Über Tom Callaghan

Foto: Marcus Wilson-Smith

Tom Callaghan stammt aus Nordirland und studierte im englischen York und in New York/USA. Nach seinem Studium arbeitete er als Creative Group Head einige Jahre bei Saatchi & Saatchi in London, New York und Philadelphia. Weitere Stationen waren Singapur und später Dubai, wo er bis heute lebt. Als leidenschaftlich Reisender pendelt er zwischen London, Prag, Dubai und Bischkek. Blutiger Winter ist der erste Roman einer Serie mit Inspektor Akyl Borubaew.

Für Sara

Sterben – nun, ich weiß, das hat es schon gegeben;

doch: auch Leben gabs ja schon einmal.

 

Sergei Jessenin

(übersetzt von Paul Celan)

Kapitel 1

Frisches Blut hebt sich besonders lebhaft von Schnee ab. Sogar in einer ganz und gar mond- und sternenlosen Nacht wie dieser. Zäh und dunkelrot tropft es wie Öl aus dem rostigen Motor eines Moskowitsch. Aber Öl dampft nicht. Öl spritzt nicht rot auf weiß, zieht keine Spur zu einer halb unter Weißbirken verborgenen Leiche. Und Öl tröpfelt nicht aus einer Wunde, deren Ränder vor Kälte schon blau und steif sind.

Im anbrechenden Morgen hängt weiterer Schnee drohend in der Luft wie Asche. Schon hüllen ein paar vereinzelte Flocken das himmelwärts gerichtete Gesicht der Frau ein, ein Hauch von Spitze über der Stirn wie der Schleier einer Braut. Falls kein Betrunkener auf dem Nachhauseweg von der Kneipe dringend pissen muss und sie entdeckt, wird sie sich in ein paar Stunden in eine Schneeverwehung verwandelt haben, unbemerkt und umgangen, anonym bis zur Schneeschmelze im Frühling. Nur wenn ein einzelner Fuß in einem Stiefel oder eine gefleckte Hand aus dem schmutzigen Schnee ragt und auf sich aufmerksam macht, werden sich die Leute fragen, warum niemand etwas gehört hat …

»Privjet, Inspektor Borubaew, wie geht’s?«

»Kalt hier. Was meinen Sie?«

Ich lehnte die angebotene Zigarette ab und registrierte den Streifen aus Kippen um die Füße des Uniformierten, den widerlichen Gestank von billigem Tabak in der Nachtluft. Ein typischer Uniformierter, überdimensionierte grüne Paradeschirmmütze und darunter kein Hirn. Ich beobachtete, wie er sich an der Glut seiner Kippe eine neue Classic anzündete, und überlegte, ob ich ihm wegen Verunreinigung des Tatorts den Arsch aufreißen sollte. Aber dies ist Kirgisistan. Das forensische Labor der Polizei des Bezirks Sverdlowsk besteht aus einem Schrank mit einer Sammlung gesprungener Reagenzgläser, ein paar medizinischen Lehrbüchern aus der Zeit vor der Unabhängigkeit und einem Karton Lackmuspapier mit abgelaufenem Verfallsdatum. Auf das Elektronenmikroskop warten wir immer noch.

Ich hatte es lange genug aufgeschoben. Es war an der Zeit, die Handvoll Som zu verdienen, die man mir jeden Monat bezahlt. Früher oder später würde ein ramponierter Krankenwagen kommen, um die Tote ins Leichenschauhaus zu transportieren. Dort würde es ein ganzes Stück wärmer sein als hier draußen. Aber keine Eile.

Wir waren auf der Ibraimowa-Straße, ein Stück hinter der Blonder-Bar, auf dem von Birken gesäumten und unbeleuchteten Weg oberhalb der Fahrbahn, wo im Sommer bei der Fußgängerbrücke die mursilki, die billigsten Bahnhofshuren, herumlungerten. Unförmige mürrische kettenrauchende Frauen mit dicken Bäuchen, die Baltika-Bier aus der Dose tranken, in deprimierendem Outfit: formlose T-Shirts und Trainingshosen, die man für den leichten Zugang schnell herunterlassen und für eine hastige Flucht schnell wieder hochziehen konnte. Aber heute waren keine Damen des Gewerbes unterwegs, nicht bei minus zwanzig Grad und angekündigtem weiteren Schneefall.

Kein guter Ort zum Sterben, falls es den überhaupt gibt.

Ich erklärte dem Uniformierten, er solle zurückbleiben, und folgte den Blutspuren zu der Leiche. Sie erinnerten mich an den Sauerkirschsirup, den man im Panfilow-Park auf die Eiswaffeln bekommt, üppig und appetitlich. Ich schlug den Kragen hoch, um mich gegen den Wind zu schützen, doch gegen einen kirgisischen Winter kann man nichts ausrichten. Meine Füße fühlten sich an wie die eines Fremden, doch ich tröstete mich damit, dass die Leiche wenigstens nicht stinken würde. Jedenfalls nicht, bis Jussupow sie auf seinem Tisch aufschlitzte. Oder genauer gesagt noch weiter aufschlitzte.

»Es war ein gewaltsamer Tod, Inspektor, richtig? Es ist ein Mord?«

Der Uniformierte wirkte beinahe eifrig; vielleicht war er deshalb zur Polizei gegangen und nicht, um mit kassierten Bußgeldern für Verkehrsvergehen sein Frühstück zu finanzieren. Ob er nach alldem hier noch frühstücken wollte, war eine andere Frage.

»Könnte auch ein hässlicher Schnitt beim Rasieren gewesen sein. Oder sie ist mit einer Schere gejoggt.«

»Glauben Sie?«

Er nickte, beeindruckt von der Weisheit eines Ermittlers aus der großen Stadt. Ein typischer Bauer aus dem Süden, das, was wir einen myrki nennen, den man nie aus seinem Dorf hätte herauslassen dürfen, eine Gefahr für sich selbst.

Ein paar Schritte weiter verbanden sich die Tropfen zu Spritzern und Pfützen und schließlich zu einem gefrorenen Fluss, der einem kleinen weißen Hügel entsprang. Die Leiche.

»Bleiben Sie zurück«, sagte ich unnötigerweise. Er hatte die Leiche bereits gesehen und, dem Geruch nach zu urteilen, den Hammeleintopf vom Vorabend am Tatort hinterlassen.

»Ist das Ihr Erbrochenes?«

Es war besser, nicht vom Naheliegenden auszugehen. Vielleicht hatte der Mörder einen empfindlichem Magen. Vielleicht hatte er sich mit einem Stück Papier den Mund abgewischt, auf dem seine Telefonnummer stand. Vielleicht konnte das Labor eine Blutgruppe bestimmen. Vielleicht.

»Da. Tut mir leid.«

»Ihre Erste? Denken Sie sich nichts dabei, das passiert allen beim ersten Mal. Sie werden sich mit der Zeit dran gewöhnen.«

Aber das tut man nicht.

Ich verdrängte die Erinnerung an den alten Mann in der Einzimmerwohnung, die sein Neffe in einem von Wodka befeuerten Streit über weiß Gott was in ein Schlachthaus verwandelt hatte, und konzentrierte mich auf die Gegenwart, auf die eisblauen, von Schnee lasierten Augen, die fragend zum letzten Rätsel hochstarrten.

Ungeachtet der Kälte zog ich die Handschuhe aus und wischte den Schnee beiseite, der Nase und Wangen bedeckte. Sanft, so wie ich Tschinara zum Ende hin das Haar aus dem schlafenden Gesicht gestrichen habe, wenn das Morphium dem Schmerz die Spitze genommen hatte. Zärtlichkeit ist das Mindeste, was wir den Toten schulden; wir geben ihnen vorher so wenig davon.

Kein Mädchen, sondern eine Frau, vielleicht Ende zwanzig, höchstens dreißig. Blond gefärbtes Haar, professionell, nicht zu Hause über dem Waschbecken; nur an den Haarwurzeln war ein schmaler schwarzer Ansatz sichtbar. Hohe slawische Wangenknochen, gute Zähne, keine Goldkronen. Ein langer, elegant geschnittener Wollmantel, ein Kaschmirtuch um die Schultern. Keine Handtasche, doch das überraschte mich nicht. Kirgisistan ist ein armes Land; niemand guckt einem geschenkten Gaul ins Maul. Und sie würde ihr Handy schließlich nicht mehr brauchen.

In ihrem Gesicht gab es keinerlei Spuren, kein Ausdruck der Überraschung oder des Entsetzens, nur dieser eingefrorene Blick zum Himmel. Schnee rieselte zu Boden, als ich ihren Mantel aufschlug.

Eine weiße, hochgeschlossene Bluse, aufgerissen. Ein zierlicher Spitzen-BH, vorne durchgeschnitten, sodass ihre kleinen Brüste mit den vor Kälte geschrumpften, indigoblauen Brustwarzen entblößt waren. Nach wie vor keine Wunde, doch das machte es nur noch schlimmer. Es war, als würde man eine Schaufensterpuppe entkleiden, nur dass die Berührung menschlicher Haut, selbst toter, unverwechselbar ist.

Eine schlanke Taille, Gürtel mit Designerschnalle aus Metall. Der Rock bis zu den Hüften hochgezerrt. Dunkelgrau, soweit ich es nach dem bisschen unbeflecktem Stoff beurteilen konnte, denn ansonsten war es ein Sumpf aus verkrustetem, ins Schwarze changierendem Dunkelrot. Ein zerfetzter Slip, der um ein Bein gewickelt war. Und schließlich die Wunde.

Ich blickte nach unten und fragte mich, mit welcher Lüge und welchem Verrat man sie hergelockt hatte, dann streifte ich meine Handschuhe wieder über und richtete mich auf. In der Kälte knackten meine Knie wie Eis, das auf einem entfernten See splitterte. Meine Welt ist ein hoffnungsloser, grausamer Ort, ein Land, bevölkert von Bedauern und verlorener Liebe. Ich tastete nach meinen Zigaretten, lehnte das angebotene Feuer ab und saugte den Krebs in meine Lungen.

»Sagen Sie dem Sanka, ich treff ihn dann an der Leichenhalle. Und vergessen Sie nicht, zu erwähnen, dass wir es mit einem Doppelmord zu tun haben.«

Der Uniformierte wirkte, wenn das überhaupt möglich war, noch verwirrter als zuvor. Seine Mütze hatte Ohrklappen aus Fell, die ihn aussehen ließen wie die Karikatur eines Kaninchens. Er blickte sich um und schaute sogar hinter die schlanken Birken.

»Aber es gibt nur eine Leiche, Inspektor.«

Ich atmete aus und beobachtete, wie der Rauch und mein beschlagener Atem sich in der Dunkelheit mischten, Leben und Tod, die sich miteinander verwoben. Die erste Flocke des zum Morgengrauen angekündigten Schnees küsste meine Stirn. Ich wollte einen Wodka. Dringend.

»Sie haben nicht in ihre Gebärmutter geguckt.«

Kapitel 2

Es war später Nachmittag, als mich einer der Uniformierten am Ende seiner Schicht unweit vom Leichenschauhaus absetzte. Direkt neben dem Krankenwagen zu parken, der gerade den Sack Knochen und Eingeweide des Abends entlud, kam mir immer respektlos vor. Außerdem gab es mir Zeit, meine Gedanken zu sammeln und ein bisschen frische Luft in die Lungen zu saugen, bevor ich den säuerlichen Gestank eines frisch geöffneten Magens einatmete.

Das Leichenschauhaus des Bezirks Sverdlowsk ist ein schäbiges, unansehnliches Gebäude in allseits beliebter Dreckiger-Beton-Optik; eine angemessene Unterbringung für die Toten in einem Land, in dem es selbst für die Lebenden schwer ist, eine Behausung zu finden. Nur ein kleines verwittertes Schild weist auf die Funktion hin; es ist kein Ort, den viele Menschen besuchen, und die es tun, kommen meist mit den Füßen zuerst an.

Zu viele Abende habe ich hier verbracht, unter Glühbirnen, die flackern, wenn die Spannung im Stromnetz absackt, zwischen gekachelten Wänden, von denen jeder Laut abprallt, bemüht, die durchdringenden Schlachtergerüche zu ignorieren.

Der Widerschein der Heckleuchten des davonfahrenden ment im Schnee erinnerte mich an das Blut, das aus der Kehle des Schafs gespritzt war, das wir zu Tschinaras toi geopfert hatten, der Gedenkfeier vierzig Tage nach dem Tod eines Verstorbenen. Der Imam hatte ein paar Gebete gemurmelt, das Schaf hatte sich im Hof vollgeschissen und fand sich fünf Minuten später in Stücke gehackt wieder.

Ich bin ein Junge aus der Stadt, geboren und aufgewachsen in Bischkek: Ich denke, ein Tier zu töten ist eine höllische Art, der Verstorbenen zu gedenken, aber so wurde es in den Dörfern schon immer gemacht.

Ich schob alle Gedanken an Schlachtermesser beiseite und stieß die Schwingtür auf. Die eigentlichen Arbeitsräume der Leichenhalle liegen im Keller, zu dem man über eine mit gebrochenen Kacheln geflieste Treppe gelangt. An einer Wand ist ein großer smaragdgrüner Fleck, wo letzten Winter der Schnee eingedrungen ist, wahrscheinlich auf der Suche nach Wärme. In jeder zweiten Fassung fehlt die Glühbirne, doch es gibt ausreichend Licht, das sich in den Metalltüren am Ende des Flures spiegelt.

Ich trat den gröbsten Schnee von meinen Schuhen, froh, dass keine Babuschka in der Nähe war, die mich für die Sauerei tadeln konnte, die ich auf dem Fußboden hinterließ, und atmete ein letztes Mal tief ein.

»Inspektor«, murmelte Kenesch Jussupow, ohne von der formlosen Masse auf dem Stahltisch vor sich aufzublicken. Das Licht der Neonlampen spiegelte sich blitzend in seiner randlosen Brille. »Ich nehme an, du kommst wegen der Frau? Noch fünf Minuten, ich mach gerade noch diesen krokodil fertig.«

Ich verzog das Gesicht und bemerkte den Geruch von Jod, der den üblichen Gestank von Blut, rohem Fleisch und Scheiße überlagerte. Ich habe ein paar furchtbare Dinge gesehen: von Babys, denen die Eltern jeden Knochen im Leib gebrochen hatten, bis hin zu Großmüttern, die vergewaltigt und für ihre zweihundert Som Rente totgeschlagen worden waren. Aber ein krokodil ist eine Vision aus der Hölle.

Krokodil ist die neueste Modedroge aus Mütterchen Russland, billiger und viel stärker als Heroin. Man stellt es zu Hause selbst her, aus frei verkäuflichen Arzneimitteln wie Kodein, die mit Jod, rotem Schwefel aus den Zündköpfen von Streichhölzern, einem Spritzer Benzin und was man sonst in die Hände kriegt, aufgekocht werden. Reines Gift.

Krokodil wird es genannt, weil die Haut um die Einstichstelle der Spritze grün und schuppig wird, wenn Entzündungen und Brand schwelen. Das Fleisch beginnt beinahe unmittelbar zu faulen und abzusterben, löst sich und hinterlässt nicht verheilende Wunden, die sich durch Gewebe und Muskeln bis zu den Knochen fressen.

Ich habe Süchtige ohne Fleisch an den Armen gesehen, Elle und Speiche entblößt und grauweiß, Frauen mit Löchern in den Beinen, so groß, dass man seine Faust hineinstecken konnte, Männer, deren Wangen aufgeplatzt waren, nachdem ihr Zahnfleisch zu einem blutigen Brei geworden war. Der Gestank von Jod durchdringt Kleider, Haut, Haare, sogar die Wände der billigen Wohnungen und Fixerstuben, wo die Süchtigen sich die Droge tagelang ununterbrochen aufkochen. Wenn man mit dem Krokodil schwimmt, hat man wahrscheinlich noch sechs Monate zu leben, wenn man es denn so nennen kann.

Weil Kirgisistan so nahe an Afghanistan mit seinem leicht verfügbaren Angebot an billigem Heroin liegt, hat krokodil uns noch nicht in dem Maße gefressen, wie es die Süchtigen von Moskau bis Wladiwostok verschlungen hat, aber das ist nur eine Frage der Zeit.

»Ein schlimmer Fall?«, fragte ich und bemühte mich, nicht hinzusehen.

»Im Vergleich mit was?«

»Du weißt, was ich meine. Schlimm?«

»Eigentlich nicht. Der hier ist an einem Herzinfarkt gestorben. Kaum Nekrose, bis auf die Finger. Sie sind alle weg, nur rohe Stümpfe, aus denen die Knöchel ragen. Oh, und sein Penis. Er konnte nicht mehr pissen, selbst wenn er noch Finger gehabt hätte, um seinen Schwanz zu halten. In dem Zustand konnte er natürlich auch keine Spritze mehr bedienen, also muss ihm jemand den Schuss gesetzt und sich mit der Dosis vertan haben.«

»Oder auch nicht. Eine Vene weniger zu füttern, umso mehr Stoff bleibt.«

»Schon möglich, Inspektor, aber schwer zu sagen.«

Das Jod ließ mich würgen. Ich wusste, dass ich faulendes Gewebe in meine Lungen saugte, doch der Spott der Kollegen würde kein Ende nehmen, wenn ich dazu überging, bei Obduktionen einen Mundschutz zu tragen.

»Ich könnte auch wiederkommen. Wenn du hier fertig bist. Wegen der Frau.«

»Keine Sorge, Inspektor, der hier läuft mir nicht weg, der ist in einer Sackgasse gelandet.«

Damit wären wir schon zwei, dachte ich, während Jussupow ein zerschlissenes Laken über die menschlichen Überreste vor sich warf. Ich versuchte zu übersehen, wie der Stoff sich sofort mit irgendeiner grässlichen Flüssigkeit vollsaugte, und folgte Bischkeks leitendem Pathologen zu dem Seziertisch auf der anderen Seite des Raumes.

»Deine Freundin. Sieht viel zu gut aus für dich, die spielt in einer anderen Liga. Oder spielte«, verkündete Jussupow und zog einen der überdimensionierten Aktenschränke auf, in denen er seine frischen und nicht mehr ganz so frischen Toten aufbewahrte. Die Metallschienen quietschten wie eine Rasierklinge, die über Rost kratzt, und ein Schwall kalter Luft wehte heraus. Wie jedes Mal schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass die Leiche gar nicht tot war, sondern gerade ausgeatmet hatte.

Es gibt Nächte, in denen ich nicht schlafen kann und meine Augen sich blasig und rissig anfühlen von den Dingen, die sie gesehen haben, Nächte, in denen die Toten an mir vorbeidefilieren wie Models bei einem makabren Catwalk. Ich drückte gegen die schlimmsten Gerüche meine Zunge an den Gaumen und machte mich daran, die Totenruhe des Mädchens erneut zu stören.

Einer von Jussupows Assistenten hatte sie nackt ausgezogen, um ihre Kleider zur spurentechnischen Untersuchung zu geben oder, wahrscheinlicher, um sie auf dem Basar zu verkaufen. Seit der Erklärung unserer Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 haben wir die Korruption und Gier diverser Regierungen ertragen, die sich die eigenen Taschen vollgestopft haben. Also sieht jeder, wie er zurechtkommt, und nutzt jede Gelegenheit, ein paar Som zu machen. Und wenn das bedeutet, die Kleider der Toten zu verkaufen – nun, dies ist ein armes Land.

Das Gesicht des Mädchens wurde aufgedeckt, eisweiß und friedlich. Um die Hüften und auf dem Rücken hatten sich bereits blassbläuliche Flecken gebildet, wo sich das im Körper verbliebene Blut, von der Schwerkraft angezogen, unter der Haut ablagerte. Ich konnte an ihrem Körper den Verschleiß durch das alltägliche Leben erkennen; eine Blinddarmnarbe, alte Kerben und Kratzer, eine Schramme aus der Kindheit, die auf einem Knie ein Muster hinterlassen hatte.

Nackt sah sie jünger und verletzlicher aus, eins der natürlichen Opfer des Lebens, geboren, um hier zu enden, ohne etwas von meinen Blicken und Jussupows Instrumenten zu ahnen. Die Sorte Frau, die ständig gegen Türen läuft, bis eines Tages eine zu hart zuschlägt und sie draußen stehenlässt.

Aber sie wirkte mehr im Frieden mit sich als Tschinara, nachdem sie von ihren Schwestern in ein Grabtuch gewickelt und für die letzte Nacht auf Erden auf die rechte Seite der Jurte gelegt worden war – die Seite der Frau –, bevor die Männer sie am Morgen hinunter zu dem Friedhof mit Blick ins Tal trugen.

Ich konnte ihre Eingeweide riechen, den Gestank und Geschmack von Eisen, als hätte ich meinen Kopf zwischen ihren Beinen gehabt und sie während ihrer Periode geleckt. Ich musste hart schlucken, bevor ich die Wunde widerwillig betrachtete.

»Mein Gott«, murmelte ich. Aber falls es einen Gott gab, war er ziemlich sicher nicht im Dienst gewesen, als das passierte.

»Interessant, nicht wahr?«, sagte Jussupow ruhig, als würde er das Bouquet eines edlen Weines genießen oder eine kunstvoll mundgeblasene Vase bewundern. »Ich muss ehrlich gestehen, dass ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen habe.«

Die meisten Wunden werden willkürlich zugefügt, zögernd, ein Stoß hier, ein Schnitt da, sodass es mehrerer ängstlicher Anläufe bedarf, bevor der Tod eintritt. Oder der Mörder wird von einer wilden Heftigkeit angetrieben, einem Hass, der aus billigem Wodka hochkocht, Kindern, die nie aufhören zu schreien, einer Frau, der man schon lange egal ist. Die Schnitte sind planlos, zerfetzen und zerschneiden, Klinge, Flasche oder Axt hacken blindlings auf das Opfer ein, das Werk von Laien, die an jenem Morgen beim Aufwachen nie daran gedacht hätten, ihr eigenes Leben zu verändern oder das eines anderen zu rauben. Dieser Mörder war anders vorgegangen. Entschlossen, akkurat, präzise.

Jussupow hat mir einmal erklärt, dass man das Skalpell bei einer Obduktion am besten so führt, als würde man mit einer Rasierklinge durch weiches Balsaholz gleiten. Die Haut öffnet und löst sich ein wenig, und man kann durch Fleisch, Fett- und Muskelgewebe bis zum darunterliegenden Knochen schneiden.

»Du hast natürlich bemerkt, dass man ihr die erste Verletzung mit einem einzigen Schnitt zugefügt hat. Kein Zögern. Da wusste jemand genau, was er tat, kein Rumgestochere, nachdem er mit der Klinge hängengeblieben war.«

»Also kommst du als Verdächtiger in Frage, Kenesch.«

Jussupow wirkte gekränkt. Ich habe nie herausgefunden, ob er dachte, dass man über den Tod keine Witze macht, oder ob er einfach keinen Humor hatte.

»Ich hätte den Uterus sauberer entfernt«, sagte er, und spreizte die beiden Schamlippen, als würde er eine Orange zum Dessert schälen. »Aber es ist nicht übel, verstehst du, für so etwas braucht man Praxis. Ein Medizinstudium, würde ich denken, vielleicht Gynäkologie; die erforderlichen Fertigkeiten zur Durchführung einer Hysterektomie erwirbt man nicht in einem Schlachthaus.«

Ich fragte mich, in was für einer Welt Jussupow lebte, einem Ort, wo es als nützliche Berufserfahrung galt, eine Frau auszuschaben und die Abfälle mit nach Hause zu nehmen.

»Du kannst also nicht sagen, ob sie vergewaltigt wurde?«

»Nun, wenn ja, hat der Täter den Tatort gewissermaßen mitgenommen.«

Jussupow stieß ein eigentümliches Glucksen aus, ein schleimiges Schnauben, das in seiner Brust rasselte.

»Aber das ist nicht das Interessante; jeder Sexualmörder von hier bis zum Ural kann die pisda einer Frau zerstückeln. Schau dir den Transversalschnitt über dem Rand der Blase an. Wunderbare Arbeit, er hat sie präzise geöffnet, unter minimaler Beschädigung des Gewebes. Wenn deine Frau ein Baby bekommen würde, wäre das der Mann, den du für einen Kaiserschnitt wolltest.«

Er hielt inne und blickte in die klaffende Wunde wie ein Bräutigam, der seiner Frau beim Ausziehen zusieht.

»Wunderschön, perfekt auf seine Art. Obwohl sie den Blutverlust durch die anderen Wunden natürlich nie überlebt hätte«, fügte er hinzu. »Wie du feststellen wirst, hat er ihre gesamte Gebärmutter zur Einsicht freigelegt, wie mit einem Dosenöffner, sodass er den Deckel hochklappen und hineinschauen konnte.«

Ich versuchte, die Masse aus Knorpel, Venen und Arterien, die einst ein weiblicher Körper gewesen waren, zu ignorieren. Ich konnte erkennen, dass der auf der Seite liegende Fötus der eines Jungen war; er hatte die Knie an die Brust gezogen und seine papierdünnen Finger zu Fäusten geballt.

»Wie lange war sie schon schwanger? Wie alt ist das Kind?«

Jussupow blickte auf, wieder spiegelte sich das Licht in seinen Brillengläsern.

»Ich glaube, du hast nicht verstanden.«

Er winkte mit seiner Latex-behandschuhten Hand auf die Leiche im Schrank. Ich wandte den Blick von der Wunde ab, von dem niedergemetzelten Mädchen, von dem Kind, das ermordet worden war, bevor es geboren wurde.

»Vielleicht war es der Vater des Kindes. Oder ihr Ehemann, weil sie von einem anderen geschwängert wurde. Sobald wir sie identifiziert haben, können wir ihn aufspüren. Eine Klinik wird Unterlagen haben, ein Arzt müsste sie wiedererkennen.«

»Du verschwendest nur deine Zeit.«

»Es ist meine Zeit, die ich verschwende, Jussupow. Noch zahlt das Weiße Haus.«

Jussupow grunzte nur: Jeder wusste, was er von der Regierung hielt. Es war Jussupow gewesen, der die Obduktion der Leichen der Demonstranten durchführen musste, die während der letzten Revolution auf dem Ala-Too-Platz von Bereitschaftspolizisten niedergeschossen worden waren. Die Demonstranten hatten Plakate geschwenkt, den Rücktritt des Präsidenten gefordert und das Parlamentsgebäude gestürmt. Dann hatte die Schießerei von beiden Seiten begonnen.

Ich war damals gerade in Tokmok, wo ich den plötzlichen Tod eines jungen Mannes untersuchte, ein paar Kilometer östlich von Bischkek, als ich von dort abgerufen und zum Leichenschauhaus zitiert wurde. Ich drängte durch die Menge, weinende Mütter und Väter, Töchter und Söhne, die das Gebäude umringten, die Herausgabe ihrer Liebsten sowie die Verhaftung des Präsidenten verlangten, der den Schießbefehl erteilt hatte. In der Halle lagen Dutzende von Toten, gestapelt in der wahllosen Ordnung, die der Tod mit sich bringt, Leichen, von hochkalibrigen Geschossen zerfetzt, der Boden rutschig von Blutlachen. Der Gestank von totem Fleisch und Schießpulver stieg mir in die Nase.

Jussupow stand über die Leiche eines älteren Mannes gebeugt, auf dessen Hemd ein dunkelroter Fleck erblühte, und blickte nicht auf, als ich kam.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass du im Zusammenhang mit alldem hier keine Verhaftung vornehmen wirst, Inspektor?«

Ich sagte nichts, und mein Schweigen hing in der Luft wie ein Eingeständnis meines Scheiterns.

»Diese Leute wollten nicht viel«, fügte er hinzu, und seine Stimme war von Trauer belegt, »nur hin und wieder eine anständige Mahlzeit, Schulen für ihre Kinder, Krankenhäuser, ordentliche Straßen. Eine Regierung, die ihnen hilft, statt ihnen ihren letzten Som zu rauben. Aber das ist zu viel verlangt, wenn es Villen im Ausland zu kaufen, Luxusautos zu fahren und Konten bei fremdländischen Banken zu füllen gilt.«

Mittlerweile hatte Jussupow das Hemd des alten Mannes geöffnet und stieß in ein großes Loch in dessen Brust.

»Todesursache?«, fragte er. »Hoffnung auf eine bessere Zukunft, meinst du nicht auch?«

Er blickte nicht auf, als ich den Raum verließ, unfähig, ihm zu widersprechen …

 

»Zeitverschwendung«, wiederholte Jussupow und tippte mit dem Finger auf den Rand der Schublade.

Ich war fasziniert. Er war vielleicht kein Mann, mit dem ich einen halben Liter und Sakuski teilen wollte, doch Jussupow wusste, was er tat, und er sagte selten etwas, ohne es wissenschaftlich belegen zu können.

»Wenn du genauer hinsiehst, wirst du bemerken, dass es keine Spur einer Plazenta gibt, keine Erweiterung des Beckens; wo ihre Gebärmutter war, ist nur ein schmaler Kanal. All das fügt sich zu einem höchst ungewöhnlichen Befund.«

Ich schaute genau hin. Doch ich erkannte nur Sumpf und Chaos des Gemetzels und mittendrin das tote Kind. Ich wandte mich ab und sah Jussupow mit einer fragend hochgezogenen Braue an.

»Diese Frau war nie schwanger«, erklärte er. Und wenn Jussupow etwas in diesem Tonfall sagte, gab es keinen Zweifel.

Ich starrte ihn an, als hätte er die Teile eines Puzzles für mich aufgereiht und ich wäre nach wie vor außerstande, sie zusammenzufügen. Jussupow streifte seine Handschuhe ab und polierte mit dem Saum seines Laborkittels pedantisch seine Brille. Neben einer der Taschen war ein Blutspritzer.

»Es ist nicht ihr Kind, Inspektor. Sie war nicht schwanger. Jemand hat sie getötet, aufgeschlitzt, ausgenommen und ihr dann den Fötus einer anderen Frau hineingelegt.«

Kapitel 3

Das Licht oder genauer gesagt der graue Schlamm, der in Bischkek im Winter als Licht durchgeht, verblasste, und es fing wieder an zu schneien, als ich die Holztür und die dahinterliegende Stahltür zu meiner Wohnung aufschloss. Die meisten Wohnungen sind auf die gleiche Weise gesichert; wenn es nicht viel gibt, was man einem stehlen kann, bewacht man das wenige, was man hat, mit Leidenschaft. Sollten sich die Einbrecher ruhig an dem alten Fernseher mit Dipolantenne oder der chinesischen Mikrowelle bedienen, es könnte mir nicht gleichgültiger sein, solange sie mir den Karton mit den Fotos ließen. Ich legte die Pistole in die kleine verschließbare Kassette neben der Tür, drehte den Schlüssel im Schloss um und ging zur Kochnische.

Ich riss das Fenster auf und vergewisserte mich, dass der halbe Liter, den ich auf dem Fenstersims hatte stehenlassen, noch da war. Ich hätte ihn auch im Gefrierfach des Kühlschranks aufbewahren können, doch der Gedanke, dass der Wodka von den Elementen und nicht mit Strom gekühlt wurde, hatte etwas Befriedigendes. Dabei trank ich seit Tschinaras Tod nicht mehr. Ich fischte ein Glas aus dem Abwasch im Becken, spülte es aus und goss mir einen ordentlichen Schluck ein. Dann starrte ich das Glas lange an, erinnerte mich an die Zeit, als ich noch getrunken hatte, und an die Gründe, weswegen ich getrunken hatte. Eine Art Buße, nehme ich an. Dann kippte ich den Wodka ins Waschbecken, spülte das Glas erneut aus, machte die drei Schritte bis ins Schlafzimmer und legte mich hin.

Die zahllosen Tatorte, an die ich in all den Jahren gekommen war, hatten mich nicht bewogen, die Flasche endgültig zuzuschrauben; sicher, ich hatte hin und wieder mit einem Albtraum zu kämpfen, musste gelegentlich zweimal hinsehen, weil auf dem Tschüi-Prospekt jemand an mir vorbeigegangen war, über dessen erschossenem, erstochenem oder erschlagenem Körper ich eine Woche zuvor gestanden hatte. Und dann gab es die Abende, an denen ich mit Kollegen in irgendeiner Bar Bier getrunken und Kriegsgeschichten erzählt hatte und mich nur verschwommen daran erinnern konnte, wie ich nach Hause gekommen war. Aber ich sagte mir, dass ich das tun musste, um auf der Seite der Engel zu bleiben, einer von den Guten, ein Rächer.

Bis zu dem Tag, als Tschinara aus dem Krankenhaus zurückkam.

Als sie mir ein Glas Wodka in die Hand drückte, bevor ich mich setzen konnte, und mich nicht ansah, sondern aus dem Fenster auf den Spielplatz unten starrte, wusste ich, dass es schlimm war. Die verrostete Rutsche und die Klettergerüste waren im Betonboden verankert, aber alle abmontierbaren Metallteile waren längst verschwunden. Es sah aus wie ein uraltes Skelett, das man halb ausgegraben und dann der Bleiche durch die Elemente überlassen hatte. Trotzdem spielten die Kinder dort Nachlaufen oder Verstecken, lebten im Augenblick, ohne sich über Verbrechen zu sorgen oder darüber, woher ihre nächste Mahlzeit kam.

Als sie schließlich sprach, war es mehr ein Flüstern, sodass ich mich anstrengen musste, sie zu verstehen.

»Sie sagen, ich habe ein Geschwür. In der rechten Brust. Krebs.«

Der Wodka brannte in meiner Kehle; ich war wütend, verwirrt und schließlich panisch. Jahrelang zu den unmöglichsten Zeiten in fremde Wohnungen zu gehen, Nachrichten zu überbringen, die niemand hören wollte, und die Reaktionen anderer auf einen unerwarteten Tod zu beobachten hatte mich nicht auf den Augenblick vorbereitet, da der Tod meine Schlösser knackte und sich auf Zehenspitzen in mein Zuhause schlich.

»Sie müssen sich irren. Wir holen eine zweite Meinung ein. Die Röntgenaufnahmen sind bestimmt falsch beschriftet worden, das passiert dauernd … sie müssen sich irren.«

Tschinara warf ihr langes schwarzes Haar nach hinten, das sich seitlich wie ein gefalteter Krähenflügel an ihren Kopf schmiegte. Sie sah mich noch immer nicht an, sondern starrte weiter auf den geplünderten Spielplatz. Ich wollte sie umarmen, sie schütteln, irgendwas tun, damit all das wegging.

»Aber was, wenn nicht?«

Sie klang resigniert, fast ein wenig besorgt, ich könnte ihr die Schuld dafür geben, dass sie krank war.

»Sie irren sich. Bestimmt. Du hast nie geraucht. Wir sollten Spezialisten in Moskau konsultieren. Ich beantrage morgen Sonderurlaub wegen eines Notfalls.«

»Und womit sollen wir die bezahlen? Mit dem, was du verdienst? Mit dem, was wir gespart haben?«

Ich sagte nichts. Ich bekam kaum Luft, mein Herz zuckte und trat in meiner Brust um sich wie ein verängstigtes Tier. Ich konnte überall in der Stadt ein paar Gefälligkeiten einfordern, von anderen Polizisten, von Politikern, denen ich einmal aus der Klemme geholfen hatte, sogar von Mitgliedern der Mafia, mit denen ich zu tun hatte. Aber mit der dritten Person, die sich gerade zu uns in den Raum gesellt hatte, konnte man nicht verhandeln.

»Ich habe die Röntgenbilder gesehen. Die Tumore. Jede Menge. Der Arzt hat gesagt, er hätte aufgehört zu zählen.«

Das Sonnenlicht im Zimmer war sehr hell, so grell, dass meine Augen tränten. Ich konnte die Kinder auf dem Spielplatz rufen und lachen hören und wollte das Fenster aufreißen und sie anschreien, sie sollten ruhig sein: weil meine Welt gerade zusammenbrach, weil ich Angst hatte, weil es mir ungerecht vorkam, dass irgendjemand glücklich war.

»Sie wollen mich diese Woche operieren. Herausnehmen, was sie können.«

Ich setzte mich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. Ich versuchte, ihren Kopf in meine Richtung zu wenden, doch sie versteifte sich und wandte sich ab.

»Du wirst wieder gesund, das passiert vielen Frauen …«

Ich hörte, wie sich meine Stimme verlor. Irgendwie schaffte ich es nicht, den überzeugend beruhigenden Ton zu finden, den ich, konfrontiert mit ängstlichen, schockierten, verzweifelten Gesichtern, sonst so oft getroffen hatte.

»Er wird schon gesund und munter wieder auftauchen, wenn er Hunger kriegt.«

»Er ist in diesem Moment im OP

»Wir werden herausfinden, wer das getan hat.« Und manchmal gelang uns das und manchmal nicht.

Behutsam stellte ich mein Glas ab, als könnte das geringste Geräusch eine schreckliche Explosion auslösen, und umarmte Tschinara von hinten. Sie riss sofort die Hände hoch, um ihre Brüste zu bedecken, als wollte sie sie vor meinem Griff schützen oder verhindern, dass ich mich irgendwie ansteckte. Seltsam, was einem in einem solchen Moment durch den Kopf geht. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, dass es in einer Woche dort nichts mehr geben würde, was ich anfassen und liebkosen konnte.

»Es tut mir leid.«

»Ich weiß, es wird gut. Alles wird gut.«

Die Worte, mit denen wir uns versichern, dass es noch nicht an der Zeit ist, sich der langen Prozession anzuschließen, dass wir noch nicht an der Reihe sind, vom Förderband in die Dunkelheit zu fallen. Ich legte meine Hände auf ihre Schultern. An ihrem Zittern erkannte ich, dass sie stumm weinte.

Der Rest des Abends ist verschwommen und dann ein weißer Fleck. Glas auf Glas, Tränen, Selbsthass, leere Versicherungen. Irgendwann umfallen und das halbvolle Glas auf den Teppich kippen. Ein Vorbild an Unterstützung, zur Stelle, als Tschinara mich am meisten brauchte …

 

Ich schloss die Erinnerungen wieder in ihren Schrank, machte die Augen zu und konzentrierte mich auf die Tote, die unter den Bäumen im Schnee gelegen hatte. Und auf das tote Kind, das in ihr abgelegt worden war. Was Kinder betrifft, bin ich nicht übermäßig sentimental. Kurz nach unserer Hochzeit hatte Tschinara eine Abtreibung; wir lebten damals noch draußen in Alamedin in einem verrottenden Zementklotz, einem Wohnblock wie die, in denen ich für den größten Teil meiner Laufbahn mit gezückter Pistole Türen eingetreten habe. Wir sind noch nicht bereit dafür, hatte sie gesagt, erst die Karriere, dann die Familie, später ist immer noch Zeit. Aber dem war dann doch nicht so.

Ich will nicht auf die Pauke hauen von wegen, ein Fötus habe eine Seele, doch ich glaube auch nicht an Verhütung durch Abtreibung, so wie viele Leute es tun. Wenn es in meinem Job um irgendwas geht, dann darum, die Verwundbaren vor den Jägern zu schützen, die die Herde umkreisen und darauf warten, dass ein Tier von den anderen getrennt wird, damit sie zuschlagen können. Und etwas Verletzlicheres als ein ungeborenes Kind kann ich mir nicht vorstellen.

Vielleicht bin ich ein Idiot, weil ich Verantwortung für Menschen übernehme, die ich nie im Leben gekannt habe und die mir ihr Geheimnis erst im Tod offenbaren: der Kleiderschrank voller gestohlener Kleider, versteckte Pornos, schwul oder hetero, unterm Bett gebunkerte Wodkaflaschen. All das und mehr habe ich gefunden. Manchmal erzähle ich es den Verwandten, häufiger entferne ich die Spuren solch menschlicher Schwächen und vergrabe sie in den Akten, die im Keller der Zentrale verstauben. Natürlich nur, wenn ein Tod nicht verdächtig ist; bei dem geringsten Anzeichen dafür muss man für alle Möglichkeiten offen sein. Die Toten kann man mit ihrer Vergangenheit ohnehin nicht mehr beschämen, doch man kann verdammt noch mal dafür sorgen, dass die Lebenden ihnen nicht zu schnell Gesellschaft leisten.

 

Ich öffnete die Augen und starrte an die Decke. Die Hoffnung einzuschlafen war aussichtslos, und ich hatte Arbeit zu erledigen. Ich rappelte mich vom Bett hoch und betrachtete mich im Spiegel des Kleiderschranks. Ein Gesicht, so zerknittert und faltig wie meine Klamotten. Eins, das im Laufe der Jahre siegreich aus ein paar Kämpfen hervorgegangen war, jedoch nie einen angefangen hatte. Untersetzte Statur, nicht groß, kurzrasierte schwarze Haare, schwarze Augen, die unter dichten Brauen hervorstarren. An meinen Wangenknochen, die höher und schräger sind als die des durchschnittlichen mondgesichtigen Kirgisen, kann man eine Spur der tatarischen Gene meiner Mutter erkennen. Ihr Vater, mein Großvater, war ein Uigure, von ihm habe ich meinen leeren, ausdruckslosen Blick.

»Zeig nie deinen Charakter«, sagte meine Mutter immer, wenn ich verärgert oder unglücklich aussah. »Zeig kein Gefühl und keine Schwäche, behalte es für dich, schließ alle anderen aus. Was sie nicht wissen, kann dir nicht wehtun.«

Sie hatte ohne die Spur einer Emotion zugesehen, wie erst der Leichnam ihres Vaters und dann Jahre später der meines Vaters aus der Dreizimmerwohnung getragen wurde, die wir unser Zuhause nannten. Keine Träne, keine Anzeichen, dass sie irgendetwas empfand. Nicht einer meiner Kollegen, nicht einmal die, die sich etwas auf ihre Verhörmethoden einbilden, hätte meine Mutter zum Reden gebracht, wenn sie entschlossen war, zu schweigen.

Noch Wochen nach Tschinaras Tod konnte ich ihr Parfüm, ihr Shampoo, ihren Hals auf dem Kissen neben meinem riechen. Ich lag da und redete mir ein, sie sei nur ins Bad gegangen, würde übers Wochenende ihren Bruder besuchen oder eine ihrer ungezählten Tassen Tschai machen. Und manchmal funktionierte es, und ich döste ein, während mein Arm auf der Suche nach einer Wärme, die nicht mehr da war, in die Nacht tastete.

Aber am Morgen traf es mich nach dem Bruchteil einer Sekunde des Glücks wie ein außer Kontrolle geratenes Auto. Tot.

Ich starrte aus dem Fenster. In der Dunkelheit war das verrostete Klettergerüst unsichtbar, doch ich wusste, dass es da war. Genauso wie ich wusste, dass Tschinara unter einem Erdhügel lag, in dem Grab, für das ihre Brüder stundenlang den gefrorenen Boden aufgehackt hatten, um ihr ein Bett zu bereiten.

Kapitel 4

Da ich sowieso nicht würde einschlafen können, entschied ich, dass alles besser war als eine Nacht voller Erinnerungen und Stille. In meinem Beruf gibt es keine festen Bürozeiten, also schloss ich meine Tür ab und stapfte hinaus in die Dunkelheit.

Das andere Ende des Tschüi-Prospekts lag verlassen da, als ich die Straße überquerte. Es war nach Mitternacht. Kein Mensch war unterwegs, keine Stiefel knirschten auf dem frischgefallenen Schnee. In diesem Teil der Stadt ist der Schnee so ziemlich das einzig Jungfräuliche, was man finden wird. Die Stämme der Bäume am Rand des Panfilow-Parks waren weiß getüncht, sodass es aussah, als würden sie in der Luft schweben oder von einem unsichtbaren Kran an ihren Standort herabgelassen. Ein Riesenrad blitzte durch den Dunst wie die Erinnerung an einen längst vergangenen Frühling.

Ich machte in der Metro-Bar halt und sah einigen tristen Mädchen aus der Nachbarschaft beim Poolbillard zu, ihre Ärsche in die Luft gereckt für den Fall, dass zufällig ein Marineinfanterist von der US-Basis hereinschlenderte, der gerade dienstfrei hatte. Aber das wurde schnell öde, und ich beschloss, auf dem Rückweg zur Ibraimowa-Straße in der Kulturny-Bar vorbeizuschauen. Für die, die es nicht wissen, der Name bedeutet auf Russisch »Kultur«. Aber kulturny umfasst sehr viel mehr als Kunst, Musik und Literatur. Es ist eine Art, sich zu geben, eine Haltung zur Welt, eine Großherzigkeit und Wertschätzung der feineren Dinge im Leben. Wenn man Puschkin zitiert, Rachmaninoff summt und seinen Tschai aus zierlichen Porzellantassen trinkt, kann man sich wahrscheinlich als kulturny betrachten.

Natürlich lieben die Russen das Paradox, vor allem wenn es eines der kosmischen Art ist, das sie in ihrer Überzeugung bestätigt, sie allein seien Zielscheibe und Opfer eines universellen Scherzes. Wie sonst hätten sie sich selbst achtzig Jahre lang einreden können, dass sie privilegiert und dem Westen überlegen waren, während sie stundenlang anstanden, um Brot, Milch und Schuhe zu kaufen oder was immer es an der Spitze der Schlange gerade gab? Deshalb erkennen – und schätzen – sie auch antikulturny, die Halbwelt, in ihrer kompromisslosesten Ausprägung.

Die Kulturny-Bar ist Bischkeks größter Witz und eins seiner am besten gehüteten Geheimnisse. Kein Schild, kein einladendes Neon, nur eine ramponierte Stahltür, angestoßen und verkratzt von jahrelanger Misshandlung durch Stiefel, Spatengriffe und einen bei einer denkwürdigen Gelegenheit geworfenen Molotowcocktail. So etwas Kompliziertes wie eine Überwachungskamera zur Musterung potenzieller Trinker gab es nicht, nur ein Guckloch und die Gewissheit, dass der Rausschmeißer dahinter wahrscheinlich betrunken, gewalttätig und bewaffnet war.

Ich öffnete meine Jacke, tippte an meine Hüfte und spürte das beruhigende Gewicht der Waffe. Nicht die übliche Makarow-Pistole, sondern eine Jarygin, die ich einem Haschischschmuggler in Karakol abgenommen hatte. Sie hatte mehr Durchschlagskraft und siebzehn Schuss im Magazin. Kulturny.

Ich starrte die Tür an, trat versuchsweise dagegen und wartete. Nichts: Stille hallte in der verschneiten Straße wider. Ich hob die Hände zu einer stummen Bitte. Nach wie vor nichts. Ich blickte übertrieben auf meine Uhr, zuckte mit den Schultern und strich mit einem Finger über meine Kehle. Als ich gerade zur Wache gehen und mit einem Vorschlaghammer zurückkommen wollte, schwang die Tür auf, und ein unheiliger Gestank von Pisse, frittierten Pelmeni und abgestandenem Bier schlug mir entgegen.

Ein rasierter, mit blau-schwarzen Spinnweben verzierter Schädel tauchte auf, Gefängnistätowierungen. Mit Anabolika gefütterte Muskeln spannten sich an trotz der Kälte nackten Armen. Ein zerfetztes T-Shirt und eine ungewaschene Camouflage-Hose. Knapp zwei stämmige Meter Rausschmeißer: Michail Lubaschow, »von Interesse für die Polizei des Bezirks Sverdlowsk«, wie es vor Gericht immer heißt.

Ich hatte ihn einmal in den Knast gebracht, weil er ein usbekisches Bandenmitglied ins Koma geprügelt hatte, deshalb würde Michail mein Erscheinen wahrscheinlich nicht wohlwollend aufnehmen. Aber er würde auch klug genug sein, mir den Zutritt nicht zu verwehren, wenn er wollte, dass die Bar geöffnet blieb. Ein Rückgang der Einnahmen würde bei seinen Bossen nicht gut ankommen; und selbst im Koma zu landen wäre das Mindeste, worauf er hoffen durfte, wenn ich den Laden für ein oder zwei Wochen dichtmachte.

»Inspektor –«

»Past sachlopni, packun!«

Dass er das Maul halten sollte, gefiel Michail ebenso wenig, wie kleiner Wichser genannt zu werden, doch ich würde seine Enttäuschung darüber schon verwinden. Ich bin ziemlich antikulturny, wenn ich will, und hielt es für das Beste, Michail von Anfang an klarzumachen, was Sache war. Dass er mich hasste, machte mir nichts aus, solange er mich fürchtete.

»Die übliche Versammlung von alkaschi unten?«

Die nackte Madonna auf Michails Bizeps spannte ihre Titten, als er mit den Schultern zuckte. Michail war kein Typ, der irgendwas preisgab, also setzte er seinen Knasthofblick auf. Er deutete gern an, dass er an der Entführung und Erledigung des tschetschenischen Mafia-Bosses Mowladi Atlangerijew vor ein paar Jahren in Moskau beteiligt gewesen sei, doch das war nur Angeberei, um die Freier zu beeindrucken. Die Spinnweben auf seinem Schädel hätten der Welt verkünden können, dass er ein Mörder war, doch auf dem Bauch hatte Michail ein Tattoo, das verriet, dass er eine verborgene Schwäche für Kinder hatte. Man will nicht, dass jeder weiß, dass man ein Sexualverbrecher ist, vor allem wenn man ein Pädo ist.

Ich blickte die Straße hinauf und hinunter. Menschenleer, niemand, der irgendwelchen Ärger bezeugen könnte, und das passte mir gut. Ich schlug meine Jacke auf, um Michail sehen zu lassen, dass ich in einer offiziellen Angelegenheit und gut gerüstet kam. Ich wusste von dem Baseballschläger hinter der Tür. Und er wusste, dass ich nicht lange zögern würde, nicht mehr.

»Michail, willst du mich verarschen?«

Er sagte nichts, trat jedoch zur Seite. Die Treppe zur Bar hinunter war so einladend wie ein Ausflug in die Kanalisation. Kein Licht; Dunkelheit klaffte wie ein aufgerissener Schlund.

»Wenn mir irgendetwas querkommt, Michail, werde ich ungehalten, kapiert? Vor allem von einem verkümmerten Wichser wie dir. Bei der kleinsten Scheiße reiß ich dir den Arsch auf.«

Michail dachte eine Weile nach, als würde er einen besonders schwierigen Satz über den dialektischen Materialismus studieren, und nickte dann.

