Über David Guterson

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David Guterson lebt mit seiner Frau und seinen Kindern auf Bainbridge Island im Puget Sound westlich von Seattle. Sein erster Roman Schnee, der auf Zedern fällt, für den er den Pen/Faulkner-Award erhielt, machte ihn weltberühmt. Zuletzt erschienen seine Romane Ed King (2012) und Der Andere (2013) sowie der Erzählband Zwischen Menschen (2013).

Fußnoten

1

siehe Glossar

Schnee-Engel

Heiligabend waren wir bei meiner Schwester, Feuer im Kamin, Kerzen am Baum, Weihnachtslieder auf der Stereoanlage. Draußen vor dem Fenster trieb leichter Schnee. Eiszapfen hingen von den Dachrinnen, und das Gras im Garten sah aus wie gepudert. Bis zum Morgen würde alles weiß sein.

Meine Schwester hatte die Kinder ins Bett geschickt, und Larry, ihr Mann, füllte vier Gläser mit Champagner.

»Glück und langes Leben«, sagte er. »Fröhliche Weihnachten.«

Das alles ist noch nicht mal ein Jahr her.

Cora, ich, Larry, meine Schwester, wir saßen zusammen und unterhielten uns zuerst über ganz alltägliche Dinge: die Arbeit, Autos, Häuser, Kinder – ich weiß es nicht mehr genau, es war nett. Aber dann sagte Larry, weil meine Schwester ihn gefragt hatte: »Weihnachten auf Okinawa? Du willst wissen, was wir gemacht haben? Wir haben uns volllaufen lassen und sind ins Bett gefallen. Einfach umgekippt. Das war Heiligabend. Am Ersten Weihnachtstag haben wir gebackenen Schinken gegessen. Haben Aspirin geschluckt. Wir haben zu Hause angerufen. Irgendjemand am anderen Ende der Leitung schrie dir ins Ohr: ›Fröhliche Weihnachten.‹ Du hast gewartet, bis das Echo im Apparat nachließ, und hast zurückgebrüllt: ›Fröhliche Weihnachten!‹ Du hast aufgehängt und warst wieder in Okinawa, es war Donnerstag, und alle hatten einen Kater.«

»Klingt toll«, sagte meine Schwester und küsste ihn aufs Kinn. »Und wie war das mit den japanischen Nutten?«

Larry nippte an seinem Champagner und schmunzelte. Er war ein kräftiger Mann Anfang dreißig, mit breiten Händen, aber keineswegs schwerfällig, viel Haar auf dem Kopf. Meine Schwester machte sich immer über ihn lustig, stellte ihn hin, als könnte er nicht bis drei zählen, aber Larry nahm das mit Humor, als harmlosen Spaß, als ihre Art, ihm zu zeigen, dass sie ihn trotz allem liebte.

Larry sagte: »Heh. Und wenn schon? Eine Hure war wie ein Weihnachtsgeschenk, das man sich selbst bescherte.«

Wir lachten darüber und waren dann alle still, bis meine Frau das Schweigen brach und mich fragte, ob ich je mit einer Prostituierten geschlafen hätte.

* * *

Ich erzählte ihnen, dass wir mal nach Las Vegas gefahren waren, die ganze Geschichte erzählte ich ihnen damals, an diesem Heiligabend. Meine Schwester erinnerte sich auch noch daran – ein Familienausflug am Memorial Day-Wochenende. Mein Vater arbeitete für eine Versicherungsgesellschaft, und die veranstaltete eine Konferenz in Las Vegas.

»Sechzehn Jahre jung, und drei Tage im Sündenbabel«, sagte Larry und schmunzelte.

»Aber so war’s nicht«, sagte ich. »Überhaupt nicht.«

»Und wie war’s dann?«, wollte Cora wissen. Also habe ich den dreien die ganze Sache erzählt, und das war ein Fehler.

Wir fuhren runter, sagte ich. Wir nahmen zwei Zimmer in einem Motel am Ende des Strip, draußen am Stadtrand; hinter dem Schwimmbad nur noch Wüste, trockene Sträucher und Stacheldrahtzäune. Eine ruhige Umgebung, heiß und staubig, das Haus klimatisiert, Zigaretten- und Limo-Automaten in allen Fluren. Um zehn Uhr morgens kam ein Zimmermädchen und räumte auf.

