cover

Wenn ich denn laufe, dann laufe ich

Norbert Schläbitz

Wenn ich denn laufe, dann laufe ich

Von Lust und Leid beim Marathon

Bildnachweis

Bitthöfer, Mike: 35

Edridge, Svenja: 138

Eresmann, Peter: 135, 136, 145, 146

Rauen, Maria: 62, 100, 111, 143o., 151

Schläbitz, Norbert: 10, 28, 29, 31, 103, 129, 133, 170

Steins, Hubert: 16/17, 20, 49, 52, 90, 182

Tauer, Christa: 15

Wichmann, Carola: 51

sowie aus dem Archiv des Autors: Umschlag, 68, 120, 131, 132, 142, 143 o., 153, 156, 165, 166

Vollständige eBook-Ausgabe der im Copress Verlag erschienenen Printausgabe (ISBN 978-3-7679-1195-6).

DTP-Produktion und Layout (Printausgabe):

Verlagsservice Peter Schneider / EDV-Fotosatz Huber, Germering

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über
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© 2015 Copress Verlag

in der Stiebner Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten.

Wiedergabe, auch auszugsweise,

nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags.

Gesamtherstellung: Stiebner, München

ISBN 978-3-7679-2029-3

www.copress.de

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Wie kommt man dazu, sich am Marathon zu versuchen?

Mit einem Trick zum ersten Marathon

Trainingsalltag. Von Flow bis Schweinehunden

Des Läufers Hundeleben. Begegnungen der unerfreulichen Art

Des Läufers Staunen. Begegnungen von ganz anderer Art

Intermezzo 1: Kultläufe. Hermann, Heldenlauf & Co.

Gesundheit und die große Unvernunft

„Was hast du heute vor? Jetzt aber mal ganz ehrlich!“

Ehrgeiz und das Scheitern an der nächsten Grenze

Im Training wird die Welt bewegt

Intermezzo 2: Volksläufe, Kuchen & Co.

Anreise und Begleitumstände

Die Kostümparade der Superhelden

Der Mann mit dem Hammer

Hemmungslos. Was sein muss, muss sein

Knöpfe im Ohr. Musikbeschallung

Ohne Verpflegung geht es nicht

Woran ich denke, wenn ich Marathon laufe

Von der Schwierigkeit, sich aus- und umzuziehen

Marathonimpressionen 1–21

Mein Trainingsplan

Wie lange werde ich noch Marathon laufen wollen?

Epilog

Prolog

Möchte ich die Frage beantworten, woran ich denke, wenn ich Marathon laufe, könnte ich spontan antworten: Eigentlich an nichts, wenn ich denn laufe, dann laufe ich und sonst nichts. Aber so ganz stimmt die Antwort dann doch nicht, denn einstellen lassen sich die bewegenden Gedanken ja nie, Gedanke fügt sich an Gedanke, wer wollte dies bestreiten, und auch laufend bewege ich sie unermüdlich wie stets. So gilt es zu ergänzen: Beim Laufen eines Marathons denke ich an nichts Bedeutendes. Alles dreht sich dann nur ums Laufen. Beim Training ist das anders. Da spielt das Etwas eine Rolle. Mag auch die Bedeutsamkeit meiner Gedanken sich generell in Grenzen halten, meine Gedanken schweifen gleichwohl hierhin und dorthin, beschäftigen sich mit allem Möglichen, am seltensten aber mit dem Laufen. Zwischen dem Nichts und dem Etwas oszillieren so meine Gedanken, wenn ich laufe. Davon möchte ich berichten und von manchem mehr, wie die Welt um das Laufen herum sich für mich bewegt.

Aber warum sollte ich ein Publikum daran teilhaben lassen? Wie kommt man bei allen persönlichen Gedanken, die man beim Laufen so hat oder nicht(s) hat, dazu, ein Buch zum Marathon zu schreiben? Noch dazu, wo der Autor selbst kein Meister seines Läufer-Fachs ist, sondern nur einer der zahllosen Mitläufer, der irgendwo und irgendwann unter den vielen Tausenden beinahe namenlos ins Ziel einläuft? Wer mag schon daran teilhaben an dem, was einen selbst so bewegt beim Laufen?

Vielleicht, so meine ich, weil es den einen oder anderen Namenlosen, wie auch ich einer bin, doch interessiert, zu wissen, was andere über das Laufen denken, die ebenfalls nicht zur Gilde der Siegläufer gehören. Zumindest mir ging es so, als ich vor Jahren ein Buch von meiner Frau Maria geschenkt bekam, dessen Titel Vergleichbares versprach: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede. Autor jenes Buches ist der turnusmäßig für den Literaturnobelpreis hochgehandelte Haruki Murakami, der in diesem Buch auch über seine Lauf- und Marathonerlebnisse berichtet.

