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  ROLF SONS– Martin Luther als Seelsorger | Die Freiheit neu entdecken– SCM Hänssler

Inhalt

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Vorwort

Kapitel 1
Wie Martin Luther zum Seelsorger wird

1. Eine seelsorgerliche Frage als Ausgangspunkt

2. Johann Staupitz als seelsorgerlicher Wegbegleiter

3. Die Heilige Schrift als Seelsorgerin

4. Theologie, die zur Seelsorge wird

Kapitel 2
Wenn die Rechtfertigung das Leben trifft

1. Die Mitte reformatorischer Theologie

2. Frei werden von Schuld

3. Anerkennung – die psychologische Rückseite der Rechtfertigung

4. Wer bin ich? – In Christus seine Identität finden

5. Rechtfertigung, Burnout und Leistungsgesellschaft

6. Durch den Glauben gelassen werden

7. Gott durch Muße dienen

8. Falsche Gottesbilder überwinden

9. Den Gekreuzigten anschauen

Kapitel 3
Wie das Gewissen zur Ruhe kommt

1. Das Gewissen als Stimme Gottes?

2. Das beunruhigte Gewissen

3. Das gebundene Gewissen

4. Das befreite Gewissen

Kapitel 4
Wie Angefochtene überwinden

1. Seelsorge zwischen Gott und Teufel

2. Der Anfechtung nicht die Zügel überlassen

3. Glauben und Beten gegen den Augenschein

4. Dem Teufel widerstehen

5. Dem Teufel ins Gesicht lachen

6. Musizieren gegen den Teufel

7. Seelsorge, Psychologie und der Glaube an den Teufel

Kapitel 5
Luthers Schöpfungs-Seelsorge

1. In der Seh-Schule des Glaubens

2. Leibliche Identität

3. Dankbar genießen können

4. Die Sorgen loswerden

Kapitel 6
Seelsorge für Eheleute

1. Durch Eheangelegenheiten herausgefordert

2. Was ist ein Mann ohne Männin?

3. Heiraten? – »Dem Teufel zum Trotz!«

4. Gottes Wort – Schmuck und Schutz der Ehe

5. Perspektivenwechsel – wie die Ehe zum Schatz wird

6. Heikle Fragen: Wenn Seelsorge gegen Gottes Wort geht

7. Ehescheidung?

Kapitel 7
Seelsorge an Kranken

1. Vergewisserung am Krankenbett

2. Trost für die eigene Mutter

3. Verbundenheit mit Jesus Christus

4. Beten gegen Krankheit und Tod

5. Christus in den Kranken finden

Kapitel 8
Trost im Angesicht des Todes

1. Reformatorische Sterbekunst

2. Sterbeseelsorge für den Kurfürsten

3. Trauerfälle in Luthers Familie

4. Trost unter Freunden

Kapitel 9
Seelsorge und Sakramente

1. Sakramente als zeichenhafte Seelsorge

2. Rückkehr in die Taufe

3. Ein Mahl für Mühselige und Beladene

4. Die Freude der Beichte

5. Seelsorge in der Gemeinschaft

Kapitel 10
Seelsorge der Freiheit – Impulse zum Weiterdenken

1. Theologische Seelsorge

2. Gewissens-Seelsorge

3. Glaubens-Seelsorge

Literaturverzeichnis

Vorwort

Wie wird man ein guter Seelsorger? Mit dieser Frage müssen wir beginnen. Denn gute Seelsorger braucht unsere Kirche. Menschen, die zuhören und trösten können. Hirten, die sich um Menschen kümmern und ihnen nachgehen. Männer und Frauen Gottes, die zur rechten Zeit das rechte Wort von Gott her sagen können. Doch wie wird man ein guter Seelsorger bzw. eine gute Seelsorgerin?

Ich glaube, es ist weder machbar noch planbar, ein guter Seelsorger zu werden. Mein Lehrer Manfred Seitz sagte immer, dass die einzig echte Voraussetzung für einen Seelsorger sei, sich selbst in die Seelsorge Jesu Christi zu begeben. Er meinte damit, dass man selbst Christ ist und sich täglich mit allem, was das eigene Leben an Schönem und Schwerem ausmacht, Jesus Christus, seinem Wort und Licht, aussetzt. Manfred Seitz ist ein solcher Seelsorger. Ich habe ihm sehr viel zu verdanken.

Gute Seelsorger sind also Menschen, die ihr Leben mit Jesus leben und dabei nichts aussparen. Sie reflektieren und verarbeiten ihr Leben vor Gott, das lässt sie weise werden. Sie lernen sich auf diesem Wege selbst immer besser kennen und wachsen in ihrem Vertrauen zu Gott. Sie werden achtsam und lernen sich selbst und andere besser lieben. Sie sind gegründet in der Heiligen Schrift. Dass man sich zur Seelsorge ausbilden lässt, Psychologie studiert und sich therapeutisches Wissen aneignet, widerspricht dem Gesagten nicht. Doch ist es eben nicht die entscheidende Voraussetzung, um ein guter Seelsorger zu werden.

Martin Luther ist auf den ersten Blick kein guter Seelsorger, zumindest wenn wir unsere heutigen Maßstäbe anlegen. Seine Person ist von außen betrachtet zu massiv und zu wuchtig. Sein Charakter wirkt zu hysterisch und manchmal auch grob. Er scheint nicht in das Bild eines rein empathischen und nicht direktiven Seelsorgers zu passen. Blickt man aber dahinter, so sieht die Sache anders aus. Luther hatte sein eigenes abgründiges Herz von Gott durchleuchten lassen. Die ganze Breite und Fülle seines Lebens hatte in Christus seine Mitte. Das eigene Kämpfen und Ringen schulte seine Wahrnehmung und festigte sein Vertrauen. So wurde aus einem verzweifelten jungen Mann der Seelsorger einer ganzen Nation. Seelsorge wurde auf diese Weise zur Grunddimension seines Lebens und Wirkens.1 Diese Dimension möchte ich mit dem vorliegenden Buch für unsere Gegenwart fruchtbar machen.

