Cover

Markus Flohr

Wo samstags immer Sonntag ist

Ein deutscher Student in Israel

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Markus Flohr

Markus Flohr, geboren 1980 in Hannover, ist Journalist. Er hat die Henri-Nannen-Schule besucht, war Redakteur bei Spiegel Online und studierte Geschichte in Hamburg und Jerusalem. 2011 wurde er mit dem Buchpreis Hirzen ausgezeichnet.

Über dieses Buch

«Wenn ich Jude wäre, hätte ich genug von den Deutschen. ‹Die Frage ist, warum man überhaupt nach Israel fährt›, sagte Friedrich. ‹Ich meine: Was willst du hier? Es kommen viele, die glauben, es sei sehr edel von ihnen, nach Israel zu fahren. Weil sie den Juden helfen wollen. Oder den Palästinensern. Oder den Christen. Auf jeden Fall helfen und versöhnen. Du kannst ja sagen, es gehe dich nichts an. Aber das stimmt nicht!›»

 

Selten hat jemand so frei und humorvoll über Beklemmungen und Missverständnisse, Politik und Religion geschrieben und dabei ein so einnehmendes Bild von Israel gezeichnet. Ein Buch über das Land, in dem alles heilig ist – fein beobachtet, direkt und komisch.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Februar 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung: any.way, Barbara Hanke & Cordula Schmidt

Umschlagabbildung: © Niko Reitze de la Maza

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-62675-3 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-30431-4

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-30431-4

Und Gott segnete den siebenten Tag, und heiligte ihn,

weil er an ihm ruhte von allen seinen Werken,

die er geschaffen und gemacht hatte.

GENESIS 2,3

 

Samstag ist Selbstmord.

TOCOTRONIC

Scherut

Wenn ich Jude wäre, hätte ich genug von den Deutschen.

«Die Frage ist, warum man überhaupt nach Israel fährt», sagte Friedrich. «Ich meine: Was willst du hier? Es kommen viele, die glauben, es sei sehr edel von ihnen, nach Israel zu fahren. Weil sie den Juden helfen wollen. Oder den Palästinensern. Oder den Christen. Auf jeden Fall helfen und versöhnen. Du kannst ja sagen, es gehe dich nichts an. Aber das stimmt nicht! Es waren unsere Großväter, deine und meine, die in Polen einmarschiert sind, die Konzentrationslager errichtet haben. Das klebt an dir, das wirst du nicht los. Jetzt kommst du hierher, in das Land der Menschen, die unsere Großväter nicht erwischt haben.»

«Also mein Opa war kein Nazi.»

«Ich meine auch gar nicht deinen Opa als Person. Den kennt hier außer dir keiner. Du kommst in das Land der Menschen, die Auschwitz entkommen sind. Wie taktlos ist das denn? Vielleicht wäre ein Einreisestopp eine gute Idee. Ein hundertjähriger Einreisestopp für Deutsche. Ach was, ein tausendjähriger. Ein Israel-Moratorium. Nochmal: Wenn ich Jude wäre, hätte ich genug von Deutschen. Ich würde uns nicht reinlassen. Bei jedem deutschen Pass denkt der Mann am Einreiseschalter an Auschwitz.»

Das ging schnell. Kaum im Land, und schon hatte jemand «Auschwitz» gesagt. Ich kannte Friedrich seit zwei Stunden, eben hatte er im Flugzeug neben mir gesessen. Jetzt saßen wir im Bus, und er sagte solche Sachen. Friedrich war jung, kaum 21, und was mir auffiel, war sein dichter roter Bart und seine Geheimratsecken. Er sprach schnell und energisch wie ein U-Boot-Kommandant. Seit einem Jahr wohnte er hier, in Israel; er arbeitete in einem Krankenhaus. Ich kam, um in Jerusalem zu studieren. Ich musste Friedrich komisch angesehen haben, denn er sagte, ich würde gucken wie Luke Skywalker aus «Krieg der Sterne». Die Szene, in der Darth Vader sagt: «Ich bin dein Vater, Luke.»

Wenn ich Jude wäre, hätte ich auch so geguckt.

Wir fuhren nach Jerusalem. Draußen schimmerte es schwarz wie auf dem Todesstern. Am Flughafen hatte Friedrich für uns Bier gekauft, in Flaschen mit hebräischer Schrift, die sehr teuer gewesen waren, aber jetzt auch sehr gut schmeckten. Wir fuhren in einem Kleinbus, einem Großraumtaxi, das Friedrich mir als «Scherut» vorgestellt hatte. Ein Mercedes Sprinter, gelb-weiß bemalt, acht Menschen saßen drin, außer uns. Auf der Rückbank lümmelten sich drei Mädchen um die 16, sie diskutierten sehr laut auf Hebräisch. Ich verstand sie nicht, ich fragte Friedrich. Er übersetzte. Sie redeten darüber, ob es mehr Christen auf der Welt gebe – oder mehr Araber. Und wie viele Juden. Friedrich sagte, die Mädchen würden sicher Muslime meinen und nicht Araber. Einig waren sie sich darin, dass es zu viele gab. Zu viele Araber. Also Muslime. Weil es passte und nicht so sehr, weil ich es meinte, sagte ich: «Deutsche. Es gibt zu viele Deutsche auf der Welt.»

Weil ich Deutscher bin, habe ich genug von Deutschen.

