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Titel

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ISBN 978-3-7751-7172-4 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5504-5 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2013
SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: info@scm-haenssler.de

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:
Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung 2006,
© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart
Weiter wurden verwendet:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM R.Brockhaus im SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.

Umschlaggestaltung: Yellow Tree – Agentur für Kommunikation und Design;
www.yellowtree.de
Titelbild: istockphoto.com
Autorenfoto: Eric Thevenet, ARD Hauptstadtstudio
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg




Für Helmut
und alle anderen,
die mir Gott groß und lieb gemacht haben.




Was ist der Erde Glück? Ein Schatten!
Was ist der Erde Ruhm? Ein Traum!
Du Armer, der von Schatten du geträumt!
Der Traum ist aus. Die Nacht allein noch nicht.


Franz Grillparzer: Das Goldene Vlies

Inhalt

Einleitung
Anspruch: Ich – jetzt – alles
 

Mythos 1:
Gott macht glücklich

Oder: Warum die Schwerkraft auch für Christen gilt und ihnen Flügel erst im Himmel wachsen
 

Mythos 2:
Gott macht prominent

Oder: Warum fromme Stars schnell verglühen oder gar nicht erst hochkommen
 

Mythos 3:
Gott macht mächtig

Oder: Warum die deutschen Kirchen in der Krise stecken und Amerika es auch nicht besser hat
 

Mythos 4:
Gott macht brav

Oder: Warum auch bei Christen der Keuschheitsgürtel locker sitzt
 

Mythos 5:
Gott macht schlau

Oder: Warum Christen die richtige Sicht haben, aber nicht den Durchblick
 

Schluss
Wirklichkeit: Jesus
 

Literatur

Einleitung | Ich - jetzt - alles

Kapitelanfang

42.

Laut dem satirischen Science-Fiction-Roman »Per Anhalter durch die Galaxis« von Douglas Adams ist diese Zahl die Antwort auf »die Frage nach Leben, dem Universum und allem«.

Trifft sich gut.

Denn 42 Jahre alt bin ich selbst.

Das bedeutet: Halbzeit, jedenfalls gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung.

Ich weiß mittlerweile ganz gut Bescheid. Ich habe schließlich in der Schule des Lebens gut aufgepasst und wahrscheinlich noch genug Zeit, mein Wissen anzuwenden. Für mich hat die zweite Lebenshälfte begonnen. Die Konsolidierungsphase, in der das, was man sich in der ersten Lebenshälfte aufgebaut hat, verwaltet, verfeinert und irgendwann losgelassen wird. Ich muss mich allmählich damit abfinden, nicht mehr auf dem aufsteigenden Ast zu sitzen, sondern froh zu sein, wenn der Ast unter mir überhaupt noch mein Gewicht trägt.

Und damit bin ich schon bei der Leitfrage dieses Buchs.

Was trägt überhaupt?

Mein ganzes bewusstes Leben lang bin ich Christ gewesen. Mein erstes Gebet, in dem ich aus meinem begrenzten Wortschatz – souffliert von meiner Mutter – eine Art Glaubensbekenntnis formulierte, habe ich mit drei Jahren gesprochen. Die Euphorie, die manche Neu-Christen dabei empfinden, wenn sie aus einer Haltung des Unglaubens heraus eine radikale Lebenswende hin zu Gott vollziehen, kenne ich nur vom Hörensagen. Ich nenne diese frühe Imprägnierung mit dem Glauben den »Obelix-Effekt«. Wer bereits als Kind im Zaubertrank der Jesus-Beziehung badet, wird nie die Magie des ersten Schlucks erleben. Der Vorteil des Obelix-Effekts: Er konditioniert das Hirn frühzeitig und kleidet den Glauben von vornherein in eine Aura der Selbstverständlichkeit.

Egal, was noch kommt:

Die Kirche, das heißt, das Miteinander mit anderen Christen, wird für mich immer Heimat sein. Und der Himmel wird immer mein Sehnsuchtsort bleiben.

Was nicht die theoretische Möglichkeit ausschließt, dass ich heimat- und ziellos werde.

Ich wäre nicht der erste Christ, dem das passiert.

