Buchinfo

Herr Swart, der neue Philosophielehrer, ist etwas speziell. Angefangen bei seinem merkwürdigen braunen Anzug bis hin zu seinen unkonventionellen Methoden. Er klettert mit den Schülern in den Keller, um das Höhlengleichnis von Platon mal so richtig am eigenen Leib zu erfahren und lässt auch sonst nichts aus, damit aus ihnen echte Philosophen werden, die sich die Köpfe heiß reden, immer tiefer nachdenken und wieder diskutieren. Ausgang ungewiss, auch für Herrn Swart.

Ein Roman, der Philosophen anhand von griffigen Gegensätzen vorstellt und zeigt, dass diese Gedanken jede Menge mit uns zu tun haben: Aristoteles, Kant, Aquin, Augustinus, Mill, Kristeva, Locke, Arendt, Descartes, Spinoza, Socrates, Platon, Marx und Nietzsche.

Autorenvita

Janny van der Molen

© Frouke Feijen

Janny van der Molen, geboren 1968, ist Journalistin, Theologin und Mutter einer Tochter und eines Sohnes. Sie hat lange im Bereich Kommunikation und Journalismus gearbeitet. Jetzt widmet sie ihre Zeit und Energie vor allem Kinderbüchern. Sie hofft, dass ihre Bücher Kinder dazu ermutigen, sich gesellschaftlich zu beteiligen und sie anregen das Beste aus sich und anderen herauszuholen.

www.jannyvandermolen.nl

Haupttitel

Prolog

Habt ihr einen Lieblingslehrer oder eine Lieblingslehrerin?

Ich hatte so jemanden. Herrn Swart. Er war ein seltsamer Mensch, trug jeden Tag denselben braunen Anzug und stellte im Unterricht oft eines seiner langen, dünnen Beine auf seinen Tisch. Dann stützte er sich auf das angewinkelte Knie und schaute uns eindringlich an. Vor Herrn Swarts Blick gab es kein Entrinnen.

„Mein“ Herr Swart unterrichtete zwar nicht Philosophie, aber sicher hätte er auch das sehr gut gekonnt. Er stellte uns nämlich durchaus philosophische Fragen. Einmal wollte er nach dem Unterricht von mir wissen, warum ich es mir so schwer machte. Es war keine unangenehme, sondern eine weise Frage. Mir fiel es nämlich tatsächlich schwer, mit dem vorgegebenen Tempo und Niveau Schritt zu halten, aber ich hatte nun mal beschlossen, alles genau wie geplant durchzuziehen. Nur: warum eigentlich? Das hatte ich mir noch nie überlegt gehabt.

Es war die richtige Frage zum richtigen Zeitpunkt. Ich beschloss, nicht mehr so streng mit mir zu sein, wählte Griechisch und Latein ab und machte als ein zufriedener Mensch mein Abitur. Herrn Swarts Frage habe ich nie vergessen. Und ihn selbst auch nicht. Als Dankeschön heißt der Lehrer in diesem Buch Herr Swart.

Ich widme das Buch allen Swarts – also jenen Lehrerinnen und Lehrern, die Jugendlichen genau die richtigen Fragen stellen.

Wir hatten am Gymnasium keinen Philosophieunterricht. Das ist mittlerweile anders. Schon in Grundschulen wird mit Kindern philosophiert, und auch in den weiterführenden Schulen wird immer öfter Philosophie unterrichtet.

In diesem Buch will ich euch von einigen großen Philosophen erzählen. Es hätten viel mehr sein können oder auch andere. Und von den vielen Gedanken, die sie sich machten, hätte ich auch andere auswählen können. Aber das hier ist ja kein Lehrbuch und beansprucht daher auch nicht, besonders ausführlich oder gar vollständig zu sein.

Eigentlich will ich nicht mehr, als euch neugierig machen und zum Nachdenken über große Fragen anregen. So wie Herr Swart mich zum Nachdenken brachte über eine Frage, die für mich wichtig war. Denn genau das ist es, worum sich die Philosophie dreht: Fragen stellen. Immer wieder. Nach dem zu suchen, was wahr ist, und zu wissen, dass es viele Antworten gibt und dass es sinnvoll ist, sie allesamt ernst zu nehmen. Um anschließend die nächste Frage zu stellen.

Dieses Buch hätte ich nicht ohne das Wissen, das Mitdenken und den Zuspruch eines Lehrers schreiben können, der viele Jahre nach Herrn Swart meine Pfade kreuzte: Hans de Vries, mein Philosophieprofessor an der Universität von Amsterdam. Großen Dank schulde ich auch Susan Brooijmans, Lektorin beim Ploegsma-Verlag, die durch ihre eigene Liebe zur Philosophie dieses Buch klarer und gedanklich schärfer machte. Die überraschenden und treffenden Illustrationen in diesem Buch zeigen, dass auch in dem Grafikdesigner Steef Liefting ein Philosoph steckt. Danke!

Und last but not least möchte ich Primo Ish-Hurwitz danken, der als Mitleser und derzeitiger Gymnasiast den Text nicht nur großartig kritisierte, sondern auch kreative Verbesserungsvorschläge einbrachte.

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, sagte Sokrates. Das ist eine tiefe Wahrheit. Dennoch hoffe ich, dass ihr beim Zuklappen dieses Buches etwas mehr über die großen Denker wisst. Und am besten noch mehr über euch selbst.

De Knipe, Januar 2014

Janny van der Molen

Kapitel 1

IDEE & MATERIE

Illustration

Ich weiß, dass ich nichts weiß

Als Sven an diesem Morgen die Treppe hinaufgeht, sieht seine Welt nicht mehr ganz so rosig aus. Es ist Anfang September. Die Sommerferien sind vorbei. Abgesehen von einer kurzen Reise nach Rom, vom Zeitungsaustragen und dem bisschen Mithelfen zu Hause hat er es all die Wochen langsam angehen lassen. Im Grunde genommen hat er die meiste Zeit mit Bram abgehangen. Der perfekte Sommer also.

Doch das war’s dann erst mal mit der Freiheit. Ab jetzt heißt es wieder früh aufstehen, Schule, Hausaufgaben, Fußballtraining. Andererseits ist es auch schön, endlich wieder alle in der Schule zu sehen. Wie ihre Ferien wohl waren? Jelle wird wieder sowohl mit seinem Vater als auch mit der Mutter unterwegs gewesen sein. Loubna hat sicher wieder die ganze Zeit zusammen mit ihrer Familie in Marokko verbracht. Und Wouter war bestimmt wieder mit seiner Mutter zelten an der Nordsee.