«Nein. Es gibt nicht zu viele Deutsche. Aber es gibt zu viele Menschen, die es nur gut meinen, mit Israel, die gute Absichten haben, mit den Palästinensern. ‹Der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Absichten.› Solche Leute, die es gut meinen, sagen: Israel ist ein ganz normales Land. Stimmt nicht! Sie wissen, dass es nicht stimmt. Sie meinen: Es wäre schön, wenn Israel ein ganz normales Land wäre. Sie sagen auch: Deutschland ist ein ganz normales Land. Du weißt, dass auch das Blödsinn ist. Schau dir die Leute an, da vorne, in Reihe 2, solche kommen ständig nach Israel.»

«Solche?»

«Solche, die sich mit ‹den Arabern› verbrüdern wollen oder mit ‹den Juden› versöhnen. Versöhnen! Das kann ein Ehepaar machen, wenn es sich gestritten oder sich Beleidigungen an den Kopf geworfen hat. Israel ist doch kein Beichtstuhl für die deutsche Volksseele.»

«Nicht jeder Deutsche ist hier, um sich für seinen Großvater zu entschuldigen.»

«Nein. Es gibt auch noch die, die herkommen und sagen, sie trügen eine besondere Verantwortung, für das, was hier passiert – weil ihre Großväter, deine und meine, daran schuld seien, dass es Israel überhaupt gibt. Sie wollen verhindern, dass hier Unrecht geschieht. Dann stellen sie sich in die Westbank und schmeißen Steine auf israelische Soldaten.»

«Und ist das nicht so? Mit dem Unrecht?»

«Quatsch! Diese Deutschen sind es doch, die den Juden niemals verzeihen werden, dass sie sich in Auschwitz haben vergasen lassen. Sie gehen nach Gaza und sagen: ‹Haben die Juden denn nichts aus der Geschichte gelernt?› Ich sage es noch einmal: Wenn ich Jude wäre, hätte ich genug von Deutschen.»

«Ich habe es verstanden. Sie haben uns ja reingelassen.»

«Sobald ich am Strand in Tel Aviv jemanden Deutsch sprechen höre, gehe ich mindestens 100 Meter in die andere Richtung.»

«Warum redest du dann mit mir?»

«Ich will wissen, warum du hier bist. Also?»

«Studieren.»

«Hast du schon einmal gesagt. Ich meine den anderen Grund.»

«Den anderen?»

«Jeder hat mindestens zwei Gründe, nach Israel zu gehen. Einen, den er zugibt, und einen, den er verschweigt. Wenn du sagst: ‹Ich komme, weil der Strand in Tel Aviv so schön ist›, dann weiß ich, dass du lügst.»

«Es gibt hier sicher Leute, die nur Urlaub machen wollen.»

«Ja, die gibt es. Russen. Aber nicht du. Zwei von 180 in einem Flugzeug sind Russen. Die wollen Urlaub machen. Reihe 4, Platz 19 und 20, kommen nur wegen der Sonne. Und dann gibt es im Flieger noch den Mossad-Agenten in der Reihe dahinter, der vom Einsatz nach Hause fliegt und im Schlafzimmer eine weitere Kerbe in den Bettpfosten ritzen wird, weil er wieder einen steinalten SS-Offizier zur Strecke gebracht hat.»

SS. Jetzt hatte er auch noch «SS» gesagt.

«Oder er hat einen von der Hamas erledigt. Der Agent und die Russen, die haben keinen zweiten Grund, hierherzukommen. Keinen, den sie nicht zugeben würden, alle anderen 177 Passagiere schon. Du auch. Na ja. Du wirst es mir noch erzählen.»

«Und du?»

«Ich? Ich habe auch meinen Grund. Jeder hat seine eigene Idee, worum es hier geht. Jeder hat sogar seine eigene Idee, wo er hier eigentlich ankommt. Du musst wissen: Die Leute kommen nicht im gleichen Land an.»

«Verstehe ich nicht.»

«Eben, im Flugzeug: Reihe 11 singt ‹Schalom Aleichem›. Sechs Juden aus Milwaukee auf dem Weg nach ‹Eretz Israel›. Wenn die das sagen, klingt es wie ‹Alex is real›. In Reihe 13 drückt sich ein Mann die Ohren zu, weil er Palästinenser ist und den Zionismus für ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit hält. Der kommt selbstverständlich nicht in ‹Israel› an, sondern im ‹von Juden besetzten Palästina›. In den Reihen 10 bis 18 sitzt die Reisegruppe ‹Auf Jesu Spuren durch Galiläa mit Pastor Klein›. Die Damen und Herren fragen sich in erster Linie, ob sie um diese Zeit in Jerusalem noch etwas zu essen bekommen werden. Ob das hier nun ‹Palästina› oder ‹Israel› oder ‹Königreich Jerusalem› heißt, ist denen egal. Hauptsache heilig und Hauptsache, sie sehen das Haus, in dem der Herr Jesus lebte, und Hauptsache, der Bus ist klimatisiert. Hinten im Flieger sitzen noch ein paar Russen, also, russische Israelis, die bei der Familie in Kaliningrad waren. Die kommen zwar in Israel an, das schon, aber für sie ist das mehr so ein ‹Isragrad›. Sie sprechen den ganzen Tag Russisch, haben russische Freunde, heiraten russisch, schauen russisches Fernsehen, lesen russische Zeitungen, freuen sich über die russische Bedienungsanweisung im Geldautomaten. In der russischen Metzgerei am Mahane-Jehuda-Markt in Jerusalem gibt es sogar Schwein.»

