht durch die Urzelle der Demokratie hindurch auf die Förde.

Die junge Frau führte die Polizisten zum Haupttreppenhaus ein paar Stufen abwärts und bat sie in eine Sicherheitsschleuse, die sie mit ihrem Ausweis öffnete. Zu dritt zwängten sie sich in den engen Raum. Erst dann öffnete sich die zweite Tür und gab den Zutritt zur Kantine frei. Neben der Tür waren auf einer Schiefertafel mit ungelenker Schrift vier Gerichte zur Auswahl aufgeführt.

Die Kantine, zu der es auch einen offenen Zugang von der Seitenfront gab und die für den allgemeinen Publikumsverkehr geöffnet war, hatten die Planer im Innenhof untergebracht, der mit einem Glasdach abgedeckt viel Licht und Platz bot.

Lüder steuerte einen Tisch an einer Trennwand an, die die sitzenden Gäste etwas abschirmte. Er lächelte angesichts des tintenblauen Schafs auf dem Raumteiler, das einen fröhlichen Blickfang ergab.

»Nehmen Sie bitte Platz«, bat die Landtagsmitarbeiterin und fragte nach dem Getränkewunsch. Die beiden Kaffees besorgte sie aus dem Getränkeautomaten.

Lüder bemerkte den Innenminister als Erster. Er war ihm noch nie persönlich begegnet, erkannte ihn aber vom Bild. Er hob seine Hand und gab ein Zeichen. Der Minister nickte und kam auf sie zu. Lüder stand auf, und sie reichten sich die Hände.

»Lüders«, stellte er sich vor. Der Minister war groß und kräftig gebaut. Lüder unterließ es, seinen Vorgesetzten vorzustellen.

»Dr. Starke, Kriminaldirektor«, erklärte der Abteilungsleiter.

»Schön«, sagte der Minister und deutete mit einer Handbewegung an, dass sie sich wieder setzen sollten.

»Ich bitte um Entschuldigung für den Ort und die Kurzfristigkeit, aber ich führe hier Gespräche mit Abgeordneten.« Er lächelte verschmitzt. »Die politische Willensbildung ist manchmal ein schwieriges Geschäft und bedarf gelegentlich subtiler Vorarbeit. Manche Menschen wollen in Einzelbehandlung gestreichelt werden.« Er seufzte gespielt. »Wenn’s der Sache dienlich ist.« Sein Blick suchte Lüders. »Sie haben von dem spektakulären Mordanschlag gehört, der sich vor zwei Tagen während der Karl-May-Festspiele in Bad Segeberg ereignet hat?«

Während Dr. Starke eilfertig nickte, schwieg Lüder. Das Wochenende war Freunden und der Familie gewidmet gewesen. Die Nachrichten hatte er nur peripher aufgeschnappt. Details waren ihm schon gar nicht bekannt.

»Bisher ist es gelungen, den Namen des Opfers der Presse vorzuenthalten, obwohl die Medien natürlich ausgiebig über diesen außergewöhnlichen Mord berichtet haben. Nicht nur bundesweit, auch im Ausland hat er Aufsehen erregt. Während der Vorstellung, inmitten eines Indianerüberfalls auf der Bühne, wurde der Mordanschlag ausgeführt.«

»Was hat das Landeskriminalamt damit zu tun?«, fragte Lüder. »Bad Segeberg. Das fällt in die Zuständigkeit der Bezirkskriminalinspektion Kiel. Ich kenne den Leiter des dortigen K1. Hauptkommissar Vollmers ist einer unserer fähigsten Mordermittler.«

»Man erstattet mir fortlaufend Bericht«, erklärte der Innenminister. »Ich habe keine Zweifel, dass die Ermittlungen bei den Kielern in besten Händen sind. Wie alle Polizeibeamten des Landes leisten auch die Mitarbeiter der Kieler BKI hervorragende Arbeit. Es geht um das Opfer.«

»Was ist mit dem?«, mischte sich Dr. Starke ein.

Der Innenminister beugte sich vor. »Die Identität sollte möglichst lange der Öffentlichkeit vorenthalten bleiben. Ich weiß, das wird nur eine begrenzte Zeit möglich sein. Trotzdem.« Er rückte noch ein Stück näher. »Bei dem Toten handelt es sich um Rochus von Meyer zu Reichenberg.«

»Der Steuerbaron?«, fragte Lüder ungläubig.