Ich erfuhr von seiner Motivation zu laufen, die vielen Jahrzehnte, die ihn lustvoll bewegten, bis eines Tages die Lust doch ein wenig schwand. Ich erfuhr, wie es war, als Bestzeiten am Horizont des Denkbaren entschwanden und mit anderen Zeiten man nunmehr vorlieb nehmen musste. Ich fand in Haruki Murakami einen Läufer vor, dem der Wettstreit mit anderen immer gleichgültig war und dass jeder Wettstreit, den jeder Sport trotz alledem auszeichnet, allein mit sich selbst ausgefochten wurde. Das sich messen mit anderen war Haruki Murakami immer gleichgültig gewesen. Eine über Jahrzehnte tragende Trainingsstrategie lernte ich kennen, und dass der Individualsport des Autors Sache ist und Mannschaftssportarten eher nicht, auch das erfuhr ich. Ferner lernte ich, dass Laufen und Schreiben für den Literaten durchaus Verwandtschaften darstellten.

All dies fand ich interessant zu lesen, doch daneben gibt es noch eine ganze Menge anderer Lebensgeschichten, mit denen Haruki, wie ich ihn manchmal in gedanklicher Verbundenheit freundschaftlich anspreche, das Buch füllt. Wir erfahren viel über den Autor Murakami, über sein Leben, wie er zum Schreiben kam, wie sich erste Erfolge einstellten, die Übersetzungsarbeiten von Literatur ins Japanische, von seinen Gastvorträgen, Dozenturen im Ausland, von den Kneipen, die er betrieben hat, und wie er sich irgendwann entschlossen hat, ganz auf die Karte Schreiben zu setzen. Und wir erfahren ganz viel über die Musik, die Haruki Murakami mag und die ihn begleitet durch sein Leben. Und so en passant erfahren wir auch das eine oder andere über seine Einstellung zum Laufen, seine weitergehende Passion, dem Triathlon, über Stürze u.a.m.

Im Grunde ist es weniger ein Buch vom Laufen als vielmehr eine Art Lebensbiografie. So gerne ich dieses Buch damals auch gelesen habe und dadurch viel über den Autor erfahren habe, so ein ganz klein wenig war ich auch enttäuscht, weil mich mehr als die Lebensereignisse und Stationen des Autors seine jahrzehntelangen Lauferfahrungen interessierten.

Murakami nun ist fraglos ein Meister seines Fachs, dem Schreiben, aber ebenfalls nur ein Mitläufer in Sachen Laufen. Mich interessierte gerade nicht, was ein weltbekannter Autor zum Laufen zu sagen hatte. Mich interessierte allein der im Grunde namenlose Läufer, der versprach, vom Laufen zu reden, der aber in großen Bögen abschweifend sein Versprechen nicht so ganz einlöste. Das fand ich schade. Ich war neugierig auf den Namenlosen, in dem ich mich wiederfinden konnte. So kam es, dass mich der Gedanke immer wieder bewegte, selbst ein Buch zum Marathon zu schreiben aus der Sicht eines ebenfalls Namenlosen.

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede, diesen Titel fand ich damals schon und auch heute noch immer sperrig. Mich störte das Fragepronomen, der ganze Satzbau mit der zweifachen Verwendung desselben Verbs; auch das widersprach meinem persönlichen Lesefluss und einer ganz individuell geprägten literarischen Ästhetik, wie ich sie schätze. Und doch war mir von Anfang an klar gewesen, sollte ich einst ein Buch vom Marathon schreiben, das Buch sollte aus dem mir so sperrigen erwachsen, den ich mir auch dann zum Arbeitstitel erwählte. Er machte im Verlaufe des Schreibens dann seine allmähliche metamorphosengleiche Wandlung durch. Immer wieder verschob sich ein Wort, veränderte sich, um doch nicht zu bleiben, bis der Titel ein anderer war und zwischenzeitlich geschrieben stand: Woran ich denke, wenn ich Marathon laufe. Damit war ich auf Zeit zufrieden. Aber auch der stellte sich im weiteren Verlauf nur als Übergangstitel heraus. Irgendwann stand mir klar vor Augen, wie dieses Buch für mich nur heißen kann, denn mehrfach kam es beim Schreiben zu einer sprachlichen Wendung, die da heißt: Wenn ich denn laufe, dann laufe ich. So heißt es nun, das Buch vom Marathon, und ich spüre und weiß – trotz der zweimaligen Verwendung des Verbs laufen – zugleich, so klingt es richtig, nur so soll und darf es heißen.

Eingestanden ist dabei – das sei vorausgestellt –, dass in diesem Buch ich nicht allein mein marathongesättigtes Gedankenkonvolut vorstelle. Am Ende würde weitgehend Nichtssagendes stehen (eben wie zu Beginn erwähnt: nichts Bedeutendes), was Langeweile nur bewirkte. Auch meine Ausführungen werden – wie schon bei Haruki – vom thematischen Kern hier und da mal abweichen, um aber doch immer – wie ich hoffe – dem eigentlichen Thema treu zu bleiben, es mehr konzentrisch umkreisen, als in riesigen Ellipsen, wie es Haruki macht, der nur dann und wann dem Thema nahekommt, um alsbald wieder fortzustreben. Es bleibt demnach immer ein Buch zum Marathon. Also kein Haruki 2 auf fraglos anderem Niveau. Es bleibt immer ein Buch über das Laufen, dessen Beweggründe, die Erschwernisse, die mit dem Laufen verbunden sind, die Freuden, die das mit sich bringt, und das ganz selten nur ... von Gedanken spricht, die sich einfinden, einschleichen ... und die dem Laufen ferne stehen.