«Schwein?»

«Schwein. Das Flugzeug landet hier zwar auf dem Ben-Gurion-Airport, und der Pilot behauptet, man sei in Israel – aber so einfach ist das nicht. Nein. So einfach nicht. Du bist hier angekommen in einem Zirkus, einem Drama, das eigentlich ins Theater gehört, im Disneyland der Religionen, im Frontstaat des Liberalismus. Von außen bunt, laut, spannend. So herrlich gefährlich.»

«Und von innen?»

«Von innen? Von innen? Schau dich um: zehn Menschen im Taxi. Zwei Deutsche, also wir, drei israelische Gören, da vorne sitzt ein Orthodoxer, der mit dem Hut, vorne rechts sehr wahrscheinlich ein Palästinenser. Könnte auch arabischer Jude sein, dahinter ein Soldat. Das Pärchen hier vor uns sind Deutsche auf Versöhnungstour. Oder Dänen, die zum Steinewerfen kommen. Wenn du diese zehn Menschen nimmst und an einen Tisch setzt, brauchen sie eine halbe Stunde, um eine Sprache zu finden, in der sie sich unterhalten können. Vermutlich interessieren sie sich aber ohnehin nicht füreinander.»

«Na und?»

«Jetzt ...», Friedrich sog den letzten Schluck aus seinem Bier, «jetzt stell dir vor, das ganze Land wäre dieses Scherut.»

«Dieses Scherut? Du bist betrunken.»

«Nein. Hör zu: Mehr als sieben Millionen Menschen leben in Israel. Nimmst du die Westbank und Gaza dazu, sind es sogar mehr als neun, fast zehn. Israel, dieses Land, die Idee des Zionismus, der palästinensischen Nation, des Heiligen Landes der Christen, dieser ganze Kram ist eigentlich der Versuch, diese zehn Millionen Menschen in ein, also in EIN Scherut zu setzen. Rein, Tür zu, ab geht’s. Klappt natürlich nicht. Zehn Millionen in einem Scherut. Zu eng. Klar, oder? Einer fängt an zu meckern, dass er die Beine nicht ausstrecken kann, dem Nächsten gefällt sein Nachbar nicht, der Dritte will am Fenster sitzen, der Vierte aber nicht am Gang. Jeder bringt das beste Argument vor, warum er oder sie ein ewig-natürliches Recht auf genau diesen Platz in genau diesem Taxi hat. Sie schubsen sich, sie schlagen sich. Schließlich kommt die Polizei in ihren hellblauen Uniformen, die verspiegelten Sonnenbrillen auf der Nase, das Hemd halboffen über der Brust. Sie zeigen nach links, rechts, unten, oben, die eine Hand am Walkie-Talkie, in das sie nervös Befehle husten, die andere an der Waffe im Halfter. Sie verzweifeln, weil ihnen klar wird, dass diese zehn Millionen niemals in dieses Taxi passen werden. Die Stimmung wird schlechter, die Menschen prügeln sich um die lächerlich wenigen Plätze. Die Grenzpolizei rauscht auch noch an, in ihrem dunkelgrünen Kastenwagen. Einer ballert in die Luft, und die zehn Millionen laufen auseinander. Palästinensische Kinder maskiert mit Tüchern, hochgezogen bis zur Nase, schmeißen Kieselsteine auf die Grenzpolizei und das Scherut, und ...»

«Sag mal, wir haben doch das gleiche Bier getrunken, oder?»

«Das ist nicht das Bier.»

«Was dann?»

«Das ist Israel.»

King David

Die Nonne rauchte. Bis jetzt dachte ich, dass Nonnen nicht rauchen, weil es ihnen der Herrgott oder die Äbtissin verbietet. Einen guten Grund dafür hatte ich nicht, denn Rauchen hat nichts mit Keuschheit zu tun. Nonnen brennen ja auch Schnaps und keltern Wein. Einige schauen sogar Fußball.

Friedrich nahm mich mit, vom Scherut zu seinem Krankenhaus, und lud mich auf einen Tee ein. Vermutlich wollte er noch etwas über Israel und die Deutschen loswerden.

«Ich muss weg», sagte ich, «mein Zimmer wartet.»

«Wo hast du es her?»

Ich erzählte, dass ich es im Internet gefunden hatte, in einem Forum, als ich noch in Hamburg saß, in meiner Wohnung im Stadtteil St. Pauli, der auch heilig ist, das sagt schon der Name, aber anders als Jerusalem. Auch in St. Pauli gibt es Nonnen, und es wurde Bier gebraut, bis vor kurzem. Manchmal wird sogar geraucht.

Friedrichs Krankenhaus war ein herrschaftlicher Bau mit hellblauen Fensterläden aus Holz. Es lag oberhalb der Altstadt. Rechts die Mauer mit den Zinnen, links das Krankenhaus «St. Pierre»: Eine Treppe aus Stein führte durch einen kleinen Garten zum Eingang. Neben der Treppe stand die Nonne und rauchte.

Sie sagte: «Hallo, Friedrich», und zwar auf Deutsch, mit einem Wiener Akzent.

Friedrich sagte: «Hallo, Hedvig.»

Er holte Tee in Plastikbechern. Im Tee dümpelten zwei Minzblätter herum. Hedvig drückte ihre Zigarette aus und verschwand im Krankenhaus. Wir setzten uns auf die Treppe und tranken den Tee. Friedrich sah auf seine Uhr.