Meine Eltern gingen zu Shows in Nachtclubs, zu Verabredungen, in Kasinos, vielleicht zum Einkaufen, jedenfalls waren sie nie da. Sie ließen uns Geld für Hamburger da und Telefonnummern. Was haben sie erwartet? Was haben sie sich gedacht? Meine Schwester schmierte sich mit Sonnenöl ein und döste den ganzen Tag am Swimmingpool. Ich schwamm Bahnen. Ich wollte mir für alle Zeiten Kondition antrainieren. Die anderen Gäste hingen herum, und ich schwamm wie wild, übte Brustschwimmen und Rückenschwimmen. Im Zimmer machte ich Gymnastik vor der Klimaanlage: aus der Rückenlage zum Sitzen hochkommen. Im Spiegel sah ich mir meine Muskeln an. Ganz unten im Koffer hatte ich ein Playboy-Magazin. Darin waren Fotos von Raquel Welch. Raquel mit Pailletten. Raquel unter der Dusche. Raquel in Mexiko am Strand.

»Raquel Welch«, sagte ich letzte Weihnachten zu den anderen. Ob das vielleicht ein Fehler war? Habe ich damit was falsch gemacht? »Es muss ein Playboy gewesen sein«, sagte ich. »Genau weiß ich es nicht mehr.«

»Das Zeug liest er immer noch«, sagte Cora.

»Nicht wirklich«, sagte ich. »Nur ab und zu vielleicht.«

»Ach komm, John«, sagte Cora.

»Was soll das heißen?«, fragte ich.

»Nichts soll das heißen«, sagte meine Schwester. »Jetzt fangt nicht an zu streiten.«

»An Weihnachten sowieso nicht«, sagte ich. »Es ist Heiligabend.«

»Aber genau«, sagte Larry. »Friede auf Erden, den Menschen ein Wohlgefallen und Champagner.«

Er schenkte mir nach, grinste, amüsierte sich. »Es ist ein Ros entsprungen«, kam aus der Stereoanlage.

»Manchen Menschen jedenfalls«, sagte Cora. »Wohlgefallen ist keine Einbahnstraße.«

»Herrgott«, sagte ich, »halt doch den Mund!«

»Sag ihr nicht, dass sie den Mund halten soll«, sagte meine Schwester. »Das macht alles nur noch schlimmer.«

»Sensibel muss man sein«, warf Larry augenzwinkernd ein.

»Das ist es heutzutage.«

»Also Las Vegas«, sagte ich. »Lasst mich doch mal zu Ende erzählen.«

* * *

Ich schwamm Bahnen im Schwimmbecken, sagte ich. Ein heißer Tag, dreiunddreißig Grad. Hin und her, auf und ab, Rollwenden, chloriertes Wasser schwappte mir in die Schwimmbrille. Meine Schwester hatte sich die Haare zum Knoten gedreht und lag auf dem Rücken, regungslos wie eine eingeölte Barbiepuppe. Vier bis fünf Leute saßen in Liegestühlen herum, tranken Limo aus Dosen und rauchten Zigaretten. Klimaanlagen tröpfelten, ein Radio spielte, das Zimmermädchen rollte die Karre mit ihren Putzmitteln von einem Zimmer zum anderen.

Ich stand im flachen Wasser. Das Zimmermädchen war gar nicht schlecht. Sie hatte eine Uniform an, so ähnlich wie eine Krankenschwester. Zwei Frauen lagen auf dem Bauch auf Sonnenliegen. Die eine hatte den Haken an ihrem Bikinioberteil gelöst. Die andere hatte ein Bein nach oben abgewinkelt und malte mit den Zehen Kreise in die Wüstenluft. Ein Mann saß lesend am anderen Ende des Schwimmbeckens, er saß auf einem Handtuch, seine Glatze war sonnenverbrannt, seine Brustpartie sank welk herab. Neben dem Sprungbrett saß ein Mann mit spiegelnder Sonnenbrille im Liegestuhl, er sah aus, als wäre er breiter als hoch, mit den Fingern zwirbelte er die silbergrauen Haare auf seiner Brust zu Löckchen, eine Hand wog gedankenverloren seine weichen formlosen Brüste.

Ich fing wieder an zu schwimmen – einer von den Halbwüchsigen, die mit leidenschaftlicher, andächtiger Routine gegen Langeweile und die Gefahr des Alterns angehen. Hin und her, auf und ab im Schmetterlingsstil, Fußschlag und wirbelnde Arme – da schwebte ein Zimmerschlüssel in die gelbe Welt, die meine Schwimmbrille mir vor die Augen zauberte.