Verschiedentlich nenne ich im Buch Trainings- und Wettkampfzeiten. Sie stellen für mich – mit den Worten von Haruki Murakami – ernsthafte Zeiten dar. Manch einer mag über diese Zeiten schmunzeln, andere vielleicht daran scheitern.

Wie kommt man dazu,
sich am Marathon zu versuchen?

Ein Marathon ist ein Marathon ist ein Marathon. So möchte ich mein Buch über das Langstreckenlaufen beginnen. Ein Marathon hat immer 42,195 km, und doch erzählt jeder gelaufene Kilometer im Marathon eine andere Geschichte. Gertrude Stein wusste wohl, warum sie einst den so schönen Satz schrieb: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Keine Rose ist wie die andere, und doch sind es immer Rosen und bleibt die Faszination an der Rose erhalten, selbst wenn die Rose in einer Redundanzschleife sich verlöre: Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose usf.

Ist es nicht so ähnlich beim Marathon? Der Marathon, der zunächst wie ein Berg vor einem steht, den erstmals zu bewältigen einem kaum möglich scheint und den man doch angeht, dann das Training zum Marathon, anstrengend und zuweilen von Zweifeln begleitet, endlich die Erstbesteigung mit ihren Höhen und Tiefen, später die weiteren Marathons, bei dem jeder einzelne andere und neue Erlebnisse in Körper und Bewusstsein einschreibt. Also beginne ich: Ein Marathon ist ein Marathon ist ein Marathon.

Verschiedentlich habe ich Bücher über das Laufen eines Marathons gelesen. Oft wird davon gesprochen, dass gerade Männer zwischen 40 und 50 Jahren es sich noch einmal beweisen wollen. (Für Frauen möchte ich hier nicht reden). In der Regel etabliert im Beruf, in einer festen Partnerschaft verbunden, in der Summe gut situiert, suchen sie noch einmal eine große Herausforderung, wo so viele Herausforderungen schon bewältigt sind. Zuweilen wird parallel dazu gern der Gedanke aufgegriffen, dass die Manneskraft ihren Zenit überschritten habe, dass bei aller fraglos stabilen sexuellen Potenz doch alles etwas ruhiger geworden sei und Mann seine Männlichkeit nunmehr auf anderem Felde unter Beweis stellen wolle.

Ich weiß nicht, was ich davon so halten soll. Mir sind diese psychologisch gestrickten Erklärungen allzu oft zu schlicht gestrickt. Am Ende läuft immer alles auf ein Freudsches Drama heraus, bei dem der Sexus und der Phallus allein die Regie führen. Sexualität ist fraglos ein bestimmendes Moment im Leben von Mann und Frau, aber nicht jedes Motiv nimmt seinen Ursprung aus triebgesteuerten und irgendwie unlustig gewordenen Bewegungsaktivitäten im Bett oder muss zwangsläufig daraus resultieren. Ich schließe den sexuellen Einfluss nicht aus, aber er verengt den Fokus doch sehr, er blendet aus. So manches andere verliert man da aus den Augen. Zumindest ist das meine Überzeugung.

Mag der Leser selbst sich ein Bild machen, ob er zwischen Lust und Lauf bei mir eine unlösliche nachvollziehbare Verbindung sieht.

Jahrzehnte ist es her, dass mir zum ersten Mal der Gedanke kam, warum sich nicht mal am Marathon zu versuchen; mein Motiv dazu lag gleichwohl nicht im Unterleib, so jung, wie ich damals war, vor jugendlicher Kraft nur so strotzend und sie gerne jungen Damen offerierend, wenn sie denn mochten.

Als ich dann Jahrzehnte später tatsächlich den Marathon realisierte, war der geistige Urheber dieser Idee ich gerade nicht. Mit abebbendem Mannesstolz hatte also auch da die Sache nichts zu tun.

Ich blicke zurück, als das erste Mal die Idee zum Marathon in mir keimte. Dieser Moment liegt – wie schon erwähnt – ein paar Jahrzehnte zurück, ich war gerade 26 oder 27 Jahre jung. Weniger war es die Attraktivität oder Anziehungskraft, die dieser Lauf auf mich ausübte denn mehr ein Vermeidungsverhalten. Ich lebte in Essen und ging recht unregelmäßig meinem Studium nach. Ich stand bei aller Gelegenheitsstudiererei doch eines Tages tatsächlich vor meinem Examen, und irgendwie schlich ich wie die Katze um den bekannten heißen Brei um diesen Prüfungsmarathon herum. Diese Zeit war lerntechnisch wenig produktiv, denn ich traute mich nicht recht, den Abschluss anzugehen. Außerdem redete ich mir – per gelungener Autosuggestion – ein, dass meine Sehkraft nachgelassen hätte und das Lesen schwieriger Bücher mir gar nicht guttäte. Also schonte ich mich, nahm Abstand vom Lernen und Lesen. Damit das schlechte Gewissen ob der fraglos völlig berechtigten gesundheitlichen Beeinträchtigungen beim Lesen nicht zu sehr wuchs, begann ich nach jahrelanger Laufabstinenz die Trainingsschuhe wieder zu schnüren. Anstatt mir eine neue Brille verschreiben zu lassen, kaufte ich also neue Laufschuhe. Und ich empfand diesen Entschluss durchaus logisch und völlig folgerichtig.

