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Lothar von Seltmann

Hudson Taylor

Pionier im Reich der Mitte

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ISBN 978-3-7751-7028-4 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-4795-8 (lieferbare Buchausgabe)

Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH, 80801 München

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Titelbild und Bilder im Innenteil: © ÜMG international

Satz: typoscript GmbH, Kirchentellinsfurt

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer

Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Geografsche Namen zu China sind wiedergegeben nach dem Diercke Globus, Westermann, Schroedel u.a., 2006.

Prolog

Barnsley, Yorkshire, an einem Tag im Dezember 1831

»Schau, James, du musst doch noch einmal zurück in den Laden.« Die junge Amelia Taylor, geborene Hudson und Tochter eines methodistischen Predigers, wies ihren Liebsten auf eine Gestalt hin, die sich dick vermummt durchs Schneegestöber kämpfte. Der Mann überquerte in der Abenddämmerung den May Day Green, den Marktplatz des beschaulichen Bergarbeiter- und Weberstädtchens Barnsley, und näherte sich dem Geschäft.

»Das wird dann für heute wohl der letzte Kunde sein«, bemerkte der Apotheker. »Der muss ein sehr dringendes Anliegen haben, wenn er jetzt kommt. Bei diesem Wetter schickt man doch keinen Hund vor die Tür.«

Er erhob sich von seinem Stuhl, den er erst wenige Augenblicke zuvor neben den seiner Frau an das Fenster der Wohnstube gerückt hatte, und begab sich nach nebenan in seine kleine Apotheke. Seit seine geliebte Amelia – sie war noch nicht lange 23 und um ein Jahr jünger als er selbst – ihm ihr süßes Geheimnis verraten hatte, suchte er in jeder freien Minute ihre Nähe. Es tat ihm gut, dort vor dem knisternden und knackenden Kaminfeuer mit ihr zu sitzen, ihre feinen Hände zu halten oder ihr zuzuschauen, wenn sie eine Handarbeit vor sich hatte, und dabei mit ihr über alles Mögliche zu plaudern. Dabei ging es immer wieder um das Glück, das sie seit dem vergangenen April nach einer mehrjährigen Verlobungszeit endlich miteinander teilen konnten und von dem sie wünschten, dass es nie aufhören sollte. Nein, es sollte sich mit der Hilfe ihres Herrn und Gottes, an den sie beide von Herzen glaubten und von dem sie sich zusammengestellt wussten, möglichst noch vergrößern und vertiefen. Auch dadurch, dass sie sich anschickten, nein besser, dass es ihnen geschenkt wurde, zu einer richtigen Familie zu werden.

In ihren Gesprächen ging es auch immer wieder um geschäftliche Dinge der Apotheke, in denen Amelia ihren Mann unterstützte, so gut sie konnte. Es ging um Gesundheit und Krankheit ihrer Kundschaft und darum, wie den Menschen zu ihrem leiblichen Wohl zu verhelfen war und wie ihnen zu ihrem geistlichen Heil der Glaube an den Retter und Heiland Jesus Christus durch sein Wort, aber auch durch ihr eigenes Wesen und Werk lieb gemacht werden konnte. Es ging immer wieder um das geistliche und missionarische Leben der methodistischen Gemeinde, die sich in ihrem Haus auf Pinfold Hill versammelte, das Großvater James Taylor – von Beruf Steinmetz – mit einigen methodistischen Freunden in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gebaut hatte. Auch ging es um die Verkündigungsdienste, die er, der Enkel James Taylor, schon seit einigen Jahren sonntags in Barnsley und anderswo zu tun hatte. Er war der Erste, den die Gemeindeältesten zum Lokalprediger berufen hatten. Gerne besprach er seine Predigten zuvor mit seiner Frau, die ihm eine gute Hilfe bei seinen Überlegungen war.

Die junge Frau wiederum besprach mit ihm gerne die Themen für die örtliche Sonntagsschule, die sie in der fröhlichen und überzeugenden Art, die ihr von Geburt an zu eigen war, mit großem Eifer und im deutlichen Segen hielt. Seit Amelia diesen Dienst in der Gemeinde übernommen hatte, ging so etwas wie Erweckungsluft durch die Reihen ihrer großen Schar Jungen und Mädchen. Herrlich, auf diese Weise einzeln und gemeinsam dem großen Gott und Vater im Himmel dienen zu können und sein Wirken in der Gemeinde zu erleben.

Nachdem James Taylor den Raum verlassen hatte, hielt seine Amelia für einen Moment in ihrer Handarbeit inne, schloss die Augen und schickte ein inniges Dankgebet für ihr unverdientes Glück zum Himmel. Dabei hörte sie, wie ihr Mann sich im Geschäft nebenan mit dem Kunden unterhielt und dann von ihm verabschiedete. »Jedes Medikament hilft nur so viel, wie der allmächtige Gott es wirken lässt. Sie dürfen Gott um die gewünschte Wirkung bitten, Mr Brown. Gott hört jedes Gebet und erhört es, wenn es ernstlich ist. Gott segne Sie und Ihre Frau und besonders das kranke Kind!«

Sekunden später saß ihr Liebster wieder neben ihr, hielt ihr erneut die Hände und schaute ihr tief in die Augen. »Woran hast du gerade gedacht, mein Liebes?«, fragte er.

Amelia hielt dem Blick gerne stand. »Ich habe Gott für unser Glück gedankt. Ein herrliches Geschenk! Und dann habe ich an unser Kind gedacht, mein Lieber.« Die werdende Mutter legte die eigenen Hände und die ihres Mannes auf ihren erst leicht gewölbten Leib. »Und daran, ob es sich wohl in mir recht entwickelt.«

»Warum sollte es das nicht, Amelia?« James wollte nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen lassen. »Gott selbst sorgt dafür, dass das Kind sich recht entwickelt.«

»So, wie du diesen Satz gesprochen hast, willst du mir wohl noch etwas anderes sagen, James«, forderte die junge Frau ihren Mann auf auszusprechen, was er noch auf dem Herzen hatte.