Freiheit ist der rote Faden, dem wir dabei folgen. Luthers Freiheitsverständnis fordert heraus. Es steht in mancher Hinsicht quer zu dem, was wir heute unter Freiheit verstehen. Freiheit bedeutet gerade nicht zu tun und zu lassen, was man will. Luther liefert das menschliche Ich nicht an sich selbst aus. Vielmehr bindet er es. In der Bindung an Gott wird es paradoxerweise frei von sich selbst und damit fähig, Gott und seinen Nächsten zu lieben. Wenn wir uns als evangelische Christen dem Freiheitsverständnis von Luther stellen, werden wir entdecken, dass er weit radikaler ist, als wir es ahnen. Freiheit steht für Luther konträr zum menschlichen Selbstbehauptungswillen. Freiheit setzt vielmehr einen Herrschaftswechsel beim Menschen voraus. Sie hat es mit Abschieden zu tun, um dann viel Größeres zu gewinnen – nämlich neue Hoffnung und Lebensmut.

Ziel des Buches ist es, das von Luther her gewonnene Freiheitsverständnis für die verschiedenen Fragen und Bereiche menschlichen Lebens und die Seelsorge zur Geltung zu bringen. Textgrundlage sind in erster Linie seine Briefe. Aus der Gesamtauswahl von über 2 800 Briefen kommt der Reformator immer wieder in einzelnen Passagen zu Wort. Auch wird auf Luthers reformatorische Hauptschriften und Sermone zurückgegriffen. Gerade die Sermone sind Abhandlungen zu seelsorgerlichen Themen, die sich auf konkrete Anfragen an Luther beziehen. Als Quellenausgabe dient in erster Linie die Weimarer Lutherausgabe (WA). Zur besseren Verständlichkeit wurden die Texte dem heutigen Deutsch angepasst.

Gedacht ist das Buch sowohl für Seelsorge-Suchende wie für Seelsorge-Übende. Mein Wunsch ist, dass viele Leserinnen und Leser davon profitieren und sich darüber hinaus für Luther als Mensch, Theologe und Seelsorger begeistern lassen. Danken will ich dem SCM-Verlag für die Anregung, dieses Buch zu schreiben. Frau Uta Müller, selbst Luther-Begeisterte, hat es mit großem Interesse in seiner Entstehung begleitet. Herzlichen Dank dafür. Danken will ich auch dem Vorstand des Albrecht-Bengel-Hauses, insbesondere dem Vorsitzenden, Dekan Rainer Kiess. Durch die wohlwollende Gewährung eines Freisemesters fand ich die Zeit, dieses Buch zu schreiben. Danken will ich meiner Frau, mit der ich meine Entdeckungen bei Luther immer wieder teilen konnte, und dass sie meine teilweise überschwängliche Luther-Begeisterung mit Humor ertragen hat. Zuletzt danke ich den Studierenden des Bengelhaus-Anfängerkonvents 2013/14. Auf unserer Lutherreise im Sommer 2014 hatten wir manche anregende Diskussion über Luther geführt. Allen Studierenden des Bengelhauses ist dieses Buch gewidmet.

Rolf Sons

Juli 2014

Kapitel 1 Wie Martin Luther zum Seelsorger wird

Kapitel 1 | Wie Martin Luther zum Seelsorger wird

1. Eine seelsorgerliche Frage als Ausgangspunkt

Was waren Ursache und Anlass der Reformation? Wie kam es zu dieser Bewegung, die in wenigen Jahren das Gesicht Europas verändern sollte? Ich erinnere mich, wie mir diese Frage völlig überraschend in meinem ersten theologischen Examen gestellt wurde. War es nicht der Thesenanschlag vom 31. Oktober 1517, mit dem Luther, der Wittenberger Theologieprofessor, mit einem Mal bekannt wurde? Oder war es Luthers mutiger Auftritt auf dem Reichstag in Worms im April 1521, als er seine Sache vor dem Kaiser und den Kurfürsten zu vertreten hatte? Oder war es vielleicht seine Übersetzung des Neuen Testamentes auf der Wartburg im September des Jahres 1521? Was war der eigentliche Anlass der Reformation?

Wir müssen hier zwischen Anlass und Ursachen unterscheiden. Ursachen gab es gewiss viele. Etwa die Tatsache, dass die katholische Kirche des späten Mittelalters moralisch tief gesunken, der Klerus verweltlicht und die römische Kurie hauptsächlich auf Macht und Geld aus war. Ganz sicher ist bei der Frage nach den tieferen Gründen der Reformation auch an den Ablass zu denken. Papst Leo X. hatte im Jahre 1515 den Ablasshandel genehmigt und den Erzbischof von Mainz mit seiner Durchführung beauftragt. Diesem kam dieser Umstand ganz gelegen. Denn so konnte er seine immensen Schulden begleichen, mit denen er bei den Augsburger Fuggern in der Kreide stand. Doch führte dieses Geschäft mit menschlicher Schuld und Sündenstrafen zur Reformation? Viele weitere Ursachen könnten an dieser Stelle genannt werden. Nicht zuletzt etwa die Tatsache, dass sich die Welt am Abend einer zu Ende gehenden Epoche und am Beginn eines neuen Zeitalters befand. Johannes Gutenberg hatte 1450 den Buchdruck erfunden und Christoph Kolumbus im Jahre 1492 Amerika entdeckt (oder was er dafür hielt). In Deutschland nahm der Bergbau einen Aufschwung und sorgte für eine frühe Industrialisierung und Wohlstand.

