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Jan Beinßen

 

Lokalderby

 

Paul Flemmings achter Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (3. Auflage März 2013)

 

© 2013 by ars vivendi verlag

GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung zweier Fotos von David Ebner/picture alliance/dpa (oben) und DeFodi/picture alliance (unten)

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-266-2

 

Für meine Lieblingskicker

Felix & Philip

 

 

 

 

 

 

 

»I hope we have a little bit lucky«

Lothar Matthäus

 

1

»Jetzt schieß! SCHIESS! Du sollst schießen, verdammt!«

Paul Flemming brüllte aus Leibeskräften, und es hielt ihn kaum auf seinem Platz. Die Leidenschaft, die ihn gepackt hatte wie ein plötzlich auftretendes Sommergewitter, teilte er mit über 40.000 anderen Besuchern des Nürnberger Stadions. Einer war noch enthusiastischer bei der Sache als Paul und verfolgte das Geschehen mit hochrotem Kopf und wippenden Knien: sein Vater Hermann.

Hermann besaß eine Dauerkarte und war bis vor Kurzem mit dem eigenen Wagen zu den Spielen gekommen. Doch die Fahrerei fiel ihm zusehends schwerer, und mangels einer vernünftigen ÖPNV-Anbindung zwischen Herzogenaurach und Nürnberg musste nun ab und zu Paul ran, um den Chauffeur zu geben. Heute inklusive Begleitung ins Stadion, wo Vater und Sohn sich die Partie des 1. FC Nürnberg gegen Hannover 96 ansahen.

Ein Spiel ungleicher Gegner, wie Paul meinte, der die kritischen Mienen seiner Nachbarn bemerkte und die sich rapide verschlechternde Stimmung im Fanblock spürte: Die Hannoveraner führten schon seit der vierten Minute mit 1:0. Von Anfang an hatten sie sich überlegen gezeigt, konnten blitzschnell das Mittelfeld überbrücken und tauchten immer wieder im Nürnberger Strafraum auf. Dank seines herausragenden Keepers konnte der Club dem heranstürmenden Kontrahenten trotzen, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis die Gäste ihre spielerischen Vorteile in ein zweites Tor umwandeln würden.

»Was veranstalten diese Deppen da eigentlich?«, zürnte Hermann, der glühende Club-Fan, über sein Team. »Fehlt nur noch, dass sie über ihre eigenen Füße stolpern.«

»Ja, ein ziemliches Gestöpsel«, stimmte Paul ihm zu. »Wir haben den Hannoveranern nicht viel entgegenzusetzen.«

»Ein Jammer. Ausgerechnet gegen diese Flachländer zu verlieren, das wäre eine Schande. Wozu trainieren die denn die ganze Woche, wenn sie dann nicht mehr Leistung zeigen als die F-Jugend?«

Wie auf dem Feld dominierten auch auf den Zuschauerrängen die Fans von 96 das Geschehen: Obwohl deutlich in der Minderheit, zog der gegnerische Block eine wilde Show ab mit La-Ola-Wellen, Pfeifkonzert und Gesang für die »Roten«, wie die Hannoveraner wegen ihrer traditionellen Trikotfarbe genannt wurden. In den wenigen Momenten, in denen sich der Club den Ball erobern konnte, pfiffen die niedersächsischen Fans die Gastgeber gnadenlos nieder.

»Schlaft nicht ein!«, rief Hermann durch seine zum Trichter geformten Hände. »Zeigt, was ihr draufhabt!«

»Ran! Geht endlich ran!«, feuerte auch Paul die Nürnberger Elf an, in der Hoffnung, die anderen Zuschauer in seiner Reihe aus ihrer Lethargie zu reißen. Ihren Gesichtsausdrücken nach zu urteilen, hatten die meisten von ihnen nämlich schon resigniert.

Leider zu Recht, wie Paul gleich darauf erfahren musste: In einer kaum gebremsten Sololeistung führte der Hannoversche Mittelstürmer den Ball an der wie festgenagelt wirkenden Nürnberger Abwehr vorbei und drosch das Leder in Richtung des völlig schutzlosen Keepers. Ein Schuss in die Wolken zwar, denn der 96er verpasste den Kasten, aber die Gäste bewiesen einmal mehr, dass sie brandgefährlich waren.