Der griff zu seiner Bibel auf dem Wandbord und schlug sie auf. »Hör mir zu, was ich lese, mein Liebes, dann ahnst du, was mich seit ein paar Tagen beschäftigt.« James Taylor blätterte in dem Buch und hatte bald gefunden, was er suchte. Er las einen Vers aus dem dreizehnten Kapitel des zweiten Buches Mose. »Und der Herr redete mit Mose und sprach: Heilige mir alle Erstgeburt bei den Kindern Israel; alles, was zuerst den Mutterschoß durchbricht bei Mensch und Vieh, das ist mein.« Ein paar Verse weiter dasselbe noch einmal: »… so sollst du dem Herrn alles aussondern, was zuerst den Mutterschoß durchbricht.« Dann blätterte er ein paar Seiten weiter. »Warte mit deiner Antwort«, sagte er und las dann aus dem 4. Buch Mose, Kapitel 3, die Verse 11, 12 und 13: »Und der Herr redete mit Mose und sprach: Siehe, ich habe die Leviten genommen aus den Kindern Israels statt aller Erstgeburt, die den Mutterschoß durchbricht in Israel, sodaß die Leviten mir gehören sollen. Denn die Erstgeburten sind mein. An dem Tage, da ich alle Erstgeburt schlug in Ägyptenland, da heiligte ich mir alle Erstgeburt in Israel, vom Menschen an bis auf das Vieh, daß sie mir gehören sollen. Ich bin der Herr.«

Amelia hatte aufmerksam zugehört und schaute ihren Mann mit großen, fragenden Augen an. »Glaubst du wirklich, wir sollten unser erstgeborenes Kind …?«

»Ich bin sicher, Amelia, wir sollten nicht, wir müssen«, bestätigte James den Gedanken seiner Frau, den er selbst schon seit längerer Zeit hegte. »Gottes Wort gilt. Gott ist treu. Das galt für Israel, für die Menschen des Volkes Gottes damals. Und es gilt für uns, das Volk Gottes heute. Weil Gott auch heute treu ist, sollen und wollen auch wir ihm in allem treu sein.«

»Dann machen wir es wie die biblische Hanna aus dem ersten Buch Samuel«, schlug Amelia vor.

»Ich denke, wir müssen es tun«, gab ihr Mann in fester Überzeugung zurück. »Unser Kind muss deswegen ja nicht Samuel heißen. Wir haben es ja nicht besonders erbeten, wie damals Hanna ihr Kind erbeten hatte. Es wird uns geschenkt. Aber wenn unser Kind ein Junge ist, dann soll es dem Herrn geweiht sein.«

»Und Gott macht dann aus ihm, was ihm gefällt und was zu seiner Ehre dient.«

»So wird es sein, mein Liebes«, bestätigte James. »Wir müssen dem Jungen dann nur gute Eltern sein, die ihr Kind für das Leben tüchtig machen. Wir müssen ihm unseren Glauben vorleben und ihm die Bibel, das unverbrüchliche Wort Gottes, lieb machen. Wir müssen es lehren, alles, was es zum Leben braucht, von Gott zu erbitten und von ihm zu erwarten.«

»Alleine schaffen wir das aber nicht, James. Die rechte Fähigkeit dazu muss Gott uns fehlbaren Menschen schenken.«

»Ich bin überzeugt, das wird er tun, wie es nötig ist, wenn wir ihn darum bitten, meine geliebte Amelia. Und jetzt lass uns auf die Knie gehen und für unser Kind beten und es dem Herrn weihen.«

Anschließend lagen die beiden Eheleute viele Minuten lang in ihrer Wohnstube auf den Knien, um zu tun, was ihnen klar geworden war. Nach dem gemeinsamen »Amen!« lagen sie sich eine Weile glücklich in den Armen. Sie hatten beide das deutliche Empfinden, Gott habe ihr Gebet bereits erhört. Ja, die beiden Taylors empfanden eine starke Gewissheit, ihr Herr würde alles recht machen mit dem Kind bis zu seiner Geburt und in seinem Leben danach. Und er würde es ebenso recht machen für sie als Eltern und später auch mit ihnen.

Die Eltern von James Hudson Taylor

Am 21. Mai 1832, einem strahlenden Frühlingstag, war es dann so weit. Das viel umbetete und gottgeweihte Kind, der erhoffte Junge, kam zur Welt und stieß die ersten Laute seines irdischen Lebens aus: James Hudson Taylor, benannt nach den Namen seiner Eltern, die ihn zur Unterscheidung von Vater und Sohn im Umgang miteinander und vor den Leuten allerdings »Hudson« nennen wollten. Sein Stimmchen war freilich ein wenig dünn, wie auch der ganze kleine Mensch eher zart und zerbrechlich geraten war. Dennoch, aus Hudsons feinem Gesichtchen leuchteten zwei helle wache Augen, und auch sonst war an dem Knaben alles an seinem Ort. Die jungen Eltern waren von diesem Wunder der Schöpfung Gottes überwältigt und rundum glücklich. Sie waren zutiefst dankbar für dieses Geschenk aus Fleisch und Blut: ihr Erstgeborener aus Gottes Hand, ihm geweiht, damit er aus ihm mache, was ihm gefiel und wozu ER diesen kleinen Menschen einmal vorgesehen hatte …

Kindheitserfahrungen

Über die Hügel und Täler der Grafschaft Yorkshire gingen die Jahreszeiten in ihrem Wechsel von Werden und Vergehen dahin. Das galt natürlich auch für das beschauliche Barnsley und für die Familie des allseits verehrten und angesehenen Apothekers und methodistischen Lokalpredigers James Taylor. Im Haus am Rande des May Day Green ging es aber zunächst eher ums Werden. Es wurde zunehmend lebendig unter dem Dach des Hauses Cheapside 21. Zwei Jahre nach James Hudson wurde William Shepherd geboren, mit dem sein großer Bruder aber nicht viel anfangen konnte. Am 20. September 1835 kam dann zu dem Brüderchen ein Schwesterchen dazu. Das kleine Mädchen schloss Hudson von Anfang an in sein Herz. Mit Amelia, die den Namen der Mutter in die nächste Generation trug, konnte er sich stundenlang beschäftigen, ob sie in ihrer Wiege oder auf einer Decke auf dem Fußboden lag oder ob sie später in ihrem Kinderstühlchen saß und noch später durch die Wohnung kroch. Hudson war es, der dem Mädchen das Laufen beibrachte, der es lehrte, den Becher zu halten und den Löffel. Der um drei Jahre ältere kleine Taylor war es, der seiner Schwester aus einer blühenden Fantasie heraus alle möglichen Geschichten zu erzählen wusste. Darunter waren eine Menge biblische, die von Glauben und Vertrauen und von Wundern Gottes handelten und davon, dass man auch schon als kleines Kind mit diesem Gott reden und ihm sagen konnte, was das kleine Herz bewegte. Gerade hierin war Hudson seinem Alter weit voraus. Und das Vorbild seiner Eltern zeigte im Leben ihres Erstgeborenen sehr früh deutliche Wirkung.

