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Steven Uhly

Die Summe des Ganzen

Roman

Erste Auflage

Gestaltung und Satz: Eva Mutter, Barcelona

Printed in Germany

»Lenke dein Schiff ans Land, und horche unserer Stimme.
Denn hier steuerte noch keiner im schwarzen Schiffe vorüber,
Ehʼ er dem süßen Gesang aus unserem Munde gelauschet.«

HOMER, Odyssee, 12,185-187

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

1

Die Pfarrkirche des Heiligen Isidro in Hortaleza, einem nordöstlichen Außenbezirk von Madrid. Padre Roque de Guzmán, 50 Jahre, mittelgroß, ein wenig untersetzt, Stirnglatze, sitzt in einem hölzernen Beichtstuhl, der viel älter ist als der eckige Neubau, in dem er steht. Es ist 17:00 Uhr, ein Mittwoch. Anfang März. Außer sonntags sitzt Padre Roque jeden Tag um dieselbe Uhrzeit in diesem Beichtstuhl und wartet auf Sünder, die kommen, um ihr Herz auszuschütten und die Absolution zu erhalten. Meistens beichten sie mindere Sünden, die mit zehn Bußgebeten und drei Vaterunser abgegolten werden können, kleinere Diebstähle, Vorteilsnahmen, hin und wieder ein Seitensprung. Der Padre ist sich sicher, dass die meisten Ehebrecher seinen Beichtstuhl meiden, weshalb er kein realistisches Bild von der Moral haben kann, die in seiner Gemeinde vorherrscht. Manchmal kommt niemand. Dann sitzt der Priester da und versucht, sich daran zu erinnern, dass er trotz allem Gottes Werk verrichtet. Um 18:30 Uhr wird er sich ins Gemeindehaus begeben, wo der Knabenchor des Viertels ihn erwartet, sein Tageshöhepunkt.

Heute scheint niemand beichten zu wollen. Es ist bereits 18:10 Uhr, zu dieser Zeit werden die üblichen Sünder nicht mehr erscheinen – er erkennt sie alle an ihren Stimmen, auch wenn viele sich einbilden, inkognito bleiben zu können, weil diese Trennwand mit dem engmaschigen Sprechgitter zwischen ihnen ist und sie ungesehen kommen und gehen können. Der Padre zuckt mit den Schultern, dann eben heute niemand.

Ein wenig schwerfällig erhebt er sich und will gerade das alte, enge Holztürchen öffnen, als er hört, wie jemand den Beichtstuhl betritt und sich setzt. Er seufzt, lässt sich erneut nieder und lehnt sich zurück. So spät sollte eigentlich niemand mit seiner Beichte beginnen, das bringt den Padre möglicherweise in die Verlegenheit, den Sünder auf das nächste Mal zu vertrösten, damit er pünktlich zu seinem Chor kommt, und dann muss er selbst zwei oder drei Bußgebete sagen, weil er so eigentlich nicht handeln sollte.

Plötzlich eine leise, gehetzt klingende Männerstimme:

»Padre, ich habe gesündigt.«

Der Padre räuspert sich leise und sagt:

»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und seiner Barmherzigkeit.«

Nach einer kurzen Pause erwidert die Männerstimme:

»Amen.«

»Was liegt dir auf dem Herzen, mein Sohn?«

Stille.

Der Padre hört nur, wie der Sünder auf der hölzernen Sitzbank hin und her rutscht. Er scheint nervös zu sein, nach Worten zu suchen. Vielleicht ein Ehebrecher, der bewusst nicht die Kirche seiner Heimatgemeinde aufsucht, aus Angst, trotz des Beichtgeheimnisses könne etwas nach außen dringen. So etwas kommt vor, das schlechte Gewissen macht Menschen paranoide. Eindeutig Spanier, Weißer, kein Gitano, kein Südamerikaner, allerdings ohne regionalen Einschlag, vermutlich zwischen 30 und 40 Jahre alt. Klingt gebildet, kein Prolet jedenfalls.