«Es ist halb eins. Willst du jetzt noch zu deinem Zimmer? Du kannst auch hier schlafen.»

«Ich muss da hin. So ist die Verabredung.»

In meinem Rucksack kramte ich nach ein paar Zetteln, es waren Mails von einem Menschen, der Gidi Begin hieß und auf dessen Anzeige ich geantwortet hatte. Ich zeigte sie Friedrich und auch die Anzeige aus dem Forum der «Jerusalem Post», in der Gidi Begin ein «geschmackvolles Zimmer mit Bett, Bad und Balkon» anbot. Wir hatten zweimal telefoniert, erst hatte ich mit ihm gesprochen, also Gidi, und später mit seinem Mitbewohner Amichai. Sie hatten gesagt, ich hätte das Zimmer und solle am 22.Juli kommen. Es ginge auch spät am Abend. Sie würden warten. Ich fand das Datum merkwürdig, aber ich dachte: egal, denn ich war sehr froh, dass ich so schnell und so einfach ein Zimmer gefunden hatte. Ins Studentenwohnheim wollte ich nicht. Das lag bei der Uni, und die war weit weg. Weit weg von allem anderen.

Ich gab Friedrich die Blätter. Er blätterte.

«‹Gidi Begin›, komischer Name. Hier steht etwas von 400 Euro Kaution und eine Kontonummer in ... England. Hast du das überwiesen?»

«Ja. Wieso?»

«Ein Bekannter von mir ist so mal reingelegt worden. In welcher Straße ist dein Zimmer?»

«David Hammelech.»

«David HaMelech? ‹King David› sagt man eigentlich. Welche Nummer?»

«25

Friedrichs Blick hüpfte ein wenig. Er lachte, es klang schief. «Wir machen einen Spaziergang. Ich zeige dir ‹David HaMelech 25›. Es ist nicht weit.»

Wir gingen raus auf eine Kreuzung, einen Berg hinunter, an einer Ampel blieben wir stehen. Eine breite Straße öffnete sich vor uns, fast eine Chaussee, langsam lief sie bergauf. Wie Burgen ruhten große Häuser aus Sandstein am Straßenrand, sie zeigten ihre großzügigen Eingänge her, Scheinwerfer leuchteten die schönsten Ecken an. Breite Bürgersteige säumten die Fahrbahn, hochgewachsene Pinien ragten in die Nacht, Seit an Seit mit prachtvollen Straßenlaternen, die irgendjemand in Paris geklaut haben musste. Über allem wachte ein wuchtiger Turm, doppelt so hoch wie die Häuser, mit einer Kuppel auf der Spitze. Er sah aus wie ein Finger, der so in den Himmel zeigte, als wolle er sagen: Da oben wohnt Gott, und darum geht es hier, in Jerusalem.

«Schau auf die Hausnummern», sagte Friedrich.

Nummer 7 las ich links, an einem Kasten, dessen Vorderseite aus sechs Rundbögen bestand, so hoch, dass ein Doppeldeckerbus hätte hindurchfahren können. «David Citadel Hotel» stand über dem Eingang, fünf Sterne, es schimmerte golden und hell, wie ein Tempel lag es da. Daneben stand die nächste Burg, aber die war kein Hotel, sondern das «Hebrew Union College». Es versteckte sich hinter Pinien, Zedern und Zypressen, und im Dunkeln konnte man nur erahnen, wie weit das Anwesen ausuferte. Nummer13.

Wir passierten eine Ladenzeile, vier, fünf kleine Geschäfte mit weinroten Markisen über dem Schaufenster. Sie verkauften Schmuck oder Parfüm und sahen teuer aus. Nummer15 bis 17.

Die Straße öffnete sich auf beiden Seiten zu einem Platz. Rechts der Turm, der aussah wie ein Finger. Links thronte ein quaderförmiger Kasten, sechs Stockwerke nach oben, 20 Fenster zur Seite. Eine Front wie ein Palast, ein Haus wie eine Wand. In majestätisches Licht getaucht, eingefasst von einem Park, in dem Zypressen sich andächtig vor dem Hauptportal verneigten und ein paar Büsche sich unter der Aura des Baus wegduckten: das King David Hotel. Nummer23.

Friedrich zog mich in den Park. In ein paar Metern Entfernung konnte ich einen Swimmingpool glitzern sehen. «Hier in etwa ist ‹David HaMelech 25›. Du hast 400 Euro für ein Zimmer überwiesen, das die gleiche Adresse hat wie der Pool des King-David-Hotels. Die haben dich gelinkt. Willst du doch bei uns schlafen?»

Koscher wohnen

Gleich am nächsten Morgen machte ich mich auf die Suche nach einem Zimmer. Am Anfang ohne Erfolg. Die Isomatte und der Schlafsack wurden langsam unbequem, und die Schwestern des Krankenhauses schauten Friedrich jeden Tag ein wenig schräger an. Am Abend des vierten Tages stellte ich mich in einer WG im Süden der Stadt vor. Viel zu weit weg von der Uni, eine halbe Stunde mit dem Bus, quer durch Jerusalem. Bei allem, was besser lag, war ich abgeblitzt.

 

Drei junge Leute öffneten mir: Joel, Ruth und Simson. Joel und Ruth waren jüdische Amerikaner, zum Studieren nach Israel ausgewandert, Juristen. Simson war in Jerusalem geboren. Er hatte einen Platz an der Bezalel-Kunsthochschule – erst war er zweimal mit seiner Bewerbung gescheitert, aber jetzt studierte er endlich Film und Fotografie. Das erzählte er mir noch in der Tür. Alle drei waren etwa so jung wie ich, vielleicht ein, zwei Jahre älter.