Von einem unerschütterlichen Ehrgeiz gleich eingenommen, sollte als Endzeit unbedingt eine Zeit unter drei Stunden stehen. Nach mehreren Monaten Training mit Einheiten bis zu 36 km mit einem Kilometer-Schnitt von knapp 4 Minuten, manchmal darunter, fand ich, dass das irgendwie doch knapp werden könnte mit einer Zeit mit einer angestrebten 2 vor dem Komma oder (Doppel-)Punkt, denn bei den letzten Kilometern jeder Einheit konnte ich diesen Schnitt beileibe nicht halten. Die Beine wurden mir schwer, jedes Mal sehr schwer. Ich fürchtete um eine Zeit, die jenseits der drei Stunden hätte liegen können: so bei 3.02 Std. oder 3.03 Std. In meiner Vorstellung kam das einem Desaster gleich. Da brach ich dieses Experiment ab und stellte die Schuhe ungeputzt wieder in den Schrank, denn ich bin ein Schlunz, und Putzen behagt mir nicht. Rückblickend gesehen, ärgere ich mich über diese Entscheidung noch heute. Was würde ich allein für die Trainingszeiten von damals heute geben? Auch hatte ich damals nur einen einzigen Marathon ins Blickfeld genommen, warum nicht mehrere? Dort hätte man das mögliche Desaster von 3.02 Std. oder 3.03 Std., wenn man es denn so sehen musste und es so gekommen wäre, doch problemlos korrigieren können. Aber vorbei ist vorbei.

Das Training hatte gleichwohl seinen eigentlichen Zweck erfüllt. Vom Nichtstun am Schreibtisch beunruhigt, konnte ich meine Zeit mit anderen Aktivitäten füllen und befand die Zeit jetzt gut verwendet. Mein schlechtes Gewissen wanderte in den Untergrund, wo es nicht mehr ganz so heftig an mir nagte, weil eine sinnvoll ausgefüllte Zeit mit Laufen mir was anderes suggerierte. Und nebenher hatte ich meine Augen trefflich schonen können.

Eine neue Brille ließ ich mir dann doch noch verschreiben und sie ungenutzt auf dem Schreibtische liegen, denn die alte versah noch hervorragend ihren Dienst. Dem Prüfungsmarathon konnte ich mich aber immer noch nicht stellen! Zur Vermeidung eines schlechten Gewissens erfand ich daher neue, vom läuferischen Gestus nicht bewegte Gründe. Sie spielen an dieser Stelle keine so nennenswerte Rolle, und ich lasse es, sie zu schildern.

Es mussten dann noch einmal Jahrzehnte vergehen, bis ich das Lauf-Projekt Marathon erneut in Angriff nahm. Mittlerweile stand ich, nachdem mir keine rechten Gründe zur Vermeidung aller Prüfungen mehr eingefallen waren und ich mündlich wie auch schreibend Prüfern die Welt erklärt und weitere Welterklärungen später in ausgesuchten Prüfungen nachgeschoben hatte, mittlerweile stand ich also längst im Beruf, und die beruflich bedingte mehr sitzende und schreibende Tätigkeit hatte mich leicht – wie soll man sagen – angedickt, wobei die Betonung ganz ohne Frage auf dem näher bezeichnenden Adjektiv leicht liegt. Und in Ergänzung meiner Rede könnte ich ein ganz noch hinzufügen. Nicht nur saß ich, schrieb ich, auch genoss ich regelmäßig die gute Kost beim Griechen, die nun nicht gerade für ihre Kalorienschwäche bekannt ist. Gerüchte besagen, es verhielte sich genau andersherum.

Wirklich aufgefallen war mir mein allmählich gewachsener Umfang zunächst nicht. Nur auf Fotos von mir fand ich mich seltsam anders geworden, zwar nicht und nie dick, aber eben anders. Die Zuschreibung dicklich hätte ich aber nach wie vor mit ehrlicher Überzeugung weit von mir gewiesen. Mein Eindruck, den ich heute beim Durchschauen jener fotografischen Zeitdokumente habe, ist, dass bei weiterer Zunahme um – sagen wir – fünf Kilo die Zuschreibung dick gleichwohl nicht ganz verkehrt gewesen wäre. Damals führte ich alles auf eine proportionale Verzerrung von – man glaubt es kaum – schlecht gemachten Fotos zurück, auf Fotos, die mich in ein nicht ganz so gutes Bild gerückt hatten, aus ungünstigem Winkel sozusagen geschossen.