»Lasst euch das nicht gefallen! Tretet ihnen in den Arsch!«, brüllte Hermann mit glühenden Wangen – und verblüffte Paul ob seiner Ausdrucksweise. »Es darf nicht wahr sein, dass ihr Schnarchnasen nicht mit dieser Gurkentruppe fertigwerdet!«

Doch die Hannoveraner ließen nicht locker. Sie drängten nach vorn, um die Begegnung so früh wie möglich für sich zu entscheiden und die Sache in trockene Tücher zu bringen. Sie gierten nach dem zweiten Treffer und traten aggressiv auf wie Haie im Blutrausch. Paul mochte gar nicht hinschauen, als ein geballter Sturmlauf der Gäste in der 20. Minute für die nächste Großchance sorgte. Es blieb beim Lattentreffer – vorerst.

Hermann setzte zu einem weiteren Brüller an, ließ es aber bleiben. Stattdessen grummelte er etwas Unverständliches vor sich hin und rieb seine Hände nervös am rot-schwarzen Schal. Paul teilte sein Unbehagen angesichts des Spielverlaufs, doch im Gegensatz zu seinem Vater würde er sich die Laune auch im Falle einer Heimniederlage keineswegs verderben lassen. Denn er selbst begriff sich nicht als überzeugten Fußballfan.

Als Kind hatte er zum Leidwesen seines Vaters nur kurz und wenig erfolgreich im Verein gespielt, die Bundesliga ließ ihn kalt, und selbst bei Champions-League-Spielen schaltete er den Fernseher höchstens dann an, wenn zum Finale die Bayern gegen den FC Chelsea antraten. Turniere wie EM und WM verfolgte er zwar mehr oder weniger regelmäßig, aber auch nur solange die Nationalelf im Rennen war.

Ja, Hermann hatte es nicht leicht mit ihm. Denn im Gegensatz zu Paul ging er völlig im beliebtesten Volkssport der Deutschen auf – zumindest als Zuschauer. Nicht auszuschließen, dass das eher unterkühlte Verhältnis der beiden seine Ursache in den sehr unterschiedlichen Auffassungen über die Bedeutung des Fußballs für den tieferen Sinn des Lebens hatte, sinnierte Paul.

Nachdenklich und in Anbetracht seines mangelnden Einfühlungsvermögens in die Begeisterung seines Vaters auch ein wenig selbstkritisch, betrachtete er Hermanns Profil: das schlohweiße Haar, das er mit einem strengen Scheitel im Zaum hielt, die Brille mit dem dominanten schwarzen Rahmen, die angesichts seiner nachlassenden Sehkraft nicht mehr ganz so sorgfältig rasierten Wangen, den Mund mit den aufgeworfenen, meist vorwurfsvoll verzogenen Lippen.

Paul war mittendrin in der Analyse der schwierigen Vater-Sohn-Beziehung – da brach um ihn herum die Hölle los!

Die Fans an seiner Seite sprangen von ihren Plätzen. Auch Hermann schoss in die Höhe, wobei er offensichtlich Rheuma und Kniegelenksbeschwerden völlig vergaß. Der Jubel, der um Paul herum aufbrandete, erreichte einen düsenjetartigen Lautstärkepegel – das 1:1 war gefallen!

»Siehst du, Bub«, meinte Hermann, als sie sich kurz darauf in den Menschenstrom eingliederten, der sich während der Halbzeitpause zu den Toiletten, Getränkeständen und Würstchenbuden bewegte. »Der Club ist eben doch kein Depp, wie viele behaupten.« Stolz schwang in seiner Stimme.