Sven packt seine Tasche, wirft einen prüfenden Blick in den Spiegel und geht die Treppe hinunter.

„Hi“, sagt er zu seinem Vater, der am Frühstückstisch sitzt und in die Zeitung versunken ist. Der hebt abwesend den Kopf.

„Guten Morgen, Sven“, sagt er und liest direkt weiter. Sven nimmt seine Pausenbrote und greift nach der Erdnussbutter. „Hm“, sagt sein Vater und schüttelt den Kopf. Sven gießt sich ein Glas Tee ein. Der Vater murmelt irgendwas, faltet nachdenklich die Zeitung zusammen und steht auf.

„Ist was?“, fragt Sven.

Sein Vater schüttelt nur den Kopf. „Ich muss los. Dein erster Tag heute, oder?“

Sven nickt.

„Pack’s gut, Großer.“

„Danke.“

Als sein Vater die Tür hinter sich zuschlägt, nimmt Sven die Zeitung und sucht nach dem Artikel, der den Vater so beschäftigt hat. Ein Foto von einem Haus war auch dabei, hat Sven gesehen. Er blättert so lange, bis er die Seite gefunden hat. Wohltäter kommt Jugend zu Hilfe, lautet die Überschrift. Sven überfliegt den Artikel: Ein reicher Bürger der Gemeinde will, dass in einem seiner Häuser eine Anlaufstelle für obdachlose Jugendliche eingerichtet wird. Er möchte mit der Gemeinde über die nötigen Genehmigungen sprechen. Das Foto zeigt ein schönes Haus. Hoch, mit einer schweren, hölzernen Tür, in der es so eine altmodische Klappe gibt. Offensichtlich steht es leer.

Sven faltet die Zeitung zusammen und legt sie beiseite. Wenn das alles ist! Sein Vater sitzt im Stadtrat, seine Reaktion vorhin wird wohl irgendwie damit zusammenhängen. Schon zehn vor acht, Zeit, loszuradeln.

„He, Bram!“ Sven schiebt ein paar Sechstklässler beiseite und winkt seinem Freund.

Bram lacht. „Nicht so gemein zu den Kleinen, Mann!“

„Hast du den Stundenplan schon? Wo müssen wir überhaupt hin?“

„Raum 113. Philosophie. Swart heißt der Typ.“

„Ach ja, der Neue“, seufzt Sven. „Ich habe am Wochenende sogar kurz in das Buch geschaut. Voll öde. Und irgendwie hab ich nichts kapiert.“

„Und genau damit geht’s los in der ersten Woche. Bingo!“

Vor dem Raum 113 herrscht lautes Chaos. Tijmen quasselt auf Sanne ein, Loubna kommt dazu, Wouter ebenfalls. Alle reden durcheinander. Nach sieben Wochen Ferien steht einiges an. Bram knufft Sven in die Seite und zeigt vor zum Ende des Flurs. Ein großer, hagerer Mann kommt in ihre Richtung. Er bewegt sich schlaksig in seinem altmodischen braunen Anzug. Sein Gesicht ist klein, der Hals auffallend lang, schütteres, braunes Haar. Der würde ohne Weiteres als Comicfigur durchgehen. Als er näher kommt, fallen Sven die stechenden, braunen Augen dieses seltsamen Mannes auf. Offensichtlich ist er der Philosophielehrer. Sven sieht, wie auch Loubna und Sanne vielsagende Blicke tauschen. Was für ein schräger Vogel!

„Guten Morgen, Leute“, sagt dieser Herr Swart freundlich. „Genug geschlafen, um ein Stündchen nachzudenken?“

Gemurmel.

„Kommt herein!“

Sie suchen sich einen Platz. Sven setzt sich natürlich neben Bram.

„Godfried Swart“, sagt Swart. „Godfried mit d. So heiße ich. Aber für euch bin ich Herr Swart. Nicht weil ich solchen Wert darauf lege, sondern weil das in der Schule nun mal die Regel ist. Habt ihr schon einen Blick in euer Buch riskiert?“

Hier und da nickt jemand.

„Wie heißt du?“, fragt er Ilse.

Sie hebt verlegen den Kopf. „Ilse, Herr Swart.“

„Und? Was sagst du dazu?“

„Äh … Tja … Äh … Vielleicht ganz interessant.“

„Also, ich halte überhaupt nichts davon. Packt es doch gleich wieder ein.“

Sven schaut Bram verwundert an. Als er sieht, dass einer nach dem anderen das Buch verschwinden lässt, folgt er ihrem Beispiel.

Herr Swart sitzt inzwischen auf einem der leeren Tische.

„Und du, wie heißt du?“, fragt er das einzige Mädchen mit Kopftuch.

„Loubna.“

„Pack auch deine Schreibsachen weg, Loubna. Ihr braucht das vorläufig alles nicht. In dieser Stunde braucht ihr nur eins: euren Kopf.

Was ich für dieses Jahr vorhabe, ist, zusammen mit euch nachzudenken. Ich will euch von Menschen erzählen, die nachgedacht haben. Ich will euch berichten, was sie dachten. Und ich freue mich darauf, zu erfahren, was ihr darüber denkt. Mehr nicht. Irgendwann werde ich euch Noten geben müssen. Aber das ist jetzt noch kein Thema.“

„Das kann ja heiter werden“, flüstert Bram grinsend zu Sven. Der nickt.

„Was ist Philosophie?“, fragt Herr Swart.

„Das sagten Sie doch schon“, sagt Sanne vorlaut. „Nachdenken.“

„Stimmt“, sagt Swart. „Aber es ist mehr. Die Bedeutung des ursprünglich griechischen Wortes ist ungefähr ‚die Wahrheit lieben‘. Das Nachdenken hat also immer ein Ziel: die Wahrheit zu finden. Die ‚Wahrheit‘ ganz groß geschrieben.“

„Ist die Frage, ob es die überhaupt gibt“, sagt Jelle nachdenklich.

„Genau. Darum geht’s. Philosophie heißt nachdenken, suchen und fragen. Immerfort fragen. Und weiterfragen. Die Sache nochmals von einer anderen Seite betrachten. Und noch mal und noch mal.“

„Gelaber“, mault Sanne. „Könnte schon jetzt einschlafen“, sagt sie leise zu ihrer Nachbarin Loubna.

„Wieso Gelaber?“, fragt Herr Swart.

„Weil man nach Antworten sucht, die es vielleicht gar nicht gibt.“

„Und das heißt?“

„Na, dass es schade um die Zeit ist.“

Herr Swart sagt nichts, sondern steht auf und geht durch die Reihen.

„Ich will euch die Geschichte von einem Mann erzählen, der nicht einfach nur nachdenken, sondern laut und gemeinsam mit anderen nachdenken wollte. Er stellte seine Fragen genau so lange, bis es unangenehm wurde. In seiner Zeit war das sehr ungewöhnlich. Die Machthaber empfanden das als so bedrohlich, dass es ihn schließlich das Leben kostete.“

Swart geht wieder zu seinem Tisch, klappt seinen Laptop auf, schaltet die digitale Tafel ein und tippt etwas. Dann erscheint ein steinerner Kopf auf der Tafel. Fleischiges Gesicht, starke Nase, hohe Stirn, ein Bart mit vielen Locken.

„Wir reisen nach Griechenland“, sagt Herr Swart. „Und gleichzeitig auch nach draußen. Nehmt eure Jacken. Bisschen Ruhe auf dem Flur. In drei Minuten sehe ich euch auf dem Schulhof.“

„Hä?“, sagt Sven. Doch die anderen sind genauso verwirrt. Aber Herr Swart hat bereits seine Jacke angezogen und verlässt die Klasse.

„Und unsere Taschen?“, ruft Jelle noch. Aber das hört der Lehrer schon nicht mehr.

„Was soll denn das jetzt?“, sagt Sanne und seufzt, während sie mit Loubna die breiten Treppen hinabgeht.

„Ich finde ihn ganz witzig“, antwortet Loubna.

Herr Swart sitzt im Schneidersitz mitten auf dem Schulhof. „Der spinnt“, sagt Bram zu Sven.

„Kommt“, winkt Herr Swart. „Kommt und setzt euch zu mir.“

Zögernd nehmen sie Platz. Ilse stößt Bram in die Seite, weil der einfach nicht aufhören kann zu kichern. „Aber das hier ist doch auch bescheuert!“, sagt er noch. Jelle setzt sich auf seine Jacke, weil er keine Flecken auf seiner neuen Hose haben will.

„Wir sind in Athen“, sagt Herr Swart. „Es ist um 400 vor Christus. Wir alle haben eine schwierige Zeit hinter uns, in der ein Krieg auf den anderen folgte. Vielleicht haben wir kämpfen müssen. Vielleicht einen geliebten Menschen verloren. Aber jetzt herrscht Friede, und wir befinden uns auf der Agora, im Zentrum der Stadt.“

„Da war ich schon!“, ruft Tijmen begeistert. „Es ist nur nicht mehr viel davon übrig. Na ja, ein paar Haufen Steine.“

„Stimmt“, sagt Herr Swart. „Aber wir stellen uns vor, dass um uns herum große Gebäude stehen. Lange Säulengalerien und Tempel. Wir wissen, dass hier Recht gesprochen wird, dass Menschen hierherkommen und die Götter verehren, dass Stadtoberhäupter und Volksvertreter hier über die Angelegenheiten der Stadt sprechen. Leute mit ihren täglichen Einkäufen gehen vorbei, denn auch der Markt findet hier statt. In dem ganzen Gewimmel lauscht ihr mir, Sokrates, dem großen Philosophen, dem weisen Mann.“

„Der demnächst sterben wird“, spöttelt Wouter.

„Sicher!“, sagt Swart. „Aber so bald noch nicht. Erst hängt ihr alle an meinen Lippen. Ihr habt kein Auge für das, was um euch herum geschieht. Ihr lauscht mir, Sokrates. Ich bin nicht mehr der Jüngste, ich habe einen Bart und trage ein Kleid. Ihr übrigens auch. Meinetwegen dürft ihr euch alle zu mir gesellen, aber Frauen tun das wahrscheinlich nicht.“

„Gut, dann geh ich mal“, sagt Sanne. „Zum Markt, ein Huhn zum Rupfen holen oder so.“ Alle lachen.

Herr Swart tut, als hätte er sie nicht gehört. „Von den Verwaltungsgebäuden aus werde ich beobachtet. Man fragt sich, was ich da mit euch bespreche. Man hat Geschichten über mich gehört. Ich würde euch mit fixen Ideen vergiften. Ich hätte keinen Respekt vor den Göttern. Die Gruppe meiner Schüler wächst von Tag zu Tag. Manchmal hat man mich schon gefragt, was ich euch denn alles weismache. Aber ich mache euch nichts weis. Ich lege euch nichts in den Mund.“

Er blickt auf die Schüler, die vor ihm auf dem Boden sitzen, und zeigt dann auf Sven. „Wie heißt du?“

„Sven, Herr Swart.“

„Ah! Svenos, ein schöner Name.“

Er streckt Svenos seine Hand hin. „Sokrates.“

Sven grinst schief.

„Svenos, erzähl mal: Strebst du danach, das Gute zu tun?“

„Äh …“, sagt Svenos. „Ich denke schon …“

„Du denkst schon?“

„Ja, so ungefähr.“

„Du denkst, du willst so ungefähr das Gute tun?“

Die Klasse fängt an zu kichern. Svenos’ Miene wird grimmig. „Was wollen Sie denn sonst hören?“

„Meine Frage ist, ob du danach strebst, das Gute zu tun.“

„Ja, werter Sokrates, danach strebe ich“, sagt Svenos in der Hoffnung, sich damit aus der Affäre zu ziehen.

„Dann habe ich jetzt zwei Fragen an dich: Was bedeutet es, nach etwas zu streben, und, noch wichtiger: Was ist das Gute?“

„Du lieber Himmel!“, seufzt Svenos.

„Aber das weiß man doch, oder?“, sagt Jelle gereizt. Er hat für seine Verhältnisse ziemlich lange den Mund gehalten, aber jetzt muss er sich doch mal einschalten.

„Aha! Wenn du einverstanden bist, Svenos, lege ich die Frage nach dem Guten rasch unserem Jellos vor.“

Der zuckt nicht mit der Wimper, als er seinen neuen Namen hört, sondern legt sofort los.

„Bei dem Guten sollte es uns um Respekt und Aufmerksamkeit anderen und der Natur gegenüber gehen. Das heißt, gut umgehen mit dem Leben und mit allem, was lebt.“

Sanne kann ein heftiges Gähnen nicht unterdrücken, als sie Jelles selbstzufriedene Miene sieht. Sokrates bemerkt es auch. „Findest du, dass Jellos das Gute treffend beschrieben hat?“, fragt er sie.

Sanne langt es jetzt offensichtlich: „Können Sie nicht einfach sagen, was es ist? Dann hätten wir das schon mal hinter uns!“

Jetzt erhebt sich Herr Swart. „Schaut!“, sagt er und streckt einen Finger in die Höhe. „Das ist es genau, worum es bei Sokrates ging. Sokrates wollte den Leuten nicht vorkauen, was sie zu denken hatten. Er wollte, dass sie selbst nachdachten. Er wollte, dass die Leute alle die Themen, zu denen sie achtlos und aus dem Bauch heraus sonst was meinten und äußerten, erst kritisch unter die Lupe nahmen. Dass sie weiterfragten; so lange weiterfragten, bis sie zum Kern kamen. Denn was ist gut? Was ist echt? Wann ist man gerecht? Und Schönheit, was ist das eigentlich? Die Leute sagen, sie sprächen die Wahrheit oder wüssten, was wahr ist. Aber wie sicher sind sie sich dessen?“

„Jetzt mal langsam“, widerspricht Jelle. „Dann kann man doch überhaupt nichts mehr!“

„Denn?“

„Letztlich sind wir uns doch nie hundertprozentig sicher.“

„Ha!“, sagt Herr Swart strahlend. Er steht so glücklich da, als hätte er im Lotto gewonnen. „Genau richtig, Jelle, haargenau richtig! Genau deswegen ist Sokrates mit einem Satz sehr berühmt geworden: Ich weiß, dass ich nichts weiß.

„Ist ja sehr einfach!“, sagt Bram. „Wenn man weiß, dass man nichts weiß, braucht man auch nicht mehr nachzudenken.“

Sanne rutscht schon auf dem Hintern hin und her. Die Steinfliesen hier draußen sind kalt und hart.

„Aber gerade das Nachdenken war das, worauf Sokrates hinauswollte. Wie eine Hebamme einer Frau hilft, ihr Kind auf die Welt zu bringen, so wollte er den Menschen bei der Geburt ihrer eigenen Wahrheit helfen. Sokrates ermunterte die Leute, sich selbst möglichst gut kennenzulernen, denn seiner Meinung nach erlangt man erst dann wirklich eine eigene Vorstellung von beispielsweise dem Guten. Und er ging auch davon aus, dass man das Gute dann auch tut. Sich selbst kennenzulernen und Einsicht zu gewinnen, führt demnach zu einem guten Leben.“

„Jetzt kapiere ich wirklich überhaupt nichts mehr“, mault Sanne. „Ich dachte, man weiß eh nichts?“

Letztendlich weiß man nichts, Sanne. ‚Die‘ einzig richtige Antwort auf die Frage, was gut ist, gibt es nicht. Für dich steht vielleicht fest, dass jemanden zu töten nicht gut ist. Aber was, wenn du angegriffen wirst, weil in deinem Land Krieg herrscht? Denkst du dann auch noch so? Was ‚gut‘ bedeutet, hat sehr viel damit zu tun, wer du bist, welche Erfahrungen du gemacht hast und in welchen Umständen du lebst. Deshalb will Sokrates, dass wir bescheiden sind und nicht anderen dasjenige auferlegen, was wir für gut halten. Das meint er mit: Ich weiß, dass ich nichts weiß.“

„Okay …“, sagt Sanne. „Aber wie war das noch? Sagten Sie nicht, dass jemand sterben musste?“

Herr Swart muss lachen. „Du magst saftige Geschichten, was?“

Sanne nickt.

„Sokrates ermunterte die Menschen, selbst nachzudenken. Immerfort und gründlich. Den Oberhäuptern der Stadt gefiel das ganz und gar nicht. Denn was, wenn die Leute dadurch nicht mehr hinter ihrer Führung standen, sich nicht mehr unterordneten? Aus diesem Grund hielten sie diesen Sokrates mit seinen Ideen für brandgefährlich.“

„Und dann wurde er ermordet?“, fragt Sanne begierig.

„Dann wurde er ermordet“, wiederholt Herr Swart. „Er bekam einen Becher mit Gift, den musste er leeren. Und so starb Sokrates im Alter von ungefähr siebzig Jahren.“

Sanne lässt sich theatralisch zu Boden sinken. Die anderen biegen sich vor Lachen. Bis auf Jelle, aber der ist ja eh immer ernst.

„Wie hast du’s heute gefunden?“, fragt Bram, als sie am Ende dieses ersten Schultags ihre Fahrräder aus den Ständern holen.

„Mir sind Ferien lieber“, sagt Sven.

„Verrückter Typ, dieser Swart, oder?“

„Natürlich musste er mich gleich rauspicken“, brummt Sven.

„Tja, Svenos, das merken wir uns!“

„Bis morgen“, sagt Svenos, der in eine andere Richtung muss. Unterwegs piept sein Telefon. Eine Nachricht von seiner Mutter, um ihn daran zu erinnern, dass sie heute früher essen. Ja, ja, schon gut. Keine Pläne an diesem ersten Tag. Er kommt einfach nach Hause.

„Wie war der erste Schultag?“, fragt seine Mutter, als sie sich am späten Nachmittag an den Tisch setzen.

„Geht so“, sagt Sven, während er seine Gabel in eine Kartoffel steckt.

„Jetzt schon ‚geht so‘?“, meint sein Vater erstaunt. „Das kann noch was werden dieses Jahr!“

„Und du?“, fragt Mutter.

„Im Büro nichts Besonderes, aber ich rechne mit einem gesalzenen Abend im Stadtrat.“

„Warum?“

Vater geht ins Wohnzimmer und holt die Zeitung. „Hier, dieses Haus am Woudsingel, du weißt schon. Der Eigentümer ist reich und will sich in der Gemeinde engagieren. Er hat bei der Stadt die Genehmigung beantragt, in dem Haus eine Anlaufstelle für Jugendliche einzurichten.“

„Von welchen Jugendlichen reden wir? Drogensüchtigen? Obdachlosen? Abgedrifteten?“, fragt Mutter mit vollem Mund.

„Von allen dreien“, sagt Vater. „Der zuständige Abgeordnete weiß mittlerweile wohl mehr darüber und wird uns das heute Abend berichten.“

„Habt ihr schon in der Fraktion darüber gesprochen?“

Svens Vater gehört zur Partei für Wandel und Fortschritt, der PWF. „Nein, das hier überrascht uns auch“, sagt er. „Ich habe heute zwar kurz herumtelefoniert, aber der Eigentümer des Hauses hat sein Vorhaben schon öffentlich gemacht, ehe wir davon erfahren haben.“

„Müsst ihr denn jetzt sofort darüber entscheiden?“, fragt Sven.

„Nein, so weit ist es noch längst nicht. Die Nutzungsbestimmung muss geändert werden, dann braucht es Gespräche mit der Nachbarschaft und den Organisationen, die, falls es eine Genehmigung geben wird, einen solchen Prozess begleiten müssen. Das Ganze dauert noch Monate.“

Sven schneidet sein Fleisch und überlegt, dass er sie eigentlich überhaupt nicht kennt, solche Jugendlichen mit ernsthaften Problemen. In der Schule gibt es zwar einige Kandidaten, die regelmäßig zu spät kommen oder schwänzen. Von einem Jungen aus der Neunten wird gesagt, er wäre geflogen, weil er angeblich im Fahrradschuppen Alkohol getrunken habe. Und ein Mädchen aus der Oberstufe war eine Zeit lang nicht in der Schule, weil sie in die Fänge eines Loverboys geraten war. Aber das waren Ausnahmen. Und er kannte sie lediglich vom Sehen.

„Was meinst du dazu?“, fragt Vater Sven.

„Wozu?“

„Zu so einer Anlaufstelle.“

„Äh … Ist an und für sich doch gut, oder?“

„Ja“, sagt seine Mutter. „Aber was, wenn es in deiner direkten Nachbarschaft ist? Der ganze Zulauf plötzlich. Krach und Streitereien.“

Vater runzelt die Stirn.

Schatten

„Platon“, sagt Herr Swart.

„Auch einen guten Morgen“, kontert Wouter.

„Und wieder hat er diesen bescheuerten braunen Anzug an“, flüstert Sanne Loubna ins Ohr.

„Vielleicht hat er ja bloß den einen“, erwidert die lachend.

„Platon also“, wiederholt Swart, öffnet seine Tasche und holt eine kleine Lampe heraus. Dann nimmt er eine Plastiktüte, die neben seiner Tasche auf dem Boden steht, und fragt: „Hat jemand Angst im Dunkeln?“

Hier und da wird gekichert, aber niemand hebt die Hand.

„Gut. Folgt mir.“

„Wohin denn?“, fragt Ilse unsicher. Sie mag eigentlich keine Überraschungen.

„In den Keller“, sagt Herr Swart, als sie schon im Flur draußen sind.

„Den KELLER?!“, rufen sie im Chor.

„Pst. Hier wird gearbeitet!“, zischt Herr Swart.

„Dürfen wir das denn?“, fragt Ilse zaghaft.

„Keine Ahnung“, antwortet Herr Swart. „Aber was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“

Verwundert folgen sie ihm die Treppen hinab. „Das hier wird ein spannendes Jahr“, grinst Bram, der neben Sven hergeht. Sven schaut sich neugierig um. In diesem Teil der Schule ist er noch nie gewesen. Herr Swart fischt einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schließt die Tür auf. Er sucht den Lichtschalter und winkt sie alle hinein. Der Keller ist vollgestopft mit alten Computern und etlichen Tischen und Stühlen, es gibt riesige Wandregale mit Kartons voller Briefpapier, Umschlägen und Kopierpapier, es gibt einige Theatersachen, darunter ein großer, roter Thron. Im Handumdrehen hat Bram darauf Platz genommen. Es riecht muffig in diesem großen Raum, und von den Ecken baumeln Spinnweben herab. An der Decke verlaufen Röhren, und in einer Ecke steht ein großer, eiserner Panzerschrank. Weit und breit kein Fenster.

„Jetzt möchte ich gern, dass ihr euch alle dort in der Mitte und in einer Reihe aufstellt, mit den Gesichtern zur Wand.“

Sven und Sanne stellen sich als Erste hin. Die anderen schließen sich an.

„Was soll der Unsinn?“, mault Tijmen. Sie schauen auf eine nackte Mauer. „Da gibt es doch nichts zu sehen?“

Aber Herr Swart reagiert nicht. Er sucht eine Steckdose, stellt die Lampe oben auf ein Regalbrett und schaltet sie ein. Dann geht er zum Lichtschalter an der Tür. „Nicht erschrecken“, warnt er. Eine Sekunde später ist es dunkel im Keller. Das heißt, bis auf die kleine Lampe. Herr Swart kramt in seiner Plastiktüte.

„Ich finde das unheimlich“, flüstert Ilse Wouter ins Ohr. „Ich mag die Dunkelheit nicht.“

„Ich bin doch da“, flüstert Wouter cool zurück.

Dann sehen sie etwas an der Wand erscheinen. Ein Papierflugzeug?

„Herr Swart?“, sagt Bram. „Nichts für ungut, aber Sie geben doch Philosophieunterricht?“

„Ja, ja“, brummt Herr Swart. „Sagt mal: Was seht ihr hier?“

„Einen Vogel!“, sagt Loubna fröhlich. Sie steht total auf Rätsel.

„Ein Geodreieck, das sich dreht?“, rät Tijmen, dem sein Gemaule von vorhin schon leidtut.

„Nein, es ist ein Papierflugzeug!“, ruft Sanne. Das bringt Loubna zum Lachen.

„Ihr achtet nur auf die Form“, unterbricht Herr Swart die ratende Klasse. „Aber was ist es wirklich?“

„Ich weiß es!“, ruft Ilse und vergisst kurz ihre Angst. „Ein Schatten!“

„Sehr gut“, sagt Swart. „Und was ist ein Schatten?“

„Ein Schatten entsteht, wenn das Licht durch ein Objekt blockiert wird“, behauptet Jelle.

„Bist du dir sicher?“, fragt Herr Swart.

„Ja, klar“, sagt Jelle. Seltsame Frage.

„Okay, Leute. Und jetzt stellt euch vor, ihr hättet seit eurer Geburt nichts anderes gesehen als diese Wand. Ihr seid an Armen und Beinen festgekettet und könnt auch nicht sehen, was hinter euch ist. Ihr seht jahrein, jahraus nur die Dunkelheit um euch herum und das Licht auf der Wand und darauf ein paar Figuren. Sagen wir mal, es wären die Schatten holzgeschnitzter Tiere und Menschen. Nehmt ihr diese Figuren dann auch als Schatten wahr?“

„Einmal ein Schatten, immer ein Schatten!“, sagt Tijmen.

„Ja, aber das weiß man dann doch nicht! Dass es ein Schatten ist, meine ich“, sagt Jelle ungeduldig.

„Genau“, sagt Herr Swart. „Ihr wisst nicht mehr, als dass das auf der Wand Figuren sind. Ihr wisst nicht, was ein Schatten ist, ihr habt keine Ahnung von allem, was es gibt, ausgenommen dem Boden unter eurem Hintern, der Wand und den Leuten neben euch. Aber angenommen, ihr würdet es schaffen, die Ketten um eure Arme und Beine zu lösen und zu der kleinen Lampe zu gelangen … Dann würdet ihr mit blinzelnden Augen, die sich erst an das Licht gewöhnen müssten, das echte Objekt erkennen, das ihr all die Jahre als Schatten an der Wand betrachtet habt. Ihr würdet sehen, dass die Figuren eigentlich flache Holzstücke sind. Ihr würdet zum ersten Mal weißes Papier sehen, zusammengefaltet zu einem kleinen Flugzeug.“

„Seht ihr, ein Flugzeug. Hab ich doch gesagt!“, tönt Sanne triumphierend.

„Aber ihr wüsstet natürlich nicht, dass es Papier ist und dazu ein Flugzeug. Dafür würdet ihr jedoch etwas sehr Wichtiges lernen, und zwar, dass das, was ihr jetzt seht – das Papierflugzeug –, echt ist, und die Figuren an der Wand nicht mehr als ein Schatten dessen. Dann würdet ihr die Tür sehen, und natürlich öffnet ihr sie. Was wäre, wenn ihr durch die Tür geht?“

„Wir würden es auf der Stelle mit dem Hausmeister zu tun bekommen“, witzelt Wouter.

„Halt doch mal die Klappe, Mann“, sagt Jelle. Aber die anderen müssen lachen.

Dann kommt Ilse mit einer Antwort. „Ich denke, ich würde mich total erschrecken. Schließlich bin ich ein Leben lang in diesem dunklen Keller gewesen. Das heißt, ich habe noch nie Bäume gesehen oder Fahrräder oder Vögel. Und auch noch nie die Sonne.“

„Oder einen Suppenautomaten“, ergänzt Bram.

„So Leute, das reicht“, sagt Herr Swart. „Jetzt mal ernst.“

Sie sind still.

„Platon versucht, uns etwas zu verdeutlichen. Ich komme gleich noch darauf zurück. Ich denke, wenn eure Augen sich an das Licht gewöhnt haben und euer erster Schrecken verflogen ist, dann wollt ihr den anderen Gefangenen von allem, was ihr gesehen habt, berichten. Ihr stürmt wieder in diesen dunklen Keller, tastet euch zu den anderen Gefangenen vor, und dann fangt ihr an zu reden. Ihr stolpert über eure Worte. Ihr sucht eine Art und Weise, das alles zu beschreiben. Wo sollt ihr anfangen? Ihr sagt: ‚Die Figuren, die ihr auf der Wand seht, die gibt es wirklich! Ich habe sie draußen im Licht gesehen. Die eine Figur nennen die Menschen eine Katze, die andere ein Huhn, und …‘

Aber jemand unterbricht euch und sagt: ‚Was denn: in Wirklichkeit? Willst du etwa behaupten, das, was wir hier auf der Wand sehen, wäre nicht wirklich?‘ Und ihr erklärt ihnen locker, dass es das tatsächlich nicht ist. Es sei lediglich ein Schatten der Wirklichkeit. Wie, glaubt ihr, werden die Gefangenen darauf reagieren?“

„Verwundert?“, sagt Sven.

„Sie brechen in Lachen aus“, denkt Sanne.

„Keins von beiden“, sagt Swart. „Sie werden rasend! Wie könnt ihr es wagen, sie so anzulügen! Wie können diese Figuren denn nicht wirklich sein? Sie sehen sie doch jeden Tag! Es gibt keine andere Wahrheit als ihre Wahrheit! Sie werden so wütend, dass sie euch in einer plötzlichen Aufwallung umbringen.“

„Können Sie das Licht wieder anschalten?“, fragt Ilse leise. „Wenn es wieder so eine Mordgeschichte wird, dann höre ich die lieber im Hellen.“

„In Ordnung.“ Herr Swart schaltet das Licht ein und packt die Lampe und den Papierflieger wieder in seine Tüte. „Wir sind hier ohnehin fertig. In der Klasse erzähle ich weiter. Bitte seid leise im Flur!“

Oben im Klassenraum setzt sich Herr Swart auf die Ecke seines Tisches. „Platon war ein Schüler von Sokrates. Er hat bewusst miterlebt, wie sein großer Lehrmeister den Giftbecher leer trinken musste. Das hat Platon sehr mitgenommen. Später beschloss er, die Gespräche, die Sokrates mit seinen Schülern geführt hatte, so gut er es vermochte, aufzuzeichnen. Sokrates selbst hat das nicht getan, müsst ihr wissen. Was wir also über Sokrates wissen, wissen wir von anderen. Sokrates hatte seine Schüler ja dazu ermuntert, selbst gründlich nachzudenken. Und genau das tat Platon. Die Vernunft und das Denken waren ihm sehr wichtig. Und jetzt kommen wir zu der Sache mit den Schatten im Keller.“

Herr Swart schließt kurz die Augen, als würde er überlegen, wie er das möglichst gut erklären könnte. Dann fängt er an.

„Platon war davon überzeugt, dass wir echtes Wissen in der Wirklichkeit, in der wir leben, nicht finden. Es ist wie mit den Gefangenen im Keller: Sie denken, sie sähen die Wahrheit. Sie denken, sie wüssten, was ‚wirklich‘ ist. Aber was sie sehen, ist lediglich eine Widerspiegelung der Wirklichkeit. Was wir gerade im Keller gemacht haben, geht auf ein Gleichnis von Platon selbst zurück. Bei ihm findet das Ganze allerdings in einer Höhle statt. Ihr findet das Höhlengleichnis in seinem Buch Der Staat, einem seiner bedeutendsten Werke. Darin vermittelt Platon auch seine Vorstellung von einer idealen Gesellschaft und Regierung. Aber das erzähle ich euch erst nächstes Jahr.