Der Fall hatte lange die Öffentlichkeit beschäftigt. Von Meyer zu Reichenberg war der Vertraute eines der reichsten Deutschen gewesen, bis aufgedeckt wurde, dass seine vorgebliche Genialität in Sachen Steuervermeidung zum Teil darauf basierte, dass er dem Staat rechtmäßige und fällige Steuerzahlungen vorenthielt.

»Steuerhinterziehung im großen Stil«, bestätigte der Innenminister. »Richtig. Der ganze Fall ist sehr verwoben. Von Meyer hat nicht eigenes Geld hinterzogen, sondern das seines Auftraggebers. Die rechtliche Konstruktion des ganzen Geflechts ließ aber Letzteren zum Verantwortlichen im Sinne der Abgabenordnung werden, obwohl der wahre Nutznießer ein anderer ist.«

»Es ist wie bei Aktiengesellschaften. Wenn vom Steuerbetrug die Aktionäre durch eine hohe Dividende profitieren, müssen die Vorstände dafür strafrechtlich haften. Ein kompliziertes Geflecht.«

Der Innenminister warf Lüder einen überraschten Blick zu.

»Ich bin Jurist«, erklärte Lüder. »Genau wie Sie.«

»Ich auch«, warf Dr. Starke ein, aber die beiden anderen ignorierten ihn.

»Wie in allen großen Steuer- und Wirtschaftsprozessen ist es eine langwierige Angelegenheit. Das Verfahren kann sich über Jahre hinziehen. Eine Heerschar von Anwälten stellt neue Anträge, versucht, die Beweise der Staatsanwaltschaft zu widerlegen, stellt Misstrauensanträge bei Gericht und vieles mehr. Es hätte noch Jahre dauern können, bis man von Meyer zu Reichenberg hätte verurteilen können.«

»Durch seinen Tod erübrigt sich das weitere Verfahren.«

»Die Finanzverwaltung wird bemüht sein, Steuernachforderungen geltend zu machen und deren Beitreibung durchzusetzen«, sagte der Innenminister.

»Aber strafrechtlich ist der Fall erledigt. Auch für die Hintermänner. Die profitieren vom Tod des Steuerbarons.«

»So sollten Sie nicht denken«, tadelte Dr. Starke Lüder. »Es gilt nur, was bewiesen ist.«

»Wir sind hier nicht vor Gericht«, mischte sich der Innenminister ein. »Ich habe das Gespräch mit Ihnen gesucht«, dabei sah er Lüder an, »weil in diesem Fall Querdenken durchaus erwünscht ist. Natürlich«, betonte er ausdrücklich, »muss alles im Rahmen unserer geltenden Rechtsordnung geschehen.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Dr. Starke.

Der Innenminister sah auf seine Armbanduhr. »Herr Lüders ist in meinem Haus kein Unbekannter.« Er lächelte. »Vielleicht aber ein Unbequemer«, fügte er leise an. »In Abstimmung mit meiner Kollegin aus dem Finanzressort würde ich Sie bitten, sich in diesem Fall einmal umzusehen. Selbstverständlich sollen Sie dabei weder die Arbeit der Staatsanwaltschaft noch die Mordermittlungen behindern. Ich denke, Sie wissen, was ich damit sagen möchte.« Er stand auf und drückte Lüder eine Visitenkarte in die Hand. »Hierüber erreichen Sie mich zu jeder Zeit. Die Telefonnummer ist absolut vertraulich. Nur Sie dürfen sie verwenden.« Wie zufällig streifte sein Blick Dr. Starke. »Ich höre von Ihnen«, sagte er und verabschiedete sich von Lüder mit einem festen Händedruck, bevor er dem Kriminaldirektor die Hand reichte. Dann entfernte er sich mit federndem Schritt Richtung Ausgang.