Ich drängte an ihm vorbei und machte mich auf den Weg ins Dunkel; es war, als würde ich in einen Albtraum fallen.

Am Fuß der Treppe führte ein nach Pisse und Angst stinkender Flur zu einer weiteren ramponierten Tür, die halb offen stand und so einladend aussah wie der Mund einer alten Nutte.

Ich ging hinein.

Zwei der fünf Deckenleuchten waren durchgebrannt, bei zwei weiteren fehlten nur die Glühbirnen, sodass ich mich an mein Büro erinnert fühlte. In meinem Büro gab es allerdings keine vergleichbare Ansammlung von Schlägern, Säufern und Huren. Jedenfalls nicht jeden Tag.

Ein zerfetztes und halb abgerissenes Poster zeigte die Verwüstung, die Drogen im Gesicht eines jungen Mädchens hinterlassen hatten, ihre Vorderzähne fehlten, über einer Braue hatte sie schwarze Stiche, und ihre Augen wirkten tot. Darüber die Schlagzeile: VOR KROKODIL HATTE ICH EINE TOCHTER. JETZT HABE ICH EINE PROSTITUIERTE. Darunter hatte jemand mit krakeliger Handschrift gekritzelt: DESHALB KONNTE ICH MEINEN FESTEN JOB AUFGEBEN. Sehr kulturny.

Im Raum verteilt sah ich diverse Gesichter, die ich von Verbrecherfotos kannte, sowie ein paar Nutten, die über das Haar eines betrunkenen Zivilisten streichelten. Schließlich entdeckte ich den Mann, den ich suchte. Mit einem Glas schwarzgebranntem Wodka stand Wassili Tjulew an die Bar gelehnt und war selbst in diesem Licht nicht schwer auszumachen. Die Hälfte der jährlichen Förderproduktion der Goldmine von Kumtor hing um seinen dicken, aknevernarbten Hals oder spreizte seine Wurstfinger.

»Wassili, wie geht’s, alter Hurensohn?«

Das Komische war, dass Wassili wirklich der Sohn einer Prostituierten war, woran er jedoch ungern erinnert wurde. Deshalb betrachtete ich es als Teil meiner Dienstpflichten, die Öffentlichkeit dadurch zu schützen, dass ich ihn jedes Mal als abschreckendes Beispiel für die Folgen von ungeschütztem Sex anführte.

Wassili führte die Tradition seiner Mutter fort, indem er eine Reihe zweitklassiger Mädchen in einer heruntergekommenen Wohnung an der Jibek Jolu für sich anschaffen ließ, doch bis zur Revolution war er bei Leichtgläubigen auch sehr erfolgreich mit der Masche gefahren, sich als Neffe des Präsidenten auszugeben, als unvergleichlicher Strippenzieher und Mann, der Wunder geschehen und Probleme verschwinden lassen konnte. Das stimmte natürlich nicht, doch ich war immer erstaunt, wie viele Leute ihm einen Packen Som überreichten in der Hoffnung, damit eine Gefälligkeit zu erwerben. Nach der letzten Revolution – als der Präsident mit nur einem Dutzend großer Koffer und den Rücklagen des Staates außer Landes geflohen war – bekam Wassili eine nicht unerhebliche Anzahl Drohungen von Leuten, die ihr Geld zurückverlangten. Deshalb hielt er sich auch Michail Lubaschow als Chefleibwächter und Rausschmeißer.

Wassili war ein ziemlich mieser Mensch, doch er hielt das Ohr am Boden, die Augen offen und den Mund geschlossen, außer wenn ich ein paar Antworten wollte.

Er nahm einen letzten Zug von seiner Papirossa, bevor er die Kippe fallen ließ, mit dem Absatz austrat und auf den Boden spuckte. Eine Augenbraue hochgezogen, blickte er in meine Richtung und wies mit dem Daumen auf meinen Mund. Ich nickte und schnippte mit den Fingern, als der Barkeeper nach einer besonders fragwürdigen Flasche griff.

»Njet, das Zeug aus dem obersten Regal, den Vivat.«

Der Barkeeper griff nach einer halbleeren quadratischen Flasche, und ich schüttelte den Kopf.

»Ungeöffnet.«

Der Barkeeper nickte und stellte die volle Flasche vor mir auf den Tresen. Er verlangte kein Geld; es stand nie zur Debatte, dass ich hier irgendwas zahlen musste. In Spelunken wie der Kulturny-Bar besteht der Haus-»Wodka« aus einem Teil Benzin, einem Teil Pisse und zwei Teilen Gift: Bei einer ungeöffneten Flasche hatte man immerhin eine kleine Chance, es noch bis nach Hause zu schaffen, ehe Zirrhose und Blindheit einsetzten.

Bevor der Barkeeper mir einschenken konnte, nahm ich das Glas, wischte es mit meinem Hemdschoß aus und hielt es ins Licht, um es auf Schmierflecken zu untersuchen. Ich ließ mir Zeit und erinnerte jeden daran, wer hier der Chef war. Es läuft hier, wie ich es will, in meinem Tempo, oder wir besuchen alle gemeinsam den gekachelten und schalldichten Raum im Keller der Zentrale.

Ich goss das Glas voll, ließ es jedoch unangerührt; es war schon vorgekommen, dass jemand K.-o.-Tropfen in das wahrscheinliche Getränk eines Freiers gegeben hatte, um ihn anschließend auszurauben. Ich strich mit dem Finger über den kalten Rand des Glases und musterte Wassili. Teure Lederjacke, Versace-Jeans, fleckenlose weiße Nikes. Trotzdem sah er immer noch aus wie ein drittklassiger Gangster, die Steroid-Akne an seinem Hals, die Goldklunker an den Fingern, mit denen er auf den Tresen trommelte, als er das Glas hob und es mit einem raschen routinierten Schluck leerte.

»Und, Inspektor, ein privater Besuch?«

Ich verdrehte die Augen und goss das Glas wieder voll.

»Ich habe das von Ihrer Frau gehört. Wenn Sie jemals, Sie wissen schon, ein wenig körperliche Entspannung brauchen, sagen Sie einfach Bescheid. Das geht aufs Haus.«

Bei dem Gedanken, eine von Wassilis billigen Huren zu ficken, verzog ich das Gesicht und nahm mir vor, ihm die Zunge mit einer Zange herauszureißen, wenn er je wieder meine Frau erwähnte. Wassili missdeutete meinen Blick als einen der Trauer über meinen Verlust und strengte sich an, mitfühlend auszusehen.

»Es geht um ein Mädchen.«

Wassili zuckte die Achseln.

»Darum geht es meistens, wenn Sie zu mir kommen, Inspektor.«

»Ermordet.«

»Würde sie noch sorgenfrei die Sowjetskaja hinunterschlendern, wären Sie wohl kaum hier, oder?«

Ein Anflug von Frechheit, den ich im Keim erstickte.

»Fick dich in den Arsch, Wassili.«

»Das Mädchen von der Ibraimowa-Straße?«

Ich nickte. Was immer Wassili sonst sein mochte, er war gut informiert. Vielleicht hatte er einen Maulwurf auf dem Revier, der für ein paar Informationshäppchen hier und da jede Woche einen Bonus kassierte.