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Titel

Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Alle beschriebenen medizinischen Anwendungen und Methoden in diesem Buch
entsprechen dem wissenschaftlichen Kenntnisstand des 18. Jahrhunderts. Über die
Wirksamkeit oder Gefährlichkeit der einzelnen Methoden und Arzneien kann dieses
Buch keine Aussage treffen. Von einer Nachahmung wird ausdrücklich abgeraten.

ISBN 978-3-7751-7106-9 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5078-1 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

Alle beschriebenen medizinischen Anwendungen und Methoden in diesem Buch
entsprechen dem wissenschaftlichen Kenntnisstand des 18. Jahrhunderts. Über die
Wirksamkeit oder Gefährlichkeit der einzelnen Methoden und Arzneien kann dieses
Buch keine Aussage treffen. Von einer Nachahmung wird ausdrücklich abgeraten.

2. Auflage 2011

© der deutschen Ausgabe 2009
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Originally published in English under the title: Lady of Milkweed Manor
© der Originalausgabe 2007 by Julie Klassen
Published by Bethany, a division of Baker Publishing Group, Grand Rapids, Michigan, 49516, U.S.A. All rights reserved.

Übersetzung: SuNSiDe, Susanne Naumann und Sieglinde Denzel
Umschlaggestaltung: OHA werbeagentur gmbh, Grabs, Schweiz; www.oha-werbeagentur.ch
Titelbild: Mike Habermann Photography, Inc.
Cover art used by permission of Bethany House Publishers.
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg




Für meine lieben Eltern,
deren bedingungslose Liebe mir den Weg ebnete

Inhalt

Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe

Prolog

Teil I

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

Teil II

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

Teil III

33

34

35

36

Epilog

Nachwort der Autorin

Anmerkungen

Leseempfehlungen

Vorbemerkung zur deutschen Ausgabe

In der Geschichte von Charlotte Lamb spielt die Seidenblume (engl. Milkweed) eine zentrale Rolle. Die Seidenpflanze oder Seidenblume, die in Deutschland kaum bekannt ist, ist eine im Durchschnitt etwa einen Meter fünfzig hohe, ursprünglich aus Nordamerika und Kanada stammende Staudenpflanze mit sehr schönen, faustgroßen, duftenden Blütendolden. In Europa ist sie vor allem in England ausnehmend häufig zu finden und gilt dort als Unkraut, da sie zur Verwilderung neigt und ihre Wurzeln nur sehr schwer auszurotten sind. In Deutschland kommt sie eher selten vor und wird allenfalls als Kübelpflanze kultiviert.

Ihr lateinischer Name, Asclepias, ist von dem griechischen Gott der Heilkunst, Asclepios, abgeleitet und geht auf ihre umfangreichen Einsatzmöglichkeiten als Heilpflanze zurück. Ihr englischer Name, Milkweed, bezieht sich auf den milchigen Saft, den die Pflanze aus allen Pflanzenteilen absondert. Die Seidenpflanze gehört zur Familie der Hundsgiftgewächse und wurde vor allem in der Volksmedizin bei den vielfältigsten Krankheitsbildern verwendet. Als Nutzpflanze – so hatte man unter anderem versucht, die seidigen Samenhaare als Polstermaterial zu verwenden – konnte sie sich nicht durchsetzen.


Die Übersetzerin

An die Seidenblume Ornament

Keiner nenne dich Blume! Die Seidenweiche deines fiedrigen Samens
will ich nicht gering schätzen,
dich nicht herabwürdigen zum Unkraut,
du Quaste aus hermelinweicher Daune,
würdig, eine Königin zu schmücken …
… Ach könnte doch der Sänger
die dunkle Saat seiner Fantasie
auf solch kühnen, luftigen Schwingen
über ferne Länder und unentdeckte Meere schweifen lassen,
dass, unter ihr erblühend, die Menschen sagen würden:
Sieh nur diesen Wildwuchs von Liedern –
nicht ungefällig dem menschlichen Ohr!

Sonnette von Lloyd Mifflin

To the Milkweed Ornament

NONE call thee flower! I will not so malign
The satin softness of thy plumëd seed,
Nor so profane thee as to call thee weed,
Thou tuft of ermine down,
Fit to entwine about a queen …
… Ah me! Could he who sings,
On such adventurous and aërial wings
Far over lands and undiscovered seas
Waft the dark seeds of his imaginings,
That, flowering, men might say, Lo! Look on these
Wild Weeds of Song – not all ungracious things!

Sonnets by Lloyd Mifflin

Prolog

Als ich sie kennenlernte, hat sie mich anfangs eher belustigt. Sie wirkte fast ein wenig einfältig und war immer ein bisschen schmuddelig von den Morgenstunden, die sie gewöhnlich im Garten verbrachte. Wenn sie nicht draußen herumwerkelte, schien sie die ganze Zeit irgendwelchen poetischen Unsinn zu lesen und sich mit Vorliebe völlig abstruse Fragen auszudenken. Aber ich mochte sie und glaube, dass sie mich bewunderte. Ihr Vater schien durch mich hindurchzusehen. Am Schluss ließ er keinen Zweifel daran, dass er mich für absolut unpassend hielt, und zerstörte damit unsere keimende Freundschaft, noch bevor irgendetwas daraus erwachsen konnte. Ich hatte Miss Charlotte Lamb schon bald vergessen – jedenfalls bildete ich mir das ein.

Die Jahre verstrichen. Als ich sie wiedersah, war sie sehr verändert. Nicht nur ihre äußere Situation hatte sich gewandelt – sie war in keiner Hinsicht mehr die privilegierte Tochter aus gutem Hause, sondern lebte in notvoller Armut –, ihr ganzes Wesen war ein anderes. Jedenfalls schien es mir so.

Ihre Umwelt sah sie wahrscheinlich mit völlig anderen Augen. Ihr musste sie als eine Gefallene erscheinen, wie sie tiefer kaum sinken kann. Ein Geschöpf, das man vom Jackenärmel schnippt wie ein ekelerregendes Insekt. Vielleicht auch ein Insekt zum Quälen geschaffen für grausame Knaben, die sich einen Spaß machten, ihren unseligen Opfern erst einen und dann den anderen Flügel auszureißen und dann in morbider Schadenfreude zuzugucken, wie es sich hilflos am Boden krümmt.

Für den weniger böswilligen Außenstehenden ist sie ein Wesen, das er schlimmstenfalls verachtet, bestenfalls ignoriert, ganz sicher aber nicht mit einem Gefühl der Hoffnung oder gar der Freude betrachtet. Tag für Tag Zeuge zu werden, wie sie sich verwandelte, wie sie inmitten dieser schmutzigen, abstoßenden Umgebung nicht etwa verkümmerte oder vertrocknete, sondern sich täglich mehr entfaltete, um schließlich ganz Anmut zu werden, ganz Sonne, Wind und Blume.

Ich selbst kann natürlich nur aus der Entfernung zusehen – aus sicherer Entfernung für uns beide. Sicher für mich, den inzwischen verheirateten Mann, den angesehenen Arzt, und für sie, deren Ruf auf keinen Fall mehr leiden sollte – jedenfalls nicht, wenn es in meiner Macht steht, es zu verhindern.

Und doch, wenn ich sie so beobachte zwischen den Seidenblumen, muss ich mir eingestehen, dass all diese Gedanken verblassen und dass ich nur noch an sie denke.