Der Junge hätte nur eine robustere Statur haben sollen und eine stabilere Gesundheit. Ob der kleine Kerl jemals zu dem werden konnte, wozu die Eltern ihn ihrem Herrn geweiht hatten? Hudson, Diener des dreieinigen Gottes, wo auch immer, am liebsten irgendwo in der Heidenmission? Vielleicht in China? James und Amelia Taylor kamen da gelegentlich Zweifel, ob die Zukunft des Jungen in der von ihnen gewünschten Richtung liegen konnte oder ob Gott ihn doch ganz anders führen wollte. Hudsons geistige Fähigkeiten boten keinen Grund für irgendwelche Zweifel. Geistig und intellektuell war der Fünfjährige seinem Alter weit voraus. Welcher andere Junge seines Alters konnte bereits lesen und schreiben? Und dann auch verstehen, was er las, und schriftlich in Worte fassen, was ihm zu einer Sache einfiel oder was ihm seine Fantasie eingab? Welcher andere Junge kannte sich in der Flora und Fauna seiner Heimat so aus wie dieser Knirps, der viele der Pflanzen und Tiere seiner Heimat bestimmen und benennen konnte? Wer kannte die Bibel so wie er und hatte bereits Einblick in geistliche Zusammenhänge? Und wer betete in einer so schlichten und gläubigen Weise zu seinem Vater im Himmel wie der junge Hudson? Da war mancher erwachsene Methodist nicht so weit wie er, der bereits mit seinen fünf Lebensjahren wusste, dass er später einmal – nach China gehen wollte, um den Menschen dort vom Heiland zu erzählen.

Ob das tatsächlich Gottes Weg für ihren Sohn war? Den Eltern wurde das immer wieder neu zur Frage und zum Anliegen ihrer einzelnen und gemeinsamen Gebete …

Mutter Amelia hatte in dieser Zeit alle Hände voll zu tun, ihren gewachsenen Haushalt so in Ordnung zu halten, wie es sich ihrer Ansicht nach für den Haushalt von Christenmenschen gehörte. Gott war ein Gott der Ordnung. Seine Leute mussten also auch ordnungsliebende Menschen sein, die jedem Ding in den verschiedenen Räumen des Apothekerhauses seinen bestimmten Platz gaben und die sogleich aufräumten, wenn etwas nicht an diesem Platz lag und am anderen nicht gebraucht wurde. Die Arbeitsregel: »Einen Platz für jedes Ding, und jedes Ding an seinen Platz!« galt zuerst für sie selbst. Es galt aber auch für ihre Kinder, sobald die diese Regel begreifen und nach ihr handeln konnten. Das Vorbild der Mutter war ihnen dabei eine ausgezeichnete Hilfe.

Vorbild war die Mutter auch in Sachen Kleidung. Sie selbst war immer sehr sauber und geschmackvoll angezogen, und sie sorgte dafür, dass ihr Mann und ihre Kinder es auch waren. Kunden im Laden und Gäste im Haus sollten keinen Anstoß nehmen können an Nachlässigkeiten in der äußeren Erscheinung der Familienmitglieder. Deshalb dienten Schürzen und Kittel dem Schutz der Oberbekleidung und mussten von Groß und Klein getragen werden. Verschmutzte Teile mussten möglichst bald gewechselt werden, wobei Tätigkeiten, bei denen sich einer schmutzig machen konnte, ohnehin auf das Notwendigste zu reduzieren und möglichst gänzlich zu vermeiden waren. Zugegeben, leicht war das nicht, und es brachte immer wieder Unmut und Ärger in die Familie, und es machte Arbeit. Die aber nahm die Mutter gerne auf sich, damit im Haus jeder jedem gefalle und sie alle zusammen nach außen einen guten Eindruck machten. So entsprach es ihrem Verständnis nach dem Willen Gottes, und so diente es seiner Ehre.

Vater James war ebenso penibel wie seine Frau, und das nicht nur bezüglich der greifbaren Dinge seines eigenen Arbeitsbereiches und seines Geschäfts. Er war es auch in der Gestaltung des Tagesablaufs, den er weitestgehend festlegte. Jeder Lebens- und Aufgabenbereich während des Tages und während der Woche hatte seine bestimmte Zeit. Die musste unbedingt eingehalten werden. Pünktlichkeit und Gewissenhaftigkeit gingen James Taylor über alles. Zeit und Kraft zu verplempern durch Unpünktlichkeit und Oberflächlichkeit waren für ihn Sünde. Verspätungen bedeuteten für ihn gestohlene Zeit. Auch hierin war Gott ein Gott der Ordnung. Schließlich hatte er selbst die Zeit geschaffen und allem Ding seine Zeit gegeben. In diesen Dingen war der Hausvater sehr streng mit sich selbst und auch mit seinen Angehörigen.

Solange die Eheleute Taylor allein waren, gab es da auch keine Probleme. Als aber die Kinder da waren und älter und nach und nach eigenwillig und selbstständig wurden, konnte es schon einmal schwierig werden mit der gebotenen Pünktlichkeit und Ordnungsliebe. Aber sie mussten es lernen, dass Schlafen und Wachsein, Essen, Spielen und Lernen, Haben und Verzichten, Reden und Schweigen, Andacht halten und Beten und auch besondere Vergnügungen im Haus oder draußen ihre bestimmten Zeiten hatten. Bis die Kinder das begriffen und eingeübt hatten, lagen Lachen und Weinen, Tadeln und Loben, Belohnen und Strafen mitunter eng beieinander. Da gab es dann schon einmal den Zwangsverzicht auf den Sonntagnachmittagspaziergang oder ein anderes Familienvergnügen. Dann war die Zeit allein und im Zimmer zu verbringen ohne die Möglichkeit, sich mit einem Spielzeug oder einem Buch abzulenken. Dann musste man sich auch gelegentlich ohne die sonst gewährte Belohnung für die Sparbüchse an der Hausarbeit beteiligen. Das waren dann durchaus bittere und zugleich lehrreiche Stunden und Momente.

Mit zunehmendem Alter lernten es die Taylor-Kinder, die gebotenen Verhaltensgrenzen anzunehmen, ihre Berechtigung und Notwendigkeit für ihre Entwicklung zu verantwortungsvollen Menschen einzusehen und sie als geschenkte Freiheiten zu verstehen. Das konsequente Vorbild der Eltern und deren tiefe Liebe zu ihren Kindern halfen ihnen dabei, im familiären Zusammenleben kaum das Gefühl des Zwanges und der Bevormundung zu haben, zumal die Eltern um der gebotenen Liebe und um des Miteinanders willen gelegentlich auch großzügige Ausnahmen machten. Glückliche Kinderzeiten der Taylor-Sprösslinge.