Er sei «observant», sagte Joel über sich. Er trug eine Kippa. Zunächst wusste ich nicht, was er mir damit sagen wollte. Jetzt weiß ich es. «Observant» ist Englisch und heißt auf Deutsch: Joel war religiös. Er versuchte, so viele der 613 Gebote Gottes einzuhalten wie möglich. Das komplette Haus war also koscher.

«Hallo», sagte Ruth.

«You are Jewish?», fragte Simson.

«No.»

«But your nose!»

In der Küche gab es alles zweimal: zwei Öfen, zwei Sätze Besteck, zwei Sätze Teller, Pfannen und Töpfe. Überall klebten kleine Sticker mit hebräischen Schriftzeichen. Die wichtigste Regel: Fleisch und Milch trennen.

«An das Kaschrut müssen wir uns alle halten», sagte Ruth.

«Kaschrut?»

«Kaschrut, alles koscher, weißt du? Keine Angst. Das lernst du schon. Sonst haben wir auch Literatur zu dem Thema.»

Sie deutete auf ein Regal an der Wand, das mit Büchern vollgestopft war, mit englischen, hebräischen und sogar ein paar arabischen. Da Ruth nicht lachte, wusste ich nicht, ob es ein Witz gewesen war oder sie die Sache ernst meinte. Ich lachte vorsichtshalber nicht und nickte stattdessen. Simson grinste und klopfte mir auf die Schulter: «Don’t-äh worrie!»

Die Wohnung hatte zwei Etagen, in der unteren waren Küche und Wohnzimmer mit einem großen Fernseher und einer bemerkenswert hässlichen Sitzecke. Die Wände gähnten mir kahl entgegen, nur über dem Sofa hing ein Bild von New York und über dem Bücherregal eine Uhr von Ikea. In der Ecke neben dem Fernseher stand ein Leuchter mit sieben Armen. Eine Schiebetür führte in den Garten, und eine Wendeltreppe drehte sich in den ersten Stock. Oben gab es vier Schlafzimmer und ein Bad.

Ich sagte, dass ich sofort einziehen würde.

«Wir müssen dir noch ein paar Fragen stellen», meinte Ruth.

Wir gingen zur Sitzecke, ich nahm genau gegenüber dem New-York-Bild Platz.

Joel fragte, was ich überhaupt in Israel wolle. Ich sagte, ich wolle studieren. Was ich vorher gemacht hatte? Zivildienst.

Joel: «Ihr habt einen Wehrdienst in Deutschland? Für Frauen und Männer?»

«Nein. Nur für Männer.»

«Wirklich? Warum wolltest du nicht Soldat werden?»

«Ich hatte keine Lust zu lernen, wie man Menschen tötet. Schon gar nicht im Namen des Vaterlandes.»

«Ja, lustig fand ich den Wehrdienst auch nicht.»

«Du warst bei der Armee?»

«Nicht in den USA. Aber hier, freiwillig.»

Mist. Falsche Antwort.

Ich suchte Joels Blick, um zu schauen, ob ich es versaut hatte. Er sah echt nicht nach einem Soldaten aus. Er war kleiner als ich, dünner, hatte kurze dunkle Haare, die Kippa auf dem Kopf, Pullover in Grau, Flanellhose. Joel verzog keine Miene, guckte jedoch die ganze Zeit, als habe man ihn gerade beleidigt und als sei er nun kurz davor zu weinen. Also hatte er schon eine Miene, aber die verzog er eben nie. Er war Hauptmieter. Er hatte die Gesprächsleitung. Er schuf die Fakten.

Ruth wollte wissen, ob ich rauche.

«Nein», log ich.

«Schade», sagte Simson.

Ruth: «Du weißt, dass du drinnen nicht rauchen darfst?»

Simson: «Im Garten ist wohl nicht drinnen.»

Ruth: «Wenn du die Tür nicht richtig zumachst, zieht es rein.»

Joel fragte noch einmal, ob ich jüdisch sei. Ob ich wirklich glauben würde, dass ich die Küche koscher halten könnte, fragte Ruth.

«Mit eurer Hilfe, sicher.»

Simson fragte, ob ich gerne Fußball spiele – «Ja!»

«Gut. Das ist viel wichtiger als die Küche.»

Joel seufzte.

Simson passte so gut zu Ruth und Joel wie Kurt Cobain in den Ortsverein der Jungen Liberalen in Bonn-Bad Godesberg. Er war groß, breit gebaut, hatte ein Gesicht, das ständig lachte, einen Quadratkilometer Haare auf dem Kopf, die er mit einem Gummiband zusammenschnürte. Er trug meistens nur ein T-Shirt («So kalt ist es doch gar nicht, hör mal, wir sind im Nahen Osten»), das ganze Jahr Sandalen («Sonst bekomme ich Fußpilz») und eine Jeans mit lauter Löchern («Für die Durchlüftung»). Er versuchte aus allem einen Witz zu machen.