»Ein merkwürdiger Mensch«, dachte Dr. Starke laut nach und sah dem Minister hinterher. Dann zuckte er mit den Schultern. »Immerhin ist er unser oberster Dienstherr.«

Im Auto lehnte sich Dr. Starke zufrieden in die Polster. »Ich sehe es als Anerkennung der Arbeit unserer Abteilung, dass man uns so weit ins Vertrauen zieht. Auch wenn es nicht jeder verstanden hat, zahlt sich das kontinuierliche Investment meiner Arbeit aus und trägt langsam Früchte. Sie dürfen froh sein, dass Sie daran partizipieren können. Ich mache kein Geheimnis daraus, dass ich lange Zeit nicht mit Ihrer Arbeit zufrieden war. Seitdem Sie Ihr Verhalten geändert haben, beginnen Sie, in die Waagschale der Aktivposten der Abteilung überzuwechseln. Lassen Sie nicht nach, wenn ich Ihnen den guten Rat geben darf. Nicht als Vorgesetzter, sondern als wohlmeinender Kollege.«

Lüder biss sich auf die Lippen. Du Arschloch, dachte er grimmig.

»Haben Sie schon Einblick in die Ermittlungen gehabt?«, fragte Lüder später auf der Rückfahrt zum Polizeizentrum Eichhof, in dem auch das Landeskriminalamt untergebracht war.

Der Kriminaldirektor knurrte etwas Unverständliches. Er wollte damit verschweigen, dass sein Wissensstand genauso gering war wie Lüders.

»Wie wollen Sie vorgehen?«, fragte Dr. Starke, nachdem sie den Mercedes geparkt hatten.

»Das kann ich erst entscheiden, wenn ich mich über die vorhandenen Fakten informiert habe«, sagte Luder einsilbig. Vor der Tür zum Büro des Abteilungsleiters trennten sie sich, und Lüder ging weiter zu seinem Arbeitsplatz.

Zunächst informierte er sich im Internet über Rochus von Meyer zu Reichenberg. Der studierte Diplomkaufmann hatte auch eine Zulassung als Steuerberater, war also in Wirtschafts- und Steuerfragen durchaus versiert. Von Meyer war knapp über fünfzig, wohnte mit Frau und zwei Kindern in Dersau und war seit acht Jahren Generalbevollmächtigter der Familie von Plön zu Boesendorff und Wagrien.

Den Presseberichten zufolge hatte er alleinverantwortlich die wirtschaftlichen Interessen der herzoglichen Familie wahrgenommen und dabei die Vorteile unterschiedlicher Besteuerungen in verschiedenen Ländern nach Meinung des deutschen Fiskus zu sehr ausgenutzt. Man warf ihm Steuerhinterziehung im großen Stil vor. Es ging um Millionen, die er dem Finanzamt vorenthalten haben sollte. Wohlgemerkt nicht sein eigenes Vermögen, sondern jenes, für das er als formeller Geschäftsführer verantwortlich zeichnete. Von Meyer hatte sich darauf berufen, dass er legal die abweichenden Gesetzeslagen ausgenutzt hatte. Darauf wollte sich das Finanzamt nicht einlassen. Nun lief ein Prozess gegen ihn, dessen Ende und Ausgang nicht absehbar waren.

Lüder rief Hauptkommissar Thomas Vollmers an.

»Tach«, meldete sich der Leiter des K1, das volkstümlich auch »Mordkommission« genannt wurde. »Ich vermute, Sie interessieren sich für den Mord im Kalkbergstadion in Bad Segeberg. Wir stehen noch ganz am Anfang. Aber warum interessiert sich das LKA dafür?«

»Das Opfer ist prominent.«

»Das ist noch lange kein Grund für Ihre Intervention.«

»Niemand seitens des LKA will sich in Ihre Arbeit einmischen. Wenn Profis wie Sie und Ihre Leute am Ball sind, bedarf es keiner klugen Ratschläge unsererseits.«

»Ich weiß«, spottete Vollmers. »LKA ist die Abkürzung für ›leider keine Ahnung‹, auch wenn manche Kollegen des LKA davon überzeugt sind, ihr Amt sei die Hochleistungszentrale zur Verbrechensbekämpfung.«

»Die Landesregierung möchte gern über diesen Fall und dessen Hintergründe informiert sein. Deshalb hat man mich gebeten, ein Statement zu verfassen, insbesondere hinsichtlich der Auswirkungen auf den laufenden Prozess und mögliche weitere Personen, die im Fokus der Öffentlichkeit stehen.«

»Das habe ich mir fast gedacht«, sagte Vollmers. »Glaubt jemand, da wird ein großes Rad gedreht? Warum sollte man es auf von Meyer zu Reichenberg abgesehen haben? Ich habe mich auch schon gefragt, ob er zu viel weiß. Wir treffen uns in zwanzig Minuten zu einer Besprechung. Wollen Sie dazukommen?«

»Ich bin schon unterwegs«, sagte Lüder.