1837 war Hudson, der Erstgeborene und Gottgeweihte, herangewachsen zu einem fröhlichen und pfiffigen Bürschlein, das es gelernt hatte, mit den elterlichen Vorgaben umzugehen und sie seinen jüngeren Geschwistern schon selbst vorzuleben. Der blonde Lockenkopf hatte zwar eine durchweg schwache und anfällige Gesundheit und war auch körperlich kleiner als die meisten seiner Altersgenossen, dafür aber waren sein junger Geist und Verstand hellwach, an allem interessiert und äußerst aufnahmefähig. Was Hudson einmal gehört hatte, setzte sich in seinem Gedächtnis fest. Was er einmal gesehen hatte, prägte sich ihm tief ein. Was er erlebt hatte, hinterließ bleibende Eindrücke, die sein junges Leben bestimmten und es für seine Zukunft formten.

Eines Sonntags war wieder einmal Besuch im Taylor’schen Haus, wie beinahe an jedem Sonntag im Anschluss an den Gottesdienst auf Pinfold Hill. James und Amelia Taylor liebten es, Gleichgesinnte als Gäste zu haben, und den Kindern machte es Freude, den Erzählungen und Gesprächen der Erwachsenen am Tisch zuzuhören. Das war immer sehr interessant, und es gab für die kleinen Köpfe viel zu lernen dabei. Sie selbst durften sich während des Essens freilich nur nach vorheriger Aufforderung daran beteiligen. Nach dem abschließenden Dankgebet war diese Regel allerdings insofern aufgehoben, als sich die Kinder zu Wort melden durften.

An diesem Sonntag allerdings meldete sich Hudson bereits während des Essens vorsichtig zu Wort. »Darf ich bitte das Salz haben?« Eine solche Frage galt als erlaubte Ausnahme.

Erstaunt fragte sein Tischnachbar Mr Neatby, ein Freund der Taylors vom Land: »Wozu möchtest du Salz haben, mein Junge? Dein Teller ist doch leer.«

»Ich möchte es zum Würzen bereithaben, wenn Mama mir etwas zu essen gibt«, gab der Junge leise zurück. Seine Mutter sollte wohl die Antwort nicht hören. Sie war gerade mit Klein-Amelia befasst und hatte es tatsächlich vergessen, ihrem Ältesten den Teller zu füllen. Hudson hatte natürlich ebenso Hunger wie die anderen, wollte aber doch seine Mama vor den Gästen wegen ihres Versäumnisses nicht bloßstellen. Deshalb hatte er eine ganze Weile geduldig gewartet, ob die Mama nicht doch …

Die Hausfrau hatte die Antwort dennoch mitbekommen und erschrak sichtlich. »Oh, mein armer Hudson. Da habe ich doch tatsächlich vergessen, dir aufzulegen. Verzeih, mein Junge. Ich hole das sofort nach.« Was sie auch tat, sodass der Junge endlich mit dem Essen beginnen konnte. Er würzte sein Essen zunächst nach, hatte er zuvor doch um das Salz gebeten. Hätte er das Fässchen nicht benutzt, wäre er selbst unglaubwürdig geworden. Das hätte dann aber seinem Verständnis von einem Gotteskind widersprochen, wie die Eltern es ihm beigebracht hatten.

»Sie haben sehr wohlerzogene Kinder, Mrs Taylor«, stellte der Gast fest. »Andere Jungen hätten sicher längst ihr Recht gefordert.«

»Danke für das Kompliment, Mr Neatby«, gab die Mutter leicht errötend zurück. »Wir geben uns alle Mühe, unsere Kinder in der Zucht und Vermahnung zum Herrn zu erziehen, wie es der Apostel Paulus von den Menschen in Ephesus fordert. Wir wollen sie in guter Ordnung aufwachsen lassen. Das gehört für uns zum Leben als Christen in einer Welt, in der Gottes Gebote so leicht missachtet werden und er selbst von vielen Menschen unserer Stadt und unseres Landes gar völlig vergessen wird.«

»Wir brauchten mehr Evangelisten, die in ihren Ansprachen mit besonderer göttlicher Vollmacht von der Notwendigkeit der persönlichen Buße und Bekehrung sprechen«, nahm James Taylor den Gedanken seiner Frau auf.

»Ja, solche, denen es gegeben ist, mit der Vollmacht eines John Wesley zu predigen«, fügte Mrs Neatby an.

Hudson spitzte die Ohren. Den Namen John Wesley kannte er. Der Mann war der Begründer der methodistischen Kirche gewesen. Ein gewaltiger Prediger, bei dem sich viele Menschen in England bekehrt hatten. Hier in Barnsley hatte er auch schon auf dem Marktplatz zu vielen Menschen gesprochen, als es in dieser Stadt noch keine Methodisten gegeben hatte. Da war John Wesley schon ein alter Mann von 83 Jahren gewesen und hatte bei dem Urgroßvater James Taylor übernachtet. Der hatte vier Jahre später die Kirche auf Pinfold Hill gebaut. Das alles hatte der Papa schon mehrmals erzählt, und er, Hudson, hatte sich die Sachen gut gemerkt. Auch jetzt war er sehr gespannt auf das, was die Erwachsenen noch alles sagen würden.

»Wir setzen große Hoffnungen in die Vorbereitungen der Feierlichkeiten zum hundertjährigen Jubiläum der Bekehrung John Wesleys in zwei Jahren und in die missionarischen Veranstaltungen, die hier in Barnsley und an vielen Orten unseres Landes und auch auf dem europäischen Kontinent geplant werden«, berichtete Vater Taylor.

»Gott möge schon jetzt seinen Segen dazu geben, dass noch einmal eine solche Welle der Erweckung durchs Land geht und die Herzen vieler Menschen erreicht wie damals«, ergänzte seine Frau und schlug vor, das Gespräch nach dem abschließenden Gebet fortzusetzen. Dann könnten zuvor die Kinder vom Tisch entlassen werden.