»Ein sechzehnjähriger Gigolo«, unterbrach Larry. »Das hab ich kommen sehen, John.«

* * *

Meine Schwester hatte Kastanien von Safeway geröstet, mit geschmolzener Butter übergossen und mit Salz bestreut. Die aßen wir jetzt. Wir tranken den Champagner und knackten die Schalen. Larry blies ein paar heruntergebrannte Kerzen am Weihnachtsbaum aus.

Draußen war der Rasen inzwischen ganz zugeschneit. Die Welt sah still, zart und wunderschön aus.

»Ein Zimmerschlüssel?«, sagte Cora. »Ist das wahr?«

Ich erzählte weiter: Der Schlüssel im Schwimmbecken gehörte dem dicken Mann. Er winkte mich zu sich, als ich mit dem Schlüssel auftauchte.

Ich schwamm auf ihn zu. Ich blickte hoch und sah in seiner Sonnenbrille mein Gesicht, mit einer Nase wie eine Glühbirne. Er hatte einen komischen Haarschnitt, die Haare kurz, ölig und gerade in die Stirn gekämmt wie ein römischer Soldat in einem Fernsehfilm.

Ein fetter Kerl mit Nylonbadehose, Armbanduhr, schwarzen Ledersandalen.

»Hör mal«, sagte er und beugte sich zum Wasser herunter.

»Nimm den Zimmerschlüssel, geh rein und amüsier dich. Da ist ein Mädchen, die wartet auf dich, große Titten, eine Bombe.«

»Das glaubst du doch wohl selber nicht«, sagte meine Schwester. Aber Cora sagte nichts. Sie wartete, wie die Geschichte weiterging, wartete mit zusammengepressten Lippen auf den Rest.

* * *

Ich sagte nein danke, und legte den Schlüssel auf den Boden neben die Sandalen des dicken Mannes.

»Zimmer 201«, sagte der Mann. »Falls du dir’s anders überlegst, da findest du sie.«

Was hatte das zu bedeuten? Ich stand auf, trat in meine Sandalen, nahm mein Handtuch und ging rauf in unser Zimmer. Warum? Das fragte ich mich. Was sie wohl kosten würde? Ging es so bei den Prostituierten zu? War der Dicke ein Zuhälter? Ich kam mir vor, als sei ich mit der zwielichtigen, schäbigen Seite der Welt in Berührung geraten. Meine Schwester kam herein, duschte, zog sich an, schminkte sich. Sie war jünger als ich: fünfzehn.

Am Abend aßen wir in einem Lokal namens »Sir Steak’s«, auf unserer Straße, fünfhundert Meter vom Motel, Richtung Stadt. Meine Mutter und mein Vater wollten sich Mitzi Gaynor ansehen. Meine Schwester las Frauenzeitschriften. Ich saß eine Weile herum, machte dann einen Spaziergang. Zuerst ging ich in die Wüste, trank eine Pepsi und sah mir die purpurfarbenen Schatten der Bergkette an. Dann fuhr ich mit einer undefinierbaren Erregung im Bauch mit dem Bus in die Stadt.

Sie war genau so, wie immer erzählt wird. Alte Damen wedelten mit Kasino-Gutscheinen. Busladungen voller Spieler. Betrunkene torkelten über die Bürgersteige. In Neonlicht getauchte Heiratspaläste. Münzen rasselten aus Spielautomaten heraus.

Sechzehn, allein und zum ersten Mal in meinem Leben in Vegas.

Ich ging durch Glitter Gulch, das Zentrum von Vegas. Ich stand vor dem Golden Nugget und sah hinein. Ich sah ein Rexall Drugs, geschlossen, einen Neoncowboy auf dem Dach eines Gebäudes, ein goldenes Hufeisen schwebte in der Luft. Ich saß in der Lobby des MGM Grand Hotels und hoffte, Tom Jones oder Frank Sinatra zu sehen. Tausende von Autos, Tausende von Menschen, alle in Eile, alle irgendwohin unterwegs, zu Orten, von denen ich nichts wusste.

Ich schlenderte herum. Ich holte mir eine Pepsi aus einem Automaten. Beobachtete Leute, die in einem Park Softball spielten. Nachtfalter torkelten im Flutlicht. Ich aß einen Beutel Kartoffelchips, pinkelte hinter einem Busch. Ich kaute Kaugummi und ging an den Kasinos vorbei. So viele hübsche Mädchen waren in Las Vegas unterwegs, nicht zum Aushalten, ich wäre fast gestorben.