Alle diese unterschiedlichen Ereignisse, Bewegungen und Umbrüche haben den Weg für die Reformation vorbereitet. Der eigentliche Anlass aber ist damit noch nicht genannt. Die Initialzündung für die Reformation war letztlich eine seelsorgerliche Fragestellung. Davon bin ich überzeugt, und diese These lässt sich gut begründen. Obwohl Luther die Missstände in der römischen Kirche sah, trat er nicht in erster Linie dazu an, diese Missstände abzuschaffen oder die Kirchenorganisation zu reformieren. Auch das Papsttum war zunächst nicht sein Gegner. Seine Motivation lag tiefer, nämlich im Grunde seines eigenen Herzens. Dort rumorte die verzweifelte Frage eines jungen Mönches. Sie lautete: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Luther suchte in dieser für ihn entscheidenden Lebensfrage die Gewissheit, die ihm die mittelalterliche Kirche, die Theologie, ja die ganze Welt nicht geben konnte. Diese Frage hatte ihn einst ins Kloster getrieben, und sie ließ ihn fortan nicht los. Sie beschäftigte ihn als Mönch genauso wie als Theologe und Bibelwissenschaftler. Luther war ein Mensch, der nach dem gnädigen Gott Ausschau hielt und ihn doch lange nicht zu Gesicht bekam. An diesem Punkt hat aus meiner Sicht die Reformation ihren Ursprung.

Eindrücklich schildert Luther, wie er gequält von Angst und Leistungszwang betete, meditierte, sich selbst kasteite und bis zur Erschöpfung mit Schlafentzug plagte. Das beherrschende Bild jener Jahre war für ihn Christus als der Weltenrichter, der über einem Regenbogen thronte und das Schwert in der Hand hielt. Rückblickend auf diese Zeit konnte er sagen: »Denn ich glaubte nicht an Christum, sondern hielt ihn nicht anders denn für einen strengen, schrecklichen Richter, wie man ihn malet auf einem Regenbogen sitzend.«2

Luther, der seine eigene menschliche Unzulänglichkeit und Sündhaftigkeit spürte, wusste, dass er vor diesem Richter niemals bestehen konnte. Desto begieriger suchte er nach einer Antwort auf seine Ausgangsfrage. Sie besaß schließlich das Potenzial, das Leben dieses Mönchs und daraus resultierend ganz Europa zu reformieren. Vorbereitet wurde die Antwort auf diese Frage bei Johann Staupitz, dem Seelsorger Luthers.

2. Johann Staupitz als seelsorgerlicher Wegbegleiter

Martin Luther ist uns vor allem als ein Mann der Öffentlichkeit bekannt. Vertraut ist uns jenes Bild, wie er auf der Kanzel seiner Kirche in Wittenberg steht und öffentlich das Evangelium verkündigt. Bekannt ist er uns als streitbarer Theologe und mutiger Kirchenmann.

Weniger bekannt ist die Tatsache, dass Luther die meiste Zeit seines Lebens selbst Seelsorge in Anspruch nahm. Besonders in seinen Jugendjahren war dies der Fall. Die neuere Lutherforschung hat zu Recht auf diesen Sachverhalt hingewiesen.3 Wir müssen diese frühen Jahre Luthers beachten, wenn wir sein inneres Werden und Wachsen verstehen wollen. Seine reformatorische Erkenntnis war demzufolge kein punktuelles »Aha-Erlebnis«. Vielmehr legte Luther einen mühevollen Weg zurück, auf dem sich Stück um Stück die neue Erkenntnis anbahnte. Luther tastete sich gewissermaßen an das Evangelium heran, ehe es zu jenem bahnbrechenden Durchbruch kam. Ein wichtiger Wegbegleiter war ihm in jener Zeit Johann von Staupitz. Staupitz stand dem jungen Luther als Beichtvater zur Seite. Er war sein Berater in geistlichen und seelsorgerlichen Fragen.

Da Staupitz einen sehr nachhaltigen Einfluss auf Luther ausübte, lohnt es sich an dieser Stelle, ihn etwas genauer zu betrachten. Staupitz war Augustinermönch und zugleich Theologieprofessor, der nach verschiedenen Stationen im Jahre 1502 nach Wittenberg berufen wurde. Der mächtige und für die Wissenschaft und Kunst aufgeschlossene sächsische Kurfürst Friedrich der Weise wollte dort unter anderem eine nach dem Vorbilde Tübingens geartete Universität etablieren. Dass Staupitz selbst in Tübingen promoviert wurde und dort in den Jahren 1497–1502 Prior des Augustinerordens war, mag ein möglicher Grund für dessen Berufung gewesen sein. Staupitz wurde somit Gründungsdekan der Universität in der aufstrebenden Residenzstadt Wittenberg. Als Luther im Jahre 1508 sein Studium in Wittenberg aufnahm, saß er Staupitz zu Füßen und lauschte seinen biblischen Vorlesungen. Staupitz erkannte das Potenzial des jungen Theologen und wurde zum Förderer des begabten Studenten. Schon bald drängte er ihn zu einer Doktorarbeit. Aufschluss darüber gibt die folgende Szene, die sich im Garten des Augustinerklosters zwischen Luther und Staupitz abgespielt haben soll: »Staupitz, mein Prior, saß einmal unter dem Birnbaum, der noch heute mitten in meinem Hof steht. Endlich sprach er zu mir: ›Herr Magister, Ihr sollt den Doktorgrad erwerben, so kriegt Ihr etwas zu schaffen.‹«4 Als Luther allerlei Gründe anführte und sich weigerte, ein solches Projekt anzustreben, entgegnete ihm wiederum Staupitz: »Wisst ihr nicht, dass unser Herrgott viele große Sachen auszurichten hat? Dazu bedarf er vieler kluger und weiser Leute, die ihm helfen raten. Wenn Ihr denn je sterbt, so müsst Ihr sein Ratgeber sein.«5 Staupitz schätzte Luther sehr und wollte ihn schon bald in eine verantwortungsvolle Position bringen. Im Jahre 1512 war es schließlich so weit: Staupitz übertrug Luther seinen eigenen theologischen Lehrstuhl.