Joel zog ein paar Zettel hervor, Rechnungen, auf Hebräisch. Er zeigte mir einen nach dem anderen. Der sei für den Strom und der für das Wasser. Er übersetzte ganze Passagen. Ich nickte. Und nickte. Simson schnaubte verächtlich. Er sagte etwas zu Joel auf Hebräisch. Es klang nicht nett, sie diskutierten. Ich sah in Joels Gesicht und machte mir Sorgen, dass er gleich zu heulen beginnen könnte. Nach einer kleinen Pause fuhr er fort, mir die Geheimnisse der israelischen Stromversorgung zu erläutern. Simson stöhnte genervt, nahm sich eine Zeitung und kratzte sich im Schritt. Ruth fuhr ihn an, auch auf Hebräisch, sodass ich nicht verstand, was sie sagte, doch es war so etwas wie: «Benimm dich mal.» Joel legte mir einen Zettel hin, am unteren Ende stand ein Betrag, ich rechnete kurz und sagte: «Okay.» Billig war es nicht. Aber ich hatte ein Zimmer. Ein echtes.

«Bitte hier unterschreiben.»

Ich nahm einen Kuli in die Hand.

«Nein! Nicht unterschreiben!», schrie Simson plötzlich.

«Jetzt hast du dich und deine Familie auf Hunderte von Jahren zu Holocaust-Reparationszahlungen verpflichtet, Oi va voi! Haha!»

Mein Kinn klappte herunter wie eine Zugbrücke. Dieser Witz war mir peinlich. Ich muss geguckt haben wie ein Zwölfjähriger, der die Nachbarsfrau nackt im Garten herumlaufen sieht. Ruth schüttelte ihre Locken hin und her. «Das ist nicht witzig, Simson. Ganz und gar nicht.» Simson hielt sich den Schritt vor Lachen. Er fand sich prima. Joel stand auf und schrie.

«You are such a schmock! Such a disgusting punk!»

Er trat Simson gegen das Schienbein. Simson trat zurück. Joel schrie: «Aaaaah!» Er hielt sich das Knie, sein Gesicht war vom Schmerz verzerrt. «Stop it! Du hast meine Kniescheibe zertrümmert!»

Ruth: «Soll ich einen Arzt rufen?»

Simson lachte über Joel. «Ant-äh, iu, iu arr satsch ä puussi.»

«A little bit lucky»

Im Fußball hat Israel selten etwas gerissen. Sicher, Hapoel Tel Aviv hat neulich den HSV geschlagen. Vor 40 Jahren soll ein israelisches Fußball-Team bei der WM gewesen sein. Und dann gibt es Jossi Benajoun, der erst beim FC Liverpool Tore schoss und jetzt bei Chelsea London auf der Bank sitzt. Das war’s.

Ich saß im Wohnzimmer meiner neuen Wohnung und las den Sportteil der «Jerusalem Post». Gestern war ich eingezogen. In meinem Zimmer stand nur eine Reisetasche, meine Kleidung hatte ich über das Bett verteilt und eine Postkarte von den Hamburger Landungsbrücken an die Wand geklebt. Im Wohnzimmer sah es auch nicht heimeliger aus, aber dafür war der Kühlschrank nicht so weit weg. Das Problem: Er stand in der Küche. Dort bewegte ich mich noch wie auf heißen Kohlen. Immer von der Angst begleitet, alles auf Jahrhunderte hin zu ent-koschern. Fürs Erste beschloss ich, alle Fleischgerichte von meinem Ernährungsplan zu streichen und ausschließlich Wasser zu trinken.

Die «Jerusalem Post» misst dem Sport keine größere Bedeutung bei, heute reichte es für ganze zwei Seiten. Die Hauptmeldung: Israel spielte am Wochenende in Luxemburg, WM-Qualifikation. Der Trainer warnte vor den gefährlichen Luxemburger Konterstürmern. Mein Magen knurrte. Ich sah zum Kühlschrank, lauschte in die Wohnung. Totenstille.

Nun nahm ich allen Mut zusammen, stand auf und ging rüber zum Kühlschrank. Irgendwann musste ich es wagen. Gestern Abend hatte ich mit Ruths Hilfe einen Lageplan der Küche in meinen Taschenkalender gezeichnet. Darauf war genau zu erkennen, wo sich das Besteck und die Teller für die Milchprodukte befanden und wo der Kram fürs Fleisch. Ich schlug den Kalender auf und sah mir die Zeichnung an. Leider wusste ich nicht mehr, wie herum ich sie halten musste. Waren nun die roten Sachen fürs Fleisch? Rot = Blut? Oder genau umgekehrt? Blau = Rohes Fleisch? Außerdem hatte ich die Begriffe mit Ruths Hilfe auf Hebräisch geschrieben, sehr zu ihrer Erheiterung: «Like a Russian granny!» Ich schüttelte über sie, die russische Oma und mich selbst den Kopf.

Schließlich nahm ich einen Teller mit rotem Rand aus dem Schrank, ein Brot aus dem Korb und ein Messer aus der Schublade. Ich betrachtete diese Dinge, hielt sie vor mir in die Luft und war mir nicht sicher, ob es die richtigen waren.

Ich bestrich das Brot mit Margarine und legte eine Scheibe Käse drauf. Plötzlich war Joel in der Küche. Ich schob den Teller zur Seite und stellte mich so davor, dass er ihn nicht sehen konnte.

«Hi Joel! Auch hungrig?»