Das habe ich ihnen zumindest erzählt. Eine vom Champagner inspirierte Wahrheit.

* * *

»Er guckt sich immer noch nach jeder Frau um«, sagte Cora. »Las Vegas braucht es gar nicht zu sein.«

»Na und, wer macht das nicht?«, sagte Larry. »Nenn mir einen Kerl, der immun dagegen wäre.«

»John bestimmt nicht«, sagte Cora. Sie schälte eine Kastanie mit dem Fingernagel. »John hat einen regelrechten Gummihals.«

»O Himmel«, sagte ich. »Hör auf!«

»Ist doch wahr«, sagte Cora.

»Okay, es ist wahr«, sagte ich.

Meine Schwester boxte mich auf den Oberarm. »Wollt ihr zwei wohl aufhören?«, sagte sie.

»Das Christkind in der Krippe und alles«, sagte Larry.

»Schluss jetzt, ihr beiden.«

»Es ist wahr«, sagte ich. »Mein Hals ist aus Gummi.« Ich zog den Kragen auf, damit sie es selbst sehen konnten.

»Cora kennt mich, sie hat schon recht.«

»Zum Teufel mit dem Unsinn«, sagte Larry.

»Zum Teufel womit?«, sagte ich.

»Du bist schon in Ordnung«, sagte Larry.

»Ich weiß«, sagte ich.

»Der hat sogar Augen im Hinterkopf«, sagte Cora. »Überall quellen ihm Augen raus, am ganzen Körper.«

»Solange es nur die Augen sind«, sagte meine Schwester. Sie beugte sich vor, sagte es noch einmal nachdrücklich.

»Mein Gott, gucken tut doch jeder

»Und damit hört es dann auch auf«, fügte Larry hinzu. »Jeder guckt, aber nicht jeder tut’s

»Das stimmt«, sagte ich. »Cora.«

»Erzähl deine Geschichte zu Ende«, sagte sie.

* * *

Las Vegas lag hinter mir. Ich machte mich zu Fuß auf den Rückweg zum Motel, schwitzte, erwischte dann einen Bus. Alles war ganz flach, es roch nach Wüste. Nur die zarte Purpurfarbe der Bergketten hob sich ab. Eine heiße Nacht, schwül und windstill.

Große Titten. Eine Bombe. Ich fing an, mir das auszumalen.

Ich fasste einen Entschluss: das Playboy-Heft aus dem Koffer holen, in die Wüste wandern, die Bilder von Raquel Welch angucken und unter den Sternen onanieren.

* * *

Stattdessen ging ich die Treppe zum zweiten Stock des Motels hinauf. Ich wollte nur mal durchs Fenster schauen, wenn sich das machen ließ – nur mal eine Ahnung davon bekommen, wie sie aussah.

»Ganz schön sexy, John«, sagte Larry und füllte mir das Glas wieder nach.

Die Vorhänge waren fest zugezogen. Ich stand da und horchte. Ich war wohl zu zappelig, denn auf einmal ging die Tür auf. Sie haben mich wohl am Fenster schnaufen hören.

Es war der Dicke. »Schön, dass du gekommen bist«, sagte er. Er trug Safarihosen, ein bunt bedrucktes Hawaiihemd, offen bis zum Nabel, sein behaarter Bierbauch quoll heraus. Seine kleinen Zähne sahen weiß und vollkommen regelmäßig aus. »Komm rein und trink was mit uns«, bot er an.

»Entschuldigung«, erklärte ich. »Ich hab mich geirrt.«

Der Dicke zeigte mit dem Daumen auf die Zimmernummer an seiner Tür.

»Zimmer 201«, sagte er. »Das hast du doch gesucht, deshalb bist du gekommen.«

* * *

Sie sah aus wie die Mädchen bei uns in der Schule. Mädchen, die niemand ansah. Niemand nahm sie wahr. Ich dachte, vielleicht stimmt ja mit mir was nicht, vielleicht habe ich die Mädchen nicht richtig angeguckt. Dieses Mädchen war auch so: schlank, mit langem glattem Haar. Sie saß mit einem Cocktail in der Hand in einem Sessel und wirkte sehr ruhig und kontrolliert. Ein dünnes Mädchen, höchstens zwanzig Jahre alt, mit einem Top und roten Kordhosen, ihr brauner Nabel das Zentrum des Ganzen.