»Padre.« Wieder dieses Gehetzte in der Stimme, als ob er auf der Flucht wäre. Vielleicht ja etwas Schlimmeres, denkt der Geistliche. »Padre, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.«

»Du kannst es so sagen, wie du es im Herzen trägst, mein Sohn. Hier hört uns niemand, und ich werde deine Beichte mit ins Grab nehmen.«

»Natürlich«, ertönt die Stimme aufs Neue, die weder erleichtert noch beruhigt klingt. Definitiv ein schwereres Vergehen, kalkuliert der Padre und geht die Möglichkeiten durch – Einbruch, Veruntreuung größerer Geldsummen, vielleicht hat er seine Frau verprügelt, oder eine andere geschwängert, alles Dinge, die bereits vorgekommen sind, und nicht nur einmal. Der Padre hat drei Gemeindemitglieder, die ihre Frauen regelmäßig krankenhausreif schlagen und anschließend zu ihm kommen, damit er ihnen Vaterunser und andere Bußgebete aufgibt und ihnen die Absolution erteilt. Er schaut auf die Uhr, 18:15 Uhr, viel Zeit bleibt dem Sünder nicht mehr.

»Also gut«, sagt die Stimme auf der anderen Seite leise. Der Sünder klingt gefasst wie jemand, der bereit ist, sich ins Unvermeidliche zu fügen. Und dann, mit einem Beben: »Padre, ich habe unnatürliche Neigungen in mir entdeckt! Ich … ich weiß nicht, was ich tun soll.«

»Kannst du etwas genauer sein, mein Sohn?«

Stille.

Der Padre fühlt, wie der Sünder mit sich ringt, wie er nach Worten sucht und versucht, sich den entscheidenden Ruck zu geben, um endlich sagen zu können, was er so lange vor der Welt geheim gehalten hat. Jetzt ist der Padre gespannt, aber er lässt es sich nicht anmerken, als er sagt:

»Fürchte dich nicht, mein Sohn, du bist in Gottes Haus.«

»Natürlich«, sagt die Stimme wieder. Definitiv ein Neunmalkluger, schätzt der Padre, einer, dem es nicht gefällt, wenn man ihm Offensichtliches erklärt. Hochmut, Stolz, das sind schon mal zwei Todsünden, aber welches seiner Schäfchen schleppt nicht mindestens drei oder mehr davon mit sich herum? Er wartet, schaut auf die Uhr, 18:18 Uhr, und wartet weiter.

»Padre, ich … ich lebe ein normales Leben, ich habe eine Frau, die ich liebe, auf jeden Fall liebe ich sie! Wir haben eine kleine Tochter, sie ist erst sieben Jahre alt, sehr süß und aufgeweckt, sie ist mein Ein und Alles. Ich würde den beiden niemals etwas antun, niemals! Das Einzige, was ich will, ist, sie zu beschützen, meine Familie zu beschützen, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, wie das ganze Leben sich ändern kann, wenn man zu früh mit Dingen konfrontiert wird, die man einfach nicht verarbeiten kann, die … zu gewaltig sind, die einen vor der Zeit in die Welt der Erwachsenen stoßen. Verstehen Sie, Padre?«

»Ich verstehe, mein Sohn. Fahre fort!« Einer, der erstmal um den heißen Brei reden muss. Der Padre seufzt, davon hat er auch ein paar, das sind die, die er am schwersten erträgt. Bis sie endlich auf den Punkt kommen, erzählen sie ihm ihr ganzes Leben. Der Padre bläst die Luft durch seine geblähten Backen aus und versucht, sich in Geduld zu üben. Gottes Werk, er verrichtet Gottes Werk, das darf er nicht vergessen.

»Padre«, beginnt der Sünder erneut. In seiner Stimme schwingt jetzt Resignation mit und eineTrauer, die den Padre aufhorchen lässt. Vielleicht kommt er schneller zur Sache, als gedacht. »Ist es nicht so, Padre, dass man die, die man liebt, manchmal vor sich selbst beschützen muss, weil man ihnen sonst Schaden zufügen würde?«

»Das kann schon mal vorkommen, mein Sohn«, sagt der Padre und wiegt den Kopf. Worauf will der hinaus?