Wie wunderschön sie ist. Nicht von einer abstrakten Schönheit, sondern mit ihrer Umgebung zu einem vollkommenen Ganzen verschmelzend, zu einem Gemälde am oberen Rand von reinstem Gold erfüllt, unter dem ein völlig außer Rand und Band geratener Garten wuchert – gold, grün, lila – Himmel und Erde. Und in der Mitte ihre stille Gestalt, die nicht zu mir, sondern zu einem fernen Horizont blickt, von dem die Sonne ihre ersten Strahlen über die Seidenblumen wirft, über ihre milchweiße Haut, ihr Haar, ihr Kleid.

Das Licht bewegt sich auf mich zu und ich bin still, sprachlos. Ein spitzer Stachel des Wartens erfüllt meine Brust und ich kann kaum atmen. Wenn ich mich nicht bewege, wird das Licht mich erreichen und das Gemälde auch mich in sich aufnehmen. Wenn ich zurücktrete, zurück in den Schatten, werde ich sicher sein, aber ich werde nicht sehen, wie sie sich schließlich erhebt und ihre Flügel ausbreitet …

Lieber Gott. Wache über mich. Und segne Miss Charlotte Lamb.

Teil I

Ornament

Die kleine Kostbarkeit, der Samen der Seidenblume,
gab ein wunderbares Spielzeug ab.
In unserem Garten wurde die Pflanze gnadenlos ausgerottet,
doch sie eroberte kühn ein Nachbarfeld und lieferte uns das Material für Märchenwiegen mit winzigen Kissen aus Silberseide.

Alice Morse Earle, Old-Time Gardens

Ornament

Gab mein Heiland nicht sein Blut,
ging mein Herr nicht aus dem Leben?
Hat sein höchstes, heil'ges Gut
für mich Sünderwurm gegeben?

Isaac Watts

1

Die Seidenblume bedarf keiner Einführung. Jedes Kind kennt und liebt ihre hübschen Samenkapseln, jedenfalls so lange, bis sie sich an dem geheimen Ort, an dem es sie gehortet hat, in eine nicht mehr wiederzuerkennende, unappetitliche Masse verwandelt haben.

F. Schuyler Mathews, Naturforscher des 19. Jahrhunderts

Sorgsam legte die zwanzigjährige Charlotte Lamb ein Kleidungsstück nach dem anderen in die Truhe. Einmal hielt sie einen Augenblick inne und wog das seidige Gewicht einer himmelblauen Ballrobe auf dem Arm. Es war ihr Lieblingskleid, ein Geschenk ihrer geliebten Tante Tilney. Sie streichelte noch einmal zärtlich darüber und packte es dann sorgfältig zu den anderen Gewändern. Als Nächstes kamen die Ausgehkleider, dann die Abendkleider und die hellen Tageskleider, gefolgt von den dazu passenden Capes und Hüten, dem Haarschmuck und schließlich den langen Handschuhen. Zum Schluss kamen die Unterröcke und das nagelneue Fischbeinkorsett. Das Korsett durfte auf keinen Fall fehlen.

Wieder wandte sie sich zu ihrem rasch sich leerenden Kleiderschrank und griff nach einem einfachen taubengrauen Musselinkleid, das an Ellbogen und Ärmeln bereits ziemlich abgetragen war. Als sie es aufs Bett legte, kam ihr ein Gedanke. Sie unterbrach ihre Tätigkeit, verließ ihr Zimmer und ging auf Zehenspitzen über den Gang zum Zimmer ihrer Mutter. Vor der Tür blickte sie kurz über die Schulter und als sie niemand sah, drückte sie so leise wie möglich die Türklinke hinunter und ging hinein. Die Fensterläden waren geschlossen. Sie trat ans Fenster und stieß sie auf. Kaltes, graues Morgenlicht fiel in den Raum. Sie ging zurück und schloss die Tür. Dann lehnte sie sich gegen die getäfelte Wand, schloss die Augen und gab sich der Stille und dem Frieden hin, die sie in diesem Zimmer stets empfunden hatte. Sie war lange nicht mehr hier gewesen.

Plötzlich hörte sie von irgendwoher im Pfarrhaus ein lautes, klapperndes Geräusch. Erschrocken fuhr sie zusammen, obwohl sie keinen Grund hatte zu fürchten, dass man sie hier drinnen fand. Wahrscheinlich war es nur Tibbets, die Feuer machte. Bis ihr Vater aufwachte, würden noch Stunden vergehen. Doch dann erinnerte sie die Erkenntnis, dass bereits jemand auf und bei der Arbeit war, daran, dass sie sich beeilen musste, wenn sie ohne großes Aufhebens das Haus verlassen wollte. Entschlossen trat sie an den Schrank und öffnete die Türen. Ja, die Kleider ihrer Mutter waren noch da. Sie strich nachdenklich über die Gewänder aus Spitze, Samt und Seide, fand aber nicht, was sie suchte. Hatten ihr Vater oder Beatrice es womöglich weggeworfen? Sie schob die Bügel beiseite und schaute unten im Schrank nach, hinter den ordentlich aufgereihten Schuhen. Etwas Braunes fiel ihr ins Auge. Sie griff danach und zog ein zerknülltes lehmfarbenes Bündel hervor, das offensichtlich vom Bügel gerutscht war. Es war ein schlichtes, weit geschnittenes Kleid – das Gartenkleid ihrer Mutter.

Sie legte es über den Arm und ging hinüber zu dem Nachtkästchen, auf dem etliche Bücher standen, getraute sich aber nicht, die Bibel zu nehmen, weil sie wusste, dass sie aus der Pfarrbibliothek stammte. Stattdessen wählte sie eine kleine, leichte Taschenausgabe des Neues Testaments und der Psalmen. Es war eine Ausgabe für Damen, eine außergewöhnlich hübsche Edition, in Leinen gebunden, mit einem kunstvollen Muster aus Vögeln und Blumen in Seidenstickerei und einem feinen Metallfaden. Das Büchlein war ein Geschenk der Schwester ihrer Mutter gewesen und Charlotte glaubte nicht, dass ihr Vater etwas dagegen hatte, wenn sie es mitnahm.

Mit einem letzten Blick auf die Sachen, die ihrer Mutter gehört hatten – die Haarbürste und die Kämme, den Kameen-Anhänger und die Schmetterlingsbrosche –, verließ sie das Zimmer und huschte in ihr eigenes zurück. Sie rollte das Kleid ihrer Mutter so eng wie möglich zusammen und stopfte es in einen kleinen ledernen Handkoffer. Dazu kamen das abgetragene graue Kleid, Unterröcke, Strümpfe, Hauspantoffeln und Unterwäsche. Einen Schal, einen Morgenmantel, Handschuhe und das Neue Testament packte sie in eine Reisetasche. Ihre beiden praktischsten Hauben wanderten in eine Hutschachtel. Taschentücher und das wenige Kleingeld, das sie besaß, verstaute sie in einem Ridikül, einem Beutelchen, das sie am Handgelenk trug.