»Das ist Suzette«, sagte der Dicke. »Ich bin Don. Du schwimmst verdammt gut. Unglaublich.«

Ich konnte kein Wort herausbringen. Alles, was ich vielleicht zu sagen gehabt hätte, war mir entglitten, ich wusste weder, wo ich war, noch wie ich hierhergekommen war. Als hätte ich plötzlich die Grenzen meines bisherigen Lebens überschritten. Don und Suzette, sagte ich mir. Namen aus einem Pornofilm.

»Stellt euch vor, ich hab das alles verpasst«, sagte meine Schwester.

»Lass ihn zu Ende erzählen«, sagte Cora.

Ich sah Larry zu, wie er eine Kastanie schälte. Das Feuer im Kamin war heruntergebrannt, nur orangefarbene Kohlen glommen noch vor sich hin. Die Schneeflocken draußen vor dem Fenster wirkten jetzt größer, die Straße war mit einer dünnen weißen Schicht bedeckt. An einer Ecke des Rasens bildete sich eine kleine Schneewehe – morgen würden die Kinder sich hineinlegen und Schnee-Engel machen.

»Mehr kann man nicht verlangen«, sagte meine Schwester glücklich. »Richtiger Schnee zu Heiligabend.«

Ich erzählte ihnen, was dann passierte. Suzette stand mit dem Glas in der Hand auf. »Entspann dich«, sagte sie zu mir.

»Ich weiß nicht, ob ich das kann«, antwortete ich.

»Doch, das kannst du«, sagte sie. »Es ist ganz einfach.«

Sie kam näher und küsste mich. Ich spürte ihre Zunge im Mund, den Druck ihrer Brüste, ihr Haar an meiner Wange.

»Don?«, sagte sie dann.

Ich sah auf: Der dicke Mann hatte sich das Hemd ausgezogen und ließ die Hose fallen, trat am Rand des Bettes aus ihnen heraus, er war nackt, weich, silbrig und haarig, hatte nichts mehr an als seine Armbanduhr.

»Ich möchte nur zusehen«, sagte er leise zu mir. »Bitte – du brauchst keine Angst zu haben.«

»Er guckt gerne zu«, erklärte Suzette.

»Ich bezahl dich«, sagte Don. »Kein Problem.«

Suzette nahm meinen Kopf zwischen die Hände und küsste mich auf die Wange – glitt mit der Zunge über meine Haut, es fühlte sich an wie eine Libelle. Ich war wie erstarrt. Suzette legte die Finger auf meinen Hemdknopf. Sie sah mir unverwandt in die Augen.

»Hab keine Angst«, sagte sie zu mir. »Bitte.«

Don hatte sich auf einem Sessel niedergelassen. Ein Tränenschleier stand vor seinen Augen.

»Hab keine Angst«, wiederholte Suzette.

Sie küsste mich wieder, knöpfte mir das Hemd auf. »Entspann dich«, redete sie mir zu. »Genieß es.«

Ich kam da irgendwie raus. Ich weiß nicht, wie. Ich weiß nur, dass ich mich in einem Flur wiederfand, an eine elektrische Eismaschine gelehnt.

»Buuh«, sagte Larry. »Ach komm! Ich war mir sicher, dass du mit ihr im Bett landen würdest, John.«

Ich sagte: »Um deine Frage zu beantworten, Cora, das ist alles; näher bin ich Sex mit einer Prostituierten nie gekommen.«

* * *

Aber als wir zum Schlafen hinaufgingen, redete sie nicht mit mir und sah mich auch nicht an.

»Was ist denn?«, sagte ich.

»Du«, flüsterte Cora.

Ich wusste nicht, was das heißen sollte. Also fragte ich sie.

Cora lag im Nachthemd auf dem Bett und redete an die Decke, in die Dunkelheit. »Du bist vom Sex besessen«, sagte sie. »Weißt du, was ich meine? Weißt du, was mit dir los ist? Was hat dich überhaupt dazu gebracht, zu dem Zimmer in dem Motel raufzugehen? Kannst du mir antworten, ohne mich, ohne uns anzulügen?«

»Ich war sechzehn«, sagte ich vorwurfsvoll.