»Und ich verpasse den Ausgleich«, sagte Paul zerknirscht. »Habe das Spiel direkt vor meiner Nase und verschlafe trotzdem die entscheidenden Sekunden.«

»Macht nichts. Du wirst schon noch auf deine Kosten kommen. Jetzt sind unsere Jungs aufgewacht. In der zweiten Halbzeit jagen sie die Preußen zum Teufel.«

»Wenn du meinst …«

Paul, der sich anstelle des obligatorischen Bratwurstwecklas heute mal für eine schlichte Bockwurst mit Senf und Weißbrot entschied, stellte fest, dass er gerade drauf und dran war, die längste zusammenhängende Unterhaltung mit seinem Vater zu führen, an die er sich erinnern konnte. Denn meist beschränkten sich ihre Gespräche auf knappe Begrüßungsfloskeln, kurzgehaltene Arbeitsanweisungen für Paul, wenn es darum ging, den elterlichen Garten auf Vordermann zu bringen, oder die ein oder andere Kritik an Pauls Lebenswandel. Und sonst war es ohnehin seine Mutter Hertha, die den Ton angab und Hermann mit Vorliebe in seinen Fernsehsessel bugsierte, um ungestört mit ihrem einzigen Sohn quatschen zu können.

»Wir müssen uns ranhalten«, rief ihn Hermann zur Eile auf. »Gleich beginnt die zweite Halbzeit!«

Lauthals feuerte die Nordkurve die Nürnberger Kicker an. Auch Hermann schrie aus Leibeskräften, als die heimische Elf einlief, um den Club zum nächsten Tor zu treiben. Paul konnte ebenfalls nicht anders, ließ sich von der Euphorie anstecken und stimmte in den fröhlichen Grölgesang ein.

Mit einer beachtlichen Souveränität und frankenuntypischem Selbstvertrauen bestimmten die Clubberer die ersten Spielminuten des zweiten Abschnitts. Paul freute sich darauf, die nächsten unhaltbaren Schüsse auf das Welfentor zu erleben, wurde jedoch jäh enttäuscht: Die nervenstarken Niedersachsen ließen sich nicht ins Bockshorn jagen und gingen in der 49. Minute nach einem souveränen Angriff mit 2:1 in Führung.

Die Zuschauer um Paul herum waren entsetzt. Hermann fiel völlig erschlafft in den Plastikschalensitz. Andere blieben stehen, trieben den FCN mit allerdings nur noch vereinzelten, unkoordinierten Rufen und Liedfetzen an. Für eine Aufholjagd blieb kaum mehr als eine halbe Stunde. Wenn die 96er nun konsequent dicht machten, dürften die Nürnberger das Nachsehen haben.

»Was für ein Desaster«, gab Hermann ermattet von sich. »Wir waren doch gut im Spiel! Warum lassen sich diese Vollpfosten jetzt so vorführen?«

»Gerade eben hast du die Clubberer noch gelobt, jetzt schimpfst du auf sie«, wies Paul seinen Vater auf den Widerspruch hin.

Der winkte ab. »So ist das nun mal beim Fußball. Und jetzt sei still, Bub.«

Eine Zeit lang sah es so aus, als müsste sich der Club tatsächlich mit einer Niederlage abfinden, bis sich schließlich durch eine kleine Unaufmerksamkeit des Gegners die Chance zu einem schnellen Konter bot. Dirk Sakowsky, Linksaußen im offensiven Mittelfeld, nutzte einen Fehlpass der Hannoveraner und schlug eine herrliche Flanke in den gegnerischen Strafraum. Starstürmer Kevin Modzig gelang es mitzulaufen und den Ball mit der Brust anzunehmen, dann … Schuss!

»JA!«, brüllte Hermann voller Inbrunst. »Hau die Pille rein!«

Doch der talentierte Torhüter im Kasten der 96er machte sich lang und länger und verhinderte gerade noch mit den Fingerspitzen den Ausgleich. Das Leder prallte zurück ins Spielfeld. Die Fans raunten enttäuscht.

»Katastrophe!«, stöhnte Hermann, was in Pauls Ohren eine maßlose Übertreibung war. Aber auch er war recht frustriert und hätte den Clubberern den Treffer gegönnt.

Er sah auf die riesige Anzeigetafel: Die Uhr raste unerbittlich auf das Ende der Partie zu. Er rechnete kaum noch mit einer Überraschung im positiven Sinne.

Der Club aber zeigte weiter Kampfgeist. Die Mannschaft wollte den Sieg oder zumindest ein Unentschieden, kämpfte unermüdlich, gerade jetzt in der Schlussphase. Nein, erkannte Paul, ans Aufgeben war nicht zu denken!