Luther hatte Staupitz indes weit mehr zu verdanken als nur die Förderung seiner wissenschaftlichen Karriere. Aus mehreren biografischen Notizen Luthers wissen wir, wie sehr Staupitz auf Luther seelsorgerlich einwirkte. Im Jahre 1545, also ein Jahr vor seinem Tod, erwähnte Luther in einem Schreiben, dass Staupitz sein Vater gewesen sei, dem er die reformatorische Lehre verdanke und der ihn wiedergeboren habe. An anderer Stelle sagte er »ich hab all mein Ding von Doktor Staupitz«6 oder auch »Staupicius hat die doctrinam [Lehre – Anm. d.Verf.] angefangen«.7 Die Anrede »Vater«, die Luther auch an anderen Stellen Staupitz gegenüber verwendete, lässt erahnen, wie vertrauensvoll die Beziehung zwischen beiden gewesen sein muss. Staupitz war für Luther ein geistlicher Vater, bei dem er beichten konnte und der ihn auch in persönlichen und theologischen Fragen beriet. Hier fand Luther Trost, wenn ihn sein eigenes skrupulöses Gewissen plagte. Hier konnte er seine Schuld loswerden, wenn er nach qualvoller Gewissenserforschung Erleichterung suchte. Dabei konnte Staupitz seinen jungen Kollegen auch deutlich kritisieren. Luther kam immer wieder zu Staupitz und bat um Vergebung seiner Sünden. Staupitz wies Luther wegen dieses zwanghaften Beichtverhaltens zurecht. Er habe doch gar keine rechten Sünden vorzuweisen. Christus sei die Vergebung von schweren und großen Sünden wie »die Eltern morden, öffentlich lästern, Gott verachten und die Ehe brechen«. Er solle also nicht mit »Humpelwerk und Puppensünden« zur Beichte kommen »und aus jeglichem Bombart eine Sünde machen«.8 Luther komme mit scheinbaren Sünden und missachte damit, dass Christus der wahre Heiland sei.

Das Problem waren in diesem Zusammenhang weniger die Schuldgefühle, die Luther beichtete, als vielmehr die Tatsache, dass er schon vor der Vergebung sündlos sein wollte. Luther litt darunter, dass er überhaupt Sünden auf sich lud. Damit machte er im Grunde das Erlösungswerk Christi hinfällig. Seine eigene Skrupelhaftigkeit versperrte ihm den Zugang zur Gnade. Sein religiös motivierter Wunsch, vor Gott tadellos und perfekt dazustehen, hielt ihn von Gottes Herzen fern. Allein das Evangelium konnte ihn aus diesem Zwang befreien. Wie tief er diese Befreiung erlebt haben muss, zeigt ein Zitat aus späteren Jahren, als er seinem Weggenossen Melanchthon folgenden Rat gab: »Sündige tapfer, aber glaube noch tapferer«9 (lat. pecca fortiter, sed crede fortius). Denn Gott erlöse nicht von eingebildeten, sondern von wirklichen Sünden. Luther gibt hier keinen Freibrief zum Sündigen. Vielmehr will er skrupulösen Menschen zur Freiheit verhelfen. Nicht die Sünde ist das erste Thema der Christen, sondern die Erlösung, die Christus schenkt. An dieser Wahrheit hat sich seit den Tagen Luthers nichts geändert.

Bei Staupitz hat Luther gelernt, den Blick von den eigenen Sünden weg hin zu Christus zu wenden. Einmal kam Luther zu Staupitz, um mit ihm eines der größten und schwersten theologischen Themen überhaupt zu diskutieren. Es ging um die Frage der göttlichen Erwählung, der Prädestination. Luther zweifelte offenbar, ob Gott auch ihn, den sich so unvollkommen fühlenden Mönch, erwählt hatte. Die Antwort von Staupitz ist berühmt und lässt nicht nur dessen eigene Verankerung in Christus, sondern auch seine seelsorgerliche Weisheit erkennen.

»Ich führte einmal bei meinem Staupitz Klage über die Erhabenheit der Prädestination. Er antwortete mir: In den Wunden Christi versteht und findet man die Prädestination, nirgends anders, denn es ist geschrieben: ›Diesen hört!‹ Der Vater ist zu hoch, aber der Vater hat gesagt: Ich werde euch einen Weg geben, um zu mir zu gelangen, freilich Christus. Geht, glaubt, hängt auch an Christus, so wird es sich wohl finden, wer ich bin, zu seiner Zeit. Das tun wir nicht, daher ist Gott für uns unbegreiflich, undenkbar; er wird nicht begriffen, außerhalb Christ will er nicht erfasst sein.«10

Luther klagt, denn der Gedanke an die Größe, Unerforschlichkeit und Erhabenheit der göttlichen Erwählung ließ ihn erzittern. Wie kann ein Mensch jemals gewiss werden, dass er von Gott erwählt und geliebt ist? Luthers Frage ist wohl nicht nur seiner eigenen Skrupelhaftigkeit zuzuschreiben. Im Kontext der mittelalterlichen Gnadentheologie blieb es für einen Menschen völlig im Dunkeln, ob er von Gott angenommen sei oder nicht. Eine letzte Gewissheit konnte es in der Frage des ewigen Heils bzw. der ewigen Verdammnis nicht geben. Der Rat von Staupitz wirkt vor diesem Hintergrund nicht nur befreiend, er ist auch zutiefst reformatorisch und seelsorgerlich. Die Frage der eigenen Prädestination lässt sich weder durch Grübeln noch durch theologisches Nachdenken lösen. An dieser Stelle stößt der Mensch an eine Grenze. Die alles entscheidende Antwort auf diese anfechtungsschwere Frage findet sich in den Wunden Christi. Wer über die Prädestination grübelt, wird verzweifeln. Wer aber über die Wunden Christi meditiert, der findet Trost.