Ich wohnte längst nicht mehr in Essen, sondern in Paderborn, wohin mich mein Beruf verschlagen hatte. Und der Zufall wollte es, dass meine Vermieterin Magda es mit dem Laufen versuchen wollte. Das muss so um das Jahr 1999 gewesen sein. Ich erinnerte mich an meine mittlerweile schon Jahrzehnte zurückliegende aktive Zeit und bot mich gleich sportlich an. 1999 schnürte ich erstmals seit langer Zeit wieder die Laufschuhe, und über die nächsten Jahre hinweg liefen Magda und ich fast jeden Samstag sehr regelmäßig unsere knapp 10 Kilometer. Nie weniger, aber auch nie mehr. Angedickt blieb ich weiterhin, ich wusste den Kalorienverlust in geeigneter Weise zu kompensieren, und obendrein hatte ich ja ohnehin ein ganz anderes schlankeres Bild von mir. Wozu mich also disziplinieren? Die These von den schlecht gemachten Fotos hielt mich nach wie vor von jeder tieferen Einsicht ab. Abermals: Mir ist es heute, beim Anblick von Fotos aus jener Zeit, rätselhaft, wie ich mir das jemals einreden konnte.

Eines Tages, es war das Jahr 2007, kehrte Magda mit Stefan, ihrem Mann, aus dem Urlaub zurück. Schon lange wohnte ich nicht mehr bei den beiden, schon lange waren wir Freunde geworden, und heute sind die beiden – das sei am Rande nur erwähnt und in Klammern gesprochen – nicht nur sehr gute Freunde, sondern mir Schwägerin und Schwager, liebe Verwandte, wie man sie sich nur wünschen kann. Stefans Schwester Maria ist mir – ebenfalls im Jahre 2007 – erst lieb und später, als aus „lieb“ Liebe geworden war, dann 2011 meine Frau geworden. Klammer zu.

Auf unserer samstäglichen Runde machte mich also Magda (nicht Maria) mit der Idee vom Marathon bekannt. „Wie bist du denn auf diese Idee gekommen?“, fragte ich weder sehr begeistert noch überzeugt. Sie hatte im Urlaub einen Holländer getroffen, ihm erzählt, dass sie schon seit Jahren laufe, eben jene 10 km, und der warf unbekümmert in den Raum: „Ja, dann musst du doch den Marathon laufen.“ Da war sie nun, die Idee vom Marathon. Einfach so dahergesagt, ob von sexuellen Missständen jenes Holländers geprägt, weiß ich nicht zu sagen, glaube es aber eher nicht. Jedenfalls legte dieser Satz einen Keim in Magda ab, der wuchs, sich manifestierte und endlich – nach dem Urlaub – sich mir strahlend mitteilte.

Zwar war ich skeptisch, doch ich bot mich an, eine Laufgruppe zu suchen, die dieses Ziel anvisierte. Einen Alleinversuch hatten wir gleich ausgeschlossen. Die Idee auszusprechen war ein leichtes Unterfangen gewesen, eine geeignete Laufgruppe zu finden dagegen ungleich schwerer, denn entweder hatten Vereine so was gar nicht in ihrem Programm, mangels Teilnehmer eben wieder eingestellt oder es gab kostenpflichtige Laufkurse über 10 Wochen, die aber ans Ende nicht den Marathon, sondern den Halbmarathon setzten. Außerdem starteten sie zu einem ungünstigen Zeitpunkt, denn wir wollten jetzt sogleich mit dem Training loslegen und nicht erst in einigen Wochen wie angeboten.

Endlich fand ich googelnd einen Anlaufpunkt beim Lauftreff Elsen-Wewer nahe Paderborn. „Dann kommt doch einfach mal vorbei“, meinte Ulrich, der die Lauftruppe geradezu genial betreut, und sich für mich alsbald als das Herzstück sowie die unverzichtbare Seele unserer Lauftruppe darstellte. Ohne Ulrich wäre der Lauftreff Elsen-Wewer ärmer. Wo immer Menschen sich zusammenfinden, braucht es ein Zentrum, um das die Gruppe sich reiht und sie vereint. Ulrich ist so ein Mensch. Genug des Lobs. „Wir haben gerade eine Laufgruppe gebildet, die im nächsten Jahr ihren ersten Marathon angehen will. Samstag um 14 Uhr treffen wir uns, und je nach Leistungsgrad und Laufziel teilen wir uns auf. Und dann geht es los.“ Und so – ging es also los!

Nix mit Sex und so, aus einer unerfüllten sexuellen Begierde geboren, die Potenz sich noch einmal beweisen (wie beim Laufen das auch immer gehen soll?) oder was weiß ich. Ein Holländer war es und Magda, dass das Projekt Marathon von uns in Angriff genommen wurde.