Timmy Simons, belgischer Mittelfeldorganisator, wollte den Ball erobern, wurde bedrängt – doch der Pfiff des Schiedsrichters blieb aus. Simons lag am Boden, kickte den Ball mit letzter Kraft in den freien Raum.

»Das darf nicht wahr sein!«, jammerte Hermann. »Schon wieder eine verpatzte Gelegenheit.«

Doch die 96er reagierten nicht schnell genug, um sich das Leder zu schnappen. Sakowsky witterte leichte Beute. Er zögerte nicht eine Sekunde, zog mit dem Ball vorbei und ließ die Abwehr der Gäste mit leichtem Fuß hinter sich. Damit ging der Club noch einmal in die Offensive. Den Norddeutschen musste schnell etwas einfallen, wenn sie ihre Führung halten wollten.

»Jetzt schaffen sie die Wende«, rief Paul voller Optimismus.

»Schweig, Bub!«, bestimmte Hermann, der voll auf den Spielverlauf konzentriert war.

Sakowskys allzu forsches Vorpreschen blieb erfolglos: Er legte sich den Ball zu weit vor, das Leder rollte einem Abwehrspieler der Gäste vor die Füße, gefolgt von einem schnellen Befreiungsschlag in Richtung Mittellinie. Doch welch ein Fehler von 96! Paul konnte es kaum fassen: Eine klare Unterschätzung des pfeilschnellen FCN-Kickers Kevin Modzig, der sich den ungezielten Schuss schnappte und das gegnerische Mittelfeld gnadenlos überwand.

Und wieder flog der Ball nach vorn, wo Sakowsky noch wartete. Der Altstar nutzte die allgemeine Verwirrung im Strafraum, konnte aus spitzem Winkel schießen und … verfehlte das Ziel nur um Haaresbreite. Die Club-Fans jaulten auf wie eine Meute von verletzten Tieren.

»Nein, ihr Idioten!« Hermann war der Verzweiflung nahe. »Ich gebe meine Dauerkarte ab. Endgültig. Dieser Verein verdient es nicht, dass ich ihn unterstütze.«

»Warte erst mal ab«, redete Paul auf ihn ein. »Schau hin: Die drehen das Spiel noch!«

Was folgte, war ein Konter von atemberaubender Geschwindigkeit. Die Akteure auf dem Feld schenkten sich nichts. Angestachelt durch Sakowskys neuerliche Torchance dominierten jetzt die Rot-Schwarzen, suchten ihre Möglichkeiten und erhöhten den Druck in der Offensive.

Alexander Esswein, reaktionsstarker Flügelflitzer, kam in Ballbesitz: Er preschte in einem Affentempo vor, das Leder eng am Fuß die Seitenlinie entlang, um sich für eine Flanke in Stellung zu bringen. Knapp vor der Torauslinie wurde er durch das energische Einsteigen des gegnerischen Außenverteidigers gebremst. Der stark bedrängte Esswein konnte den Ball gerade noch in Richtung Sakowsky abgeben. Der Pass geriet aber zu kurz, Sakowsky kam nicht dran.

»Siehst du, was ich meine? Sie können’s einfach nicht mehr«, maulte Hermann.

»Noch haben wir nicht verloren«, beruhigte Paul seinen aufgebrachten Vater, um dessen Blutdruck er sich allmählich ernsthafte Sorgen machte.

Voller kribbelnder Ungeduld schaute Paul auf die Anzeigetafel. Viel Zeit blieb ihnen wirklich nicht, um den Ausgleich zu erzielen. Die letzten Minuten verrannen, als wären es nur Sekunden.

Niemand könnte den Nürnbergern später vorwerfen, sie hätten nicht alles gegeben. Geradezu verbissen kämpften sie in der Schlussphase darum, die sich über weite Strecken des Spiels abzeichnende Niederlage abzuwenden. Jetzt war der Ball bei Nürnbergs treffsicherstem Akteur, Hiroshi Kiyotake. Dieser raste mit unglaublicher Geschwindigkeit nach vorn. Paul rechnete mit einem Steilpass auf den perfekt stehenden Modzig, der gerade die Strafraumgrenze passierte. Die 96er-Abwehr wirkte für einen Moment total irritiert. Modzig erwartete den Pass von Kiyotake, doch dieser verzögerte.