Wir sehen an dieser Stelle, wie Staupitz einen Grund legte, der für Luthers weiteres theologisches und seelsorgerliches Wirken entscheidend sein sollte. Weg vom Fragen – hin zum Vertrauen. Weg vom Spekulieren – hin zum Betrachten. Weg von den eigenen Gefühlen – hin zu Christus. Staupitz wies Luther weg von seinen eigenen Befindlichkeiten. Die Betrachtung der Wunden oder auch des Leidens Christi war für Luther nicht erschreckend oder grausam, sondern zutiefst tröstlich.

In den Wunden Christi findet sich der Mensch geborgen und geliebt. Nicht der majestätische Gott wird zum Ausgangspunkt der Theologie Luthers, sondern der Gekreuzigte. Staupitz hatte ihm diese Spur gelegt: »Man muss den ansehen, der da Christus heißt.«11 Der Blick auf Christus führt zum Trost. Diesen Rat von Staupitz hat Luther nicht nur für sich selbst, sondern auch für seine eigene Seelsorge übernommen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang zweierlei. Zum einen stellt Staupitz Luther ein Bild vor Augen. Er tröstet Luther nicht mit theologischen Gedanken, sondern mit dem Gnadenbild der durchbohrten Hände und Füße von Jesus. Heil und Trost findet man weniger durch das Verstehen als vielmehr durch das Betrachten. Zum anderen ermahnt er ihn, die Worte des Vaters zu hören. Nicht die eigenen Einreden und Zweifel führen den Menschen aus seinen Nöten, sondern das Hören auf die Stimme Gottes. Auch diese Weisung wurde bedeutsam für Luthers eigene Seelsorge.

Staupitz beschreitet an dieser Stelle mit Luther einen grundsätzlich anderen Weg, als die Freunde mit Hiob gingen. Jene wollten im Verhalten bzw. in der Gottesbeziehung Hiobs einen Anhaltspunkt für sein Leiden finden. Damit aber wendeten sie Hiobs Blick zurück auf sich selbst. Staupitz geht mit Luther anders um, und ebenso machte es Luther mit vielen Ratsuchenden in seiner späteren Seelsorge. Seelsorge ist gerade nicht der Rekurs auf das eigene Verhalten, den eigenen Glauben, eigene Schuld oder Unschuld. Es geht allein um Christus, der für uns Menschen ist. Die Richtung der Seelsorge Luthers zeichnet sich damit schon ab: Ihm geht es in der Seelsorge nicht darum, dass man von allen Anfechtungen ein Leben lang frei werden könne, sondern darum, durch die Anfechtung hindurch auf Christus zu schauen. Luthers Seelsorge gibt damit der Anfechtung eine Richtung und ein Ziel. Sie lenkt unseren Blick auf Christus hin.

3. Die Heilige Schrift als Seelsorgerin

Gotteserfahrung und Gottesbegegnung gibt es für Martin Luther nicht unmittelbar. Das unterscheidet ihn bis heute von vielen, die meinen, man könne Gott direkt, übernatürlich oder in besonderen spirituellen Erfahrungen und Meditationen erleben. Gott erfährt man nach Luther nur mittelbar, und zwar durch die Heilige Schrift. Deshalb ist sie zugleich verbindlich für Leben und Lehre der Christen und auch die kritische Norm gegenüber jeder anderen Art von Offenbarung oder vermeintlicher Gotteserfahrung.

Luther war Professor für biblische Theologie. Als solcher legte er in den Jahren 1513 bis 1516 die Psalmen und den Römerbrief aus. Wenig später folgte der Galaterbrief. Gerade diese Schriften hatten einen bedeutenden Einfluss auf sein ganzes Leben als Christ und Theologe. In diesen Texten entdeckte er die Freiheitsbotschaft des Evangeliums klar und kräftig formuliert. Eine Kostprobe, wie überschwänglich und begeistert er von dieser Freiheit schreiben konnte, finden wir in einem Galaterbrief-Kommentar Luthers zur Stelle Gal 5,1: »Zur Freiheit hat Christus uns befreit.« Luther schreibt dazu:

»Er [Christus – Anm. d.Verf.] hat uns also befreit, dass unser Gewissen frei, getrost und fröhlich soll sein und sich nicht fürchten vor dem künftigen Zorn, welches allein die rechte Freiheit heißt und ist, die niemand teuer und doch genug schätzen kann. Wahrlich, es ist eine herrliche und unbegreifliche Freiheit, dass einem die göttliche Majestät gnädig ist, einen schützen, in allen Nöten helfen und endlich auch leiblich frei machen will.«12

Der in seinem Gewissen angefochtene Luther begibt sich in die Heilige Schrift hinein und lässt sich von ihr auslegen. Was er dort vernimmt, verschafft ihm unendlichen Trost. Es bringt sein Gewissen zur Ruhe. Es macht ihn frei und lässt ihn dankbar jubeln. Die Heilige Schrift war Luthers Seelsorgerin.