Sie warf noch einen Blick auf den Schrankkoffer, der gleichsam die Essenz ihrer guten Jahre, ihrer glücklichen, unbeschwerten Jugend enthielt, und drückte entschlossen den Deckel zu. Dann befestigte sie den Reisehut auf ihren hochgesteckten braunen Locken, ergriff Koffer, Reisetasche, Ridikül und Hutschachtel – mehr konnte sie nicht tragen – und verließ das Zimmer. Leise schlich sie die Treppe hinunter. Unten in der Halle warf sie einen raschen Blick auf das silberne Tablett, das auf dem Tischchen stand. Der Brief von gestern lag noch immer dort, unbeantwortet. Ihre Cousine hatte sie von der »freudigen Nachricht« in Kenntnis gesetzt und geschrieben, wie sehr sie sich auf »das große Ereignis freue, das diesen Herbst eintreten soll«. Beatrice hatte die hübschen Lippen verzogen und gemeint, es verursache ihr Übelkeit, von derart privaten Dingen zu lesen, zumal von einer Frau in Katherines fortgeschrittenem Alter. Charlotte hatte dazu geschwiegen.

Nun blieb sie gerade lange genug stehen, um über Katherines schön geschwungene Handschrift und den etwas verschmierten Londoner Poststempel auf dem Briefumschlag zu streichen. Mit einem leisen Seufzer setzte sie ihren Weg fort. Sie war schon fast an der Tür, als sie die Stimme ihres Vaters hinter sich hörte. Er war im Salon.

»Du gehst also.« Es war keine Frage.

Sie drehte sich um. Durch die offene Tür konnte sie ihn sehen. Er saß zusammengesunken auf dem Sofa vor dem Kamin. Sein ergrauendes Haar war wirr und ungekämmt – völlig untypisch für ihn – und er war noch im Morgenmantel. Sie spürte, wie sich ihr Hals zusammenzog, und konnte nur nicken. Ob er wohl jetzt, im Augenblick des Abschieds, ein Zeichen der Zuneigung zeigen würde? Würde er ihr Hilfe anbieten, wenigstens ein versöhnendes Wort finden oder ein letztes Bedauern zum Ausdruck bringen?

Mit einer Stimme, die noch rau war vom Schlaf, aber auch vor Verachtung, sagte er: »Mein einziger Trost ist, dass deine Mutter, Gott schenke ihrer Seele Frieden, diesen Tag nicht erleben muss.«

Die Worte trafen sie wie ein Messer, dabei hätte sie es eigentlich nicht mehr so empfinden dürfen. Er hatte dergleichen, ja Schlimmeres, oft genug gesagt. Charlotte drängte die Tränen gewaltsam zurück. Sie verließ das Pfarrhaus und schloss leise die Tür hinter sich. Im Garten sah sie sich ein letztes Mal um und nahm alles noch einmal in sich auf. Da waren die sauber getrimmten Hecken, die Buxley noch immer in die Form schnitt, die ihre Mutter so geliebt hatte. Die meisterhaft angelegten Blumenrabatten mit ihren erlesenen Farbzusammenstellungen aus Pflanzen unterschiedlicher Höhe und Wuchsart – Rittersporn, Prachtspieren, Kornblumen, Glockenblumen, gelbe Taglilien. Charlotte hatte sie im Gedenken an ihre Mutter liebevoll gehegt und gepflegt – bis zum heutigen Tag. Tief sog sie den schweren, süßen Duft von Veilchen und lilafarbenen Skabiosen ein. Sie hatte nicht die Absicht, eine Blume zu pflücken und mitzunehmen, eine Blüte, die ohnehin nur verwelken würde, bis sie an ihrem Bestimmungsort angelangt war, doch dann sah sie sie. Die Seidenblume am äußersten Rand des so aufwendig zu jätenden Gartenkressebeetes, die Buxley immer Billy-komm-bald-zurück nannte. Wie hatte sie sie übersehen können? Sie ging zu dem Unkraut hinüber und zerrte mit ihrer freien Hand daran, aber der Stängel gab nicht nach. Sie stellte ihre Tasche und den kleinen Koffer auf den Boden und zog mit beiden Händen, bis das ganze widerspenstige Ding samt Wurzeln herauskam. Sie wollte den Garten ihrer Mutter in vollkommenem Zustand zurücklassen. Doch für wie lange? Wer wird für deinen Garten sorgen, Mutter? Buxley wird sicher tun, was er kann, aber er wird nicht jünger und er muss die Pferde versorgen und die ganze andere schwere Arbeit tun, und darunter leidet natürlich der Garten. Und Beatrice hat absolut keinen Sinn für den Garten, das weißt du ja.

Aus einer sentimentalen Anwandlung heraus pflückte Charlotte eine kleine purpurfarbene Blütendolde von der Seidenpflanze ab, schnupperte kurz daran – sie roch überraschend süß – und steckte sie dann in ihren Beutel. Den Stängel warf sie auf den Komposthaufen, an dem sie auf dem Weg nach Church Hill vorbeikam. Bei einem letzten Blick zurück auf das weiße Pfarrhaus bemerkte sie in einem der oberen Fenster eine Gestalt. Beatrice. Ihre Schwester stand bewegungslos, mit versteinertem Gesicht. Als sie sich schließlich vom Fenster abwandte, drehte sich auch Charlotte um. Einen Augenblick lang wünschte sie sich, sie hätte sich als Erste abgewandt. Zwei Minuten später, zur erwarteten Ankunftszeit, kam die Postkutsche.

»Hallo, Miss Lamb«, rief der Postkutscher, als er seine kräftigen Pferde angehalten hatte.

»Guten Morgen, Mr Jones.«

»Möchten Sie mitfahren ins Dorf?«

»Ja, vielen Dank.«

Er nahm ihr Gepäck und half ihr hoch. »Sie besuchen wohl wieder mal Ihre Tante?« Er stellte die Reisetasche neben sie.

Sie wollte nicht mehr lügen als unbedingt nötig. »Ich freue mich immer so, wenn ich bei ihr bin.«

»Das glaube ich gern. Ihre Tante und Ihr Onkel sind feine Menschen. Hab' nie bessere gekannt.«

Als die Kutsche anfuhr, umklammerte sie fest ihre Reisetasche. Ihr weiter Umhang schützte sie vor dem feuchten Morgenwind, vor Schaulustigen – und auch vor dem Schlag, den das letzte Lebewohl ihres Vaters für sie bedeutet hatte. Sie würde nicht weinen, nicht jetzt, nicht hier, wo die Dorfbewohner, die sie kannte, sie sehen und auf die Idee kommen konnten, dass sie nicht einfach in die Ferien fuhr, sondern eine sehr viel freudlosere Reise antrat.

Beim »Checkers Inn« half der Kutscher ihr beim Aussteigen. Diesmal nahm sie nicht die Kutsche nach Hertfordshire, zu Tante Tilney, sondern stieg in die Kutsche nach London.

Ornament

Das schwarze, geschlossene Gefährt rumpelte durch den Londoner Westen. Als der Kutscher die müden Pferde endlich mit einem lauten Brrrrr zum Halten gebracht hatte, erhob sich Charlotte hastig von ihrem Sitz, sammelte ihre Gepäckstücke und stieg aus, bevor der Kutscher ihr seine Hilfe anbieten konnte.