»Sechzehn«, antwortete sie. »Das ist eine Lüge. Sechzehn – das erklärt gar nichts.«

»Ich bin doch weggelaufen, oder etwa nicht? Bevor irgendwas passiert ist. Ich bin doch rausgelaufen!«

»Du warst eben jung. Das hast du gerade gesagt.«

Sie schlug mit der Handfläche auf die Matratze, wandte sich ab, sah zum Fenster hinaus, wo der fallende Schnee einen leichten Vorhang vor der Dunkelheit bildete. »Was würdest du jetzt tun?«, fragte sie. »Die Antwort weiß ich, du brauchst gar nichts zu sagen.«

»Ich wär gar nicht erst da raufgegangen«, sagte ich.

»Das ist gelogen«, sagte Cora.

»Warum sollte ich lügen?«

»Weil du das immer tust. Und es nie zugibst. Das ist das Schäbige an dir.«

Sie stützte den Kopf in die Hand, als ob sie im Bett ein Buch läse, und starrte in den Schnee vor dem Fenster. Ihr Haar – ich weiß noch, dass ich dachte, wegen ihres Haares hab ich sie geheiratet –, schweres schwarzes Haar.

»Es ist eine Lüge«, sagte sie. »Sechzehn – das erklärt gar nichts. Ich weiß, wer du bist, John, besser als du selbst. Ich weiß, wie es in dir aussieht, immer und überall, wo wir sind.«

»Cora«, sagte ich. Aber dann konnte ich kein Wort mehr sagen. Ich wusste ja, wovon sie sprach. Ich wusste genau, was es war. Ich kannte dieses Ding in mir, auf das sie mich stieß. Ich log. Ich log sie an, obwohl es Weihnachten war. Ich wollte ihr nicht erzählen, wo ich gewesen war und was ich gewesen war, obwohl sie es im Grunde schon wusste. Sie fühlte es; ich hatte es um mich wie einen Geruch. Aber es war einfacher so – dazu entschied ich mich in dem Moment –, einfacher, alles auf sich beruhen zu lassen, statt darüber zu reden, also log ich. Es war eine gute Gelegenheit, die Wahrheit zu sagen, mag sein, aber ich log, weil es einfacher war. Ich sagte: »Ich war doch noch so jung. Das hat nichts mit mir zu tun, mit mir heute. Ich bin erwachsen. Ich bin ein anderer Mensch.«

* * *

Am nächsten Morgen war die Welt weiß und zerbrechlich, die Äste der Fichten bogen sich unter der Schneelast, ein kalter Wind wehte, und die Sonne war strahlend hell. Die Kinder packten ihre Geschenke aus, kreischten vor Freude, wir gingen hinaus und warfen im Garten mit Schneebällen, aßen gut zu Mittag, tranken Rumpunsch, es war alles nur ein Witz gewesen, die Geschichte vergessen, Weihnachten verdrängte alles andere.

Wir machten Schnee-Engel, Cora und ich, zogen die ausgestreckten Arme durch die Pulverschicht, hinterließen Flügel, die vor Neujahr schmelzen würden.

* * *

Was ist passiert? Das frage ich mich oft. Es war eine ganze Kette von Dingen, glaube ich, sie war so lang und so verwickelt, dass nicht mal ich sie entwirren kann. Zuletzt kam die Sache mit der Party bei irgendwelchen Leuten. Ich war im Swimmingpool. Küsste eine Frau im flachen Wasser. Wir hatten beide noch unsere Kleider an, weitgehend. Ich war zu betrunken. Danach war Cora fort.

Der Erste Tag

Den Morgen erwarteten wir in einem tristen kleinen Motel, in dem man die Jäger förmlich riechen konnte. Ich lag auf meinem Bett und lauschte den vagen Geräuschen aus dem Nachbarzimmer – Fremde spielten einsame Kartenrunden –, bis ich schließlich aufhörte, auf die Uhr zu sehen, und in der ersten Morgendämmerung meinen Vater und meinen Sohn weckte. Pop konnte sich zuerst weder umdrehen noch aufsetzen; er hustete rasselnd und hatte wenig Lust, den Frühaufsteher zu spielen: Alles tue ihm weh, es habe keinen Sinn, so zu tun, als wäre das nicht so. Aber Sean gähnte und riss sich kurz entschlossen aus seinen Träumen, sprang aus dem Bett, schoss ins Bad und ließ sein Nachtwasser laut plätschernd ab, kam zurück, lehnte sich lässig in die Motelkissen und stopfte Munition in die Taschen seiner Jacke. »Komm schon, Pop«, sagte er. »Auf geht’s.«

Pop knurrte, blinzelte und tastete nach dem Glas mit seinem Gebiss, sagte brummig aus dem Mundwinkel: »Immer langscham, Schohn. Bisch wie dein verdammter Vater. Immer allesch viel schu haschtig.«

Ich schüttelte den Kopf. Sie übertrieben beide ein wenig.