Was wir hier und jetzt sehen, ist also wie ein Schatten“, fährt Herr Swart fort. „Die wirkliche Welt nennt Platon die Ideenwelt. Diese Ideenwelt haben wir alle in uns, tief in unserer Seele. Die Ideenwelt ist für alle gleich: Sie ist unveränderlich. Und die einzige Art und Weise, dorthin zu gelangen, ist das Nachdenken.“

„So wie der Gefangene, nachdem er sich von seinen Fesseln gelöst hatte, durch Denken dahinterkam, dass das, was er sah, ein Schatten sein musste“, fasst Jelle zusammen.

„Und dafür wurde er dann umgebracht“. Sven setzt noch eins drauf.

„Wenn ihr bereit seid, nachzudenken und weiter zu schauen, als eure Nase lang ist, wenn ihr also hinter die Schatten blickt, dann kommt ihr womöglich zu Schlussfolgerungen, die anderen nicht gefallen“, sagt Herr Swart. „Darum mochten die Machthaber Sokrates auch nicht.“

„Wurde Platon auch umgebracht?“, fragt Ilse.

Herr Swart lacht. „Nein, Ilse. Er wurde Lehrer, genau wie Sokrates, und gründete sogar seine eigene Schule: die Akademie in Athen. Er schrieb viel und wurde alt. So um die achtzig Jahre.“

„Ein Glück“, seufzt Ilse. Und darüber müssen alle laut lachen.

Eine wundervolle Geste

Drei Uhr. Sven lässt seine Tasche neben die Garderobe fallen, hängt seine Jacke auf und holt sich ein Glas Cola aus der Küche. Noch immer keine Hausaufgaben. Und heute Abend zum ersten Mal wieder Fußball.

Er lässt sich auf die Couch plumpsen und schaltet sein Tablet an. Dann hört er oben Schritte. Arbeitet sein Vater heute zu Hause? Er legt das Tablet hin und geht die Treppe hinauf. Oben hört er die Stimme seines Vaters.

„Nein, Hans. So habe ich das nicht gesagt. Ich sagte, ich finde, diese Jugendlichen verdienen unsere Unterstützung.“

Stille.

„Nein. Nein, es muss vielleicht nicht unbedingt an diesem Ort sein, aber …“

Stille.

„Nein, lass mich kurz ausreden, Hans. Was ich meine, ist: Dieses Haus wird der Gemeinschaft geschenkt. Das ist nicht nur eine wundervolle Geste, sondern darüber hinaus kostet es die Stadt keinen Cent.“

Hans, das ist der Fraktionsvorsitzende der Partei für Wandel und Fortschritt. Offenbar geht es gerade um diese Anlaufstelle für Jugendliche. Neugierig bleibt Sven stehen.

„Natürlich verstehe ich, dass du dir die Sympathie der Anwohner bewahren möchtest, Hans. Und ich weiß ja, dass in dem Viertel einige treue Wähler wohnen. Aber gehen wir die Sache doch mal grundsätzlich an.“

Stille.

„Grundsätzlich, ja, Hans. Denn wir haben schließlich auch noch Grundsätze.“

Stille.

„Nein, ich meine das nicht sarkastisch. Hör zu! Da ist eine Gruppe von Jugendlichen, die Hilfe brauchen. Eine Gruppe gesellschaftlich benachteiligter Menschen, die nicht für sich selbst eintreten können.“

Sven hört, wie sich die Stimme seines Vaters kurz überschlägt. Das kennt er. Das passiert weniger dann, wenn er emotional ist, sondern wenn er sich ärgert. Sven setzt sich oben auf die Treppe und nimmt einen Schluck von der Cola, die er noch immer in der Hand hält.

„Merkst du, wie du dich anhörst, Hans?“ Sein Vater klingt jetzt deutlich irritiert. „Was du faktisch sagst, ist, dass dir eine große politische Anhängerschaft im Viertel wichtiger ist als diese Jugendlichen.“

Stille. „Nein, natürlich sagst du das nicht, aber darauf läuft es doch hinaus!“

Stille.

„Also, ich werde dir genau sagen, was ich tue. Sollte sich herausstellen, dass sich die ganze Fraktion gegen dieses Angebot ausspricht, dann werde ich eine namentliche Abstimmung beantragen, damit ich zeigen kann, dass ich dafür bin. Meiner Meinung nach muss zumindest untersucht werden, ob das Ganze realisierbar ist. Das verdienen die Jugendlichen, und das verdient auch dieser Wohltäter.“

Stille.

„Ich habe nie versprochen, mich immer der Fraktionsdisziplin unterzuordnen.“

Stille.

„Ich habe ein eigenes Gehirn, ich habe ein eigenes Gewissen und auch eine eigene Motivation, Mitglied im Stadtrat zu sein. Und zwar nicht, um mir Freunde zu verschaffen, sondern um etwas zu bewegen.“

Stille.

„Ach, du findest das hochtrabend? Weißt du, ich glaube, es wird Zeit, dieses Gespräch zu beenden. Einen schönen Tag noch, Hans.“

Der Vater knallt das Telefon so laut auf seinen Schreibtisch, dass Sven es bis in den Flur hören kann. Zeit, leise zu verschwinden. Sven weiß nicht recht, was er von diesem Gespräch halten soll. Mit der politischen Arbeit seines Vaters hat er sich nie näher beschäftigt. Aber er findet es gut, dass Vater auf seinem Standpunkt beharrt. Glaubt er jedenfalls. Denn wie viel Ahnung hat er nun eigentlich von …?

Als er wieder unten ist und in sein Tablet sieht, hat er eine Nachricht von Bram. Heee Svenos. Dieser Swart ist witzig, oder?

Sven antwortet: Ja, verrückter Typ. Dieser Platon übrigens auch.

Na ja. Ist schon was dran, oder?

Hä? Wo dran?

An dem, was Platon sagt. Dass die Dinge nicht immer das sind, wonach sie aussehen.

Ja.

Ja, was?

Dass da was dran ist. Muss jetzt schnell was essen. Muss gleich weg.

Doch nicht in irgendeinen Keller?

LOL. Bis morgen!

Der Schnäuzer

„Schon die zweite Woche“, sagt Sanne am Montagmorgen. Sie steht an den Garderobenhaken vor dem Klassenzimmer.

„Ich habe die Ferien schon vergessen“, mault Loubna. „Bin eingeschläfert. Hier ändert sich ja nie was.“

„Zum Beispiel Tijmens Schmachten.“

„Was denn?“, faucht Loubna.

„Er ist ja sooooooo verliebt in dich. Siehst du das nicht?“

„Ach, das.“

„Er … pssst! Da kommt er mit Sven!“

„Du verstehst aber doch, dass wir uns darüber nicht freuen!“, sagt Tijmen. Er bemerkt Loubna nicht. „Es ist gleich bei uns um die Ecke. Meine Mutter sagt, dein Vater wäre dafür!“

„Dann soll sie das mit meinem Vater besprechen“, sagt Sven missmutig und stellt sich neben Bram. Er hat eindeutig keine Lust auf dieses Gespräch.

„Was geht?“, fragt der, als er Svens Gesicht sieht.

„Ärger wegen der Arbeit meines Vaters im Stadtrat.“

Da kommt Herr Swart. „Guten Morgen zusammen“, sagt er munter. „Na, habt ihr wieder Lust?“

Undeutliches Gemurmel.

„Klar doch, Herr Swart!“, sagt Jelle fröhlich.

„Mann, der ist vielleicht ein Nerd!“, flüstert Bram Sven zu. Aber der ist noch mit seinen Gedanken bei Tijmens Bemerkung über die Anlaufstelle. Ist natürlich ziemlich doof, wenn man gleich um die Ecke wohnt. Aber kann er was dafür?

„Setzt euch“, hört er Herrn Swart sagen, während sie mit ihm hineingehen.

Sanne stößt Loubna an: „Sieh mal, da auf der Tafel.“ Da steht in Riesenlettern:

SCHMERZ IST SCHÖN

Neben diesem Spruch hängt ein Schwarz-Weiß-Foto von einem Mann mit Riesen-Schnauzbart, so riesig, dass man den Fußboden damit fegen könnte.

„Was ist das denn schon wieder?“, sagt Sanne.

Aber Jelle ist ganz bei der Sache. „Interessante These, Herr Swart.“

„Sicher, Jelle, aber das kommt später. Bestimmt habt ihr irgendwo Stift und Papier. Würdet ihr das mal rausnehmen?“

Ilse hebt brav die Hand. „Wir müssen aber doch anscheinend nichts mitschreiben?“

„Nein, ich will etwas anderes von euch.“

Als alle Stift und Papier hervorgeholt haben, sagt Herr Swart: „Ich möchte, dass ihr die kommenden fünf Minuten aufschreibt, wer ihr seid.“

„Na großartig!“, stänkert Sanne. „Das kann ich in zwanzig Sekunden.“

„Prima“, sagt Swart.

Die Schüler schauen sich irritiert an. Warum in aller Welt braucht man dafür fünf Minuten? Aber es ist Herrn Swart offenbar ernst damit.

Sanne starrt auf ihr Blatt. Mittlerweile steht da: Ich bin Sanne. Was kann sie dem noch hinzufügen? Ich bin 14 Jahre alt. Ich habe einen Bruder. Ich quatsche gern mit meinen Freundinnen, aber Tomaten mag ich nicht.

Fertig.

Sie schielt über ihre Schulter auf das Blatt von Sven, der hinter ihr sitzt. Aber der guckt bitterböse zurück. „Kümmere dich um deinen Kram!“, zischt er.

Ich bin Sven. Ich spiele Fußball. Ich wohne mit meinen Eltern in einem schönen Haus in einem Dorf nicht weit von Utrecht. Ich bin ziemlich freundlich und schlau. Aber auch schüchtern. Ich bin groß. Ich habe braune Augen und Locken.

Auf der anderen Seite von Sanne sitzt Loubna tief über ihr Blatt Papier gebeugt. Ich bin Loubna, hat sie aufgeschrieben. Ich bin Muslimin. Sanne ist meine beste Freundin. Aber die ist keine Muslimin. Die ist überhaupt nichts.

„Gut!“, unterbricht Herr Swart. „Hat’s geklappt?“

„Ja. Wer wir sind, wissen wir schon“, sagt Sanne sarkastisch.

„Ausgezeichnet“, antwortet Swart. „Dann möchte ich gern, dass ihr die nächsten fünf Minuten aufschreibt, wer ihr sein wollt.“

„Also wirklich!“ Sanne findet es nur nervig. „Wie schwer kann das sein?“

Ich bin Sanne. Und später werde ich auch Sanne.

Fertig!

Sie wirft ihren Stift demonstrativ neben sich, sieht dann aber zu ihrem Erstaunen, dass die anderen alle konzentriert schreiben. Alle bis auf Wouter, der hauptsächlich gähnt. Von Loubna dagegen kann man die Zungenspitze sehen.

Ich will gern ein guter Mensch sein, indem ich nach den Regeln Allahs lebe. Ich will gern Mutter werden, aber auch Richterin.

Sven starrt nachdenklich vor sich hin. Wer will er sein? Jemand wie sein Vater? Wie seine Mutter? Wie Herr Swart? Hm. Er kaut auf seinem Stift, rutscht etwas tiefer auf seinem Stuhl und kommt zu dem Schluss, dass er es eigentlich nicht weiß.

„So. Jetzt legt bitte die Stifte beiseite“, sagt Swart. „War es schwierig?“

„Ziemlich“, gibt Sven zu. „Besonders die zweite Frage.“

„Kinderspiel“, sagt Sanne cool. „Ich bin Sanne. Und später bleibe ich Sanne. Fertig.“

Hier und da muss jemand grinsen, aber Jelle schert sich nicht darum. „Ich fand es überhaupt nicht simpel. Und ich finde es eigentlich auch interessant. Denn was ich mal werde, kann ich natürlich nie ganz selbst bestimmen.“

„Weil?“, fragt Herr Swart neugierig.

„Weil … auch wenn ich mir Mühe gebe, werde ich vielleicht etwas Glück brauchen. Und etwas Hilfe von anderen. So was in der Art.“

Loubna hebt zögernd die Hand. „Ich glaube, dass ich nach den Regeln Allahs leben soll. Dann wird er mir helfen.“

„Klare Sache“, nickt Herr Swart.