»Macht schon, Jungs!«, schrie Hermann.

Paul hielt den Atem an, als sich die folgende Szene wie in Zeitlupe vor ihm abspielte: Zwei Abwehrspieler der Hannoveraner nahmen Kiyotake in die Zange. Sie verhinderten seinen Schuss, während Modzig völlig ungedeckt vorm gegnerischen Tor stand und zur Untätigkeit verdammt war. Nun aber stellte Sakowsky seine superschnelle Reaktionsfähigkeit, über die Paul mal in der Zeitung gelesen hatte, unter Beweis. Paul wusste, dass er zu einem der teuersten Spieler des Clubs zählte – und dieses Geld war er offenbar wert: Sakowsky verließ seine Position, überrannte Hannovers Abwehr, kaperte den Ball und schlüpfte in die Rolle des Stürmers. Statt zum bereitstehenden Modzig zu passen, ging er selbst in den Angriff über und zog aus 20 Metern Entfernung ab!

Ein Schuss mit dem Vollspann, der einen weiten Bogen beschrieb, den Balken des Tors touchierte und … – sah Paul das richtig? – … ja!

»Drin!« Hermann riss beide Arme nach oben, begann zu hüpfen.

Das zweite Tor war im Kasten. Das hieß: erneuter Ausgleich, 2:2!

Die Masse der Fans waberte wie ein einziger homogener Körper, indem Hunderte gleichzeitig von ihren Plätzen aufsprangen. Heftiger Jubel brach aus, der Beifall brauste durchs Stadion wie ein Orkan. Der Krach, zu dem Paul selbst lautstark beitrug, erreichte rekordverdächtige Dezibelwerte.

Paul spürte, wie eine ungeheure Freude in ihm aufstieg – viel größer, als er es von sich gewohnt war, denn Fußball war für ihn ja eigentlich nur ein Sport wie viele andere. Doch er konnte und wollte sich der kollektiven Euphorie nicht verschließen, wurde mitgerissen von der Welle dieses starken positiven Gefühls.

Diese Welle allerdings ließ ihn und die anderen schon nach wenigen Momenten fallen und sehr hart landen: Die Hannoveraner nutzten die freudenbedingte Unaufmerksamkeit der Club-Spieler für einen Blitzangriff und beförderten das Leder nach drei direkten Pässen in Schussposition. Sie kamen dem Nürnberger Keeper Raphael Schäfer am Rand des Strafraums gefährlich nahe …

Paul hielt die Luft an. Wo, zum Teufel, blieb die Nürnberger Abwehr?

Hannovers Topmann im Angriff drehte aufs Tor. Das Leder fetzte durch die Luft, Schäfer entschied sich bei seinem Sprung für die falsche Richtung. Wie eine Kanonenkugel donnerte der Ball aufs Tor zu, war durch nichts zu stoppen.

Durch nichts? Paul starrte auf den Strafraum und versuchte mehr zu erkennen. Er sehnte sich seinen Fotoapparat herbei, mit dem er in einer solchen Situation das Wesentliche hätte heranzoomen können. Doch das, was er aus der Entfernung mit bloßem Auge erkennen konnte, musste ihm genügen. Und es reichte, um ihn aufatmen zu lassen: Der Ball prallte gegen den Innenpfosten, schnellte zurück in den Strafraum. Glück gehabt, dachte Paul. Ein Riesenglück!

Zeit zum Verschnaufen blieb jedoch nicht. Der Linienrichter signalisierte dem Referee etwas, das Paul nicht verstand. Nach kurzem Schockzustand hob rings um ihn herum ein schrilles Pfeifkonzert an.

»Was … – was ist da los?«, fragte Paul seinen Vater.

Hermann, dessen Hautfarbe vom kräftigen Puterrot in Leichenblässe übergegangen war, glotzte unverwandt aufs Spielfeld, seine Augen schienen hinter der Brille hervorzutreten. »Das ist der Fluch von 1994.«

»Was für ein Fluch?« Paul kapierte noch immer nicht, was hier ablief.