»Das ist schon lange her«, rief ich Pop in Erinnerung.

»Außerdem schläft Sean sonst morgens so fest, dass man Dynamit braucht, um ihn hochzujagen.«

Pop schob sich das Gebiss in den Mund. »Noch gar nicht so lange her«, sagte er, während er prüfte, ob die Zähne richtig saßen, man sah, wie der Kiefer mahlte und die langen Kerben in seinen Wangen tiefer wurden. »Wo kriegen wir Frühstück?«

Wir fuhren durch eine stille, frostige Dunkelheit; die mit Salbei bestandene Steppe fing gleich hinter der Straßenböschung an. Überall vor den herbstlichen, schamlosen Motels an der Straße luden Jäger auf Parkplätzen im Scheinwerferlicht der Autos ihre Ausrüstung ein, Atemwolken quollen ihnen aus dem Mund. Hunde umkreisten die Autos, kahle Zäune versperrten leere Swimmingpools, die letzten Blätter hingen noch an den Weiden, der Geruch der in einiger Entfernung liegenden Schlachthäuser hing in der Luft, Neonleuchten brannten unter einem leeren Himmel. »Was haben wir vergessen?«, dachte Pop laut vor sich hin. »In der Steppe gibt’s keinen Supermarkt.« Alle Geschäfte hatten zur Eröffnung der Jagdsaison schon um vier Uhr morgens auf, kleine anheimelnde Lichtinseln am Rand des Moses Lake, und boten das an, was man in letzter Minute brauchte. Fern im Westen, gegen die dunklen Berge und unser Zuhause hin, zog sich über den ganzen Horizont ein lockeres seidiges Wolkenband. Pop machte uns darauf aufmerksam. »Gegen Mittag gibt’s Wind«, sagte er voraus. »Könnte helfen.«

Beim Frühstück befanden wir uns in einer Welt, die nur aus Jägern bestand, einige in Tarnfarben, alle sehr darauf aus, das Essen schnell hinunterzuschlingen, die meisten, so schien mir, jünger als ich, aber nicht so jung wie Sean, viele von ihnen trugen eine entschlossene Ruhe zur Schau, die ihr unsägliches Jagdfieber verdecken sollte. Pop bot Sean seine Pfannkuchen drei oder vier Male an, bevor der Junge sie verlegen annahm. »Du brauchst sie«, erklärte Pop. »Iss auf. Na los, Junge.«

»Meinst du wirklich?«

»Wirklich.«

»Behalt die Hälfte.«

»Ich will sie nicht.«

»Aber später kriegst du dann Hunger.«

»Nimm schon.« Pop schob den Teller mit dem Messer weg.

»Jetzt iss sie schon auf. Nur zu.«

Er beobachtete Sean mit unverhohlenem Vergnügen: Ein gesunder Appetit war etwas, was er unter allen Umständen hochschätzte. Sean hielt die Gabel zwischen seinen kräftigen Zähnen, um die Hände frei zu haben, und ertränkte die Pfannkuchen in warmem Ahornsirup.

Pop hatte seine Pfeife angezündet und ließ sich von der Kellnerin die Thermoskanne mit gezuckertem Kaffee füllen. Als wir hinausgingen, war der kleine Vorraum voller Jäger, und auf dem Parkplatz waren noch mehr, sie rückten die Mützen zurecht und redeten ihren Hunden gut zu.

»Riechst du den Wüstensalbei?«, sagte ich zu Sean. »Das ist der stärkste Geruch hier draußen. Er ist überall.«

»Manche Stauden leben hundertfünfzig Jahre«, sagte Pop nachdenklich. »Den Salbei, den du riechst, hat schon Häuptling Joseph gerochen.«

»Riecht gut«, sagte Sean. »Nichts wie hin.«

Ich fuhr auf die Dodson Road. Steppe zur Linken, bewässerte Weizenfelder zur Rechten unter einem kalten Sternenhimmel. Wo die Straße den Fluss kreuzte, wurden Kanus zu Wasser gelassen. Die Parkplätze, an denen wir vorbeikamen, waren voller gerade aufgestandener Jäger, Campingwagen, Pick-ups, Wohnwagen, Lampenlicht hinter Gardinen. Ein paar Schatten irrten in der Ferne schon mit schwankenden Taschenlampen durch die Steppe. Der Herbstweizen war abgeerntet, aber die Stoppeln standen noch hoch genug, um den Vögeln Schutz zu bieten; in solchen Feldern liefen sie vor einem her und flogen erst auf, wenn ihnen nichts anderes übrig blieb. »Menge Korn hier«, stellte Pop fest. »Das warme Wetter hat dem Weizen gutgetan.« Wir kamen an einer einzelnen Spießente vorbei, die sich auf einem kleinen Teich niedergelassen hatte.

»Dafür haben die noch ungefähr anderthalb Stunden Zeit«, sagte Sean und wandte den Kopf, um sie zu beobachten, als wir vorbeifuhren.

Wir parkten an einem Gatter und teilten die Lockenten unter uns auf. Pop kam mit seinem Satz Enten nicht zurecht; Sean hielt ihm eine Weile die Lampe, während er sich das Gepäck langsam auf den Rücken lud, den Rucksack und die Riemen aus Manilahanf für die Lockenten, dieselbe Ausrüstung, die er nun schon gut fünfzig Jahre für die Jagd benutzte. Wir nahmen unsere Gewehre, ich drückte den Stacheldraht neben dem Gatter herunter, und wir stiegen über den Zaun in die Steppe und folgten der Doppelspur eines alten Viehweges.

»Der Trail wird jedes Jahr schlechter«, sagte Pop. »Gibt kein Vieh mehr.«

Sean sagte: »Wir brauchen doch gar keinen Trail hier draußen. Man kann doch einfach in Luftlinie auf den Fluss zulaufen.«

»Das Dumme ist nur, dass ich nicht durch die Luft fliegen kann. Ich hab immer Sand in den Stiefeln«, sagte Pop.

Nach ein paar Hundert Metern verlor Pop seine Enten; sie lösten sich ohne Vorwarnung von seinem Rücken und plumpsten ins Steppengras. Wir warteten, bis er sie umständlich wieder umgeschnallt hatte, Sean bohrte den Stiefelabsatz in den Sand und spielte mit den Patronen in seiner Jackentasche. Ich war zu warm angezogen und schwitzte schon, also knöpfte ich die Jacke auf und nahm die Mütze ab. Wir drei wanderten durch Sternmiere und Fingerhirse. Der Horizont war schon nicht mehr schwarz, sondern zartrot, als Pop auf die ersten Vögel des Morgens wies, die sich als Silhouetten vor dem Himmel abzeichneten: ein Zug Stockenten, elf oder zwölf, Richtung Nordwesten. »Die kommen von den Seen im Süden«, erklärte er uns, während er mit den Augen ihrem geschmeidigen Auf und Ab folgte. »Die wollen einfallen.«

»Kommt, wir müssen weiter«, sagte Sean. »Nun kommt doch.«

Er ging voraus. Pop und ich blieben eine Weile sitzen, mit den Rucksäcken an einen kleinen Sandhügel gelehnt.

»Wie geht’s dem Knie? Macht es dir zu schaffen?«

Pop rieb ein-, zweimal an der Außensehne entlang. »Es geht. Noch geht’s.«

Wir gingen auf einer kleinen Sandrippe und bildeten uns ständig ein, Fasanen im Salbei rascheln zu hören. Wir kletterten über eine schwarze Düne, arbeiteten uns zu einer Geländemarkierung hinab, gingen dann zwischen zwei sumpfigen, schilfbestandenen Teichen hindurch, wo wir im Laufe der Jahre immer mal wieder eine gute Strecke erlegt hatten, indem wir uns trennten und jeder für sich die flachen Stellen am Rand des Wassers durchkämmte. Pop hatte hier viele gute Tage erlebt; ich hatte ihn mehr als einmal einen Dreier schießen sehen. Mir fiel der Schof wieder ein, der vom Südteich aufgeflogen und auseinandergestoben war; zwanzig Jahre war es her, und damals hatte Pop in schneller Folge einen Vogel rechts und einen links getroffen und dann zum Schluss mit einem Schuss im Abstreichen unglaublicherweise einen dritten erwischt. Ich fragte mich, ob er das noch wusste. Oder ob all die Enten und sogar die Jagden im Hochland in seinem Gedächtnis verblassten.