Was geschieht, wenn die Antworten, die mir der Glaube gibt, nicht mehr zu den Fragen passen, die mir das Leben stellt? Wenn ich mir den Kopf darüber zerbreche, warum wieder einmal die Ehe eines christlichen Freundes zerbrochen ist – und die Erklärungsversuche der Pastoren sich anhören wie »42«: schlicht und unbefriedigend? Was hat Hiob davon, dass er Gott nach dem Grund für sein Leiden fragt – so lästerte der Schriftsteller George Bernard Shaw einmal – und Gott ihm antwortet: »Kannst du den Leviatan fangen?«

Oder stelle ich nur die falschen Fragen? Muss ich meine Erwartungshaltung korrigieren? Meine Glücksansprüche reduzieren? Hat Gott, wie manche Prediger suggerieren, tatsächlich einen wundervollen Plan für mein Leben? Oder gar keinen?

Oder nur einen wunderlichen?

Meine Heiligung zum Beispiel.

Ein merkwürdiges Wort, das nach schrulliger Askese klingt.

Was ist denn nun damit?

Bisher habe ich mir nicht sonderlich viele Gedanken darüber gemacht.

In meinen ersten zehn Lebensjahren war ich einfach nur da.

In meiner Teenagerzeit habe ich angefangen nachzudenken. Darüber, wer ich eigentlich bin.

In meiner Studentenzeit, die in meine Zwanzigerjahre fiel, bin ich in die Welt aufgebrochen, habe meinen Horizont erweitert und meinen Kopf mit Wissen gefüllt.

In meinen Dreißigern habe ich mich vom Lernen aufs Machen verlegt, auf die Karriere und auf das Ausleben meiner geistlichen Berufung. Ich habe mir meinen Platz an der Sonne gesucht, meinen Liegestuhl immer ein Stückchen weiter hin zum Meer verlegt.

Und jetzt?

Fängt die Besitzstandswahrung an. Verteidige ich mein Handtuch gegenüber denen, die sich drauflegen wollen. Passe ich auf, dass ich keinen Sonnenbrand kriege. Dass mich kein Tsunami wegschwemmt. Dass ich anderen dabei helfe, ihren eigenen Platz an der Sonne zu finden.

Ich bin in dem Alter, in dem sich die Grenzerfahrungen häufen, in dem deutlich wird, dass sich bestimmte Berufswünsche und Beziehungssehnsüchte nie erfüllen lassen werden. Mit Anfang vierzig ist klar, dass sich ein Tagtraum, dem ich seit meiner Teenagerzeit nachgehangen habe, nicht einmal theoretisch umsetzen lassen wird. Ich werde nie aufgrund eines genialen Probetrainings einen Vertrag bei Bayern München unterschreiben und werde nie im Champions-League-Finale kurz vor Schluss beim Stand von 0:2 eingewechselt. Ich werde mich nie in der vorletzten Minute vom eigenen Strafraum zum gegnerischen Tor durchdribbeln und den Anschlusstreffer erzielen. Ich werde nie in der letzten Minute eine Eckball-Flanke aufnehmen und das Leder aus dreißig Metern volley in den Winkel knallen. Ich werde nie in der letzten Minute der Nachspielzeit eine Ecke direkt ins Tor dreschen.

Schluss mit den kindischen Fantasien.

Ich möchte ein reifer Mensch sein.

Und ein Gottesmann.

Deshalb nervt es mich, wenn ich meine Gehirnkapazitäten nicht darauf verwende, einfach ein vorbildliches Leben zu führen, sondern stattdessen grüble. Ob meine Erfahrungen in mein Weltbild passen – oder ob der neue Wein frischer Eindrücke die alten Schläuche meines Credos zum Platzen bringt.

Vielleicht ist das das Schicksal von Intellektuellen und solchen, die sich dafür halten. Das Reale und das Ideale permanent miteinander abzugleichen. Das ist schließlich eine Grundvoraussetzung für Weisheit: nichts absolut zu nehmen, sondern alles relativ zueinanderzusetzen. Muster zu bilden. Kontexte zu erkennen. Paradigmen zu entwickeln.

Sätze, die mich fuchsen, sind:

»Ist eben so.«

»Glaub halt einfach.«

Sorry, aber das kann ich nicht.

Für mich kommt nämlich erschwerend hinzu, dass ich Journalist bin.

Journalisten sind notorische Skeptiker. In keinem anderen Berufsstand ist der Anteil der Agnostiker und Atheisten so hoch. Das liegt nicht etwa daran, dass Zeitungsreporter und Fernsehredakteure einem zynischen Materialismus zuneigen und alles miesmachen wollen.

Im Gegenteil.

Sie wollen die Welt besser machen.

Den meisten meiner Kollegen kann ich attestieren, dass sie Idealisten sind. Sie haben eine Vorstellung von Perfektion und messen die Verhältnisse daran. Logisch, dass die Verhältnisse dabei meist schlecht abschneiden. Auch deshalb, weil der journalistische Spürsinn dafür sorgt, dass zu jedem Argument auch ein Gegenargument gefunden wird.

Wer viel von der Welt gesehen hat, der hat immer ein »obwohl«, »dennoch«, »gleichzeitig«, »trotzdem«, »andererseits« auf den Lippen.

Ich bin realistischer geworden – und weniger idealistisch.

Ist das nun eine gute oder schlechte Entwicklung?

Der sozialdemokratische Nachkriegspolitiker Kurt Schumacher hat den richtigen und wichtigen Satz geprägt: »Politik beginnt mit dem Betrachten der Wirklichkeit.«

Das mache ich selbst nun seit fast einem Vierteljahrhundert. Die Wirklichkeit betrachten. Erst als Historiker die der Vergangenheit. Dann als Reporter die der Gegenwart. Seit zehn Jahren arbeite ich als Hauptstadtkorrespondent fürs Fernsehen. Ich habe unzählige Experten interviewt, zahllose Konferenzen besucht und mittlerweile fast hundert Länder bereist. Zuletzt war ich in Asien unterwegs. Ich habe buddhistische, hinduistische und muslimische Zeremonien beobachtet. Und mich darüber gewundert, dass viele Rituale sich nicht sonderlich von denen unterscheiden, die ich in Kirchen mitverfolgt habe. Da wird Weihrauch verbreitet, werden Glöckchen geläutet, Kniefälle gemacht, Gebete gemurmelt, Anbetungsformeln gesungen.

Und immer schwingt da bei mir die Frage mit: Was macht den christlichen Glauben eigentlich aus bzw. so besonders?

Oder handelt es sich bei den Religionen, wie einige ihrer Kritiker betonen, um dieselbe Soße, die das fade Leben schmackhafter machen und den ätzenden Beigeschmack der Todesangst abmildern soll?

Fakt ist: Auch vielen Christen geht es dreckig, und manche Christen machen selbst schmutzige Sachen.

Noch weitaus größer ist die Zahl der Menschen, die jeden Tag für eine geistliche Erneuerung in Deutschland beten. Aber das spirituelle Siechtum verschlimmert sich nur. Die vielen Gemeinde-Start-ups, die vorzugsweise in coolen Metropolen gegründet werden, verschleiern das kirchliche Massensterben in der Fläche.

Laut einer Meldung der Katholischen Nachrichtenagentur kommen auf jeden Angestellten der katholischen Kirche nur drei Menschen, die regelmäßig in die Kirche gehen. Bei der evangelischen Konkurrenz ist das Verhältnis von Kirchen- und Diakonie-Angestellten zu Gottesdienstbesuchern nahezu 1:1. Ich habe laut geächzt, als ich die Statistik gelesen habe.

Da hilft kein zweckoptimistisches Beschönigen der Lage. In Deutschland glauben immer weniger Menschen an die Existenz Gottes und noch weniger daran, dass sie ihr Leben nach ihm ausrichten sollten. Die bekennenden Christen verkümmern von einer beträchtlichen Minderheit zu einer randständigen Splittergruppe. Trotz aller frommen Verbände, die die positive Veränderung der Gesellschaft in ihre Agenden hineingeschrieben haben, geht der christliche Einfluss kontinuierlich zurück – in Westeuropa genauso wie in Nordamerika. Weil sich das öffentliche Leben nicht nach der Wahrheit richtet, sondern nach der Mehrheit.

So ist nun einmal die Welt, in der wir leben. Sie besteht, wie das ganze Universum, aus Masse und aus Energie. Leider kommen wir Christen nicht nur auf ziemlich wenig Masse, sondern wir produzieren auch ziemlich wenig Energie, nicht zuletzt an den Spitzen unserer Gemeinden und Verbände. Damit meine ich nicht die Generation, die in den letzten Jahren an den Schaltstellen gesessen hat. Sie erscheint vielen Nachgeborenen zwar als zu konservativ, zu provinziell, zu bieder – und manchmal sind ihre Vertreter es auch. Dabei wird übersehen, dass es sich bei vielen Leitern von christlichen Werken um echte Pioniere handelt, die eine beachtliche Aufbauarbeit geleistet haben.

Diejenigen, die nun an ihre Stelle rücken, sind oft geschmeidiger und eloquenter. Sie bloggen, twittern, können Salsa tanzen, Cocktails mixen und alle Episoden angesagter Kult-Fernsehserien wie »Dexter«, »Mad Men« oder »Game of Thrones« nacherzählen.

Aber werden sie ihre Schäfchen verteidigen, wenn die Wölfe kommen?

Auf einer großen Kirchenkonferenz in den USA habe ich einen Jungpastor getroffen, der vom »Time«-Magazin unter die hundert einflussreichsten Amerikaner gewählt worden war: Rob Bell. Er nahm an einer Podiumsdiskussion teil, parlierte witzig und charmant. Die Moderatorin fragte ihn danach, wovor er die größte Angst habe. Er kreuzte seine Beine, lehnte sich zurück und lächelte. Ich weiß nicht mehr, welche Antwort ich mir gewünscht hätte. Vielleicht: »Ich fürchte mich vor dem Tod.« Oder: »Ich fürchte mich davor, dass andere Menschen verloren gehen.«

Rob Bell sagte stattdessen: »Ich habe Angst davor, dass ich kein Risiko mehr eingehe.«

Kurz darauf habe ich dieselbe Frage einem meiner geistlichen Mentoren gestellt: ein erfahrener Prediger, seit fast einem halben Jahrhundert unterwegs im Auftrag des Herrn. Er antwortete spontan: »Dass ich Gott seinen Ruhm streitig mache.«

Das hat mich beeindruckt.

Auch, weil ich innerlich oft näher bei Rob Bell und anderen selbstbewussten und ein wenig selbstverliebten Macher-Christen bin.

Schließlich gehöre ich genauso zu der Spezies ultramoderner Menschen, die einen Großteil ihrer Zeit nicht damit zubringen, sich um das Wohl anderer zu sorgen, sondern am aufgeräumten Schreibtisch über mich selbst zu reflektieren. Ja, ich möchte gerne geistliche Verantwortung übernehmen. Aber noch lieber möchte ich eine Million Bücher verkaufen, mir von dem Erlös ein Strandhaus im kalifornischen Malibu kaufen und dort weiterschreiben – darüber, wie wir Christen die Welt verändern können.

Dabei läuft längst ein Transformationsprozess.

Leider in die falsche Richtung.

Die Welt wird nicht christlicher.

Aber die Christen werden weltlicher.

Neulich war ich zu Besuch in einer neu gegründeten Gemeinde, die für die Vielzahl ihrer U30-Mitglieder bekannt ist. Davon fehlten an diesem Sonntagmorgen jedoch viele. Sie waren zu einem säkularen Rockfestival gefahren.

Ich sag ja nichts.

Hab ich ja selbst schon gemacht.

Noch vor ein paar Jahrzehnten wäre es undenkbar gewesen, dass bekennende Christen sich so verhalten.

Heute geht irgendwie alles und gleichzeitig doch nicht. Kein Masterplan in Sicht, außer dem, sich irgendwie als Christ durchzuwurschteln. Aber wohin, wenn kaum noch einer weiß, wo vorne und wo hinten ist?

Christen sind eben auch nur Menschen, und Menschen neigen dazu, das zu glauben, was ihnen bessere Gefühle beschert. Schöne Lügen sind deshalb erfolgreicher als harte Wahrheiten. Und kaum eine Lüge ist weltweit erfolgreicher als die, dass es einen kausalen Zusammenhang gibt zwischen einem erfolgreichen, sorgenfreien, langen, glücklichen Leben und dem richtigen Glauben.

Dieses kindische Anspruchsdenken ist auch unter Christen verbreitet, nämlich die Annahme, dass Gott uns hier und jetzt glücklich machen will – und zwar gemäß unserer eigenen Vorstellungen von Glück.

Wenn wir ihn nur lassen.

Die einen lassen sich eher von materialistischen Glücksvorstellungen leiten. Sie denken an eine solide finanzielle Ausstattung, ein abbezahltes Haus und mindestens eine Fernreise pro Jahr. Die anderen folgen post-materialistischen Vorstellungen von Selbstentfaltung und Aufgehobensein in einer fröhlichen Gemeinschaft. Im Vordergrund steht aber bei beiden Gruppen der Wunsch, die eigenen Lebensentwürfe von Gott absegnen zu lassen. Gott als Wunscherfüller, als Coach, als Therapeut. Dabei geht es beim christlichen Glauben doch darum, dass wir uns in die Entwürfe einfügen, die Gott für uns hat – und die womöglich nicht sonderlich spaßig sind.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Ich bin nicht etwa depressiv gestimmt, noch nicht einmal melancholisch. Ich behaupte von mir: Ich bin glücklich. Ich bin gesund, ich habe einen großartigen Job, nette und spannende Kollegen, tolle Freunde, vor allem eine phänomenale Familie. Und ich bin Gott dankbar dafür.

Aber ich führe meine relative Sorgenfreiheit nicht auf meine geistliche Leistung und meine theologische Ausrichtung zurück. Viele Christen, die ich in Indien und Laos getroffen habe, zahlen einen viel höheren Preis für ihren Glauben, ohne dass sie dafür einen materiellen Gegenwert bekommen. Sie sind froh, wenn sie für ihre Überzeugungen nicht drangsaliert werden und wenn sie den Karrieresprung vom Fahrradrikscha-Chauffeur zum einfachen Taxifahrer schaffen.

Neulich habe ich wieder eine Predigt gehört, in der ein Kausalzusammenhang von Gottvertrauen und Dolce Vita suggeriert wurde. Der Predigt lag ein Trostvers aus dem Buch des Propheten Jesaja zugrunde: »Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde« (Jesaja 43,18-19).

Der Pastor leitete daraus die Verheißung beruflicher und beziehungsmäßiger Aufbrüche ab. Jetzt. Für alle. Zumindest alle, die kräftig glauben. Er erwähnte nicht, dass der Text sich an verarmte, deportierte, völlig demoralisierte Juden richtete, ungefähr ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt. Einige ihrer Nachkommen schafften es tatsächlich, aus dem Exil zurück in ihre Heimat zu kommen. Dort warteten sie auf die Erfüllung der Verheißung, während sich die Großmächte abwechselten, die sie drangsalierten: die Babylonier, die Perser, die Griechen, die Römer. Die Juden dagegen warteten auf die Vernichtung ihrer Feinde, die Wiederherstellung alter Stärke, ja den Triumph über die Nachbarvölker.

Sie warteten vergeblich.

Erst ihre Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkel erlebten die Einlösung der Verheißung. Aber anders als sie erwartet hatten. Sie kriegten keinen Wohlstand. Keinen Frieden.

Sie kriegten Jesus.

Wobei: Die meisten der damals lebenden Juden kriegten das noch nicht einmal mit.

Stattdessen erlebten sie und ihre Kinder, wie ihr Land im Jahr 70 nach Christus in einem Vernichtungskrieg, der alle bisherigen Grausamkeiten übertraf, zerstört wurde. Historiker gehen von bis zu einer Million Toten aus.

Ich kann nachvollziehen, dass Pastoren sich selbst und ihren Gemeindeschäfchen solche heiklen Zusammenhänge lieber ersparen.

Dabei ist die Bibel voll von solchen Herausforderungen für unsere schlichten Gemüter.

Das soll einer verstehen.

Kann man das überhaupt?

Ach, das Leben könnte so einfach sein.

Wenn der Glaube nicht wäre.

Aber auch so banal und hoffnungslos.

Ein Leben ohne Jesus, ohne Vertrauen auf liebevolles Getragensein und ohne Hoffnung auf ewiges Leben ist für mich nicht vorstellbar. Aber es wäre vermutlich weniger kompliziert.

Wer liebt, lebt intensiver, aber auch extremer und unvorhersehbarer.

Wer liebt, leidet.

Deshalb geht der Gott, der die Welt liebt, für sie ans Kreuz. Und deshalb kriegen die Menschen, die Jesus nachfolgen, zwar den Sündenballast abgenommen, aber neue Lasten auferlegt, neue Sorgen, neue Verantwortlichkeiten, neue Fragen. Sie ringen mit dem Missverhältnis zwischen dem, was sie erleben, und dem, was sie glauben.

Christsein heißt, überzeugt sein, dass der allgemeine Anschein trügt und dass das wahre Leben hinter den brüchigen Kulissen der sichtbaren Welt stattfindet.

Wer glaubt, ist gerade nicht der unkritische Abnicker, sondern im Gegenteil der Nonkonformist, der die Grenze der Endlichkeit überschreitet.

Wer Christ ist, der glaubt dreierlei:

Erstens: dass Gott da ist und sich in Jesus Christus offenbart hat.

Zweitens: dass das Konsequenzen hat. Nämlich die, die Jesus als doppeltes Liebesgebot formuliert hat (»Liebe Gott von ganzem Herzen und deinen Nächsten wie dich selbst«).

Drittens: dass am Ende alles gut wird.

Aber eben erst am Ende.

Bevor wir im Licht ankommen, müssen wir durch den Tunnel. Und der ist eng, schlecht beleuchtet und hat viele Nebengänge, die viel heller sind, aber in Sackgassen enden. Da verlaufen sich auch die klügsten Christen schon mal. Gerade die.

Der amerikanische Philosoph George Steiner hat ein ganzes Buch der Frage gewidmet »Warum Denken traurig macht«.

Mein Buch geht der Frage nach, warum das Nachdenken über den christlichen Glauben mitunter traurig macht. Und zwar unter anderem deshalb, weil unsere eigenen Ansprüche und die Wirklichkeit des Lebens so weit auseinanderklaffen. Aber auch, weil die Welt, aus der das Christentum kommt, und die Welt des 21. Jahrhunderts so fundamental anders sind.

Jesus, Augustinus und Luther lebten in einer Welt der Pflichten und Vorfestlegungen.

Wir leben in einer Welt der Verlockungen und Möglichkeiten.

Das führt in der geistlichen Praxis zu manchmal irrsinnigen Übersetzungsverrenkungen. Und zu Zweifeln. Und zu Traurigkeit. Und zu einem erheblichen Verlust an kreativer Energie.

Neulich habe ich an einer privaten Gesprächsrunde teilgenommen, in der christliche Führungskräfte darüber diskutierten, wie sie die Welt in eine bessere Richtung schubsen können. Am Anfang des Gesprächs sollte jeder der Teilnehmer sein aktuell wichtigstes Anliegen formulieren. Einer wünschte sich für Deutschland eine missionarische Offensive. Einer erhoffte sich eine Senkung der Abtreibungszahlen. Einer sagte, was die meisten anderen auch dachten, aber sich nicht zu sagen trauten: »Dass ich endlich weiß, zu wem ich mit meinen Glaubenszweifeln gehen soll.«

Allgemeines Kopfnicken.

Er sprach uns allen aus der Seele.

Wer glaubt, lebt in einem Zustand kognitiver Dissonanz zwischen dem Realen und dem Idealen. Unsere Gehirne mögen das nicht. Sie bevorzugen Schlüssigkeit. Sie strengen sich an, kognitive Spannung abzubauen.

Ich behaupte, dass das noch nie so schwierig war wie heute.

Das Leben in vorformatierten Schablonen ist zwar langweiliger, aber einfacher als die Existenz in der freien Wildbahn, in der man sich neuerdings nicht einmal des eigenen Geschlechts sicher sein kann.

Der Hunger ist in unseren Breitengeraden besiegt.

Dafür grassieren die Depressionen.

Die Welt ändert sich gerade in einem noch nie da gewesenen Ausmaß und Tempo. Der technische Fortschritt galoppiert, die globale Vernetzung schreitet immer weiter voran, und die moralischen Einstellungen ändern sich nicht, wie früher, im Takt von Jahrhunderten, sondern von Jahrzehnten, manchmal Jah