Mit einem Trick zum ersten Marathon

In Ostwestfalen-Lippe gibt es ein Städtchen mit Namen Bad Salzuflen. Eigentlich ein unscheinbarer Ort. Politisch korrekt dürfte man so was natürlich nicht sagen. Sicher hat Bad Salzuflen auch so seine Reize. Ich kenne sie nur nicht, und so erlaube ich mir zu sagen, ein eher unscheinbarer Ort. Dass er bekannt ist unter Läufern, liegt daran, dass dort laufsportlich recht früh in die Saison gestartet wird. Mitte/Ende Februar kann der ungeduldige Läufer seinen Bewegungsdrang kanalisieren, sich mit anderen in läuferischen Bahnen messen.

Eine schöne waldgeprägte Rundlaufstrecke fordert nicht nur die Auseinandersetzung mit anderen Mitläufern, sondern auch jene mit der Strecke. Schon bald nach dem Start von einer Straße aus ergießt sich der Strom von Läufern in den Wald und führt einen auf eine Rundstrecke von etwa 8 km Länge. Die Besonderheit jenes Laufes ist, dass er sich als Blockmarathon ausweist. Ich glaube, dass es sich um ein in Deutschland einzigartiges Lauf-Event handelt. Denn welche Gesamtstrecke man läuft, mit der man in die Wertung kommt, entscheidet sich erst beim Laufen. Nach jeder Runde kann Läufer wie Läuferin entscheiden, ob er oder sie zum Ziel hin abbiegen möchte oder ob er wie sie noch eine weitere Runde sich zutraut bis hin zum Marathon. Das ist einerseits sehr praktisch, denn man kann je nach eigener Form die Endlaufstrecke beeinflussen, andererseits aber auch gelegentlich belastend, denn der innere Schweinehund meldet sich jede Runde von neuem. Ihn gilt es stets neu zu überwinden.

Mich lockte im Jahr 2008 dieser Blockmarathon. Seit ca. einem halben Jahr trainierte ich mit Magda unter der Obhut von Ulrich, Rainer und mit ein paar anderen netten Leuten für den Marathon. Eigentlich stand der Start zum ersten Marathon erst im Mai an, und mancher Trainingskilometer wollte bis dahin noch gelaufen werden. Nach jenem halben Jahr Vorbereitung also mit Kilometer-Einheiten von maximal 10–15 km je Einheit wagten wir uns auch an die 20 km. Zu mehr hatte es noch nicht gereicht. Mit diesem Training schloss ich einen Marathon nicht grundsätzlich aus. Allein hier bewegte mich schon mein gedanklicher Übermut. Mit anderen Worten: Im Februar war ich für einen Marathon längst noch nicht fit, redete mir das noch zu Wenige aber schön. Es fehlten noch die ganz langen Läufe, die wir in unserer Laufgruppe LSD-Läufe nannten, was in der Übersetzung so viel heißt wie: „L“ong-„S“low-„D“istance-Lauf. Und doch war ich von Ungeduld erfüllt.

Und insgeheim übertölpelte ich mich trickreich selbst mit der Idee: Du musst ja gar nicht einen ganzen Marathon laufen, du kannst ja jederzeit abbiegen. Tief im Untergrund aber keimte doch der Glaube an den ganzen Marathon. Er wirkte ungemein. Nur sagen wollte ich es niemanden, mich mit der abbiegenden Einschränkung zugleich selbst nicht unter Druck setzen, um doch irgendwo mehr als nur mit dem ganzen Marathon im Hinterkopf zu spielen. Was immer vor solchen Läufen in einem freigesetzt wird, ich fühlte mich – allen mitgeführten Einwendungen zum Trotz – beflügelt. Die Aussicht auf einen ganzen Marathon. Das lockte sehr. Dass mein Training zum Marathon noch nicht taugte, schob ich, jener Einwendung vom vorzeitigen Zieleinlauf innerlich Geltung gebend, leichtfertig beiseite, aber doch zugleich wissend, dass mit jeder gelaufenen Runde der Wunsch nach einem ganzen Marathon stiege. Würde ich tatsächlich die Vernunft walten lassen nach gelaufenen 34 km? Es fehlten doch dann „nur noch“ 8 km. Wird schon irgendwie werden. Und das wurde es dann auch: Irgendwie.

Das Lehrgeld beim Marathon ist oftmals Folge der eigenen Unerfahrenheit. Zumindest bei mir war es so. Die Maxime, nicht zu schnell anzugehen, ist mir wohl bewusst, allein der Übermut lässt manchmal diese Maxime schnell in den Hintergrund treten. Hier, auf vereistem Grunde, im Februar, hatte ich gemeldet im Hinterkopf die Option der 42 km mit dem vielleicht, vielleicht ... vielleicht ja schon heute.

Der Marathon in Bad Salzuflen ist nicht leicht zu laufen. Es ist ein stetiges Auf und Ab über schmale Waldwege mit manchen knappen steilen Anstiegen als auch langen sanft ansteigenden Streckenverläufen. Das Laufen bergab vollzieht sich in ähnlichen Konstellationen. Konstant zu laufen ist eigentlich eine Illusion. Permanent muss man das Tempo wechseln aufgrund des unterschiedlichen Profils. Der Winter im Jahr 2008 war zudem ein ziemlich kalter und die Strecke zum Teil tiefgefroren. Beim Laufen war so stets auch Vorsicht geboten. Zu leicht die Gefahr des Sturzes auf harten Grund. Und hier startete ich mit eben jenem Alibigedanken: Du kannst ja jederzeit abbiegen, aber vielleicht ...