»Eine Wiederholung des Phantomtors«, stammelte Hermann mit versteinerter Miene. »Damals, 1994, erzielte Thomas Helmer für den FC Bayern gegen den 1. FCN ein ganz ähnliches Tor. Ein Tor, das keines war, aber vom Schiri gewertet wurde.«

»Aber das konnte doch ein Blinder mit Krückstock sehen, dass der eben nicht drin war!«, schimpfte Paul.

»Genau wie 1994«, erklärte Hermann mit heiserer Stimme. »Helmer hatte in einer vergleichbar undurchsichtigen Situation den Ball Richtung Nürnberger Tor geschossen, verfehlte aber, sodass der Ball am rechten Pfosten vorbei über die Torauslinie rollte. Doch der Schiedsrichterassistent, der Idiot, wollte einen Treffer gesehen haben und signalisierte das dem Schiri.«

»Das gibt’s doch nicht! Total ungerecht!«

»Ja, deswegen sollen ja bald diese elektronischen Tor­erkenner zum Einsatz kommen. Aber darüber streiten sich noch die Fußballverbände.«

»Schweinerei«, ärgerte sich Paul, der den Hannoveranern die Führung zutiefst missgönnte.

Umso erstaunlicher fand er es, dass sein Vater, der ja ein leidenschaftlicher Fan war, ihm plötzlich so ruhig und beinahe desinteressiert vorkam. Das passte überhaupt nicht zu dem alten Brummbären, der sich beim Fußballgucken gern und ausgiebig echauffierte. Ebenso wenig gefiel ihm die anhaltende Blässe im Gesicht des alten Herrn.

»Vati?«, fragte Paul. »Ist alles okay mit dir?«

Hermann nickte kurz, setzte zu einer Antwort an. Blieb jedoch still. Dann fasste er sich mit einer ruckartigen Bewegung an die Brust. »Ich … – mir ist so seltsam …« Er wirkte mit einem Mal besorgt, fast ängstlich. »Ich glaube, mein Herz …«

»Meine Güte, Vati!« Paul sprang auf. Er griff seinem Vater an den FCN-Schal, lockerte ihn. »Du bist kreideweiß. Kriegst du Luft?«

»Luft? Ja, ich kriege …« Hermann begann zu röcheln. »Mein Herz, Paul, ich fühle mich so …«

Paul packte ihn unter den Armen. »Wir müssen hier raus!«, bestimmte er und wuchtete ihn hoch. Natürlich deutete Paul die Symptome und dachte an das Naheliegende: einen Infarkt. Er wusste, dass es in einer solchen Situation auf jede Minute ankam.

Da sein Vater nicht der Leichteste war und kaum mehr eigene Kraft besaß, um auf die Beine zu kommen, hätte Paul gut die Hilfe der anderen Zuschauer gebrauchen können. In der Aufregung um das Phantomtor gingen Paul und die Nöte seines Vaters allerdings gnadenlos unter, sodass er Hermann mit befehlsartig vorgebrachten Aufforderungen zum Mitmachen zu motivieren versuchte.

»Vati, du musst helfen, sonst schaffen wir das nicht!«

Nur mit Mühsal und energischen Remplern gelang es ihnen, die Sitzreihe hinter sich zu lassen und den Mittelgang zu erreichen. Wenigstens hier zeigte sich einer der Ordner gnädig und packte mit zu.

»Was hat er denn?«, schrie der Aufpasser gegen den Lärm der protestierenden Fans an.

»Herzattacke!«, rief Paul, weil er keine Zeit verlieren wollte, selbst wenn sich das Ganze später bloß als Schwächeanfall herausstellen sollte.

Der Ordner – gedrungene Statur, kurz geschorenes Haar – erwies sich als rettender Engel. Er war auf Zack und dirigierte Paul und Hermann zielgerichtet vom breiten Zugangskorridor direkt hinein in die Katakomben des Stadionbaus. Während er das Tempo mit jedem Stöhnen von Hermann weiter erhöhte, bellte er Anweisungen in sein Walkie-Talkie: »Sicherheit an Krankenstation, bitte bereit machen, wir haben einen Code sieben.«

Oder sagte er »Code siebzehn«? Paul konnte es nicht genau verstehen, schenkte dem entschlossen auftretenden Wachmann aber sein blindes Vertrauen. Was blieb ihm schon anderes übrig?