Anhand einer Fülle von Hinweisen wissen wir, wie Luther die Schrift auslegte. Zum einen achtete er genau auf die Worte und deren Bedeutung. Auf der Grundlage des hebräischen, lateinischen und griechischen Urtextes arbeitete er philologisch exakt. Ziel dieser Methode war es, das »äußere Wort«, die Grammatik und die Wortbedeutung zu verstehen. Bis heute gilt das genaue Hinhören auf das, was dasteht, als Prinzip evangelischer Schriftauslegung. Zum anderen aber näherte sich Luther der Schrift meditativ betend. Im wiederholten Lesen, im Nachdenken und Betrachten der Worte und Sätze versenkte er sich in das Gelesene bzw. Gehörte. Dabei machte er eine Erfahrung. Er wurde ergriffen. Schriftbetrachtung war ihm nicht nur eine Sache intellektuellen Verstehens, sondern auch des inneren Berührt-Werdens. Was er las, redete in sein Leben hinein und machte ihn betroffen. Im Grunde legte Luther nicht die Schrift aus, sondern die Schrift legte Luther aus. Er merkte, dass er in den biblischen Geschichten und Sentenzen vorkam und sein eigenes Leben darin erzählt wurde. So wurde für ihn die Schriftauslegung zur seelsorgerlichen Erfahrung.

Das galt insbesondere für die Psalmen. In einer seiner Vorreden über den Psalter schrieb er:

»Wo findest du tiefere, kläglichere, jämmerlichere Worte von der Traurigkeit, als die Klagepsalmen sie haben? Und, wie gesagt, ist das das allerbeste, dass sie solche Worte gegen Gott und mit Gott reden; das macht, dass zweifältig Ernst und Leben in den Worten sind. Daher kommt es auch, dass ein jeder, in was für Sachen er auch ist, Psalmen und Worte darin findet, die sich auf seine Sachen reimen und ihm ebenso sind, als wären sie allein um seinetwillen gesagt.«13

Scharfsinnig formuliert Luther hier eine Einsicht, die sich auch in der neueren Exegese durchgesetzt hat: In den Klagepsalmen kommen menschliche Grenzsituationen zur Sprache, die urbildhaft und typisch sind. Was der Psalmbeter erfährt, deckt sich mit der eigenen Erfahrung. Was er empfindet, spiegelt die eigenen Empfindungen wider. So kann man sich in den Psalmen »unterbringen«. Das heißt, man fühlt sich darin verstanden und aufgehoben. Der »garstige Graben« zwischen damals und heute wird überwunden. In der Schrift kommen wir Menschen vor mit allem, das unser Leben ausmacht. So wird sie uns zur Seelsorgerin.

Erfahrungen in der Seelsorge bestätigen dies. Als ich einmal im Krankenhaus einen schwerkranken Menschen besuchte, mir die eigenen Worte fehlten und wir am Ende beide verstummten, las ich ihm zum Schluss Psalm 13 vor. Nachdem ich geendet hatte, reagierte der Mann spontan: »Das tut mir gut.« Ganz ähnlich ging es mir im Gespräch mit einem depressiven Jugendlichen, der die christliche Botschaft innerlich ablehnte und für das Evangelium verschlossen war. Als ich ihn dann fragte, ob ich noch einige Verse aus den Psalmen lesen dürfe, und er mir diese Bitte gewährte, las ich ihm einzelne Verse aus Psalm 102 vor. Auch in diesem Fall war die Reaktion überraschend: »Der hat etwas verstanden«, entgegnete er spontan. Luther hatte dieses genauso erfahren. Er konnte sich selbst mit seinen Anfechtungen in den Psalmen unterbringen, fühlte sich so verstanden und trotz allem von Gott gehalten.

Wenn wir versuchen, Luther als Seelsorger zu verstehen, können wir von jenem intensiven Schriftbezug nicht absehen. Von der Heiligen Schrift ausgelegt, getröstet, erleuchtet, versucht und getroffen, konnte er zu jenem großen Seelsorger seiner Zeit werden.

Im Kontext seiner Schriftbetrachtung und Schriftauslegung hat sich bei Luther Schritt um Schritt seine berühmte reformatorische Erkenntnis durchgesetzt. In welchem Jahr es genau dazu kam, ist bis heute unter den Gelehrten umstritten. Tatsache aber ist, dass es für Luther ein Weg dorthin war und dass er diese Erkenntnis aus der Schrift gewann. Wie tief greifend jene Erfahrung der Schrift für ihn war, hat er selbst festgehalten. Etwa 25 Jahre nach seiner Entdeckung schreibt Luther kurz vor seinem Tod rückblickend auf jene Zeit:

»Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich doch vor Gott als Sünder, und mein Gewissen quälte mich sehr. Und da ich nicht darauf vertrauen konnte, Gott durch meine Genugtuung zu versöhnen, liebte ich ihn nicht, ja ich hatte sogar einen Widerwillen gegen den gerechten und die Sünder strafenden Gott (…) So wütete ich wild und mit verwirrtem Gewissen, jedoch klopfte ich rücksichtslos an dieser Stelle (Römer 1,17) bei Paulus an; ich dürstete glühend zu wissen, was Paulus wollte. Da erbarmte sich Gott meiner. Da fühlte ich mich ganz und gar neu geboren, und durch offene Türen trat ich in das Paradies selbst ein. Da zeigte mir die ganze Schrift ein völlig anderes Gesicht. Ich ging dann die Schrift durch, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand auch bei anderen Worten das gleich, z. B.: Werk Gottes bedeutet, das Werk, welches Gott in mir wirkt (…) Mit so großem Hass, wie ich zuvor das Wort Gerechtigkeit Gottes gehasst hatte, mit so großer Liebe hielt ich jetzt dies Wort als das allerliebste hoch. So ist mir diese Stelle des Paulus in der Tat die Pforte des Paradieses gewesen.«14

Luther »klopft« an bei der Schrift. An anderer Stelle spricht er davon, dass man die Schrift »wie ein Kräutlein treiben und reiben« müsse, oder auch, dass man sie wie eine Nuss knacken müsse. Hier klingen Luthers Anfechtungen und Kämpfe an: Ihn dürstet; sein Gewissen ist verwirrt; er wütet rücksichtslos. Hier spricht keiner, der durch kühle Reflexion zu seiner reformatorischen Einsicht gekommen ist. Hier hat keiner ein strategisches Programm zur Erneuerung der Kirche entworfen. Hier kommt vielmehr ein zutiefst Verzweifelter zu Wort. Gewissen und Emotion, aber auch Verstand, Leidenschaft und Wille sind beteiligt. Luther ist mit seiner ganzen Existenz vor Gott. Indem er bei der Schrift anklopft, öffnet sich ihm schließlich der Himmel. Luther findet Gewissheit. Diese geschenkte Erfahrung sollte für Luther als Seelsorger und Theologe wegweisend sein. Gott war für ihn nicht länger ein Diskussionsgegenstand oder ein theologisches Problem, sondern eine Wirklichkeit, der er sein Leben verdankte.