Er nickte. Ich beobachtete ihn genau. Er tat exakt das Gleiche wie ich: Er nahm ein Messer – aus der gleichen Schublade. Ein Stück Brot – aus dem gleichen Brotkorb. Einen Teller – mit rotem Rand. Hurra. Dann ging er zum Kühlschrank – und zog die Geflügelsalami heraus. Geflügelsalami, das ist Fleisch. Kein Käse. Keine Milch. Alles falsch gemacht. Ich wollte augenblicklich im Boden versinken. Entsetzt fühlte ich hinter meinem Rücken nach dem Teller mit dem roten Rand, mit dem Brot, auf dem der Käse lag. Holy shit. Ich fürchtete, der Teller würde jeden Moment wie eine Auto-Alarmanlage zu piepen beginnen.

Ich war kaum einen Tag in diesem Haus, und schon hatte ich Joel in eine Krise mit Gott gestürzt, denn zumindest mein Teller war jetzt nicht mehr koscher. Und das Messer? Schnell nahm ich einen blauen Teller aus dem Regal, schob ihn zwischen den roten und das Brot und hoffte, dass Joel es vielleicht nicht gesehen hatte. Wenn er nicht wüsste, dass ich die Sachen verwechselt hatte, könnte Gott ihm das nicht zu seinem Nachteil auslegen, dachte ich. Für mich galten diese Regeln, rein religionstheoretisch, nicht. Das war doch nur logisch. Ich nahm den oberen Teller, ging zügig zurück zum Tisch, aß noch zügiger mein Brot und las im Sportteil.

Hapoel Tel Aviv ist gegen St. Étienne aus dem UEFA-Pokal geflogen. Ein iranischer Schwimmer hat sich bei der WM geweigert, mit einem Israeli gleichzeitig in den Pool zu steigen. Und: Lothar Matthäus wird zur neuen Saison Trainer von Maccabi Netanya.

Lothar! Ich versuchte mir Lothar vorzustellen, wie er in der Kabine bei Maccabi Netanya stand und zwanzigjährigen Israelis erklärte, wie sie gegen den Ball treten sollten. Auf einmal fühlte ich mich tief verbunden mit Lothar. Er erlebte vielleicht in etwa das, was ich gerade in unserer Küche erlitten hatte. Oder? Als Lothar für eine Saison in den USA spielte, sagte er auf einer Pressekonferenz: «I hope we have a little bit lucky.» Das war schon einer seiner stärkeren Sätze gewesen. Von der Pressekonferenz gab es einen Clip, den man sich noch Jahre später auf YouTube anschauen konnte. Ich holte meinen Computer und suchte nach dem Clip.

Joel setzte sich neben mich an den Tisch.

Ich lachte nervös. «Rot, blau – gar nicht so einfach.»

«Nein. Gar nicht so einfach. Habe ich gesehen. Ich wollte am Wochenende sowieso die Küche re-koschern.»

«Ach, das geht?»

«Ja. Mit Besteck jedenfalls.»

«Wie denn?»

«Du legst es einen Tag lang in Seifenlauge ein und steckst es anschließend im Garten in die Erde.»

«Und die Teller?»

«Die nicht. Die können wir jetzt wegschmeißen.» Ich glotzte betreten auf meinen Computer. YouTube hatte den Lothar-Clip gefunden. 22000 Klicks. Gleich daneben ein neuer Film: «Lothar in Israel». Lothar steht da auf dem Flughafen Ben Gurion, kurz nach der Landung, und muss seine Fußball-Philosophie erklären. Das geht so:

«Here in Israel we have to work a lot to be on the same standard like in Germany. Specially the INFRASTRUKTUR. We must to do better. (...) Specially not for us. For the future, for the children. This was my speaking. We must to work hard. Every day. Each player must to work hard all over the world. Not only my players. Everyone must to work hard. To be ready to go into the game in the Coupe Uefa or in the Championship everybody must to work hard. (...) I like to change the style of the football of Maccabi Netanya. My player like to play football – my player like to play with each other. (...) Like Arsenal or Barcelona. We must to work hard.»

Dieser Film hatte schon 5000 Klicks. Heute war ich auch ein Lothar, dachte ich und sah mir einen anderen Film mit seinen tollsten Toren an. Und noch einen: Lothar, wie er 1990 Deutschland Richtung WM-Titel schoss. Meine Cousine hatte damals einen Brief an ihn geschrieben, um ein Autogramm zu bekommen. Lothar hatte nie geantwortet, seitdem mag unsere Familie Lothar eigentlich nicht mehr.

Ich träumte noch ein wenig von der WM 1990, da landete auf meinem Schoß ein Motorradhelm. Simson hatte ihn geworfen. Er rief: «Los. Komm, Deutscher. Fußball.»

Der Helm fiel mit einem Krachen auf den Steinboden. Joel verdrehte die Augen und ging. Simson zuckte mit den Schultern und blickte mitleidig auf mich herab.

«Ins Tor gehst du nicht. Komm jetzt, mein Scooter steht unten bereit.»

Ich hob den Helm auf, zwängte meinen Kopf hinein, holte schnell meine Schuhe und mein braun-weißes Trikot. Auf der Treppe begegnete ich Joel. Ich sah ihn durch das Visier an.

«Was hast du denn jetzt vor?»

«Fußball spielen.»

 

Simsons Scooter kam aus Japan, war rot und sehr dreckig. Auf dem Lenker klebte ein Sticker, auf dem eine Figur zu sehen war, die wie ein Kung-Fu-Kämpfer einen Arm nach vorne streckte und dabei in einer riesigen Sichel stand. Simson drehte den Zündschlüssel und ließ den Motor aufheulen. Ich nahm hinter ihm Platz. Mit einem Ruck raste der Roller los. Vor Schreck schlug ich beide Arme um Simsons Hüften. Er stöhnte, verlor das Gleichgewicht, wir stürzten. Ich schlug mit dem Helm gegen einen Laternenpfahl. Simson rollte sich ab und stand in einer Bewegung wieder auf den Beinen. Er schrie mich an. «Ma seh? Ma atah osseh? Atah meschuggah? Eise Germani! Eise Nazi! You want to kill me? You want to finish the Holocaust?»

Er griff mir unter die Arme, hob mich hoch, sodass ich fünf Zentimeter über dem Boden schwebte. Dann schlug er seinen Helm an meinen.

Klong. Er setzte mich ab. Wir schwiegen. Er ging zum Roller und richtete ihn auf. Er trat gegen das Seitenblech, rastete den Lenker ein. Er sah zu mir.

«Möchtest du fahren?»

Mochte ich nicht.

Als wir wieder losrollten, hielt ich mich am Gepäckträger fest. So gut es eben ging. An der Ampel bremste Simson, ich klammerte mich tapfer an den Roller. Wir bogen ab auf die Hebron-Straße. Sie hat drei Spuren, die Autos fahren so schnell wie auf einer deutschen Autobahn und so vorsichtig wie beim Auto-Scooter.

40 Kilometer pro Stunde.

Wir überholten rechts einen weißen Kleinwagen, am Steuer eine Frau mit Brille. Sie schüttelte den Kopf.

50 Kilometer pro Stunde.

Simson fuhr Slalom durch drei Kleinlaster, wir überholten links einen grünen Chevrolet. Der Fahrer hupte und zog sein Auto zu uns rüber. Ich hielt aus einem Reflex die Hand raus, um ihn auf Abstand zu halten. Sie schlug gegen seinen Seitenspiegel. Ich wollte mich umsehen, ließ es dann aber bleiben. Der Fahrtwind. Tatsächlich war ich froh, dass wir nun ...

60Kilometer pro Stunde

... fuhren, auch wenn ich mich kaum noch auf dem Sozius halten konnte. Mir war, als hätte Simson gelacht. Neben seinem Helm sah ich die Mauern der Altstadt auftauchen. Die Straße führte in einem langen Bogen ins Tal. Links sah ich eine Windmühle. Eine Windmühle.

Simson zog bei Dunkelgelb und mit ...

70 Kilometern pro Stunde

... über die Ampel. In einem Tunnel rauschten wir unter der Altstadt hindurch und an der Autoschlange vorbei. Wir tauchten aus der Tiefe auf, und rechts strahlte die Kuppel des Felsendoms. Simson drehte wieder seine rechte Hand nach hinten. Los, schneller, es ging bergauf. «Das hier ist der Osten», schrie Simson.

«Das da sind 80 auf dem Tacho», schrie ich.

«Hast du Angst? Du sitzt doch hinten – halt deine Hände bei dir. I am not a girl, you know.»

In einem Kreisverkehr nahmen wir allen anderen die Vorfahrt, ein Polizeiauto musste eine Vollbremsung machen, und einen Reisebus mit der Aufschrift «Holy Land Tours» drängte Simson beinahe von der Fahrbahn ab.

Ich war mir sicher, dass ich diese Fahrt nicht überleben würde. Mit gefühlten ...

90 Kilometern pro Stunde

... rasten wir auf die nächste rote Ampel zu, das Käsebrot kletterte langsam meine Speiseröhre hoch, apokalyptische Tränen liefen aus meinen Augenwinkeln. Ich dachte an die Kinder, die ich leider nie gezeugt hatte, sie hätten Sophia und Jonathan heißen sollen – da passierte etwas Überraschendes.

Simson drosselte das Tempo.

Ich sackte zusammen wie ein Soufflé. Ein Auto schloss zu uns auf. Simson drehte sich und schlug mit der Faust auf die Motorhaube. Die Fensterscheibe glitt herunter. Der Fahrer beugte sich in Simsons Richtung und hielt ihm die Hand entgegen. Simson schlug ein. Der Roller schwankte bedenklich. Auf dem Beifahrersitz lag eine Maschinenpistole.

«Schalom Simson!»

«Schalom Ron!»

Sie schrien sich an, hin ging es und her, das Auto röhrte, der Roller knatterte, und hinter uns brummte der Bus, auf dem «Holy Land Tours» stand. Aber was sofort gesagt werden muss, muss sofort gesagt werden.

Drei Minuten später stellten wir den Roller neben Rons Auto ab, auf dem Parkplatz des «Lerner Sports Center» der Hebräischen Universität Jerusalem. In der Umkleide übersetzte mir Simson das Gespräch von der Ampel. Vermutlich beschönigte er die Wortwahl und verschwieg die gröbsten Flegeleien. Er schrie auch in der Umkleide so laut, als stünden wir noch auf der Straße.

Ron: «HEUTE TRETE ICH DICH INS KRANKENHAUS. DU WIRST KEINEN BALL SEHEN! VERSTANDEN? KEINEN BALL

Simson: «ICH BINDE DIR DIE SCHUHE ZUSAMMEN UND ESSE DEIN TRIKOT! WENN ICH NUR KÖNNTE. DU WEISST DOCH ...»

Ron: «WAS

Simson: «WIR MÜSSEN EH IM GLEICHEN TEAM SPIELEN. DIE RUSSEN SPIELEN IMMER FÜR SICH

Ron: «DAS IST EINE FRAGE DER EHRE. HÖRST DU? , .»