»Können wir nicht erst noch ein Lied miteinander singen?«, schlug James Taylor vor, nachdem der Tisch abgeräumt war und die Erwachsenen wieder um den Tisch versammelt waren. – Es war eine seltene Ausnahme, dass das Essgeschirr heute nicht sofort nach dem Abräumen gespült und die Küche in Ordnung gebracht wurde. Heute durfte diese Arbeit warten. Der Besuch machte es möglich. –

»Gerne«, stimmten die Gäste zu, und Mr Neatby schlug vor, das schöne Lied von Augustus Montague Toplady mit der Melodie von Thomas Hastings zu singen. Amelia Taylor stimmte auch sofort mit ihrer wunderbaren Stimme das gewünschte Lied an. Die anderen stimmten sogleich mit ein:

Rock of Ages, cleft for me,

let me hide myself in Thee;

let the water and the blood,

from Thy riven side which flowed,

be of sin the double cure,

cleans me from its guilt and power.

Not the labours of my hands

can fulfil Thy law’s demands;

could my zeal no respite know,

could my tears forever flow,

all for sin could not atone:

Thou must save, and Thou alone.

Nothing in my hand I bring,

simply to Thy cross I cling;

naked, come to see for dress;

helpless, look to Thee for grace;

foul, I to the fountain fly;

wash me, Saviour, or I die.

While I draw this fleeting breath,

when my eyelids close in death,

when I soar to worlds unknown,

see Thee on Thy judgement throne:

Rock of ages, cleft for me,

let me hide myself in Thee. Amen.

Fels des Heils, geöffnet mir,

birg mich, ewger Hort, in dir!

Lass das Wasser und das Blut,

deiner Seite heilge Flut,

mir das Heil sein, das frei macht

von der Sünden Schuld und Macht.

Dem, was dein Gesetze spricht,

kann mein Werk genügen nicht.

Mag ich ringen, wie ich will,

fließen auch der Tränen viel,

tilgt das doch nicht meine Schuld;

Herr, mir hilft nur deine Huld.

Da ich denn nichts bringen kann,

schmieg ich an dein Kreuz mich an;

nackt und bloß – o kleid mich doch!

hilflos – ach, erbarm dich noch!

Unrein, Herr, flieh ich zu dir:

Wasche mich, sonst sterb ich hier!

Jetzt, da ich noch leb im Licht,

wenn mein Aug im Tode bricht,

wenn durchs finstre Tal ich geh,

wenn ich vor dem Richter steh:

Fels des Heils, geöffnet mir,

birg mich, ewger Hort, in dir!

deutscher Text: Ernst Gebhardt 1775

»Das ist ein sehr schönes Lied«, stellte der fünfjährige Sohn von seinem Spielplatz auf dem Stubenboden aus fest und summte sogleich die Melodie noch einmal vor sich hin. Seine ausgeprägte musikalische Begabung machte das möglich.

»Du hast recht, mein Junge«, stimmte der Vater zu, »das ist ein wirklich schönes Lied. Und der ›Fels‹ erinnert mich an eine Geschichte, die sich bereits um das Jahr 1600 abgespielt hat.«

Hudson löste sich von seinem Spielzeug, mit dem er beschäftigt war. »Oh bitte, erzähl, Papa. Wir möchten bestimmt alle die alte Geschichte hören.«

James Taylor musste lachen. »So ist unser Hudson. Der kann nie genug hören, wenn ich erzähle.«

»Geht es in deiner Geschichte um China, Papa?«, Hudson ahnte bereits, wohin die Gedanken des Vaters gingen. China war Vaters Lieblingsthema, wenn er erzählte. Dieses ferne Reich mit seinen vielen Millionen Menschen hatte es ihm angetan. Die brauchten das Evangelium genauso nötig wie die Menschen in Barnsley und Yorkshire, hatte er schon oft betont und es immer wieder bedauert, dass seine methodistische Kirche bisher keine Missionare in dieses Land geschickt hatte.

»Ja, mein Junge, es geht um China«, bestätigte der Vater und begann auch gleich, seine Geschichte zu erzählen. Dabei ging es um den Versuch des jesuitischen Missionars Matteo Ricci und seines Gefährten Valignani, China zu missionieren. Das war vor beinahe 240 Jahren gewesen. Den beiden Männern sei aber zunächst der Zugang ins Land verwehrt worden. Von ihnen sei der Ausruf überliefert, den sie angesichts des chinesischen Festlandes von sich gegeben hatten: »Oh Fels, Fels, wann wirst du dich öffnen?« Ihre Sehnsucht habe sich schließlich erfüllt, und ihnen sei die Einreise nach China doch erlaubt worden. Die beiden hätten dann einige Zeit in großem Segen in Peking und seiner Umgebung missioniert und evangelisiert. Ricci und sein Begleiter seien dabei nach Kleidung und Lebensweise den Chinesen zu Chinesen geworden und hätten viele Hunderte von Menschen zu Jesus geführt. Leider sei Matteo Ricci früh gestorben, und von seiner Arbeit habe die Entwicklung, die das chinesische Reich in den folgenden Zeiten genommen habe, nicht viel übrig gelassen.

»Es hat aber dann doch den Chinamissionar Robert Morrison gegeben«, wusste Mr Neatby.

»Das ist richtig«, bestätigte James Taylor. »Morrison kam 1807 in die chinesische Stadt Kanton. Dort hat er für die LMS, die Londoner Missionsgesellschaft, gearbeitet und zugleich als Übersetzer der Ostindien-Gesellschaft. Leider musste seine Arbeit auf die Vorbereitung von missionarischer Literatur beschränkt bleiben. Die Chinesen verdanken Robert Morrison die Übersetzung der Bibel in ihre Literatursprache, das Wenli.«

»Gibt es eine Erklärung dafür, dass er nicht …?«, wollte Mrs Neatby wissen.

»Es gibt sie«, antwortete der Erzähler. »Es gab ein Edikt des chinesischen Kaiserhauses, das die Christianisierung des Volkes ausdrücklich ablehnte. Ausländer sind im Reich der Mitte, wie sich China gerne selbst nennt, auch heute noch nicht gerne gesehen. Man nennt sie ›fremde Teufel‹.«

»Dann gibt es im weiten Inland Chinas immer noch keine christlichen Missionare, und der Fels ist immer noch verschlossen?«, fragte Mr Neatby nach.

»Ich hoffe doch, dass es einzelne Zugänge gibt«, antwortete James Taylor. »Es sollte noch die Missionare Elias Bridgman und David Abel geben, die Robert Morrison nach China gerufen hatte. Sie arbeiten wohl noch in Kanton. Aber Genaues weiß man nicht von ihnen. Da gibt es auch den amerikanischen Arzt Dr. Peter Parker, der in derselben Stadt ein Hospital gegründet hat und dabei auch missionarisch arbeitet. Durch seine Arbeit erreicht er sehr viele Menschen seiner Stadt. Aber in dem unendlich großen chinesischen Hinterland …? Es ist ein Jammer, dass in China täglich Zigtausende in ihrer Sünde sterben, ohne von der Erlösung durch Christus etwas gehört zu haben«, stellte James Taylor mit einem leichten Seufzer und deutlichem Bedauern fest.