Wer sich heute in Theologie und Kirche umschaut, muss vielfach entdecken, dass die Wirklichkeit des lebendigen Gottes häufig keinen Raum in akademischen Kollegs besitzt. Ein ausländischer Student, der mehrere Wochen an einer deutschen Fakultät zubrachte, suchte mich auf und stellte mir dann die Frage: »Was ist eigentlich los mit der deutschen Theologie? In der Exegese, der Schriftauslegung, geht es nur um Geschichtswissenschaft. In der Seelsorgevorlesung bekomme ich nur Psychologie zu hören, und im homiletischen Seminar geht es nur um Rhetorik. Wo bleibt eigentlich Gott in der deutschen Theologie?«

Die Wahrnehmung jenes ausländischen Studenten lässt sich sicher nicht auf alle theologischen Fakultäten übertragen. Dennoch bringt sie den Mangel auf den Punkt. Theologie als Lehre von Gott und seinem Wort verlangt danach, persönlich erfahren, erlebt und durchlitten zu werden. Daran krankt manches akademische Seminar und auch manche Predigt unserer Tage.

4. Theologie, die zur Seelsorge wird

Luthers reformatorische Entdeckung ist mit einer tiefen Selbsterfahrung und Selbstwahrnehmung gekoppelt. Luther sah sich in der Sackgasse seines eigenen Selbst gefangen. Er fühlte sich als Sünder. Sein eigenes Vermögen war unzulänglich. Er besaß einen Widerwillen gegen Gott. Dieselbe Erfahrung bringt er in seinem bekanntesten Reformationslied so zum Ausdruck:

»Dem Teufel ich gefangen lag,

im Tod war ich verloren,

mein Sünd mich quälte Nacht und Tag,

darin ich war geboren.

Ich fiel auch immer tiefer drein,

es war kein Guts am Leben mein,

die Sünd hatt’ mich besessen« (EG 341,2).

Luthers Selbstanalyse ist schonungslos und radikal. Er sieht den Menschen als unfähig an, sich selbst zu helfen oder gar sich selbst zu erlösen. Dieser ist nicht mehr Herr im eigenen Hause. Er ist von einer fremden Macht, der Sünde, »besessen«.

Luther nimmt hier dem Menschen alles aus der Hand. Dieser kann nichts zu seiner Erlösung beitragen. Er kann Gott nichts bieten – außer seiner Schuld, seinem Versagen und seiner Unfähigkeit, ihn zu lieben. Der Mensch bleibt auf sich selbst geworfen, unfähig und außer Kraft, Gott auf die eine oder andere Weise zu beeindrucken. Eine solche abgrundtief pessimistische Sicht des Menschen findet sich zuvor schon bei Paulus und bei Augustin, interessanterweise aber auch später dann bei Sigmund Freud. Letzteres klingt ungewöhnlich, doch kam der Vater der Psychoanalyse von ganz anderen Voraussetzungen her zu ähnlichen Ergebnissen wie Luther. Der Mensch ist nicht mehr Herr im eigenen Hause. Er wird von fremden Mächten, Trieben und Kräften gesteuert. Diese Sichtweise ist radikal und verträgt sich kaum mit einem aufgeklärten Humanismus.

Genau dieser Umstand, nämlich dass der Mensch aussichtslos verloren ist, bildete für Luther den Hintergrund für seine umstürzende Erfahrung. »Da erbarmte sich Gott meiner. Da fühlte ich mich ganz und gar neu geboren, und durch offene Türen trat ich in das Paradies selbst ein

Nun liegt es nicht mehr am Menschen, nach Hause zu finden oder sich selbst in ein gutes Licht zu rücken. Alles geschieht vielmehr von Gott her. In dem bereits erwähnten Reformationslied hört sich das dann so an:

»Er sprach zu mir: Halt dich an mich, es soll dir jetzt gelingen;

ich geb’ mich selber ganz für dich, da will ich für dich ringen;

denn ich bin dein und du bist mein,

und wo ich bleib, da sollst du sein,

uns soll der Feind nicht scheiden« (EG 341,7).

Ausgangspunkt der Theologie Luthers ist nicht der Mensch, sondern Gottes Tun am Menschen. Genau so aber wird seine Theologie zutiefst seelsorgerlich. Wenn wir fragen, warum so viele Menschen bis heute unter Luthers Predigten, seinen Liedern und bei der Lektüre seiner zahlreichen Schriften aufatmen und sich getröstet wissen, hat dies vermutlich damit zu tun. Gott ist nicht einfach nur da. Vielmehr ist er für den Menschen da. Er gibt sich für ihn. Er kämpft und ringt um ihn. Er verspricht ihm dauernde Freundschaft, Nähe und Beziehung.

Das Thema evangelischer Theologie und Seelsorge ist nicht, was der Mensch leistet oder wirkt. Es ist Gott und das, was er in Christus für den Menschen getan hat und heute noch tut. Ein gesetzlicher Glaube setzt immer bei dem an, was der Mensch tun und leisten soll – und zwar so, als habe Gott ihm zuvor nichts geschenkt. Evangelischer Glaube aber geht von dem aus, was Gott schon längst für den Menschen getan hat. Darauf kann sich der Mensch berufen. Er wird entlastet, er wird frei.