Der Sanitätsbereich, den sie erstaunlich flott erreichten, wirkte auf Paul wie der Trakt eines Klinikums, den man auf die Schnelle dort herausgelöst und hier wieder eingefügt hatte: Räumlichkeiten, Ausstattung und Personal – alles entsprach dem Vorbild eines vollwertigen Krankenhauses. Bei der Einrichtung der Rotkreuzstation hatte man geklotzt und nicht gekleckert. Wohl nicht ohne Grund, denn nach einer Schlägerei zwischen rivalisierenden Fanlagern hätten Dutzende von Verletzten gleichzeitig behandelt werden können, dachte Paul.

Doch hier und jetzt konzentrierte sich die gebündelte Aufmerksamkeit der Krankenschwestern und Sanitäter auf einen einzigen Patienten: Ein Mann lag auf einer Trage, krümmte und wand sich, röchelte – und brachte den Notfalltross aus Hermann, Paul und dem Ordner abrupt zum Stehen.

Die Sanis hatten offenbar große Schwierigkeiten, dem Leidenden zu helfen. Dieser begann zu würgen, sein Gesicht war dabei wie zu einer grausigen Maske entstellt.

»Setzen Sie sich«, sagte eine junge Krankenschwester, die aufgelöst wirkte und kaum einen Blick für sie übrig hatte. Sie schob Hermann einen Schemel unter. »Wir kümmern uns sofort um Sie.« Gleich darauf sprang sie wieder ihren Kolleginnen und Kollegen bei.

»Den kenne ich«, sagte Hermann mit schwacher Stimme und ließ sich auf den Stuhl sinken. »Wichtiger Mann beim Club.«

Paul sah seinen Vater an, der ihm nun nicht mehr ganz so blass vorkam wie draußen auf der Tribüne. Er riskierte einen weiteren Blick auf den Kranken, um den herum sich immer mehr Leute sammelten. Unter die Helfer in Weiß mischten sich nun auch Zivilisten. Paul bemerkte eine Dame in grauem Kostüm, eine andere Frau, jünger und ziemlich aufgetakelt, und einen großen dicklichen Mann, ganz businesslike mit Anzug und Krawatte.

Hermann zupfte Paul am Ärmel. »Das musst du fotografieren«, wisperte er.

Paul sah ihn verwundert an. »Ich habe keine Kamera dabei. Außerdem hast du einen Infarkt. Schon dich und sei still!«

»Infarkt? Ach was! Geht schon wieder.« Hermann zupfte abermals, energischer diesmal. »Mach Fotos! Das ist deine Chance.«

»Aber Vati …« Paul, dessen Fotografeninstinkt längst angeschlagen hatte, sparte sich eine weitere Widerrede. Stattdessen holte er sein Handy aus der Tasche und aktivierte den Fotomodus. Er hielt drauf und drückte ab.

Der arme Mann, um den sich alle scharten, kämpfte augenscheinlich ums Überleben. Die Sanis mussten weitestgehend hilflos mitansehen, wie er sich erneut krümmte, Arme und Beine anzog, nur um sie im nächsten Moment wieder von sich zu strecken.

»Wer ist das denn?«, fragte Paul.

Ehe Hermann antworten konnte, fing der Patient unter lautem Keuchen an zu spucken.

»Oh Gott, wie schrecklich«, raunte Paul seinem Vater zu. »Der durchleidet Höllenqualen.«

»Hast du genügend Bilder gemacht?«, fragte Hermann, der von einem Infarkt mittlerweile so weit entfernt war wie ein 30-Jähriger.

»Jaja«, sagte Paul, befremdet über die Gefühlskälte seines Vaters. »Aber sag schon: Wer ist das?«

»Eine ganz große Nummer beim Club.«

Paul sah noch einmal hin, bemitleidete den Kranken, konnte in dessen verzerrtem Gesicht aber niemanden erkennen, den er als Promi identifizieren würde. »Wer, Vati, wer ist es? Ein Spieler, Trainer, Funktionär – oder gar der Präsident?«

Sein Vater winkte Paul ganz dicht heran. Er flüsterte: »Der Busfahrer, Paul. Es ist der Chauffeur des Mannschaftsbusses!«