»Und die methodistische Kirche …?«, schaltete sich seine Frau ein.

»… die gefällt sich selbst und denkt wenig daran, dass es den Missionsbefehl unseres Herrn und Heilandes gibt: Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe.«

»So steht es im letzten Kapitel bei Matthäus«, warf der kleine Hudson an dieser Stelle ein. Er hatte den vier Erwachsenen sehr gut und mit großer innerer Beteiligung zugehört. Er wusste sogar eine weitere Stelle, wo Jesus vom Missionsauftrag gesprochen hatte, denn er fuhr fort: »Und am Anfang der Apostelgeschichte steht: Ihr werdet meine Zeugen sein zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde.«

»Sehr gut, Hudson!«, staunten die Neatbys. »Du weißt schon sehr viel.«

»Und ich weiß auch, dass China am Ende der Erde liegt«, ergänzte Hudson seinen Beitrag zum Gespräch. Nach einem Moment des Nachdenkens, den wohl die Erwachsenen sich auch gerade gönnten, hängte er an: »Und ich weiß noch etwas.«

Aller Augen richteten sich jetzt auf den Jungen. Mama Taylor schaute ihren Sohn mit besonders fragenden Augen an. »Was weißt du denn noch, mein Junge? Du darfst es uns gerne sagen.«

Der Junge erhob sich vom Fußboden, stellte sich in Pose und holte einmal tief Luft, als müsse er so etwas wie Anlauf nehmen für seine Antwort. Dann sagte er im Brustton der Überzeugung: »Wenn ich groß bin, werde ich Missionar und gehe nach China.« Danach setzte er sich wieder hin.

Den vier Erwachsenen am Tisch verschlug es für einen Moment die Sprache. Da zitierte ein kleiner, schwacher, häufig kränklicher Fünfjähriger den Missionsbefehl Jesu und stellte in einer Art, die keinen Widerspruch erlaubte, fest: »Wenn ich groß bin, werde ich Missionar und gehe nach China«. Wie sollten sie darauf jetzt reagieren? Den Jungen ernst nehmen? Ihm diese Flause sofort ausreden? Seine Aussage einfach überhören? Nein, das ging nicht. Hudson Taylor, der Erstgeborene der Taylor-Familie, wollte ernst genommen werden. Seine Missionsbegeisterung durfte nicht im Keim erstickt werden. Nein, das könnte fatale Folgen haben für den Glauben dieses Jungen. Und wer wusste denn, ob es da nicht vielleicht einen Zusammenhang gab mit seiner Weihe als Erstgeborener?

Vater Taylor nahm als Erster das Wort: »Das ist ein guter Vorsatz, mein Junge. Wir werden sehen, welchen Weg unser Herr und Gott für dich vorgesehen hat und ob er den Felsen China für dich öffnet. Wir werden alle dafür beten, dass Gott uns den Weg deutlich zeigt, den du einmal gehen sollst.«

»Und wir werden dafür beten, dass du nicht so häufig krank bist und dass du ein starker, kräftiger junger Mann wirst. Wer nach China gehen will, muss gesund und stark und kräftig sein.«

Als ob diese Worte seiner Mutter für Hudson ein besonderes Signal waren, sprang der Junge vom Fußboden der Wohnstube auf, klemmte sich sein Spielzeug unter den Arm und wandte sich der Stubentür zu, wohl um den Raum zu verlassen. Ein wenig verwundert fragte die Mama nach: »Wo gehst du hin?«

»Zum Beten, Mama«, war die schlichte Antwort des Jungen, und schon war er draußen. Er begab sich tatsächlich in sein Zimmer, um dort nach seiner Gewohnheit an seinem Bett zu knien und zu beten. Dabei stand das Thema dieses Gebetes sicherlich fest: »Allmächtiger Gott, mein Vater im Himmel, öffne den Fels und mache mich gesund und stark und kräftig, dass ich für dich als Missionar nach China gehen kann.«

Ob Hudson noch gehört hat, dass die Leute in der Wohnstube ihre Tischrunde auch mit Gebeten beendeten? Ob er gehört hat, dass sie noch einmal miteinander sangen? Vielleicht wäre er dann doch noch für diese letzten Minuten bei ihnen geblieben. Denn das Lied, das sie sangen, gehörte zu seinen Lieblingsliedern. Es stammte von Dr. John Fawcett, dem früheren Prediger einer Baptistengemeinde in Wainsgate, einem Ort ganz in der Nähe von Barnsley. Es wurde häufig gesungen, wenn der Besuch, der im Haus war, sich verabschieden wollte:

Blest be the tie that binds

our hearts in Christian love,

the fellowship of kindred minds

is like to that above.

Before our Father’s throne

we pour our ardent prayers;

our fears, our hopes, our aims are one,

our comforts and our cares.

When we asunder part,

it gives us inward pain;

but we shall still be joined in heart

and hope to meet again.

This glorious hope revives

our courage by the way,

while each in expectation lives

and longs to see the day.

From sorrow, toil and pain

and sin we shall be free;

and perfect love and friendship reign

through all eternity.

Gesegnet sei das Band,

das uns im Herrn vereint!

Geknüpft von Christi Liebeshand,

bleibt’s fest, bis er erscheint.

Vor unsers Vaters Thron

steigt ernstlich unser Flehn;

in Leid und Freud ein Herz, ein Geist,

so klingt’s dem Vater schön.

Und scheiden wir allhier,

so gibt’s uns tiefen Schmerz;

doch bleiben wir im Geist vereint

und pilgern himmelwärts.

Solch frohe Hoffnung stärkt

den Mut in Kampf und Plag’;

wir wandern wartend auf den Herrn

und seinen großen Tag.

Wir werden gänzlich frei

von Sünde und von Leid,

wo ewge Liebe nur regiert

in alle Ewigkeit.

deutscher Text: Julius Carl Grimmel 1885

Von diesem Tag an gehörte das besondere Anliegen, als Missionar nach China gehen zu wollen, zu den vielen anderen, für die Hudson bereits zu beten gelernt hatte. Und wenn Vater oder Mutter oder beide mit ihm und mit den Geschwistern am Bett oder am Stubentisch beteten, dann durfte dieses Anliegen nicht fehlen: James Hudson Taylor – Missionar im Auftrag des dreieinigen Gottes in China.