Luther selbst hatte Christus so erfahren. Diese Erfahrung war so gewaltig für ihn, dass er dafür sogar seinen Namen änderte. Seit etwa 1517 unterschrieb er seine Briefe mit dem griechischen Wort »eleutherios«, was so viel wie »der Freie« oder auch »der Befreite« heißt. Die beiden mittleren Buchstaben »th« fügte er schließlich in seinen eigenen Nachnamen ein. So wurde aus seinem ursprünglichen Namen »Luder« der Name, mit dem er in aller Welt bekannt wurde: Luther. Mit der Änderung seines Namens verwies er auf seine innere, geistliche Verwandlung. Hier war ein Mensch frei geworden. Frei geworden von seinen Gewissensplagen, seinen Selbstzweifeln und Versagensängsten. Letztlich von seiner Angst, von Gott verworfen zu sein. Mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und mit der Kraft seiner ganzen Person machte er diese Botschaft nun deutschlandweit kund und wurde damit zum Seelsorger einer ganzen Nation. Luthers Theologie wird zur Seelsorge, und Seelsorge wird zur »Grunddimension« seines Lebens und Wirkens.15

Kapitel 2 Wenn die Rechtfertigung das Leben trifft

Kapitel 2 | Wenn die Rechtfertigung das Leben trifft

1. Die Mitte reformatorischer Theologie

Einer meiner theologischen Lehrer, der Tübinger Professor für Ethik Oswald Bayer, konnte sagen: »Theologie ist wie Spaghetti essen. Wenn man an einer Stelle mit der Gabel reinsticht, hängt alles andere dran.« Bayer hatte mit diesem Vergleich an die Lehre von der Rechtfertigung gedacht. Diese lässt sich nicht von anderen theologischen Themen isolieren. Für das Verständnis von der Schöpfung ist sie genauso zentral wie für die Lehre vom Menschen. Ohne den Artikel von der Rechtfertigung lassen sich die Fragen von den »letzten Dingen«, die Fragen von Gericht bzw. Rettung oder Verwerfung des Menschen nicht sachgemäß beantworten. Schließlich ist die Rechtfertigung nicht zuletzt für die Seelsorge, die Predigt und die Erziehung grundlegend. Der Artikel von der Rechtfertigung ist das Zentrum reformatorischer Theologie, von der alles andere abhängt. Luther wurde nicht müde, dieses seinen Studenten als zukünftigen Seelsorgern und Verkündigern des Wortes Gottes einzuschärfen:

»Der Artikel von der Rechtfertigung ist Meister und Fürst, Herr, Lenker und Richter über alle Arten von Lehre, er erhält und regiert jegliche kirchliche Lehre und richtet unser Gewissen vor Gott auf. Ohne diesen Artikel ist die Welt durch und durch Tod und Finsternis.«16

Mit dem Artikel von der Rechtfertigung steht und fällt die Kirche. Er ist die Sonne, die Gottes Volk erleuchtet, und das Feldzeichen, das den Christenglauben von allen anderen Religionen unterscheidet.17 In den Schmalkaldischen Artikeln, den von Luther im Jahre 1536 selbst verfassten evangelischen Bekenntnistexten, hört sich das so an: »Von diesem Artikel kann man nichts weichen oder nachgeben, es falle Himmel und Erden und was nicht bleiben will18

Die Rechtfertigung zielt aufs Ganze. Würde man sie wegnehmen, so verlöre die Theologie ihre Basis und die Kirche ihren Grund. Dabei geht der Kreis der Themen, mit der die Rechtfertigung zu tun hat, weit über die Kirche und die Theologie hinaus. Die sozialen Fragen des Zusammenlebens und der Gemeinschaft unter den Menschen oder existenzielle Fragen etwa nach dem Sinn des Lebens und der Selbstverwirklichung sind genauso davon berührt wie die alltäglichen Fragen nach Arbeit, Leistung und Erfolg. Aber auch die Fragen nach dem Scheitern des Menschen und seinem Versagen, seiner Vergangenheit und seiner Zukunft haben unmittelbar mit der Rechtfertigung zu tun. Es gibt kaum ein Thema, das nicht von der Rechtfertigung betroffen wäre.

Was ist der Kern der Rechtfertigungslehre? Worum geht es letztlich? Grob gesagt: Im Kern geht es bei der Rechtfertigung um die eine Frage, nämlich den Menschen als Empfangenden begreifen zu dürfen.19 Der Mensch ist angewiesen und bedürftig. Gott aber schenkt und gibt. Das ist der Kern. Von diesem archimedischen Punkt aus lässt sich die ganze Welt aus den Angeln heben.

Allerdings wird »Rechtfertigung« in unserer Zeit oft missverstanden, denn die gewöhnliche Verwendung des Begriffes ist irreführend. Im Allgemeinen rechtfertigen wir Menschen uns selbst. Nämlich dann, wenn wir in einer Verlegenheit stecken oder aus einer Sache nicht herauskommen. Dann entschuldigen wir uns normalerweise oder versuchen zu erklären, dass die Sache sich ganz anders verhält, als sie scheinbar aussieht. Wir rechtfertigen uns für ein Malheur, das uns unterläuft, genauso wie für das Zuspätkommen bei der Arbeit. Dieses Verhalten steckt tief in uns und lässt sich schon auf den ersten Seiten der Bibel beobachten. Nachdem Adam von der verbotenen Frucht im Garten gegessen hatte und von Gott zur Rede gestellt wird, zeigt er auf Eva, die ihm die Frucht gegeben hatte (1Mo 3,12). Oswald Bayer hat recht, wenn er sagt, sich rechtfertigen zu müssen, »gehört unaufhebbar zu unserem Menschsein dazu«.20

Wie alltäglich solche »Rechtfertigungsspiele« sind, mag auch das folgende Beispiel verdeutlichen: