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Anne Delaflotte

Mathilde und der Duft der Bücher

Roman

Aus dem Französischen von Christian Kolb

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Anne Delaflotte

Anne Delaflotte, geboren 1967 in Auxerre, ist im Burgund aufgewachsen. Sie studierte Internationales Recht in Paris und ist gelernte Buchbinderin. 1993 eröffnete sie mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Alexander Mehdevi, in Prag eine internationale Buchhandlung. Dort lebt sie heute als freie Autorin. «Mathilde und der Duft der Bücher» ist ihr erster Roman, der in Frankreich gleich mehrere Preise gewann und viele begeisterte Leser fand.

Über dieses Buch

Ein guter Buchbinder liest nicht, pflegte Mathildes Großvater immer zu sagen. Aber wie soll die junge Frau der Versuchung widerstehen? Erst kürzlich ist sie in das kleine Dorf in der Dordogne gezogen. Und nun vertraut ihr dieser gutaussehende Mann ein altes Buch mit rätselhaften Brandspuren an. Beim Restaurieren entdeckt Mathilde eine im Buchrücken verborgene Namensliste – und stößt auf ein Geheimnis aus der deutschen Besatzungszeit. Der ganze Ort scheint davon betroffen, auch ihre eigene Familie. Doch die Menschen um sie herum hüllen sich in Schweigen. Was nur hat der junge Besitzer des Buches damit zu tun?

 

«Ein bemerkenswertes Romandebüt.» (Braunschweiger Zeitung)

 

«Eine stimmungsvolle, besinnliche Geschichte.» (Schweriner Volkszeitung)

 

«Seitenweise Glück.» (Cosmopolitan)

 

«Eine Ode an die Welt der Bücher!» (Le Soir)

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel «La relieuse du gué» bei Gaïa Éditions, Paris.

 

Die Zitate aus «Cyrano von Bergerac» stammen aus der Ausgabe: Rostand, Edmond, «Cyrano von Bergerac», Reclam, Stuttgart 2005, übersetzt von Ludwig Fulda.

 

Der Übersetzer dankt dem Centre national du livre für ein Stipendium.

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, März 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«La relieuse du gué» Copyright © 2008 by Gaïa Éditions

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung any.way, Hamburg, nach einem Entwurf von HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, München

(Foto: © plainpicture/Arcangel)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25263-1 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-30511-3

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-30511-3

Für meine Eltern,
Noëlle und Jean-Marie

Dank an Delphine, Christine, Hélène,
Caroline, Carole Vantroys

Prolog

Am Morgen weckten mich die Böen, die durch die Gasse peitschten. Der Wind hatte die ganze Nacht über fast unwetterartig geheult. Ich öffnete die Fensterläden, beugte mich über das Geländer und atmete die stürmische Luft ein. Am Himmel zeichneten sich alle erdenklichen Farbnuancen ab, die starker Wind erzeugen kann. Hinten am Horizont, wo es aufklarte, schoben sich mit beunruhigender Geduld und Schwere dicke schwarze Wolken vorwärts.

Um sieben Uhr war ich nach unten ins Atelier gegangen, das im Erdgeschoss genau unter meiner Wohnung lag. Ich hätte später aufstehen können, aber ich mochte es, das Atelier bis zur Geschäftsöffnung um halb neun ganz für mich allein zu haben. Nicht, dass ich viel Kundschaft hätte, aber es gibt immerhin ein Ladenschild, das im Wind weht, und eine Tür, die allen Vorübergehenden offen steht. Mit dieser Tür, die ich mal vor mir und mal im Rücken habe und die sich meinem Einfluss entzieht, lebe und arbeite ich jeden Tag.

Immer noch aufgeschreckt vom Wind, ging ich hinaus und klappte die roten Holzfensterläden zurück, die mein Schaufensterarrangement verdecken: auseinandergenommene Bücher, Holzfasern, Lederschnipsel, Indigofarbstoffe und Blattgold.

Es war ein seltsames Wetter, ein Wetter, bei dem die Leute an ihren Häuserschwellen stehen bleiben, tief einatmen und prüfend den Himmel betrachten, wie Tiere an ihrer Revierschwelle. Mir schien es, obwohl ich selten am Meer gewesen bin, als wäre das ein Strandwetter und als würde mein beschaulicher Ort in der Dordogne an diesem Morgen an eine Felsklippe gespült.

Der tobende Wind drängte mich zu dem Flussarm am unteren Ende der Gasse, zu der durch den nächtlichen Regen sicher angeschwollenen seichten Stelle. Doch ich blieb standhaft und entschied mich, diese Augenblicke, wenn die Tür noch verschlossen ist, wie jeden Morgen in meinem Atelier zu genießen. Anderthalb Stunden selbst gewählter Einsamkeit, um ein Gefühl für den Tag zu bekommen.

Der Regen wurde wieder stärker, und ich ging meinen Kaffee trinken.

Ich frühstücke umringt von den Büchern, die ich restauriere, eine Unart, aber ich bin eben Buchbinderin.

Wie jeden Morgen setzte ich mich vor meinen Computer, der nicht an der Straßenseite, sondern zum Gärtchen hinaus steht, jedoch mit schärferen Sinnen als gewöhnlich, damit mir nichts von dem unberechenbaren Tanz des Windes entging.

Ich mag die leisen Geräusche, die die Tastatur beim Tippen von sich gibt und die mich anspornen, wenn ich den Menschen schreibe, die ich vermisse. Draußen regnete es noch immer.

Im bläulichen Schimmer des Bildschirms las ich beim Kaffeetrinken meine Post, biss von meinem Marmeladenbrötchen ab und freute mich, dass ich nichts bekleckerte: kein Tropfen und nahezu kein Krümel.

Arbeiten Sie auch mit den Händen? Oder spielen Sie ein Musikinstrument? An manchen Morgen zittern einem die Hände, Körper und Kopf verweigern sich einander, was bei einem Handwerker kein gutes Zeichen ist.

An diesem Montagmorgen jedoch war meine Hand ruhig, ich hatte es eilig, mich an die Arbeit zu machen. Ich schwenkte auf meinem Drehstuhl herum und schob mich zwei Meter weiter an den Arbeitstisch, der einem großen Fenster gegenüberstand, durch das man in ein winziges, abgeschlossenes Gärtchen blickte. Hier erwarteten mich die mir anvertrauten Bücher. Ich knipste meine Schreibtischlampe an, die den neuen Bücherstoß erhellte, den ich zu bearbeiten begann. Zehn Bücher kosteten mich, je nach Zustand, ein bis zwei Wochen meines Lebens.

Ich ließ das oberste Buch des Stapels in meine Hand gleiten und begutachtete den Neuankömmling.

Wenn unerwartete Zwischenfälle auftreten, dann immer «am Schulanfang». An diese Theorie und ihr Versprechen glaubte ich mit naiver Zuversicht: Dieses Buch wird sich mir völlig widerstandslos überlassen, mir keine unangenehmen Überraschungen bereiten, es wird makellos und rein aus meinen geheiligten Hallen hervorgehen. So ein Gefühl muss vierzig Sekunden lang anhalten.

Dann erst mache ich richtig Bekanntschaft mit dem Objekt. Es reicht nicht aus, es bloß in Augenschein zu nehmen, man muss das Gewicht fühlen, Maß nehmen, es in der Hand spielen lassen. Manchmal schweife ich ab und lese aufs Geratewohl hier und da einige Zeilen. Damit verstoße ich gegen die Regeln meines Großvaters und Lehrmeisters, der die Ansicht vertrat, ein Buchbinder habe nicht zu lesen. Ein Analphabet sei für die Arbeit am geeignetsten, ob es nun seine Enkelin war oder sonst wer. Er empörte sich über die Auffassung, man dürfe ein Buch schon vorsichtig aufschlagen und sich an seinem Stil ergötzen, wenn der Leim vielleicht noch nicht ganz trocken, der Block aber schon fest ist.

Ich machte mich an die Arbeit, riss die alten Buchdeckel ab. In dem Moment klopfte jemand an der Tür. Ich hätte fast «trommelte» gesagt, aber das trifft es nicht. Dennoch klopfte dieser Jemand entschieden genug, dass ich es ein wenig mit der Angst zu tun bekam. So klopft man nicht an die Tür einer Buchbinderin.

Erstes Kapitel

Widerwillig verließ ich meinen Lichtkegel und durchquerte das Atelier, das immer noch im Dunkeln lag.

Vielleicht war ein Unfall passiert, jemand brauchte Hilfe und musste telefonieren, das wäre bei dem Wind nicht verwunderlich gewesen.

Als ich mich der Glastür näherte, sah ich verschwommen die Umrisse eines großen, breitschultrigen Mannes, die sich im matten Licht der Morgendämmerung abzeichneten. Wie eine schwarze Wolke verdeckte der Mann das wenige Tageslicht, das von der Gasse her durch die Tür drang. Bevor ich öffnete, schaltete ich die Ladenschildbeleuchtung draußen an. Als das Licht direkt auf seine gebeugten Schultern fiel, hob er den Blick. Das Regenwasser lief ihm übers Gesicht, an den langen schwarzen Wimpern hingen Tropfen, an seinem Matrosen-Ciré-Umhang rann das Wasser herab. Seine großen weißen Hände hielt er vor der Brust verschränkt und verschloss so den Regenmantel. Die großen Augen, die er auf mich richtete, forderten nichts. Sein Blick war eindrucksvoll und undurchdringlich.

 

Es kommt selten vor, dass ein schöner junger Mann um die dreißig zu einer unverschämten Zeit erwartet, dass man ihm die Tür aufmacht, einem tief in die Augen schaut, aber nicht einmal gewillt ist, einen anzulächeln.

Sein Blick folgte meinen Händen, die das Schloss entriegelten. Ich trat zur Seite, um ihn hereinzulassen. Er machte einen vorsichtigen Schritt nach innen und stand wie ein Menhir auf meiner Schwelle.

«Kommen Sie rein, bitte.»

Er nötigte mich dazu, ihn leicht zu berühren, da er so scheu im Türrahmen stand. Ich musste die Tür wieder hinter uns schließen, Wind und Regen drückten ins Atelier, und meine Dokumente drohten davonzuwehen. Instinktiv verriegelte ich die Tür wieder, es war noch nicht an der Zeit aufzuschließen. Doch schob ich den Riegel gleich wieder auf, weil ich mir vorstellte, mein eventueller Kunde könnte sich wundern, wenn ich ihn mit mir einschlösse. Eben war meine Hand doch noch so sicher gewesen. Der Wind brachte mich aus dem Konzept, reizte meine Nerven.

Der Mann hatte sich kaum bewegt. Die Schärfe des ihn umgebenden Geruchs nach Regen und Wind machte mich stutzig. Hinzu kam der Duft von frischer Erde, und ich erinnere mich, wie ich mir sagte, dass dieser Mann in den Wäldern geschlafen haben musste, um derart ihren Geruch anzunehmen.

Der Gott des Windes schlich sich in mein Versuchslabor … Dieser Gedanke war ebenso aufregend wie der, für mich allein die Verse meines geliebten Cyrano zu rezitieren, und viel aufregender als der, ein hübsches marmoriertes Papier nach reinem Augenmaß in einem Zug aufzuschneiden und darauf zu setzen, dass der Schnitt auf den Millimeter genau stimmte. Hatte der Wind mich nicht zum Spaziergang am Fluss eingeladen, und hatte ich sein Angebot nicht ausgeschlagen? Nun war er gekommen und hatte sich gewaltsam Zutritt verschafft.

 

In den Spitzen seiner halblangen glatten braunen Haare stauten sich, wie auch an seinen langen Wimpern, die Regentropfen. Mein Blick folgte einem davon, und ich hörte, wie er auf dem weiß gestrichenen Parkett im Eingangsbereich aufschlug. Er rann in die kleine Pfütze, die sich auf dem Boden um die Füße des Mannes gebildet hatte.

«Sind Sie durch den Fluss gewatet?»

«Ja. Ich setze Ihren Holzboden unter Wasser. Das tut mir leid.»

Seine Stimme hatte keinen Klang, er sprach tonlos und ziemlich langsam, wie jemand, der seit sehr langer Zeit nicht mehr geredet hat.

«Oh, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, ich gehe selbst oft durch den Fluss.»

Er sagte nichts mehr, wartete. Aber worauf? Wo war das Buch?

Um mich gelassen zu geben, ging ich an meinen Platz, den Ladentisch: eine breite Holzplatte auf zwei Backsteinstützen, die eine Grenze zwischen dem für das Publikum zugänglichen Bereich und dem Teil des Ateliers zieht, in dem sich meine Werkzeuge befinden. Ich machte noch die zweite Schreibtischlampe an, wodurch ein weiterer Lichtkegel auf der Holzplatte zwischen uns entstand. Schließlich nahm er doch die Hände von der Brust und zog unter dem Regenmantel ein großes Buch hervor.

«Ich hatte keine Zeit, es einzupacken. Es soll ein Geschenk werden, ich habe das erst gestern am späten Abend beschlossen. Ich habe gesehen, dass schon Licht brennt, da habe ich mir erlaubt …»

«Das haben Sie richtig gemacht.»

Ich streckte die Hand nach dem dicken Band aus und forderte den Mann auf, endlich näher zu kommen.

Nun konnte ich ihn besser sehen. Sein Teint war auffallend bleich, seine Augenfarbe undefinierbar: grau, grün, braun? Immer noch verblüffte mich seine standbildhafte Schönheit. An dieser versteinerten Gestalt bebten lediglich die Nasenflügel.

«Nehmen Sie es mit beiden Händen, es ist schwer.»

Er überreichte mir das Buch, vermied es dabei sorgfältig, mich oder das Buch, das er mir hinhielt, anzusehen, und heftete seinen Blick geradeaus nach vorn, in Richtung des abgeschlossenen Gärtchens. Ich rückte die Lampe nah an die Tischplatte heran und richtete sie auf das Buch. Es war außergewöhnlich, wie der Mann selbst. Ein Format von ungefähr dreißig mal vierzig Zentimetern, schönes dickes Papier. Zu meiner großen Überraschung war es wie ein deutsches Buch gebunden.

«Ist dieses Buch in Deutschland gebunden worden? Oder in einem anderen mitteleuropäischen Land?»

«Das glaube ich nicht.»

Mein Großvater und Lehrmeister war Deutscher, ich hatte zuerst seine Art des Buchbindens gelernt. Wenn meine Kunden mir die Entscheidung überließen, machte ich es wie er.

Bei diesem dicken Buch war der Einband aus hellem karamellfarbenem Ziegenleder. Vorne wie hinten war in der Mitte ein Baum intarsiert, von der Form her hätte ich auf einen Laubbaum getippt. Er war schokoladenbraun. Die Krone hatte sich an mehreren Stellen gelöst, und der Stamm ringelte sich wie gehobelte Späne nach außen.

 

Der Mann beugte sich über den Rand des Lichtkegels und stützte sich mit ausgestreckten Armen auf den Tisch. Das helle Licht der Straße hinter ihm verdunkelte sein Gesicht, doch ich hörte seinen heftigen und immer hektischer werdenden Atem. Er schien mit den Kräften am Ende. Er sank in sich zusammen und stemmte sich mit vollem Gewicht gegen die Tischplatte. Was, wenn er hier zusammenbrach …? Auf der gegenüberliegenden Seite der Gasse schob der Bäcker André gerade sein Brot in den Ofen.

Ich legte das Buch nieder.

«Entschuldigen Sie, ich habe Ihnen nicht mal einen Sitzplatz angeboten.»

Ohne seine Antwort abzuwarten, rollte ich ihm einen Sessel hin.

«Danke.»

Erleichtert setzte er sich, fing sich wieder, schloss für einen Moment die Augen und schlug dann die Beine übereinander, um den Rücken besser gerade halten zu können.

«Es ist nicht kalt heute Morgen, ich mache das Fenster einen Spalt weit auf.»

«Ja.»

Ich schob das zum Garten gehende Fenster auf. Die hohen Mauern, die den Garten umgaben, beschwichtigten den Wind.

Ansonsten erfüllte der winzige Garten keinerlei Zweck. Der einsame Apfelbaum in der Mitte empfing gelegentlich Besuch von ein paar Vögeln und, etwas häufiger, von der Katze aus dem Kolonialwarenladen nebenan. Der kahle Stamm wuchs geradewegs in Richtung Licht, sodass die wenigen Früchte des Baums unerreichbar hoch hingen. Ein starker Ast hatte sein Glück versucht, doch er war bald abgesägt worden, weil er sonst die Mauer zum Einsturz gebracht hätte. Nun trug der verstümmelte Ast ein paar schüchterne Zweige, die ebenfalls in die Höhe strebten. Dieses Gärtchen erweckte den Eindruck eines lebendigen Standbildes oder eines halbtoten Stilllebens. Ein Bild ist zum Betrachten da, nicht zum Betreten. Wenn der Herbst kam, würde sich die Tür, die ins Gärtchen führt, ohnehin so mit Nässe vollsaugen, dass man sie nicht mehr aufbekam.

Ich schob ein paar Bücher zur Seite und blockierte das Fenster mit einem alten Stofffetzen und einem ausrangierten Bügeleisen, das ich als Briefbeschwerer benutzte.

Im Vorbeigehen nahm ich von einer Stuhllehne meinen schwarzen Leinenkittel, der voller bunter Leim-, Goldstaub- und Farbflecke war. Eine Erinnerung an die vergangenen Wochen, in denen ich mit einer Kollegin zum Spaß handgeschöpftes Papier hergestellt hatte. Ich schlang mir den Kittel um, während ich mich wieder dem Mann zuwandte.

Seiner Körperhaltung entnahm ich, dass es ihm zumindest im Moment besserging. Er sah mich an, als nähme er mich erst jetzt richtig wahr. Nun, da ich meinen Kittel trug, schüchterte mich sein klarer, durchdringender Blick nicht mehr so ein. Zudem war dieses Buch ein Prachtexemplar, auch von innen, grundsolides Handwerk, edles Leder. Er beobachtete mich dabei, wie ich es betrachtete.

«Das ist ganz ausgesuchtes Papier, Büttenpapier.»

Ich bewunderte das Papier, das leicht marmorierte Vorsatz, das auf zartblauem Grund gräulich und elfenbeinfarben schimmerte. Undeutlich waren darauf lilienförmige Motive in drei verschiedenen Farben zu erkennen. In der Mitte herrschte der gleiche Blauton wie im Hintergrund vor, dann folgte nach außen hin eine ockerfarbene Partie, schließlich eine backsteinrote.

Wenn man das Buch aufschlug, stellte man fest, dass sich das schöne Vorsatz aus dem Bund gelöst hatte, vom Falz, wie der Buchbinder sagt. Der Buchblock hing nur noch an einem zwei Zentimeter langen Stück an der Deckelinnenseite.

Die beiden ersten Bögen waren abgefallen wie trockenes Laub, der Faden gerissen. Dem Vorsatz hinten drohte das gleiche Schicksal wie dem vorne, es war jedoch nicht beschädigt und hielt Buchblock und Einband noch zusammen.

Ich spürte, wie der Wind, der sich durch den Garten einschlich, mir von hinten über den Nacken strich. Von vorne drückte der Blick dieses Mannes, der entweder gar nichts oder alles bemerkte, gegen meine Stirn.

Das Buch musste komplett neu gebunden werden. Doch das Papier war gut erhalten, nicht verschimmelt, keine Risse, hervorragende Qualität.

Der Mann stieß plötzlich einen Seufzer aus und griff sich an die Kehle.

«Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Er ist noch warm. Oder einen Tee? Oder wollen Sie etwas anderes trinken?»

«Nein danke.»

Ich ließ es gut sein, steckte die Nase wieder in das Buch, das er mir mitgebracht hatte, und behielt die Fragen, die ich jedem anderen Kunden normalerweise gestellt hätte, für mich. Woher haben Sie das Buch? Warum ist es in dieser seltenen Art gebunden? Stammt es aus Familienbesitz, oder haben Sie es erst kürzlich erworben?

An das farbige Vorsatz schloss sich ein weiteres in Cremeweiß an. Auf der ersten, dick mit blauschwarzer Tinte paginierten Seite war die Bleistiftzeichnung eines Waldes zu sehen. Ich stellte mir die Perspektive vor, den Zeichner, der unter den Bäumen saß, den Rücken bequem gegen einen Stamm gelehnt. Auf der nächsten Seite erschien der Wald weniger dicht; dieses Bild war im Stehen gezeichnet. Nächste Seite: eine Lichtung in Aquarell. Rasch blätterte ich den Band durch und stieß in der Mitte auf ein altes rechteckiges Bauwerk mit geneigtem Dach und einem rundherum gedeckten Säulengang.

Das Buch war nicht gedruckt, es enthielt ausschließlich Bleistiftzeichnungen und Aquarelle.

Ich klappte es zu, nahm mir fest vor, es am Abend mit nach oben zu nehmen, um es in aller Ruhe betrachten zu können, und schickte mich an, mich mit meinem seltsamen Kunden auseinanderzusetzen.

«Monsieur?»

«Ja.»

«Sagen Sie, was soll mit Ihrem Buch geschehen?»

Er löste seinen Rücken von der Stuhllehne, spannte die Muskeln an, wandte den Blick vom Buch ab, als fürchtete er, dass es ihn blenden könnte, und sagte mit gepresster Stimme:

«Ich hätte gern, dass Sie das Leder ausbessern, den Einband weiterverwenden, das Vorsatz restaurieren. Ich zahle, so viel Sie wollen, aber ich betone: Es ist äußerst wichtig, das ursprüngliche Material so weit wie möglich zu erhalten. Das Buch wird in Zukunft ein ruhigeres, ein aufgeräumteres Leben führen. Man wird darauf achtgeben. Ich will, dass es nächsten Samstag fertig ist. Ich bin mit jemandem verabredet, der von weither kommt, um mich zu besuchen. Er ist bereits in Bordeaux.»

Er machte eine Pause und wiederholte: «Samstag.»

 

Das verschlug mir die Sprache. Dieser Mann, der einen weitaus mitgenommeneren Eindruck als sein Buch machte, wusste und sagte genauer als jeder andere Kunde, was er wollte. Er hatte nichts Verstörtes mehr an sich. Ich bekam es wieder ein wenig mit der Angst zu tun.

«Ich weiß, es ist sehr lädiert. Also, bis nächsten Samstag, da haben Sie genug Zeit, oder?»

«Man muss das Vorsatz grunderneuern, den Block neu heften, den Einband ausbessern, dazu muss ich den Karton auseinandernehmen. Ich weiß nicht, ich bin auch meinen anderen Kunden gegenüber zur Einhaltung der Termine verpflichtet.»

«Ich bitte Sie. Ich verstehe, dass mein Anliegen Ihren Zeitplan durcheinanderbringt. Aber als ich erfuhr, dass ich diese Person treffen würde, hatte ich erst gar nicht daran gedacht, ihr das Buch zu schenken. Ich zahle, so viel Sie wollen.»

«Das ist nicht das Problem.»

«Was ist dann das Problem, Madame?»

«Die Zeit.»

«Wie viel Zeit brauchen Sie, um das Buch zu restaurieren?»

«Vier volle Tage, plus zwei Tage zum Trocknen und Pressen.»

«Ich kenne keinen anderen Buchbinder.»

«Lassen Sie mir das Buch da.»

«Danke.»

Er stand bereits langsam auf.

«Soll ich Sie im Lauf der Woche anrufen?»

«Ja.»

Ich hielt ihm meine Visitenkarte hin. Er las meinen Namen, steckte die Karte vorsichtig in eine kleine Innentasche seines Ciré-Mantels und knöpfte sie zu. Aus der rechten Manteltasche zog er zusammen mit einer zerknitterten Zugfahrkarte einen Hunderteuroschein.

Er überreichte ihn mir wie ein Kommandant, der einen Marschbefehl übergibt.

«Ich rufe Sie morgen an – oder besser am Mittwoch, um mich zu erkundigen, ob Sie gut vorankommen.»

«Gut, am Mittwoch.»

Über den Preis hatten wir nicht gesprochen. So macht man keine Geschäfte. Ich hätte einen Kostenvoranschlag erstellen sollen. Dennoch streckte ich die Hand nach dem zusammengeknüllten Geldschein aus, den er mir entschlossen in die Handfläche drückte. Meine Hand schloss sich darum. Er schaute auf die Uhr:

«Das restliche Geld bekommen Sie am Samstag. Dürfte ich ein Buch sehen, das Sie gerade restauriert haben, damit ich es mir besser vorstellen kann?»

Ich holte drei schöne großformatige Bücher, die von meinen Eltern stammten und die ich mit einem grünlich schimmernden bronzefarbenen Leder neu eingebunden hatte. Vorne auf die Buchdeckel hatte ich mit einem wunderbaren Vergoldestempel goldene Segelschiffe geprägt.

Mein Kunde fasste die Bücher nicht an, betrachtete sie nur. Ich nutzte die Gelegenheit, um ihm eine Quittung über die hundert Euro auszustellen.

Er nahm den Ton eines Geistlichen an:

«Ich kann es kaum erwarten, dass meines auch so schön aussieht. Danke.»

«Halt, Ihre Quittung.»

«Brauch ich nicht.»

«Nehmen Sie sie.»

Ohne einen Blick darauf zu werfen, stopfte er sie tief in eine seiner Manteltaschen. Dann steuerte er auf die Tür zu. Und da verlor er den Halt, sank in voller Länge zusammen, fiel auf den Boden und verströmte einen Geruch nach Erde, Farnkraut und Regen.

Ich rief «O mein Gott!» und kniete mich neben ihn, tätschelte ihm die Wangen, ich glaube, in meinem verwirrten Zustand streichelte ich sie sogar. Ich öffnete den Reißverschluss seiner Lederjacke, die er unter dem Regenmantel trug. Der Tag war angebrochen, aber es war noch immer finster. Deutlich sah ich bloß das Weiß seines Unterhemds auf seiner Haut.

Ich stand auf, schaltete die Deckenbeleuchtung ein und kniete mich wieder hin. Seine Halsschlagader pumpte. Das beruhigte mich, und ich dachte, vielleicht sollte ich ihm etwas Zucker geben. Ich legte meine Hand an seinen Hals, strich ihm die Haare aus der Stirn:

«Hören Sie? Ich werde einen Arzt rufen, machen Sie sich keine Sorgen, alles wird gut, alles wird gut. Der Arzt wohnt ganz in der Nähe, in drei Minuten ist er da, bleiben Sie ruhig liegen.»

Ich wollte entschlossen aufstehen, um den Notarzt zu rufen. Für einen Mann, der gerade einen Kollaps erlitten hatte, packte er mich mit einer unglaublichen Kraft am Knöchel, einer Kraft, die einem unwiderruflich seinen Willen aufzwang.

Er hielt mich auch an meinem Kittel zurück und nagelte mich mit seinem durchdringenden Blick fest.

«Gut, ich werde nicht anrufen, noch nicht.»

Er kam sehr langsam hoch, stützte sich erst mit der einen, dann mit der anderen Hand am Boden auf. Dann stabilisierte er sich, indem er sich mit beiden Händen an meiner Schulter festhielt. Als er saß, ließ er seine schweren Hände noch einen Augenblick lang auf mir ruhen. Nachdem er sich einigermaßen wiederhergestellt fühlte, wollte er aufstehen, und ich reichte ihm die Hand. Er nahm sie. Mit der anderen Hand fasste ich ihn am Ellenbogen; wir zogen uns aneinander hoch und sahen uns dabei die ganze Zeit an. Ich versuchte einzuschätzen, wie schwach er war, und er, wie viel Vertrauen er in mich setzen konnte. Er schien nicht damit zu rechnen, dass ich viel Kraft hatte; er hätte sich ruhig viel fester bei mir aufstützen können. Als er wieder gerade stand, die eine Hand auf meiner Schulter, die andere in meiner, wartete er ein paar Sekunden ab, in denen wir uns wortlos gegenüberstanden. Dann atmete er tief ein und machte rückwärts langsam die beiden Schritte, die ihn von der Tür trennten. Ich hielt immer noch seine Hand. Wie gern hätte ich ihn in mein Bett gelegt, ihn umsorgt, ihn geheilt, ihn kennengelernt.

«Sie sind so blass, bleiben Sie doch noch ein wenig, bitte. Haben Sie schon etwas gegessen?»

«Nein, ganz vergessen …»

«Ich würde Ihnen gern etwas anbieten.»

«Ich muss zum Zug, ich muss los. Ich rufe Sie an.»

Er ließ die Tür offen. Da, wo er gestanden hatte, pfiff nun der Wind herein. All die unbeschwerten Bücher begannen mit den Flügeln zu schlagen und leise zu rascheln, ein marmoriertes Stück Papier glitt davon, trieb einen Moment lang über der Erde, flatterte Richtung Tür, wollte dem Mann hinterher. Ich schloss die Tür, kehrte bedächtig an meinen Ladentisch zurück und setzte mich an die Seite, an der immer die Kunden sitzen, an den leer gewordenen Platz, wie behext.

 

Die folgenden Worte aus Cyrano de Bergerac gingen mir durch den Kopf:

ROXANE Mein Herz wird brechen!
Im Krieg zu wissen, wen’s am liebsten mag!

Zweites Kapitel

Die Kirchenglocken von Saint-Lazare läuteten acht Mal. Wegen einer halben Stunde die Tür nochmals zuzusperren, wäre Unsinn. Mein friedvoller Tagesbeginn war dahin.

Ich blieb noch einen Augenblick sitzen, dann ging ich wieder an meinen Platz in der Ecke des Ateliers, nahe dem Gärtchen, wo niemand außer mir hinkommt, und fühlte mich einsamer als vor dem Wind. Von dieser Einsamkeit und Stille hatte ich geträumt, davon, mir meine Zeit frei einteilen zu können. Nun hatte ich das alles, und doch baute sich in den ungelegensten Momenten ein großes Fragezeichen vor mir auf: War es ein Fehler gewesen, hierherzuziehen?

Wenn dieser fremde Mann mir doch länger Gesellschaft geleistet hätte.

Die Veränderung meines Lebens war minutiös geplant gewesen. Nur zu einem kleinen Teil hatte ich mich von dem leiten lassen, was man Instinkt nennt, von Beweggründen, die einem selbst schleierhaft sind. Obwohl ich alle Formalitäten erledigt hatte, war ich nach einem Jahr immer noch dabei, mich niederzulassen, war angespannt, als würde ich in einer nicht enden wollenden Kurve fahren. Zwischen meinen ersten kleinen Erfolgen und Schiffbrüchen wartete ich auf ein Zeichen, das alles rechtfertigen würde. Und wenn der fremde Mann das Zeichen war?

Mit der Zeit kam Rat, doch nahm er einen schmerzhaften Umweg.

 

Im Moment redete ich mir ein, das Schlimmste sei überstanden. Das Atelier war mir vertraut, weit mehr als meine frischgestrichene Wohnung, mit der ich mich noch nicht wirklich angefreundet hatte.

Die Wohnung ist ein vollkommenes Rechteck, dessen kurze Seiten zum Gärtchen und zur Gasse, einer gepflasterten Fußgängerzone, hinausgehen. In den dreißiger Jahren hatte man allerlei alte Fachwerkhäuser zerstört, in denen sich Handwerkerateliers befanden, um nichtssagende kleine Häuser mit schmucklosen Fassaden zu bauen. Die gibt es nicht nur in der Dordogne und im Südwesten, sondern überall in den Zentren französischer Provinzstädte, und sie sehen nicht so aus, als würde jemand darin leben. Meine Gasse hingegen wird durch die hier wohnenden Händler und Handwerker am Leben erhalten.

Wenn man das Atelier nach links verlässt, führt die Gasse hinunter zum Fluss; rechter Hand geht es hinauf zu dem Platz, auf dem die Kirche Saint-Lazare steht. Hinter der Kirche beginnt eine breite Straße mit riesigen, effektvoll beleuchteten Geschäften von Franchise-Unternehmen, die gleichen wie in London oder Paris, wo ich herkomme. Dort spielt sich das eigentliche Leben ab.

Unsere Gasse bildet dazu den Gegenpol. Sie ist das altmodische Konzentrat eines Dörfchens innerhalb der Stadt. Man spaziert in ihr wegen der malerischen Beschaulichkeit der verbliebenen Fachwerkhäuser, von denen eines mir gehört. Die Hauptattraktion ist die seichte Stelle am Fluss. Wenn man den Fluss überqueren will, kann man entweder über die bezaubernde moosbewachsene Backsteinbrücke gehen oder sich beim Durchwaten nasse Füße holen. Nicht viele überqueren die Brücke, die meisten bleiben stehen, halten einen Augenblick inne, um das Wasser in seinem gemachten Flussbett zu betrachten, und steigen langsamen, aber leichteren Schrittes die Gasse wieder hinauf.

Die Woche würde ich damit zubringen, an dem großen Buch mit den Zeichnungen und Aquarellen zu arbeiten, das mir gerade gebracht worden war. Ich würde keine Zeit haben, mich mit den fünf Archivbänden zu beschäftigen, die ich für die Lokalzeitung binden sollte. Das Archivmaterial musste noch ein oder zwei Wochen warten. Um mich korrekt zu verhalten, rief ich an und fragte. Die Zeitung gewährte mir problemlos einen Aufschub.

Ich rüttelte den Computerbildschirm aus dem Stand-by auf, bloß damit er sein blaues Licht auf mich warf. Dazu kam ein schwach sirrender Luftstrom vom leicht geöffneten Fenster her, und schon schmökerte ich in dem neuen Buch.

Der dicke Wälzer enthielt viele Originalzeichnungen. Ich stockte bei einer Lichtung, in deren Mitte man zwei quadratische Grundrisse erkennen konnte, die sich überschnitten. Auf den nächsten Seiten folgten Aquarellskizzen, ein kubisches Gebäude erstand aus seinen Ruinen. Sein einziger, von einem Kolonnadengang umgebener Raum erinnerte mich an die Römerzeit. Bestimmt war allein meine Ahnungslosigkeit der Grund dafür, dass ich die Ruinen mit dem Römischen Reich assoziierte.

Das Bauwerk wurde immer schöner. In der Mitte des Bandes war es vollendet, wie ein gereiftes Ensemble stand es da, siegreich, glanzvoll und farbig.

Auf einer anderen Seite stellte eine Skulptur, die anscheinend aus einem dunklen Stein gehauen und mit Moos bedeckt war, einen merkwürdigen kleinen Mann dar, der nackt dasaß und einen Hut aufhatte. Wohl ein kleiner Bruder von David di Donatello. Er war so anmutig, dreist und doppelsinnig. Auch hier dachte ich wieder an das alte Rom oder an die Renaissance.

Die Skulptur trieb mich nicht länger um, ich hatte ihr einen Namen gegeben, das reichte. Doch ich beschloss, mich im Internet über die dargestellte Bauweise zu informieren. Der Suchbegriff «römische Architektur» führte mich erst zu «galloromanisch», dann zu «heiliger Ort» und schließlich zu «Tempel» und «Fanum». Es war ein Tempel, eine galloromanische Kultstätte, ein sogenanntes Fanum. Gar nicht so außergewöhnlich, denn ich erfuhr auf der Website, dass es in Frankreich zahlreiche Relikte von Kultstätten dieser Art gab, samt dem charakteristischen Kolonnadengang, dem «Peristyl».

Die Skulptur, dieser ungenierte Knabe, war demnach ein Gott, den man umkreist wie ein Satellit die Sonne oder dem man sich zu Füßen wirft.

In der Mitte des Buches, gleich nach der Statue und anderen Spuren, die ich nicht zu deuten verstand, begann der lange Weg zurück zum Ursprungszustand, der bis zur letzten Seite andauerte. Nach seiner Errichtung wurde der Tempel Seite um Seite wieder abgebaut, eine Demontage, die entweder durch langsame natürliche Erosion oder durch Menschenhand, die man nur vermuten konnte, erfolgt war.

Am Anfang wie am Ende des Buches waren abgeschliffene Steine zu sehen, die am Boden verteilt lagen. Es gab im zweiten Teil keine Zeichnung, die ihre genaue Entsprechung im ersten gehabt hätte, und selbst wenn zwei Abbildungen das Bauwerk in der gleichen Phase zeigten, so war doch das eine ganz deutlich der Aufbau, das andere der Niedergang.

Auf hundertfünfzig gezeichneten oder gemalten Bildtafeln verfolgte der Künstler geduldig, mal bis ins Detail ausgefeilt, mal skizzenhaft, das Schicksal eines Bauwerks, im Sommer in Aquarellen, im Winter in Bleistiftzeichnungen, und beschrieb dabei eine Bewegung vom Mittelpunkt des Gebäudes zum Horizont und umgekehrt.

Ich blätterte wieder in die Mitte des Buches zurück, ließ mir Zeit, erkannte eine Halskette, des Weiteren einige sternförmig angeordnete Speerspitzen, an denen der Zahn der Zeit genagt hatte, sie waren schwarz wie die Nacht. Ferner blaue und ockerfarbene Rauten aus einem Material, das ich nicht kannte.

Schließlich kam ich wieder zu dem kleinen «David». Man hatte ihn mit Flügeln ausstaffiert. Die Krempen seines Huts waren extrem breit. Er spreizte die Beine, das angewinkelte rechte Bein war auf einen Stein gestützt. Und er hielt etwas in der Hand, etwas Dickes, Rundes.

Von diesen Bildern und Aquarellen war eins wundervoller als das andere. Und keines war signiert.

 

Ich schob den Bücherstapel beiseite, an dem ich noch kurz zuvor hatte arbeiten wollen, und machte mich ans Werk. Das Buch mit der Tempelanlage war ungleich aufregender. Um nicht nur das Originalleder, sondern auch das Vorsatz zu erhalten, musste ich den Einband zerlegen und die beiden Kartontafeln herausnehmen. Ich befeuchtete rundherum die Ränder an der Deckelinnenseite. Mit dem Messer trennte ich das schöne bläulich schimmernde Papier vom Umschlag. So verschaffte ich mir Zugriff zum Leder. Ich löste auch den Umschlag vom Deckel, um zu sehen, wie dick der Karton selbst war. Dann entfernte ich geduldig den Karton.

Nun legte ich die vom Block getrennte und mit dem nur noch halb so dicken Karton verstärkte Lederhülle beiseite. Die andere Kartontafel, die mit dem Vorsatz verbunden war, tauchte ich in lauwarmes Wasser. Sie musste in der Schale ruhen, bis der Knochenleim abging.

Als ich mit dem freigelegten Buchblock hantierte, fiel mir ein vergilbtes Stück Papier auf, das aus einem linierten Schulheft stammen mochte und hinten im Buch festgeklebt war. Mit blauschwarzer Tinte war fein säuberlich eine Reihe von Familiennamen darauf geschrieben: «Soulanges», «Mangeon», «Segnac», «Lucas». Der letzte Name auf der Liste war leicht versetzt und unleserlich.

Ich machte in Büchern sehr häufig solche Entdeckungen: zurückgelassene Notizzettel, Lesezeichen, getrocknete Blumen. Hier verwunderte mich, dass der Zettel hinten am Block befestigt war. Das war kein vergessenes Lesezeichen.

Wenn mich mein Kunde am Mittwoch anriefe, würde ich auf die Liste zu sprechen kommen und ihm vorschlagen, einen kleinen Umschlag dafür zu basteln, den ich an der Deckelinnenseite hinten anbringen könnte.

Gewissenhaft legte ich die Liste unter den kugelförmigen Briefbeschwerer auf dem Arbeitstisch und machte mich wieder an die Arbeit. Ich wollte den Buchrücken säubern, ihn von dem Leim befreien, der die Bögen noch zusammenhielt, als plötzlich ein heftiger Geruch nach Verbranntem in meine Nase drang.

Bestimmt stieg in irgendeiner Ecke des Ateliers eine Rauchwolke auf! Ich schaute mich in alle Richtungen um. Nichts. Und doch erkannte ich den Geruch von brennendem Holz; irgendwo musste ein feuchtes Scheit rauchen.

Hatte ich vielleicht oben in der Wohnung etwas anbrennen lassen? Ich legte das Buch hin und hastete mit wenigen Sätzen die Treppe hinauf. Doch je weiter ich nach oben kam, desto mehr schien ich mich von dem Geruch zu entfernen. Trotzdem ging ich zur Beruhigung bis auf den Dachboden, aber auch dort loderte nicht das Gebälk.

Wieder unten, trat ich aus dem Atelier ins Freie, stellte mich mitten in der Gasse hin, sah mich um, nach unten, nach oben, nach den umliegenden Häusern. Dabei schlotterte ich im Wind, der inzwischen von einem kompakten Sprühregen begleitet wurde und gleichmäßig blies, keine unberechenbare Kraft mehr war. Die Leute, die zum Bäcker gingen, schlüpften mit eingezogenen Köpfen in den Laden und kamen in der gleichen ergebenen Haltung wieder heraus, trippelten weiter bis zur nächsten Unterstellmöglichkeit und vergruben ihre Baguettes unter ihren Jacken. Eine Geste, die mich an den Mann mit seinem Buch erinnerte.

Von Rauch keine Spur. Von Osten, wo die Gasse an der Kirche Saint-Lazare ihren Anfang nahm, bis Westen, wo sie am Flussufer endete, roch es so wenig nach Ruß wie nach Sauerteig.