Von diesem Tag an gehörte China mit seinen Millionen Menschen, die alle den Sünderheiland nicht kannten, das Hauptinteresse des Jungen. Immer wieder musste sein Vater von China erzählen, wenn er irgendetwas Neues erfahren hatte. Alles, was Hudson über China geschrieben fand, las er mit großem Eifer und erzählte es dann seiner Schwester. Seine über alles geliebte Amelia musste das alles erfahren, auch wenn sie es zunächst noch gar nicht verstehen konnte. Aber das Mädchen wurde ja älter, und auch ihr Geist entwickelte sich zu einem sehr wachen und aufnahmefähigen. Da sie ihr kleines Herz ihrem großen Bruder ähnlich zuwandte, wie es umgekehrt war, hörte sie ihm auch gerne zu, wenn er die Erzählungen des Vaters bei ihr wiederholte oder wenn er ihr aus seinem Lieblingsbuch vorlas: Peter Parleys Büchlein »China« kannte er inzwischen nahezu auswendig, und auch Amelia wollte immer wieder gerne daraus hören und die vielen Bilder des Büchleins anschauen. Ob es die Schwester eines Tages ebenso nach China ziehen würde? Auch dieser Gedanke wurde zum festen Bestandteil der Morgen- und Abendgebete des jungen Hudson Taylor. Und der zweifelte nie daran, dass Gott seine Gebete erhören würde. In seinem kindlichen Glauben war er sich sicher, dass er es tun würde …

Ende der Dreißiger- und Anfang der Vierzigerjahre gab es einige besondere Ereignisse, die auf das Leben des nunmehr acht- bzw. neunjährigen Hudson Taylor großen Einfluss hatten.

Das erste war der plötzliche Tod seines erst wenige Monate zuvor geborenen Bruders Theodor. Zu diesem kleinen Wesen hatte er in dessen kurzer Lebenszeit zwar noch kein richtiges Verhältnis entwickeln können. Der Säugling war ja zum Spielen noch nicht zu gebrauchen, und ihm Geschichten erzählen oder aus einem Buch vorlesen ging auch noch nicht. Aber dass das Brüderchen dann plötzlich nicht mehr da war, machte den Jungen doch sehr betroffen. Und die Eltern traurig zu sehen, machte ihn selbst traurig. Zumindest für ein paar Tage herrschte eine sehr gedrückte Stimmung im Hause Taylor, die sich auch auf das sonst überwiegend fröhliche Miteinander der verbliebenen Geschwister Hudson, William und Amelia auswirkte.

Nach einiger Zeit erst kehrte der Frohsinn zurück in die Familie, und es wurde wieder gelacht und gescherzt. Die gute Atmosphäre wurde bald auch genährt von der Vorfreude auf ein neues Geschwisterchen. Groß war dann die Freude in der Familie, als Louisa Shepherd – diesen Beinamen, den William auch schon hatte, bekam sie in Erinnerung an ihre Großmutter Mary Shepherd – wohlgeraten und quicklebendig in ihren weißen Kissen lag. Ein leibhaftiges Wunder Gottes, das die letzten Spuren des Schmerzes über den Verlust des kleinen Theodor verwischte und das den Schöpfergott ganz neu vor die Augen der großen und kleinen Taylors stellte.

»Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen, der du zeigst deine Hoheit am Himmel … Was ist der Mensch, daß du seiner gedenkst, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst? … Mit Ehre und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt. Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk, alles hast du unter seine Füße getan … Herr, unser Herrscher, wie herrlich ist dein Name in allen Landen!«

Es beeindruckte vor allem den großen Bruder Hudson sehr, wie der Vater an der Wiege des Neugeborenen den 8. Psalm las und für das kleine Menschlein und die Bewahrung von Mutter und Kind bei der Geburt dankte und wie er Louisa Gott anbefahl, damit er das Leben dieses Kindes begleite, gelingen lasse und zu seinem guten Ziel führe.

Wenige Monate später wurde die Familienfreude erneut jäh gestört und heftig erschüttert. Der gerade siebenjährige William wurde ganz plötzlich schlimm krank, so krank, dass kein Arzt Rat zu geben wusste und auch der Vater, der neben seiner Arbeit als Apotheker immer wieder den Menschen seiner Stadt ärztlichen Beistand leistete, trotz intensiven Bemühens dem eigenen Sohn nicht mehr helfen konnte. Hudson und die kleine Amelia mussten erleben, wie William nur drei Tage nach Ausbruch der Krankheit in den Armen seiner Eltern sein junges Leben aushauchte. Ein schlimmes Geschehen! Bei den Kindern herrschte großes Erschrecken. Hudson packte beim Tod seines Bruders das schiere Entsetzen, das alle seine Aktivitäten lähmte. Am vergangenen Sonntagnachmittag waren sie noch mit den Eltern bei herrlichem Sonnenschein gemeinsam spazieren gegangen und hatten sich erfreut an den Blumen am Weg, an den Insekten auf dem Boden und im Gras, an den Fasanen auf den Feldern, an den Vögeln im Gesträuch und an den beiden Rehen, die sie am Waldrand beobachtet hatten. Am Montag und Dienstag noch hatten sie Mutters Hausunterricht genossen und unter ihrer Anleitung gelesen, geschrieben, gerechnet und fröhlich gesungen. Danach hatten sie noch miteinander gespielt und hatten eine Menge Spaß gehabt. Und jetzt lag William bleich und kalt auf seinem Bett. Was war das? Warum musste ein Kind schon sterben? Warum hatte der Vater im Himmel den Bruder und Spielkameraden genommen? Warum? Wieso? Weshalb? Fragen über Fragen, die gestellt wurden oder auch nur im Raum standen und keine rechten Antworten fanden.

Zum zweiten Mal in kurzer Zeitspanne herrschte Trauer im Haus Taylor und bestimmte die sonst immer so frohe Atmosphäre. Diesmal war sie tiefer und schwerer als damals nach dem Tod von Theodor. Wie Blei lag sie auf den Kindern und auf den Eltern. Denen half es nach und nach, im Bibellesen und Beten und im Singen Zuspruch und Trost zu finden, sich mit dem Unabänderlichen abzufinden und sich darüber zu freuen, dass sie Hudson und Amelia hatten und dass sich Klein-Louisa gut entwickelte. Die fünfjährige Amelia vermisste zwar ihren um ein Jahr älteren Bruder auch, aber sie war ja schon lange eher dem noch älteren zugewandt gewesen. Den hatte das Mädchen ja noch, und es war glücklich darüber.