Er fuhr zur »Blume«, dem ehemaligen Polizeipräsidium an der Blumenstraße, in dem neben verschiedenen anderen Dienststellen auch die Bezirkskriminalinspektion untergebracht war. Lüder brauchte mit seinem BMW nur wenige Minuten bis zum renovierten massigen Bau mit den für die damalige Zeit typischen Anklängen an die märkische Backsteinarchitektur der Gotik. Fenster und Türen waren erneuert worden, Feuchtschäden beseitigt und die technischen Gegebenheiten auf den neuesten Stand gebracht. Seit Kurzem war die »Blume« nach Jahren der Improvisation wieder die berufliche Heimat für rund einhundertfünfzig Kriminalbeamte.

Hauptkommissar Vollmers hatte sein Team bereits in einem Besprechungsraum versammelt.

»Dr. Lüders vom LKA«, stellte er Lüder vor. »Ich glaube, Sie kennen sich.«

Lüder nickte den Beamten zu und setzte sich ans Ende des Tisches. Er hatte alle Gesichter schon einmal gesehen.

»Am Sonnabend wurde während der Vorstellung der Karl-May-Festspiele im Bad Segeberger Kalkbergtheater Rochus von Meyer zu Reichenberg erschossen«, begann Vollmers und projizierte ein Bild des Opfers auf den großen Bildschirm. Dann nannte er die persönlichen Daten, erwähnte den laufenden Prozess und von Meyers Tätigkeit als Geschäftsführer der herzoglichen wirtschaftlichen Interessen. »Alle folgenden Informationen sind noch nicht abgesichert. Wir müssen uns aber als Arbeitsgrundlage darauf stützen. Das Opfer wurde aus einem Scharfschützengewehr mit einem Geschoss zwölf Komma sieben mal neunundneunzig Millimeter ermordet. Es handelt sich um Hartkernmunition. Die Techniker des LKA«, dabei fiel Vollmers’ Blick auf Lüder, »vermuten, dass es sich bei der Waffe um ein Scharfschützengewehr G82 der Barrett Firearms Manufacturing aus den USA handelt. Das Gewehr wird auch bei der Bundeswehr eingesetzt und wird bei großen Reichweiten benutzt. Mit der von Zeiss zugerüsteten Optik können Ziele bis zu eintausendachthundert Metern bekämpft werden.« Vollmers stutzte. »Sorry«, sagte er. »›Bekämpft‹ ist natürlich ein militärischer Ausdruck und in unserem Fall nicht passend.«

Er ließ das nächste Bild auf dem Schirm erscheinen. Es war eine Satellitenaufnahme des Kalkbergs und des Theaters. Vollmers ließ einen Laserpointer aufblitzen.

»Hier oben hat der Schütze gestanden. Wenn Sie von unten, also von den Zuschauerrängen, zur Plattform hinaufsehen, ein wenig rechts versetzt. Die Spurensicherung hat die Geschosshülse sicherstellen können. Während der Aufführung ist dieser gesamte Bereich abgesperrt. So konnte sich der Mörder dort ungehindert bewegen. Niemand hat ihn bemerkt. Auch deshalb nicht, weil sich die Aufmerksamkeit der Besucher auf das Geschehen im Theater konzentriert hat. Keiner sucht mit seinen Augen während der Vorstellung den Kalkberg ab. Außerdem dürfte der Mörder mit ein wenig Tarnung kaum zu sehen gewesen sein. Vom Standort des Schützen bis zum Sitzplatz des Opfers sind es rund fünfzig Meter Luftlinie. Das ist für einen Präzisionsschützen mit dem G82 und einer guten Zieloptik kein Problem.«

Lüder hob artig den Finger, als würde er sich in der Schule zu Wort melden. Hauptkommissar Vollmers nickte ihm zu.

»Technisch klingt das plausibel. Der Täter sah sich aber siebeneinhalbtausend Besuchern gegenüber. Woher wusste er, wo sein Opfer sitzt? Er musste Kenntnis von dessen Platz gehabt haben, davon, dass von Meyer an diesem Tag zur Abendvorstellung ging. Außerdem muss man über gute Ortskenntnis des Kalkbergtheaters verfügen. Für den gelegentlichen Besucher ist es ein verwirrendes System von Blöcken, Reihen, Platznummern und vielem mehr.«

»Wir haben einen wichtigen Zeugen vernommen. Dirk Grützmacher aus Pinneberg. Der hat direkt hinter dem Opfer gesessen und bemerkt, wie ein roter Punkt erst bei sich über den Bauch, dann über den Kopf seines Vordermanns gewandert ist.«

»Die Zieloptik«, warf Lüder ein. »Damit konnte der Schütze sein Ziel exakt erfassen.«

Vollmers nickte. »Grützmacher hat sich nichts dabei gedacht. Das ist verständlich. Wer vermutet während eines Westernspektakels einen Mordanschlag?«

»Bei Karl May gab es noch keine lasergesteuerte Zielerfassung«, warf Oberkommissar Horstmann ein.

»Das ist uns allen klar«, antwortete Vollmers. »Aber der Zeuge Grützmacher ist Laie. Er kennt sich weder mit solchen Dingen aus, noch hat er darüber nachgedacht.«

»Gibt es weitere Zeugen?«, fragte Lüder.

»Es haben sich einige bei den Kollegen aus Segeberg zu Wort gemeldet. Es ist aber nichts Brauchbares darunter. Einer der Statisten, der in den Kulissen unterhalb des Berges einen Indianer mimte, will im Publikum einen Laserpointer gesehen haben. Nach seiner Beschreibung haben wir rekonstruiert, dass es die Stelle gewesen sein muss, an der das Opfer saß.«

»Konnten das weitere Ensemblemitglieder bestätigen?«, fragte Lüder.

»Nein. Nur einer. Er hat sich aber nichts dabei gedacht. Es kommt gelegentlich vor, dass irgendwelche Idioten mit solchen Dingern in der Öffentlichkeit hantieren. Wir haben es auch schon in Fußballstadien erlebt.«

»Das heißt, der Täter war nicht allein, sondern hatte Helfer«, stellte Lüder fest. »Die Tat war gut vorbereitet. Man wusste, dass von Meyer an diesem Tag ins Kalkbergtheater ging, man kannte seinen Sitzplatz, und ein Helfer hat ihn zusätzlich markiert. Es war ein professionell ausgeführter Mord.«

»So weit sind wir auch schon gewesen«, sagte Vollmers. Es klang ein wenig beleidigt.

»Das passt doch zu den Indianerspielen«, warf Horstmann ein. »Die haben sich in den Wildwestfilmen doch auch immer Zeichen mit Spiegeln gegeben.«

»Bevor Sie weiterfragen«, fuhr Vollmers fort und warf Lüder einen bösen Blick zu. »Wir haben natürlich auch die Anwohner der umliegenden Straßen befragt, ob ihnen jemand aufgefallen ist, der mit einem Gewehr oder einer Tasche, mit der die Ausrüstung transportiert werden kann, unterwegs war. Während der Festspiele herrscht rund um den Kalkberg ein Rummel, dass da niemand auf solche Dinge achtet. Der Täter hat nicht nur gute Ortskenntnisse besessen, wusste, wo sein Opfer sitzt, sondern auch die Nerven gehabt, inmitten dieses Gewimmels von Menschen eiskalt sein Opfer zu erschießen. Auch der Zeitpunkt, der gespielte Indianerüberfall, war perfekt gewählt.«

»Also kannte der Täter auch den Zeitplan der Aufführung«, stellte Lüder fest. »Es ist eine Sisyphusarbeit, aber man könnte versuchen herauszufinden, wer die Karte hinter Grützmacher bestellt hat. In Bad Segeberg werden die Karten im Vorverkauf erworben.«

»Da sind wir dran«, versicherte Vollmers. »Noch einmal zur Tat selbst. Der Schuss trat beim Opfer knapp unterhalb des linken Auges ein und trat wieder aus. Da der Schütze eine erhöhte Position hatte, verlief der Schusskanal leicht von oben nach unten. Der Zeuge Grützmacher hat ungemein viel Glück gehabt, dass ihn das Geschoss nicht getroffen hat. Es hat ihn an der Kleidung gestreift und ist hinter ihm in der darüberliegenden Sitzreihe ins Erdreich gefahren. Mit Sicherheit hätte Grützmacher eine schwere Verletzung davongetragen.« Vollmers sah sich um. »Hat noch jemand Fragen?« Niemand antwortete. »Gut. Dann werden wir jetzt die Aufgaben verteilen.«

Lüder stand auf und streckte Vollmers den Daumen entgegen. »Gute Arbeit«, sagte er und verabschiedete sich mit einem »Tschüss«, bevor er ins Landeskriminalamt zurückkehrte.

Es war ein ungewöhnlicher Mord. Die Prominenz des Opfers allein hätte ausgereicht, um große Aufmerksamkeit zu erregen. Warum hatten die professionellen Täter, daran zweifelte Lüder nicht, einen so spektakulären Ort wie das Segeberger Freilufttheater gewählt und siebeneinhalbtausend Menschen daran teilhaben lassen? Das Drehbuch zu diesem Mord war sorgfältig ausgearbeitet. Die Tat in diesem Rahmen folglich vorbereitet und geplant. Gab es Geheimnisse, um die der Mann wusste und die für jemanden gefährlich werden konnten? Sollte verhindert werden, dass er im Prozess aussagte?

Man hätte sicher auch versuchen können, von Meyers Schweigen zu erkaufen. Mit Geld? Durch Winkelzüge teurer Anwälte, die man ihm zur Seite stellte? Durch Zusagen für die Zeit nach Ableistung der fälligen Strafe?

Viele ahnten möglicherweise, dass von Meyer nur ein Bauernopfer war. Verbargen sich hinter ihm ganz andere Persönlichkeiten? Ein Mord wie dieser weckte ungemein viel Aufmerksamkeit in den Medien und veranlasste Journalisten, denen es nicht nur auf eine Schlagzeile ankam, die Hintergründe investigativ zu erforschen. Den Verantwortlichen in der Politik und der Staatsanwaltschaft war daran gelegen, kurzfristig vorzeigbare Erfolge vorzuweisen. In solchen Fällen war der Druck auf die ermittelnden Polizisten enorm.

Aber warum hatte der Innenminister das Gespräch mit Lüder gesucht? Er fand keine Antwort auf diese Frage.

Lüder beschloss, zunächst die Familie von Meyer zu Reichenberg aufzusuchen. Sein Weg führte ihn über die gut ausgebaute Bundesstraße. Nachdem er das Kieler Stadtgebiet verlassen hatte, kam er zügig bis Ascheberg voran und genoss die Fahrt durch eine landschaftlich reizvolle Landschaft bis zum Großen Plöner See. Von hier war es nur ein kurzer Weg bis nach Dersau.

Das Haus der Familie von Meyer zu Reichenberg lag etwas abseits des Ortskerns des Luftkurorts. Vor dem großen Walmdachbungalow standen ein Mercedes der S-Klasse, ein Dreier-BMW-Cabrio und ein VW Touran, Letzterer mit Kennzeichen des Kreises Ostholstein. Lüder stellte seinen Wagen hinter den Autos ab, durchschritt den gepflegten Vorgarten und drückte den Messingknopf. Auf ein Namensschild an der Tür hatten die Bewohner verzichtet.

Die schwere Holztür mit dem geriffelten Glas öffnete sich einen Spalt, und der Kopf einer grauhaarigen Frau erschien.

»Ja bitte?«, fragte sie mit schüchtern klingender Stimme.

»Lüders. Polizei Kiel. Frau von Meyer?«

Sie bewegte verneinend den Kopf. »Ich bin die Haushaltshilfe«, sagte sie leise.

»Ich hätte gern Frau von Meyer gesprochen.«

»Ich weiß nicht recht …«

»Es ist wichtig.«

»Gut. Ich werde nachfragen.«

Dann schloss sich die Tür wieder. Es dauerte ein paar Minuten, bis sie wieder geöffnet wurde und eine asketisch wirkende Frau erschien. Das Gesicht sah verlebt aus, auch wenn die Kleidung – eine Seidenhose und eine Art Poncho – mit Sicherheit aus einer Edelboutique stammte. Die blonden Haare waren im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

»Ja?«, fragte sie.

»Frau von Meyer?«, antwortete Lüder mit einer Gegenfrage.

»Ich bin die Schwester. Tackenberg-von Behrendorf«, stellte sie sich vor. »Und Sie?« Die Frau wirkte arrogant.

»Dr. Lüders vom Landeskriminalamt.«

»Können Sie sich ausweisen?«

Sie prüfte seinen Dienstausweis ausgiebig, dann öffnete sie die Tür. »Kommen Sie«, sagte sie und ging voran.

Sie durchquerten eine Diele, die fast einer Halle glich, und betraten durch eine doppelflügelige Ganzglastür ein ganz in Weiß gehaltenes Wohnzimmer. Auch die große Fensterfront mit dem Blick auf einen großzügig angelegten Garten ließ alles hell und freundlich erscheinen. In die Ecke einer Sitzlandschaft aus ebenfalls weißem Leder hatte sich eine Frau gekuschelt, die die Beine angezogen hatte. Die Hände hatte sie um die Knie geschlungen.

»Frau von Meyer?«, fragte Lüder, nachdem die Schwester es nicht für nötig befunden hatte, ihn vorzustellen.

»Frau von Meyer zu Reichenberg«, erklärte die blonde »Türöffnerin«.

Lüder unterließ es, seinen Namen erneut zu nennen. Niemand bot ihm einen Platz an. Er wählte einen allein stehenden Sessel, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Er erwog kurz, mit einem Satz seine Anteilnahme am Tod des Ehemanns auszusprechen, unterließ es aber.

»Die Polizei war schon hier«, erklärte die Schwester und setzte sich auf die Lehne der Sitzlandschaft.

»Ich bin vom LKA

»Können Sie sich nicht untereinander abstimmen?«

Lüder ging nicht darauf ein. »Hat es in der Vergangenheit Drohungen gegen Ihren Mann oder die Familie gegeben?«

»Blödsinn«, übernahm die Schwester erneut das Antworten.

»Sie dürften nicht hinreichend informiert sein«, erwiderte Lüder barsch. »Ich würde gern mit Frau von Meyer sprechen.«

Die schüttelte nur den Kopf mit den kurz geschnittenen Haaren.

»Wir müssen die gegen Ihren Mann erhobenen Vorwürfe nicht im Detail erörtern. Hat sich in der jüngsten Zeit etwas ergeben, das Ihren Mann entlastet hätte, während andere Personen in den Blickwinkel der Steuerfahndung gekommen wären?«

»Die Vorwürfe gegen meinen Schwager sind haltlos. Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen«, mischte sich die Schwester erneut ein.

»Sie dürften kaum informiert sein«, antwortete Lüder.

Frau Tackenberg erhob den Zeigefinger und schwenkte ihn hin und her. »Haben Sie nicht zugehört, als ich meinen Namen nannte? Tackenberg-von Behrendorf.«

Und ich bin Lüder Lüders »von« Kiel-Hassee, dachte Lüder. Laut sagte er: »Was wollen Sie damit sagen?«

»Sie kennen meinen Mann. Dr. Ferdinand Tackenberg von der gleichnamigen Wirtschaftsprüfersozietät. Tackenberg und Kollegen. Mein Mann ist der Seniorpartner.«

»Ist er in die Vorwürfe gegen Herrn von Meyer involviert?«

Frau Tackenberg reckte sich. »Führen Sie hier steuerliche Ermittlungen durch?«

»Wenn es Zusammenhänge mit dem Mord an Herrn von Meyer gibt – ja.«

»Die Kanzlei meines Mannes ist … war«, korrigierte Frau Tackenberg, »in die Verteidigung meines Schwagers eingebunden.«

»Schön.« Lüder wandte sich Frau von Meyer zu. »Sie haben meine Frage nach möglichen Drohungen noch nicht beantwortet.«

»Nein. Wer sollte so etwas tun?«, antwortete die Frau mit leiser Stimme. Sie wirkte nicht so forsch wie ihre Schwester.

»Ich spreche nicht von der Androhung offener Gewalt. Es gibt subtilere Methoden. In komplexen Fällen wie jenem, der Ihrem Mann vorgeworfen wird, kann man durch geschicktes Agieren, Verschieben von Fakten und Halbwahrheiten, jemanden in eine Ecke drängen, in die er sich nicht freiwillig begeben hätte.«

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Frau von Meyer.

»Ihr Mann hat als Manager viele Dinge zu verantworten gehabt. Die Betonung liegt dabei auf ›Manager‹. Er hat nicht das eigene Vermögen verwaltet. Kann es sein, dass er bestimmte Handlungen in fremdem Auftrag vollzogen hat?«

»Sie meinen, man hätte –«, begann Frau von Meyer, wurde aber sofort von ihrer Schwester unterbrochen.

»Stopp, Christina, sage nichts mehr. Halte dich aus allem heraus. Die Materie ist so kompliziert, dass auch das Finanzamt sie nicht versteht. Woher sollen die Beamten in der Kieler Provinz auch internationale Wirtschaftsbeziehungen begreifen? Sie prüfen sonst Dorffriseure und Kleingewerbetreibende. Und der Polizist hier«, dabei nickte sie in Lüders Richtung, »versteht nicht einmal davon etwas.«

»Haben Sie etwas zu verbergen?«, wandte sich Lüder an Frau Tackenberg und bediente sich bewusst eines unfreundlichen Tons.

»Ich?« Sie öffnete den Mund und war überrascht. »Natürlich nicht. Ich habe nichts mit der ganzen Sache zu tun.«

»Aber Ihr Mann.«

»Der ist Wirtschaftsprüfer.«

»Und Steuerberater?«

»Was hat das damit zu tun?«

»Also ja«, beantwortete Lüder die Frage selbst und holte sein Smartphone hervor. »Ich könnte es googeln. Oder Sie beantworten meine Frage.«

»Ja«, bestätigte Frau Tackenberg.

Lüder drehte sich wieder zu Frau von Meyer um.

»Wer ist auf die Idee gekommen, die Karl-May-Festspiele zu besuchen?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Frau von Meyer.

»Hat Ihr Mann die Karten besorgt? Selbst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist nicht unsere Welt.« Die Frau fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das kurze Haar. »Rochus wäre da nie hingefahren. Und die Kinder können sich für so ein … ein …« Sie suchte nach einem passenden Wort. Erneut half ihre Schwester aus.

»So eine profane Volksbelustigung.«

»So ein Event«, schwächte Frau von Meyer ab, »nicht erwärmen. Ich weiß auch nicht. Irgendwie waren die Karten da.«

»Hat Ihr Mann sie mitgebracht?«

»Sie sind mit der Post gekommen.«

»Anonym?«

»Vom Büro des Herzogs.«

»Dem ehemaligen Bundespräsidenten Herzog?« Lüder zog eine Augenbraue in die Höhe und lächelte.

»Solche Bemerkungen sind nicht unser Niveau«, mischte sich die Schwester ein. »Wenn man in diesem Hause vom Herzog spricht, ist damit das hochadelige Haus derer von Plön gemeint.«

»Und die haben Ihnen so etwas Primitives wie Karten für Karl May geschickt?«, zeigte sich Lüder erstaunt.

»Wir waren auch irritiert. Das ist nicht der Stil des herzoglichen Büros. Mein Mann wollte die Karten auch wegwerfen. Warum er sich anders besonnen hat und an dieser Volksbelustigung teilnahm, kann ich Ihnen nicht sagen.«

»Haben Sie den Brief noch, mit dem die Karten geschickt wurden?«

Frau von Meyer schüttelte den Kopf. »Das war meines Wissens nur ein Umschlag. Ohne Brief.«

»Wo ist der?«