Der Übermut trug mich auch im Lauf fort, und meine mehr gefühlte als tatsächliche Form trug mich weiter bei jenem Marathon über die erste Runde. An meiner Seite war Anton, ein erfahrener Marathonläufer aus meiner Lauftreffgruppe. Mein Übermut ließ mich meinen Schritt etwas schneller ziehen als gedacht und die vorab geplanten Rundenzeiten unterschreiten. Wiewohl ganz richtig ist das mit dem Übermut so nicht. Irgendwo lauerte das: Was wird mit meinem Körper, wie reagiert er darauf, wenn ich in der ersten Hälfte des Laufes schon so hurtig laufe? Mein Geist manipulierte aus dem im Grunde zu flotten Tempo ein „… das wird schon werden“. Dem Übermut stand aber ein leichtes Unbehagen gegenüber, und die Mahnung manch geübten Marathonläufers und Trainingpartners, es gerade zu Beginn nicht zu übertreiben, begleitete mich von Anfang an. Und doch ... und doch: Ich fühlte meinen Körper voller Kraft, und so zog ich den Schritt, überholte auf dem glatten unwegsamen Grund so manchen, wo ich mir nicht sicher war, ob es recht war, dies zu tun.

Erschwerend kommt in Bad Salzuflen noch hinzu, dass die Wege sehr schmal sind, sodass das Überholen – grade zu Beginn, wo sich eine große Menge in den schmalen Trichtergrund zum Waldweg hin ergießt und man erst noch seine Position finden muss – mit größerer Anstrengung verbunden ist. Dazu gilt es manchmal den Weg zu verlassen, herauszutreten auf vielleicht noch glatteren Grund oder über Wurzelgeflechte seinen Weg zu suchen. Wie man Kraft vergeudet, habe ich bei diesem Lauf ganz schnell gelernt. Links raustreten, rechts raustreten, sich vorbeidrücken, nur um in der endlosen Schlange von Läufern zwei, drei Positionen weiter vorne zu landen, dabei den nächsten schon ins Visier nehmend. Im Grunde idiotisch, aber dieser Idiotie war ich erlegen. Nur nicht zu viel Zeit gleich zu Beginn verlieren.

Die immer wieder gehörte Mahnung erfahrener Marathonläufer, was man zu Beginn zu schnell angeht, verliert man am Ende doppelt und dreifach, wurde vom Ehrgeiz überdeckt. So ließ ich mich treiben die ersten drei Runden; schon in Runde zwei spürte ich einen leichten Kräfteverschleiß, den ich mir schönredete. Erst in Runde drei, so ab Kilometer 23 oder 24, konnte keine Schönfärberei mehr überdecken: Das Tempo konnte ich nicht halten. Es brauchte dann noch ein, zwei Kilometer und vor allen Dingen eine steile, vielleicht 20 m lange steile Anhöhe, um Anton zu signalisieren: Lauf weiter, ich suche mir ein eigenes Tempo. Zugleich keimte eine kleine Unlust in mir auf, zu spüren, dass Kopf und Beine sich nicht mehr recht synchronisiert zeigten. Die Beine konnten nicht, was der Kopf zuvor noch eingefordert hatte. Und so lief Anton fort, auch kein schönes Gefühl. Es wuchs das bange Gefühl: Wie wird das jetzt wohl werden? Mich beschlich damals eine leichte Unwucht, so möchte ich es nennen. Der Körper muss sich neu finden, sein Tempo angleichen, vermindern. Zugleich geht damit einher, dass andere Läufer beginnen, einen zu überholen. Die errungene Position in der langen Schlange geht verloren. Man wird, ich wurde sozusagen durchgereicht (das entmutigt zusätzlich), bis ich eine neue, meiner Geschwindigkeit angemessene Position gefunden hatte (um mich herum nunmehr Läufer, die meinem neuen Tempo gemäß waren). Das alles fühlte sich an wie eine Niederlage, geplagt war ich zudem von Selbstzweifeln. Diese wuchsen umso mehr, als ich spürte, dass auch diese neue Position eine wackelige wurde, denn auch dieses Tempo schien meiner Laufform nicht angemessen. Ob ich das würde halten können?

Ich hatte einen Großteil meiner Kraft auf der ersten Hälfte – wie ich erkannte – vergeudet. Ich spürte das neue Tempo in den müder werdenden Beinen. Aber wieder war es mir unmöglich, mir einzugestehen, dass ich immer noch zu schnell lief. Trotz der Befürchtung, noch weiter zurückgereicht zu werden, hielt ich das Tempo, so gut ich konnte. Ich redete mir das schön: Du kannst ja aufhören nach dieser 3. Runde, wissend, dass ich der ursprünglichen Planung nachhing und ihr Folge leisten wollte. Der Hinterkopf führte nach wie vor Regie. Wenigstens noch Runde 4, so redete ich mir sogleich zu. Ein listiger Gedanke, denn im Hinterkopf wusste ich um die Idee: Dann fehlt doch nur noch eine Runde, will ich dann wirklich so „kurz“ vor dem Ziel noch abkürzen?

Mein Übermut war mir spätestens zwischen den Kilometern 25–30 abhanden gekommen. Erfüllt war ich nun von dem Bemühen, meinen Körper irgendwie über die Runden zu bringen. Und das war beileibe kein leichtes Unterfangen. Dieser immer wieder mal verflucht rutschige Untergrund kostete zusätzlich Energie. Dann die steilen Anhöhen, oftmals gar nicht lang. Aber die hatten es in sich. Berge konnte ich noch nie laufen. Da spürte ich fast unmittelbar, wie die Kraft mir entzogen wurde, so als ob ein Ventil geöffnet würde. Noch schlimmer als die kurzen, knackigen Anstiege war aber eine langgezogene, leicht ansteigende und vielleicht zwei bis drei Kilometer lange mehrfach geschwungene Kurve. Sie schien kein Ende zu nehmen. Sie wurde mir von Runde zu Runde länger. Und am Ende dieses Anstieges stand alsbald die Entscheidung an: Nächste Runde oder Abbruch? Ich hätte ja auch „Zieleinlauf“ denken können. Mir stand dabei immer nur der weniger schöne Gedanke an „Abbruch“ im Sinn. Es hätte sich wie eine Niederlage angefühlt, abzubiegen jetzt zum Ziel. Und diese Entscheidung wartete nach diesem zwar sanften, aber langen, langen Anstieg. Gegen Ende des Anstiegs konnte ich die Beine kaum noch heben. Die Oberschenkel waren so müde. Nur mein Wille ließ sie voranbewegen.

Obendrein kam das, was ich bislang nur aus Erzählungen kannte: Krämpfe – erst in der linken Wade, dann in der rechten. Endlich auch mal in den Oberschenkeln. Die Krämpfe hießen mich jedes Mal stehen zu bleiben, um den Krampf zu lösen, zu spüren, dass dies nur unzulänglich gelang, um dann irgendwie doch weiterzulaufen.

In jeder Runde läuft man zwei Verpflegungsstellen an: Zu Beginn habe ich mich im Modus Laufen mit Tee oder Wasser versorgt. Ab Runde drei sehnte ich diese Verpflegungsstellen herbei. Sie gaben mir das Alibi, stehen bleiben zu dürfen. Ich humpelte sie an, so gut ich konnte, schlürfte dort meinen Tee, genoss jede Sekunde, wissend, dass es ja noch weiterging. Eine nette Dame, die mir in Runde vier einen Becher reichte, fragte mich, dem Irrtum erlegen, ich wäre schon in der letzten Runde: „Na, aber jetzt geht es doch wohl ins Ziel? Es ist ja nicht mehr weit.“ Meine Antwort, dass ich noch eine weitere Runde müsste, entlockte ihr den ehrlichen und bestürzend echt klingenden Ausruf: „Um Gottes willen!!!“ Ich musste wohl so aussehen, wie ich mich fühlte. Aufbauend war dieser Ruf gleichwohl nicht. Er spiegelte meine innere Verfassung nur allzu deutlich wider. Du musst unglaublich Scheiße aussehen. Das traf es wohl am genauesten.

Von dieser Wasserstelle an baute ich auch Gehpausen zwischen denselben ein. Zunächst erlaubte ich mir nach jedem gelaufenen Kilometer eine Gehpause von etwa 100 m. Dann aber, endlich in Runde fünf, vielleicht noch fünf Kilometer vom Ziel entfernt, verkürzte ich dieses Intervall rapide: 200 m gehen folgten 200 m – nennen wir es – schlurfen, denn laufen war es längst nicht mehr. Unter großen Mühen und mit jeweiligem Bedauern verließ ich jedes Mal den Gehmodus, um die Simulation eines irgendwie Laufens herbeizuführen. Manchmal bekam ich aufmunternde Rufe von Vorbeilaufenden: „Komm, wir laufen zusammen.“ Jeder Versuch, einer solch freundlichen Aufforderung nachzukommen, scheiterte sehr schnell. Alsbald gab ich es auf, einem solchen Angebot auch nur wenige Meter Folge zu leisten.

Ich war mit mir nicht ganz einig, ob mich solche Angebote aufmunterten und mir halfen oder ob sie mir den letzten Rest gaben, spätestens dann, wenn ich mir eingestehen musste, das macht überhaupt keinen Sinn, es auch nur zu versuchen. Was mich wunderte, war, dass ich nicht längst ans Ende des Feldes gerutscht war. Immer wieder mal wurde ich wieder und dann wieder überholt. Letzter war ich – wie ich später feststellte – noch lange nicht. Das schien mir wie ein Wunder, bei dem Tempo (wobei die Begrifflichkeit „Tempo“ einem Euphemismus gleicht), das ich anschlug.