Im Bewusstsein Hudsons grub sich dies Ereignis weit über den Tag der Beerdigung hinaus ein. Aus den Tiefen seines Unterbewusstseins holte es die Erinnerung an den Tod seines geliebten Großvaters herauf. Damals als Zweijähriger hatte er an seinem Totenbett gestanden und erlebt, dass der geliebte Mensch kalt und unbeweglich dalag, sich nicht mehr rührte und keine Antworten mehr gab. Das war sehr schlimm gewesen.

Diese plötzliche Erinnerung und die erneute unmittelbare Begegnung mit dem Tod dämpften fortan immer wieder einmal Hudsons Frohsinn und die Unbeschwertheit seines normalen Alltags und Sonntags. Fragen der Ewigkeit beschäftigten ihn plötzlich, wie das bisher kaum der Fall gewesen war. Der Junge wurde stiller und nachdenklicher und in seiner Beschäftigung mit den Dingen tiefgründiger. Er entwickelte so etwas wie einen Hang zum schwermütigen Grübeln. Erst wenn er von den Eltern oder auch von Amelia aus solchen Phasen herausgeholt worden war, war er wieder der Hudson, der er vor Williams Tod gewesen war, und er konnte wieder herzhaft lachen, lauthals singen und manchen Streich aushecken.

In dieser Zeit machte Hudson Taylor auch noch andere eindrückliche Erfahrungen, die prägend wurden für sein weiteres Leben. Zum einen wurde dem Jungen aufgezeigt, dass er nicht immer seine eigenen Wünsche durchsetzen konnte. Zum andern erfuhr er sehr bewusst, was Schuld bedeutete. Zugleich erfuhr er aber auch großzügiges mütterliches Verständnis und die tiefe Liebe zu ihrem Kind, was ihm zum Hinweis wurde auf die unermessliche Liebe des himmlischen Vaters zu seinen Kindern.

In Barnsley wurde ein Markt abgehalten, dessen Buden und Stände und Karussells den großen Platz hinter der Marienkirche füllten. Eine Menge Menschen, große und kleine, waren auf den Beinen, um sich im lebhaften Marktgeschehen zu tummeln und zu vergnügen. Eine besondere Anziehungskraft für Hudson hatte eine Sammlung ausgestopfter Vögel und Waldtiere. Die wollte er unbedingt besuchen. Sein Sixpence-Stück, das sich der Junge mit vielen Hilfsdiensten im Haus und für das Geschäft des Vaters nach und nach verdient hatte, sollte seiner Vorstellung nach reichen, die Ausstellung anschauen zu können.

Am Eingang zu den begehrten präparierten Kostbarkeiten hielt ihn der Mann an der Kasse auf. Er habe nicht genug Geld. Der Eintritt betrage genau das Doppelte seines Betrages. Hudson musste eingestehen, dass er nicht mehr Geld zur Verfügung habe. Die Münze sei sein ganzer Besitz. Er versuchte wortreich und mit allen möglichen Argumenten, dem Kassierer deutlich zu machen, dass es doch wohl besser sei, ein Sixpence-Stück einzunehmen als gar kein Geld. Leider war der Mann nicht zu überzeugen, im Gegenteil, er fertigte den blondlockigen jungen Hudson in barschem Ton ab, er solle sich davonmachen und ihn nicht länger bedrängen. Dem Jungen blieb nichts anderes übrig, als sich zu trollen. Dabei trieben ihm der vermeintliche Unverstand des erwachsenen Mannes und sein rüder Umgang mit ihm, einem kleinen Jungen, die Tränen in die Augen.

Die Mutter fand wenig später ihren Sohn bitterlich weinend in seiner Stube. Natürlich ließ sie sich die Geschichte erzählen. Dabei hielt sie ihren schluchzenden und schier untröstlichen Ältesten in den Armen und wischte ihm die Tränen. »Schau, mein Junge«, sagte sie, »der Mann konnte nicht anders, als dich abweisen. Niemand kann für weniger als zwei Sixpence-Stücke in die Ausstellung gelangen. Niemand, also auch du nicht. An dieser Pforte sind alle Menschen gleich, und jeder braucht den gleichen Eintritt. Das ist wie an der Pforte des Himmels. Jeder braucht den Glauben an den Heiland und Erlöser Jesus Christus. Den Glauben gibt es nicht als kleinen Glauben oder als großen Glauben, es gibt ihn nur als tiefen Glauben von Herzen aufgrund einer gründlichen Bekehrung.«

»Wenn das so ist, dann will ich das lernen«, antwortete Hudson und hängte nach einem letzten trockenen Schluchzer an: »Aber ich hätte doch so gerne …«

»Ich weiß, mein Junge«, strich Amelia Taylor ihrem Sohn über seine blonden Locken. »Ich weiß, dass dir der Besuch der Ausstellung viel wert war. Du wolltest dein ganzes Geld dafür hergeben.« Die Mutter zögerte einen Moment, dann fuhr sie fort: »Ich gebe dir ein zweites Sixpence-Stück als Belohnung für deine treue und fleißige Hilfe in den letzten Wochen – und für deine Bereitschaft, alles herzugeben, was du hattest.« Damit ging sie in ihr Zimmer und kam gleich darauf mit der Münze zurück. »Und jetzt lauf und schau dir die Präparate an. Der Mann an der Pforte wird sich freuen, dass er dich jetzt hereinlassen kann.« – Auf dem Markt von Barnsley gab es an diesem Tag wohl keinen glücklicheren Besucher als den erstgeborenen Sohn des Apothekers.

Die andere besondere Erfahrung machte Hudson, als er wieder einmal ein Buch las, von dem er sich schier nicht trennen konnte. Warum nur musste ausgerechnet an diesem Abend Besuch kommen, der dann auch noch darum bat, die Kinder doch ein wenig länger aufbleiben zu lassen als üblich? Man wolle sie gerne noch eine Weile dabeihaben. Hudson gefiel das ausnahmsweise überhaupt nicht. Er wollte viel lieber in sein Zimmer gehen und – heimlich – lesen. Damit er noch im Dunkeln lesen konnte, hatte er sich eine Handvoll Kerzenreste besorgt – unrechtmäßig, weil aus Mutters Vorrat –, die er in seiner Hosentasche verwahrte. Nun musste er auch noch mit der kerzengefüllten Hosentasche dem Kaminfeuer zugewandt sitzen, und die Wachsstummel wurden weicher und weicher. Hoffentlich wurden die nicht sogar noch flüssig …

Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Untugend