Eilig ging sie die Oxford Street hinauf, vorbei an mehreren Ladengeschäften – Schreibwaren, Tapeten, Porzellan, Glaswaren und Leinzeug. In der belebten Tottenham Court Road bog sie ab in Richtung Norden. Hier residierten Silberschmiede und Apotheker; dazwischen lagen alles andere als elegante Wohngebäude. Sie trat von den Pflastersteinen herunter und durchquerte die feuchten engen Gower Mews. Am Ende der Straße, zwischen Marktkarren und Mistwägen, blieb sie kurz stehen und blickte zurück, um sich zu vergewissern, dass sie nicht beobachtet wurde. Dann schlüpfte sie durch die Hintertür des Old Towne Tea Shoppe, den sie jedoch, mit einem entschuldigenden Nicken in Richtung der Besitzerin, durch die Vordertür sogleich wieder verließ. Jetzt befand sie sich in der Gower Street, wo sie zum Schutz vor dem feinen Nebel und auch vor neugierigen Blicken ihren schwarzen Schirm öffnete. Mit gesenktem Kopf tat sie einen großen Schritt über die mit Unrat übersäte Gosse und schritt dann rasch und entschlossen weiter aus. Unter dem Straßenschild der Store Street blieb sie schließlich stehen und las noch einmal die Wegbeschreibung durch, die ihre Tante ihr aufgeschrieben hatte. Sie war an ihrem Bestimmungsort angekommen.

Charlotte sah auf. Sie stand vor einem alten Patrizierhaus, im Schatten großer Bäume gelegen, das sich wie drohend vor ihr erhob. Es war ein riesiges Gebäude mit zwei einander gegenüberliegenden dunklen Flügeln und einer kastenförmigen Mansarde, die über einem eindrucksvoll geschwungenen Portal wachte. Vor hundert Jahren mochte dies vielleicht ein ansehnliches Haus gewesen sein, die Bausubstanz wirkte noch immer solide, dabei aber kahl und freudlos – feuchtfleckiges Mauerwerk, strenge Linien, bar jeden Schmucks bis auf eine Hecke am Rand der moosbewachsenen Steine der Einfahrt. Sie sah kein Namensschild am Haus, was sie in ihrer Überzeugung, dass sie hier tatsächlich an der richtigen Adresse war, nur noch bestärkte.

Jetzt erst gestattete sie sich zu weinen. Hier, inmitten all der Menschen, die sie nicht kannten und sich keinen Deut um sie scherten, spürte sie unvermittelt wieder den kalten Stachel der Ablehnung ihres Vaters und empfand schmerzhaft den Verlust ihres Heims. Doch sie konnte seinen Abschiedsworten nicht beipflichten. Er mochte vielleicht froh sein, dass ihre Mutter diesen Tag nicht erlebte – Charlotte war es nicht.

Sie dachte an ihre teure Mutter, die geliebte Lillian Lamb, die Wärme und Mäßigung, eine zuverlässige, von tiefer innerer Freude getragene Ruhe ins Pfarrhaus und insbesondere in das Leben des Reverend Gareth Lamb gebracht hatte.

Charlotte hoffte verzweifelt, dass ihre Erinnerungen an ihre Mutter, die nun schon seit fünf Jahren tot war, nicht in ihr verblassen würden, nun, da sie alles verloren hatte, was ihr vertraut war – das Zimmer ihrer Mutter, ihr Porträt, den selbstvergessenen Blick ihres Vaters, der anzeigte, dass er an sie dachte. Seine Abschiedsworte hallten noch immer in ihrem Kopf wider und sie schwankte leicht, wenn sie an die Enttäuschung dachte, die ganz sicherlich das Gesicht ihrer Mutter überschattet hätte, und dennoch wünschte sie sich, dass ihre Mutter bei ihr wäre, diese heruntergekommene Straße mit ihr entlangginge, sie tröstete, wie sie es immer getan hatte, und ihr sagte, dass alles gut werden würde.

Ich wünschte, ich hätte deinen Glauben, Mutter. Ich wünschte, ich wäre eine nur halb so feine Dame, wie du es warst – oder auch nur eine halb so sittsame Pfarrerstochter. Hättest du mir vergeben, auch wenn Vater es nicht will?

Als Charlotte sich dem hoch aufragenden grauen Gebäude, das für die nächste Zeit ihr Heim werden sollte, näherte, fielen ihr unwillkürlich die geheimnisvoll verschlossenen Fensterläden im Erdgeschoss auf.

Und dann sah sie die Seidenblumen.

Hier gab es keinen richtigen Garten oder wenn es einmal einen gegeben hatte, war er längst kleinen Inseln hohen Grases und ungehindert sprießenden Flecken mit Seidenblumen gewichen, die sich an der gesamten Mauer entlangzogen, vor der Charlotte stand.

Ihr Vater wäre entsetzt gewesen, ja nicht einmal ihre Mutter hätte sich diesem wuchernden Unkrautdickicht genähert. Charlotte seufzte. Sie nahm an, dass die Gartenanlage noch das geringste der Probleme war, vor denen die Frauen standen, die dieses Haus bewohnten. Und das gilt auch für mich.

Aber ausgerechnet Seidenblumen? Das Gewächs war der Schrecken eines jeden Gärtners. Seine hartnäckigen Wurzeln bildeten heimtückische Ableger, die kaum leichter auszureißen waren als die pfählerne Hauptwurzel. Außerdem breitete es sich nicht nur durch unterirdische Sprossen aus, jedes Jahr im Herbst war zudem die Luft voll von seinen fruchtbaren Samen. Genau das war offenbar hier geschehen – unverwüstliche Seidenblumensamen waren eingedrungen und hatten sich ungehindert des größten Teils der Rasenfläche bemächtigt.

Hätten sie nicht wenigstens einen Jungen anstellen können, der diese Pest ab und zu mit einer Sense mäht?, fragte sich Charlotte. Die Pflanzen waren ja ganz hübsch, wenn sie blühten, doch wenn erst einmal die graugrünen Samenkapseln zu einem stumpfen Silber vertrocknet waren, besaßen die schilfigen Stängel keinerlei ästhetischen Reiz mehr.

Vielleicht hatte der Anwalt, ein Freund ihres Onkels, ihnen ja falsche Informationen über diesen Ort gegeben. Oder Tante Tilney hatte irgendetwas falsch verstanden. Ihre Tante hatte ihr in verschwörerischem Ton anvertraut, dass es hier besser und auch diskreter zugehe als in anderen vergleichbaren Einrichtungen. Charlotte hatte den Eindruck gewonnen, dass die Empfehlung von einem Londoner Anwalt gekommen war. Ihr Vater wusste nichts über das Arrangement, er hatte Charlotte lediglich das Versprechen abverlangt, die Sache so lange wie möglich geheim zu halten. Ansonsten schien es ihn wenig zu kümmern, wohin sie gehen und wie sie für sich sorgen würde. Er konnte es sichtlich kaum erwarten, dass sie aus seinem Leben verschwand.

Charlotte fragte sich, ob ihre Mutter den Mann, mit dem sie so lange verheiratet gewesen war, heute noch wiedererkennen würde. Nicht, dass Gareth Lamb sich äußerlich sehr verändert hatte, abgesehen vielleicht von den leicht ergrauten Schläfen und einer ein wenig gewachsenen Leibesfülle, doch sein Verhalten war ein völlig anderes geworden. Er war schon immer ein strenger – ja selbstgerechter – Mann gewesen, aber jetzt war diese Eigenschaft ungleich viel stärker hervorgetreten. Seine Gedanken kreisten einzig und allein um eine Frage: Würde der ›Zwischenfall‹ seine Karriere und Beas Chancen auf eine passende Heirat ruinieren?

Es tut mir so entsetzlich leid. Ich nehme an, Vaters Zorn ist berechtigt und gerecht. Aber es fühlt sich nicht so an. Wenn du nur hier wärst, um ihn milder zu stimmen. Um mir beizustehen.

Doch ihre Mutter war tot. Und so hatte Charlotte niemand, der sie auf ihrem Weg begleitete.

Ornament

Auf ein einmaliges Klopfen hin öffnete eine dünne Frau mit reizlosem Gesicht, kaum älter als Charlotte, die Tür. Sie führte sie aus der Eingangshalle in ein großes Esszimmer und von dort weiter in ein kleines Arbeitszimmer, in dem sie sie mit den Worten, »die Vorsteherin wird gleich da sein«, allein ließ. Und tatsächlich, keine zwei Minuten später betrat eine streng aussehende, aber durchaus attraktive Frau in den Vierzigern den Raum. Ihr dunkles Kleid und das straff zurückgenommene Haar verliehen ihr ein hoch offizielles, Furcht einflößendes Auftreten, das ihrem Titel alle Ehre machte. Die strenge Erscheinung der Frau flößte Charlotte Angst ein, doch als sie sich setzte, gewahrte sie eine Art grimmiges Wohlwollen in ihren Augen.

»Ich bin Mrs Moorling, die Vorsteherin von Manor House. Kann ich Ihnen helfen?«

Charlotte erhob sich auf zitternden Beinen und drückte der Frau einen Brief des Anwalts und eine Banknote in die Hand. Sie brachte kein Wort heraus.

Mrs Moorling legte das Geld kommentarlos in eine Schreibtischschublade und blickte dann kurz auf den Brief, den der Anwalt auf Bitten ihres Onkels geschrieben hatte. »Ich verstehe. Ich fürchte, wir haben im Augenblick kein Einzelzimmer frei, aber Sie werden so bald wie möglich eines bekommen. Bis dahin werden Sie ihr Zimmer teilen müssen.«

»Ich verstehe.«

»Ihr Name ist« – die Frau sah in den Brief – »Miss … Smith?«

»Ja, Smith. Charlotte Smith.«

Mrs Moorling zögerte nur einen ganz kurzen Augenblick, bevor sie mit völlig ausdrucksloser Miene weitersprach, doch Charlotte wurde den Eindruck nicht los, dass die Frau ihre Lüge durchschaut hatte. »Bevor ich Sie aufnehme, muss ich Ihnen ein paar Fragen stellen.«

Charlotte schluckte schwer.

»Ist dies das erste Mal, dass Sie eine solche Einrichtung in Anspruch nehmen?«

»Ja, natürlich.«

»Das ist keineswegs ›natürlich‹, Miss Smith. Es gibt leider nur zu viele, die nicht aus ihren Erfahrungen lernen. Ich muss Ihnen mitteilen, dass das Manor House für ledige Mütter ausschließlich ein Ort für bedürftige ledige Frauen ist, die ihrer ersten Niederkunft entgegensehen. Unser Ziel ist es, unsere Patientinnen wieder zu einem moralisch untadeligen Lebenswandel zu befähigen.«

Charlotte blickte zu Boden und spürte, wie ihr die Röte der Verlegenheit ins Gesicht stieg und das Blut in ihren Ohren rauschte. Sie hörte das Rascheln von Papier und wusste, dass die Hausdame den Brief nochmals las.

»Der Brief bezeugt Ihren Charakter und Ihren gesellschaftlichen Hintergrund, allerdings habe ich im Moment nicht die Zeit, das nachzuprüfen.«

»Mrs Moorling, ich versichere Ihnen, ich war noch nie in einer solchen Notlage … ich hätte es nie für möglich gehalten, dass ich überhaupt je in eine solche Situation geraten könnte.«

Was für eine Wortwahl, dachte Charlotte grimmig.

Sie zwang sich, der älteren Frau in die Augen zu sehen. Mrs Moorling schaute sie einen Moment lang direkt an, dann nickte sie.

»Gibbs wird Ihnen Ihr Schlafzimmer zeigen.«

Ornament

Gibbs, die reizlose, beängstigend dünne junge Frau, die sie eingelassen hatte, führte sie zurück in die Eingangshalle und dann nach rechts, in den zur Straße hin gelegenen Flügel des L-förmigen Gebäudes. Charlotte musste sich beeilen, um ihr folgen zu können. Sie folgte ihr durch den langen Flur zu einer etwa in der Mitte des Gangs gelegenen Tür und blickte in einen nur von einem spärlichen Licht erhellten Raum mit hoher Decke und einem gewaltigen Kamin – einst sicherlich Teil eines eleganten Salons. Die Kammer, die durch die Aufteilung des ehemaligen Raumes entstanden war, enthielt lediglich ein einziges, ärmliches Bett, kaum so breit, wie Charlotte groß war. Auf beiden Seiten des Bettes stand je ein kleiner Tisch mit einem Leuchter aus Messing. Vor der nächstgelegenen Wand befand sich ein Stuhl. An der gegenüberliegenden Wand standen drei schlichte Holztruhen, die zweifellos die Besitztümer der vorübergehenden Bewohnerinnen des Zimmers aufnehmen sollten.

»Sie wohnen mit Mae und Becky zusammen, beides schlanke Mädchen – Glück für Sie. Wahrscheinlich besuchen sie gerade eine Zimmernachbarin, aber sie sind sicher bald zurück. Unter der Treppe ist ein Wasserklosett, vor dem sich allerdings gewöhnlich eine Schlange bildet. Für nächtliche Notfälle stehen unter dem Bett Nachttöpfe. Wir wissen, wie es euch Wöchnerinnen geht. Jede ist selbst für das Leeren ihres Nachttopfes verantwortlich, jedenfalls bis zum neunten Monat. Unsere Ärzte sind der Ansicht, dass Bewegung gesund ist. Alle Mädchen hier haben Pflichten, die sie erfüllen müssen, solange sie dazu imstande sind. Auch Ihnen wird morgen beim Frühstück eine Aufgabe zugewiesen werden. Um acht Uhr. Haben Sie noch Fragen?«

Charlotte schwirrte der Kopf vor Fragen, aber sie verneinte nur stumm.

»Dann gute Nacht.« Gibbs verließ das Zimmer.

2

Über vergossene Milch soll man nicht weinen.
Warum beklagen, was geschehen ist und nicht ungeschehen gemacht werden kann?

Sophokles

Sie weiß nicht, ist es ein Traum oder Erinnerung – aber es ist ein wunderbares Gefühl. Sie ist in Sharsted Court und tanzt mit einem jungen Herrn, dessen Namen sie nicht mehr weiß oder den sie vielleicht auch nie kannte. Sie spürt den zurückhaltenden Druck seiner Hand auf ihrer behandschuhten Handfläche und sieht die warme Bewunderung in seinem scheuen Blick. Auch all die anderen bewundernden Blicke nimmt sie wahr, die ihr folgen, während sie sich mühelos den vorgeschriebenen Schritten des Tanzes hingibt. Sie empfindet, so hofft sie jedenfalls, keinen eitlen Triumph, nur reines Erstaunen und Entzücken angesichts der Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wird. Ihre Schwester Beatrice ist heute Abend nicht anwesend. Die schöne Bea musste mit einer Erkältung zu Hause bleiben. Es tut ihr zwar leid für sie, aber es ist dennoch herrlich, so umschwärmt zu sein, so begehrt, so reizend in ihrem himmelblauen Seidenkleid. Sie hat Bewunderer zuhauf und das ganze Leben liegt leuchtend vor ihr.

Die Musik endet und der junge Mann mit den goldenen Wimpern auf den blassen Wangen begleitet sie vom Tanzboden zurück. Ein flüchtiger Blick zeigt ihr grüne Augen und rotgoldenes Haar, doch als sie wieder hinsieht, hat schon ein anderer Tanzpartner seine Stelle eingenommen. Kühn legt er den Arm um sie, seine braunen Augen funkeln selbstsicher, ja dreist. Sie wendet sich ab, doch sie spürt seine Hand herrisch an ihrer Schulter, die sie wieder zu sich dreht. Sie möchte fliehen, die zudringliche Hand abschütteln.

Stattdessen wachte sie auf.

Verschwommen erkannte sie im Halbdunkel eine herabhängende Hand. Jemand, der im Bett neben ihr lag, hatte den Arm um sie gelegt. Bea? Nein, antwortete ihr Verstand. Du bist nicht mehr zu Hause. Ein tiefes Grauen, schwarze, bittere Furcht stiegen in ihr auf.

Bitte, bitte, lass alles ein Traum sein. Oh Gott, bitte …

Sie tastete unter die Decke und legte die Hand auf ihren Bauch, hoffte, ihn glatt und flach vorzufinden.

Bitte.

Ihre Hand fand eine weiche Wölbung. Sie zuckte zusammen, die Augen immer noch fest geschlossen.

Es darf nicht sein. Es darf einfach nicht sein.

Aber es war so.

Charlotte, die auf ihrer Seite ganz an die Kante des durchgelegenen Bettes gerutscht war, schlug widerwillig die Augen auf. Die Hand war noch da, unheimlich wie die Hand in ihrem Traum. Vorsichtig schob sie den Arm von ihrer Schulter und rutschte noch etwas weiter nach außen, bis sie fast aus dem Bett fiel. Ihr Rücken schmerzte. Unfähig, eine bequeme Lage zu finden, drehte sie sich um. Durch die Bewegung, die ihr schwerer fiel, als sie sich noch vor einem halben Jahr hätte vorstellen können, quietschte das Bett. Nun lag sie Nase an Nase mit Mae, die am Abend zuvor offensichtlich Zwiebeln gegessen hatte. Auf der anderen Seite des Bettes klammerte sich eine weitere junge Frau an den Bettrand. Drei Frauen, sechs Seelen, auf einer schmalen Lagerstatt. Sie lagen nebeneinander wie Würstchen in einer Pfanne und wie diese immer wieder gleichzeitig gewendet werden, drehte Mae sich jetzt ebenfalls um und auch die dritte junge Frau drehte sich auf die andere Seite, ohne aufzuwachen. Charlotte konnte sich nicht an ihren Namen erinnern. Sie wirkte sehr jung.

Charlotte war bereits zu Bett gegangen, als Mae hereingekommen war. Sie war todmüde gewesen und hatte gerade versucht, ihr Kopfkissen aufzuschütteln. Eine hübsche kleine Person, die etwa in ihrem Alter sein musste, war hereingekommen, hatte ihren Namen gemurmelt, sich ausgekleidet und war neben Charlotte ins Bett gekrochen, als hätten sie schon ihr ganzes Leben lang das Bett geteilt. Charlotte war selbst überrascht, dass sie kurz darauf tatsächlich eingeschlafen war. Sie hörte zwar noch, wie ihre zweite Zimmergenossin hereinkam, war aber zu müde, um sich ihr vorzustellen. Sie wollte nur noch schlafen. Im Schlaf konnte sie in ihr altes Leben zurückkehren.

Sie war kurz davor, wieder einzuschlafen, als sie aus einem anderen Teil des Hauses einen Schrei vernahm. Sie setzte sich so plötzlich auf, dass Mae neben ihr erwachte und stöhnte.

»Lieg doch still!«

»Ich habe etwas gehört.«

»Was denn?«

»Jemand hat geschrien.«

»Daran solltest du dich gewöhnen.« Mae drehte sich um, ihr langer roter Zopf landete auf Charlottes Kissen. »Die Babys kommen hier immer nachts auf die Welt.«

»Was?«

»Hast du noch nie eine Frau in den Wehen gehört?«

»Oh – nein, das habe ich nicht.«

Mae antwortete nicht und Charlotte vermutete, dass sie bereits wieder eingeschlafen war. Sie saß ganz still und lauschte. Aber sie hörte nichts mehr. Schließlich legte sie sich zurück, um wenigstens noch ein paar Stunden unruhigen Schlafs zu finden.

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Am Morgen wachte Charlotte auf und stellte fest, dass sie allein im Bett lag. Sie erhob sich rasch, schlüpfte in ihr graues Tageskleid und ging dann dem Geräusch von Schritten und weiblichen Stimmen nach, durch die Eingangshalle in das große Esszimmer, das sie gestern auf dem Weg zu Mrs Moorlings Arbeitszimmer gesehen hatte. Der Raum besaß auf beiden Seiten Türen und war mit Tischen vollgestellt – er diente offensichtlich sowohl als Speise- als auch als Arbeitszimmer. Dem Beispiel der anderen folgend, trat Charlotte an einen langen Tisch an der Wand und legte sich ein Stückchen Brot und einen zähen Brocken kaltes Hammelfleisch auf einen Teller. Dazu goss sie sich eine Tasse schwachen, aber zum Glück warmen Tee ein. Sie setzte sich allein an einen Tisch, aus Angst vor den Fragen, die die anderen Mädchen ihr zweifellos stellen würden.

Sie hatte ihr Brot noch nicht einmal zur Hälfte gegessen, als Gibbs, die Helferin, die sie am Abend zuvor in ihr Zimmer begleitet hatte, mit einem schweren, ledergebundenen Buch in der Hand erschien und vor ihr stehen blieb. Sie sprach mit kühler Tüchtigkeit. Ihre ausdruckslosen Augen blickten Charlotte nur kurz an und richteten sich sogleich wieder auf das Buch in ihrer Hand.

»Nun also, wozu taugen Sie?«

»Wie bitte?«

»Wofür kann man Sie einsetzen? Waschen, kochen, nähen …?«

»Ich habe Erfahrung in Handarbeit. Sticken und …«

»Gut. Dann werden Sie Strümpfe stopfen. Zweiter Tisch … los, an die Arbeit.«

Charlotte nahm noch einen Bissen Brot, ließ den fettigen Hammel liegen und trank ihren Tee aus. Sie trug das Geschirr zurück zum Buffet und ging schließlich, als ihr keine Entschuldigung mehr einfiel, zögernd zu dem Tisch, den Gibbs ihr gezeigt hatte. Im Vorübergehen sah sie die geneigten Köpfe der anderen, eng zusammengesteckt, wie auf eine Schnur gezogene Perlen. Sie hörte ihr Tuscheln und Lachen und fürchtete, dass sie über sie sprachen. Die erste, die den Kopf hob und in Charlottes Richtung blickte, war eine blonde Frau mit langem, grobknochigem Gesicht und überraschend freundlichen Augen.

»Setz dich doch.« Sie räumte ihre Stopfsachen beiseite, sodass Charlotte sich neben sie setzen konnte.

»Danke«, sagte Charlotte leise, mit niedergeschlagenen Augen.

»Du bist neu hier.«

»Ja.« Charlotte zwang sich zu einem Lächeln und machte sich an die Arbeit. Sie versuchte, einen Strumpf zu finden, an dem noch genügend Material übrig war, um ihn zu stopfen.

»Ich bin Sally, Sally Mitchell.« Die blonde Frau lächelte, wobei sie zwei nicht ganz einwandfreie Zahnreihen entblößte. Ihre Vorderzähne standen leicht vor und waren auch nicht ganz gerade. Aber es war ein freundliches Lächeln. Anders als die prüfenden Blicke aus schmalen Augen, die die anderen ihr zuwarfen.

»Ich bin Miss Charlotte … Smith.«

»Miss Charlotte, ja?«, meinte eine andere Frau.

Charlotte blickte rasch auf und sah einen braunen Wuschelkopf, eine spitze Nase, einen Mund wie ein Strich.

»Und ich bin Lady Bess Harper«, flötete die Frau mit hoher affektierter Stimme und streckte geziert die Hand aus, wie zu einem Handkuss.

Die anderen Frauen lachten.

Bess lehnte sich zurück und sah Charlotte kalt an. »Ich frage mich echt, warum du hier in Milkweed Manor bist und nicht die Straße ein Stück weiter oben.«

»Was meinen Sie?«

»Queen Charlotte ist doch oben am Bayswater Gate. Da gehörst du eigentlich hin, mit deinem Namen und allem.«

»Queen Charlotte?«, wiederholte Charlotte verwirrt.

Mae, ihre hübsche Schlafgenossin, sagte: »Vielleicht meint sie, eine Königin pro Ort ist genug und möchte lieber unsere sein.«

»Aber nein, ich …«

An diesem Punkt warf Bess Harper, die dünnen Lippen missbilligend verkniffen, sodass sie fast verschwanden, ein: »Das Queen Charlotte Wöchnerinnen Hospital. Willst du behaupten, du hast noch nichts davon gehört?«

»Nein. Sollte ich?«

Bess sah vielsagend auf ihre Taille und Charlotte kämpfte gegen den Drang an, beschämt den Blick zu senken. Sie fädelte einen Faden ein und sagte leise: »Es ist mein erstes Mal.«

»Natürlich«, sagte Mae, »wie für uns alle.«

Bess grinste boshaft. »Klar, für mich auch. Das sowieso.«

Sally beugte sich zu Charlotte hinüber und erklärte freundlich: »Sie nehmen hier nur Mädchen, die vorher noch nie schwanger waren.«

»Sie wollen uns bessern«, sagte Bess. »Uns auf den geraden und schmalen Weg der Tugend zurückführen und so weiter.«

»Einen Fehler können sie vergeben«, seufzte Sally. »Aber wenn es noch einmal passiert, ist man erledigt.«

»Ja«, sagte Charlotte. »Ich glaube, die Vorsteherin sagte, das Manor House sei für ›bedürftige ledige Frauen, die ihr erstes Kind erwarten‹.«

»Bedürftig? Also bedürftig bin ich«, sagte Bess. »Oder was meint ihr?«

Mae nickte. »Und wie.«

»Ich glaube, wir alle bedürfen jetzt einer Tasse Tee«, sagte Bess.

»Einverstanden.« Sally grinste und erhob sich. »Und ein paar Marmeladentörtchen.«

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Ab und zu blickte Charlotte auf, sah sich im Raum um und versuchte, sich die Gesichter der etwa zwei Dutzend junger Frauen einzuprägen. Neugierig fragte sie sich, wo wohl das Mädchen war, das letzte Nacht bei ihr und Mae im Bett geschlafen hatte. Ihre Zeit war doch ganz sicher noch nicht gekommen.

»Mae, darf ich fragen, wie das andere Mädchen heißt, das bei uns im Zimmer wohnt?«

»Du meinst die kleine Becky.«

»Ja. Ich sehe sie hier nirgends, oder?«

»Nein. Ich fürchte, sie ist heute Morgen an der Reihe.«

»Sie ist an der Reihe? Kommt etwa ihr Kind?«

»Nee. Sie ist an der Reihe, sich von einem dieser Knochenflicker untersuchen zu lassen. Du weißt schon.«

»Oh …«

»Lieber sie als ich.« Mae schauderte.

»Was meinst du damit?«

»Das wirst du noch schnell genug herausfinden.«

Gibbs trat an den Tisch und tippte mit einem stumpfen, tintengeschwärzten Finger auf ihr großes Buch. »Miss Smith, Sie sind die Nächste.«

»Verzeihung?«

»Zur Untersuchung. Alle Mädchen werden von einem unserer Ärzte untersucht.«

»Oh, ich verstehe.«

»Im Moment ist er noch mit einem anderen Mädchen beschäftigt. Warten Sie hier, ich rufe Sie, wenn es so weit ist.« Damit drehte sie sich um und ging.

Charlotte blieb bewegungslos sitzen und starrte ihr nach.

»Du siehst ja zu Tode erschrocken aus.« Sally legte ihre Hand auf Charlottes. »Du brauchst keine Angst davor zu haben.«

»Es sei denn, sie kommt zu Dr. Preston«, sagte Mae. »Der Mann ist wie ein Waisenjunge im Süßwarenladen, ganz Augen und Hände, und leckt sich unaufhörlich die Lippen.«

»Wahrscheinlich denkt er sich, warum nicht zugreifen – immerhin ist die Bar ja bereits geöffnet.« Bess' scharfes Gesicht sagte alles. »Einmal mehr macht da auch nichts mehr aus.«

Charlotte schluckte. »Willst du damit sagen, dass … Dr. Preston … die Mädchen hier ausnutzt?«

»Ich will gar nichts sagen«, meinte Bess. »Ich sage nur, dass du aufpassen solltest.«

»Mich hat er noch nie belästigt«, sagte Mae.

»Du siehst auch nicht halb so gut aus wie ich, oder?«

»Nein, und darüber bin ich froh.«

»Haben sie denn hier keine Hebammen?«

Bess feixte. »Oh wie süß, ein Mädchen vom Lande!«

»Sie hatten welche«, antwortete Sally. »Aber zurzeit gibt es keine.«

»Machen sie …? Ich meine, ich bin noch nie ›untersucht‹ worden. Jedenfalls … nicht so. Machen sie …? Ich meine … werden sie mich fragen …?«

»Du meinst, ob du deine Unterhosen ausziehen musst?«, grinste Bess.

Charlotte zog die Augenbrauen zusammen und schluckte nervös.

»Ich sage es dir ungern, Kleine, aber wenn das Kind kommt, hast du auch keine Unterhosen oder Unterröcke oder überhaupt sonst was an.«

»Still jetzt«, ging Sally dazwischen. »Mach ihr doch nicht noch mehr Angst, als sie ohnehin schon hat. Keine Sorge, Charlotte. Du darfst dein Nachthemd anbehalten, auch wenn es höchstwahrscheinlich beschmutzt wird.«

»Und was die Untersuchung angeht«, sagte Mae, »kommt es ganz darauf an, zu wem du musst.«

»Gibt es zwei Ärzte?«

»Und einen Wundarzt.«

»Der junge Arzt ist ein richtiger Gentleman«, sagte Mae.

Bess schnaubte. »Unerfahren, meinst du. Er ist ja fast noch ein Junge. Ich glaube nicht, dass er überhaupt schon einmal eine Frau in ihrer ganzen Herrlichkeit gesehen hat.«

»Natürlich hat er«, sagte Mae.

»Jedenfalls wurde er rot, als er mich letzten Monat untersucht hat.« Bess verschränkte selbstgefällig die Arme.

Mae ignorierte sie. »Aber wenn du zu dem anderen kommst, Dr. Preston, kannst du dich auf was gefasst machen«, sagte sie. »Er liebt es, uns Mädchen aufzuziehen.«

»Uns auszuziehen, meinst du!«

In diesem Augenblick erkannte Charlotte die kleine Becky, die schnell durchs Zimmer ging, den Kopf gesenkt, das Gesicht dunkelrot, Schal und Arme eng um die Brust geschmiegt wie einen Schutzwall aus Wolle und Haut. Sally folgte Charlottes Blick und schnalzte mitfühlend mit der Zunge.

»Becky, armes Ding, setz dich doch zu uns«, rief sie. »Soll ich dir eine Tasse Tee eingießen?«

Aber das junge Mädchen schüttelte nur den Kopf. Sie hielt den Blick zu Boden gerichtet, während sie rasch an ihnen vorbeihuschte und den Raum verließ.

»Was ist denn mit ihr?«, fragte Charlotte. »Ist sie krank?«

»Vor der Untersuchung war sie noch völlig in Ordnung«, sagte Mae.

Gibbs erschien im Türrahmen und Charlottes Herzschlag beschleunigte sich. Die Nadel rutschte ihr aus der schweißnassen Hand. Sie legte das Stopfzeug beiseite und rieb ihre Handflächen an ihrem Rock trocken. Wenn dieser Mann sich nicht schicklich verhielt, würde sie ihm gründlich die Meinung sagen. Dass sie einmal einen Fehler gemacht hatte, hieß nicht, dass sie noch einen zweiten machen würde. Sie atmete tief ein, aber es half nichts, sie wurde nicht ruhiger. Sie fühlte sich verletzlich, verlassen von allen, die ihr hätten helfen können.

Gibbs kam zu ihr herüber und wieder holte Charlotte tief Luft. Das Gesicht der Frau war eine Maske gleichgültiger Tüchtigkeit, doch Charlotte meinte, eine dunklere Empfindung dahinter wahrzunehmen. Zorn? Ärger? Hatte sie, Charlotte, etwas Falsches getan? Als Gibbs an ihrem Tisch stehen blieb, stand sie auf.

»Sie können weiterarbeiten, Miss Smith. Dr. Preston wurde … plötzlich abberufen und kann Sie heute Morgen nicht untersuchen. Wir haben den Termin auf morgen verschoben.«

»Oh, ich verstehe«, hauchte Charlotte. »Danke.«

Gibbs machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder in Richtung der Büros. Charlotte sank auf ihren Stuhl zurück und fühlte sich törichterweise zutiefst erleichtert. Sally zwinkerte ihr von der anderen Seite des Tisches zu.

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Während sie mit ihrer Arbeit fortfuhr, dachte Charlotte an ihre Mutter, die in den letzten Jahren ihres Lebens einen Großteil ihrer Zeit in der Gesellschaft von allen möglichen Ärzten verbracht hatte. Sie hatte sich gut mit ihnen verstanden und keinerlei Angst vor ihnen gehabt. Der würdevolle Dr. Webb, ein freundlicher und geachteter Arzt, hatte sie so oft besucht, dass er fast schon ein Freund der Familie geworden war. Das Einzige, was Charlotte von seiner Seite aus gefürchtet hatte, war eine schlechte Diagnose für ihre Mutter.

Dr. Webb hatte im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Kollegen und angehenden jungen Ärzten mit ins Pfarrhaus von Doddington gebracht. Die Kollegen waren sämtlich respektable ältere Männer – Professoren aus Cambridge oder bekannte Londoner Ärzte, die er wegen ihrer Mutter konsultiert hatte. Sie pflegten Charlotte im Vorübergehen würdevoll zu grüßen. Die noch in der Ausbildung befindlichen Ärzte waren junge Männer, die wild entschlossen schienen, sich zu bewähren, und sich nur höchst selten dazu herabließen, mit einem unbedeutenden jungen Mädchen zu reden. Und natürlich war Charlotte nie von ihnen untersucht worden. Sie war immer ein sehr gesundes junges Mädchen gewesen und hatte kaum einmal einen Arzt gebraucht. Ihre Mutter hatte ihre kleinen Wehwehchen selbst kuriert und sie hatte sich auch nie etwas gebrochen. Zum Arzt musste sie nur ein einziges Mal, weil sie in einen Fuchsbau getreten war, als sie über die Schafweide hinter dem Kirchhof lief. Ihre Eltern hatten befürchtet, dass sie sich den Knöchel gebrochen hatte, aber der Arzt – sie erinnerte sich nicht mehr an seinen Namen – meinte, er sei nur verstaucht.

Einer der angehenden Mediziner allerdings hatte Charlotte wahrgenommen. Er war schon etwas älter als die anderen, die Dr. Webb begleiteten. Sein Name war Daniel Taylor. Er war groß und sehr dünn, mit rotblondem Haar und ungewöhnlich blasser Haut. Wenn sie an ihn dachte, musste sie immer lächeln, doch gleichzeitig empfand sie ein leises Schuldgefühl. Sie schien grundsätzlich das Falsche zu ihm zu sagen, denn sein jungenhaftes Gesicht nahm unweigerlich eine dunkelrote Färbung an, einen Ton intensiver als sein rotes Haar, wenn sie mit ihm sprach. Wahrscheinlich hatte er sie bewundert. Sie war sich sicher, dass sie ihm gefiel, zumindest bis ihr Vater seiner Missbilligung deutlich Ausdruck verliehen hatte. Mr Taylor hatte Kent verlassen, ohne sich zu verabschieden und, so fürchtete sie, mit dem Eindruck, dass sie selbst genauso von ihm dachte wie ihr Vater. Genau das hatte der Pfarrer wahrscheinlich beabsichtigt.

Charlotte stach sich mit der Nadel in den Finger und schnappte nach Luft. Überall am Tisch hoben sich Augenpaare und sahen sie fragend an. Sie hielt ihren Finger hoch, der Tropfen Blut war gut sichtbar. Sie lächelte trübselig. »Man sollte keinen Tagträumen nachhängen, wenn man spitzes Werkzeug in den Händen hat.«

Bess rollte mit den Augen. Die anderen wandten sich wieder ihrer Arbeit zu, aber Charlotte war geradezu krankhaft fasziniert von dem Blut, das aus ihrem Finger quoll. Sie hob den Finger und sah zu, wie das Blut über ihre Handfläche lief. Lebensspendende Flüssigkeit, dachte sie, eigentümlich berührt. Die Milch Gottes.

3

Arme Frau! Wie kann sie tatsächlich wieder schwanger sein?

Jane Austen, Brief an ihre Schwester, 1808

Am nächsten Morgen wachte Charlotte noch vor Mae und Becky auf. Sie war so nervös, dass sie nicht mehr schlafen konnte, und versuchte, sich auf den Besuch bei dem gefürchteten Dr. Preston vorzubereiten. Ob er wirklich von ihr verlangen würde, sich auszuziehen? Sie schauderte. Und schlimmer noch, würde er sie fragen, wie es kam, dass sie an einem Ort wie diesem Zuflucht suchen musste?

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