»Ich … ich arbeite als Nachhilfelehrer für Latein und Mathematik, vor allem Mathematik.« Also doch erst das ganze Vorspiel, denkt der Padre und schaut auf die Uhr, 18:25 Uhr, in zwei Minuten wird er den Sünder bitten müssen, wiederzukommen. Dinge, die man nicht tut, geht es ihm durch den Kopf. Aber der Knabenchor wartet, zwanzig Jungen, die sich alle darauf freuen, mit ihm zu singen. Sie zu enttäuschen, kommt nicht in Frage.

»Ich … habe einen Nachhilfeschüler, der …« Die Stimme bricht ab, der Padre hört wieder das Rutschen, dann plötzlich Lärm, als werde die Tür geöffnet. Im nächsten Moment ist der Sünder geflüchtet. Der Padre schaut auf die Uhr. Nochmal Glück gehabt. Jetzt wird es aber höchste Zeit.

2

Donnerstag. Padre Roque sitzt erneut in seinem Beichtstuhl, es ist 17:20 Uhr. Heute kam die alte Señora Barros und beichtete ihm, dass sie immer noch wütend auf ihren verstorbenen Gatten ist, weil er damals den Sohn an die Polizei verriet. Der Sohn war desertiert und hatte sich bei ihnen zu Hause versteckt. Aber der verstorbene Gatte hielt die Feigheit des Sohnes für eine Schande und verständigte die Behörden. Die nahmen ihn mit und steckten ihn für zehn Jahre nach Carabanchel ins Gefängnis. Als er wieder rauskam, war er nicht mehr derselbe. Solange der Vater lebte, kam der Sohn nicht mehr nachhause, und Señor Barros starb an gebrochenem Herzen, da ist sich die Witwe sicher. Oft wacht sie schweißgebadet auf und wünscht ihm den Tod, obwohl er längst nicht mehr lebt. Deshalb kommt sie fast jede Woche zur Beichte.

Padre Roque weiß, dass er Gottes Werk verrichtet, wenn er ihr ausreichend viele Bußgebete und Vaterunser aufgibt, damit sie die Woche über beschäftigt ist. Manchmal empfindet er echtes Mitleid für die alte Dame, die jede seiner Messen besucht, stets in der ersten Reihe sitzt und voller Inbrunst betet. Der Sohn, der sie ein paar Mal begleitet hat, ist allerdings ein unangenehmer Typ. Er hat den Padre von Anfang an misstrauisch angeblickt, als wäre dieser an irgendetwas schuldig. Das kränkt den Padre, denn er gibt sich viel Mühe mit Señora Barros und ist immer für sie da. Aber die Verwandtschaft kann sich niemand aussuchen, die Señora trägt nicht die Schuld daran, dass ihr Sohn keine Manieren hat.

Jemand betritt den Beichtstuhl und setzt sich. Der Padre blickt auf die Uhr, um abzuschätzen, wer es sein könnte. Bevor er sich länger Gedanken machen kann, sagt die gehetzte Stimme vom Vortag:

»Padre, es tut mir leid, dass ich Sie gestern einfach sitzengelassen habe.«

»Mach dir keine Sorgen um mich, mein Sohn«, erwidert der Padre und legt eine Extraportion Güte in seinen Tonfall. »Bist du heute bereit zu sprechen?«

»Ich … ich hoffe es, Padre«, sagt die Stimme gepresst. »Es ist nicht leicht, weil es so … unmoralisch ist, was ich empfinde, Padre.«

»Glaubst du an Gott, mein Sohn?«, fragt der Padre, denn er hat das Gefühl, jetzt einmal grundsätzlich werden zu müssen.

»Ja, ich glaube an Gott, unbedingt! Nicht immer an die Kirche, das muss ich zugeben, aber immer an Gott.«

»Du weißt, dass die Kirche von Gott höchstpersönlich begründet wurde?«

»Ja, Padre, so wurde es uns beigebracht. Aber was sollen Priester auch anderes sagen, Padre? Jeder würde von sich selbst behaupten, dass er unverzichtbar ist, nicht wahr?«

Der Padre schweigt. Damit hat er nicht gerechnet. Nicht nur ein Neunmalkluger, sondern auch ein Frevler. Was will der hier in seinem Beichtstuhl, wenn er solche Reden schwingt?

»Bist du hergekommen, dich gegen die Kirche zu versündigen, mein Sohn?«

»Nein, Padre, verzeiht mir, ich bin aufgeregt, und wenn ich aufgeregt bin, dann rede ich zu viel. Ich wollte Euch nicht beleidigen oder die Kirche angreifen. Aber es gibt immer wieder schwarze Schafe, auch innerhalb der Kirche, das werdet Ihr nicht leugnen, nicht wahr, Padre?«

Der Padre wiegt den Kopf. Angesichts der vielen Skandale der letzten Jahre wäre es dumm, die Augen vor der Wahrheit zu verschließen. Und doch muss er die Integrität der Institution verteidigen, sonst ist er nicht glaubwürdig.

»Es mag schwarze Schafe geben, mein Sohn. Doch sie alle wird Gott richten.«

»Das hoffe ich sehr, Padre. Gott sollte diese schwarzen Schafe richten, er sollte ein Exempel statuieren, denn die irdische Gerechtigkeit ist fehlerhaft.«

»Da hast du recht, mein Sohn. Nur Gott kann vollendete Gerechtigkeit walten lassen.« Der Padre beschließt, einfach mitzumachen, denn er hat keine Ahnung, was diesen Sünder reitet.

»Aber ich bin auch ein schwarzes Schaf, Padre, bei Gott, ich bin auch ein schwarzes Schaf.« Der Sünder jammert jetzt fast, seine Stimme hat etwas Wehleidiges, was den Padre abstößt. Wenn er doch nur endlich sagen würde, was er angestellt hat, denkt er und verdreht die Augen.

Der andere schweigt plötzlich. Der Padre hofft, dass der Sünder Anlauf nimmt, um seine Last endlich loszuwerden. Raus damit!, denkt er ungeduldig.

»Ich habe einen Nachhilfeschüler, Padre, er ist gerade einmal zehn Jahre alt. Aber …« Er stockt. »Padre, würden Sie sagen, dass alle Menschen von Grund auf gut sind? Würden Sie das sagen?«

Der Padre überlegt kurz.

»Ja, natürlich«, antwortet er dann, »sonst wäre die Absolution sinnlos. Wenn ich einen schmutzigen Teller habe, dann weiß ich, dass nicht der Teller das Problem ist, sondern der Schmutz. Mit ein wenig Wasser und Seife kann ich den Schmutz entfernen, dann ist der Teller wieder sauber. Der Teller und der Schmutz sind zwei verschiedene Dinge.« Er schweigt zufrieden. Diesen Vergleich hat er in seiner letzten Predigt benutzt, und er gefällt ihm ausgesprochen gut. Strenggenommen handelt es sich dabei um ein Plagiat, doch das tut nichts zur Sache. Mit Genugtuung nimmt der Padre zur Kenntnis, dass der andere erst einmal nachzudenken scheint. Nimm dies, du Neunmalkluger!, denkt er triumphierend. Im nächsten Moment ruft er sich zur Räson. Das ist nicht Gottes Werk! Gottes Werk ist barmherzig. Warum bist du Priester geworden, wenn du nicht barmherzig sein kannst?, denkt er streng. Deine Gefühle sind nicht von Bedeutung! Wie oft haben dich deine Gefühle schon in Bedrängnis gebracht, Roque de Guzmán? Beherrsche dich!

»Das ist ein schöner Vergleich, Padre«, sagt die Stimme ohne Hoffnung. »Aber ich bin kein Teller. Ich habe Schmutz, den man nicht sieht und den man nicht einfach mit Wasser und Seife wegwaschen kann.«

»Du hast deinen Glauben, mein Sohn!«, unterbricht der Padre ihn heftiger als er wollte. »Dein Glaube ist Wasser und Seife. Wenn du an das Gute in dir glaubst, kannst du von deinen Sünden erlöst werden!«

Der andere schweigt wieder. Der Padre versucht, sich zu beruhigen. Er weiß im Moment nicht, ob er so heftig geworden ist, weil er eitel seinen Vergleich verteidigt oder dieser armen Seele wirklich helfen will. Sollte die Eitelkeit sein Antrieb sein, kann er niemandem helfen. Wie könnte ein Sünder einem anderen aus der Sünde helfen? Er muss rein sein, rein von Sünde, rein von unreinen Absichten. Und was sind unreine Absichten anderes als egoistische Absichten? Damit hast du Erfahrung, Roque de Guzmán, ermahnt sich der Padre, und zwar eine ganze Menge!

»Ich habe gesündigt, Padre«, sagt der andere. »Nicht in Wort und Tat, aber im Geist, in Gedanken habe ich gesündigt, und ich fürchte mich vor dem, was den Gedanken entspringen kann.«

»Erzähl mir von deinen Gedanken, mein Sohn«, sagt der Padre, der froh ist, dass es endlich wieder um etwas Konkretes geht.

»Ich wage es kaum, sie auszusprechen, Padre. Die Macht der Worte ist so groß.«

»Aber die Wahrheit wird dich befreien«, sagt der Padre und weiß im Moment nicht, aus welchem Evangelium er zitiert.

»Die Wahrheit«, sagt die Stimme auf der anderen Seite bitter. »Die Wahrheit hätte mich vielleicht befreit, als ich selbst noch ein Kind war, Padre. Aber heute schmeckt sie vergoren auf meiner Zunge, weil sie so lange dort gelegen hat.«

Mein Gott, denkt der Padre, ein neunmalkluger Poet. Dann verbietet er sich jeden weiteren abschätzigen Gedanken und versucht, mit dem Herzen zuzuhören.

»Du weißt nicht, was geschieht, wenn sie einmal ausgesprochen ist«, versucht er den Sünder zu animieren. Er will jetzt endlich das Vergehen hören, damit er so und so viele Bußgebete und so und so viele Vaterunser aufgeben und die Absolution erteilen kann. So lange hat ihn noch keiner hingehalten. Was ist nur los mit diesem eigenartigen Sünder? Hat er kein Vertrauen in die Kirche? Warum kommt er dann überhaupt her? Geduld, Geduld, ermahnt er sich sofort. Gottes Werk, denk immer daran, Gottes Werk. Er seufzt. Was für ein Kampf!

Der andere hat die ganze Zeit nichts gesagt. Vielleicht überlegt er, wie er sein sündhaftes Denken formulieren soll?

»Padre«, sagt der Sünder plötzlich entschlossen. »Ich glaube an die Logik, deshalb bin ich Mathematiker geworden. Es gibt für mich nichts Eleganteres als die Logik.«

»Das freut mich für dich«, sagt der Padre lahm. Was hat das bitteschön mit seiner Sünde zu tun?

»Ich halte mich an ihr fest, seit ich denken kann«, fährt die Stimme fort. »Früher glaubte ich, die Logik sei die Wahrheit, und sie war in meinem Besitz!« Er schweigt kurz. »Aber heute muss ich feststellen, dass die Logik nur eine Krücke gewesen ist. Schlimmer, sie war ein Pflaster über einer schwärenden Wunde, die ich nie behandelt habe. Und nun fühle ich mich wie jemand mit einer Blutvergiftung, Padre. Meine Gedanken sind außer Kontrolle geraten, sie denken Gift, und meine Logik ist machtlos!« Die Stimme, die immer lauter geworden ist, schweigt abrupt. Dann fährt sie leise fort: »Muss ich daraus nicht folgern, dass die Logik nicht die Wahrheit ist, Padre? Denn wäre sie die Wahrheit, würde sie das Gift einfach wegwaschen, nicht wahr? Die Wahrheit befreit, haben Sie gesagt. Dann muss sie auch vom Gift befreien, oder nicht?«

Der Padre ist verunsichert. Dieser Sünder erscheint ihm wie schlüpfriger Untergrund. Er hat das Gefühl, dass er ihm ständig Fallen stellt mit seinen spitzfindigen Fragen.

»Welcher Natur ist dein Gift, mein Sohn?«, fragt der Padre vorsichtig zurück.

»Luxuria«, sagt die Stimme sofort. Luxuria also, denkt der Padre und schluckt trocken.

»Welcher Natur ist deine Wollust, mein Sohn?«, fragt er.

»Der unnatürlichsten Art, die ich mir vorstellen kann, Padre«, sagt die Stimme gepresst. »So unnatürlich, dass ich mich selbst dafür hasse, so unnatürlich, dass ich meiner Frau nicht mehr in die Augen sehen kann. So unnatürlich, dass ich meine Tochter nicht mehr in den Arm nehmen kann.« Definitiv ein schweres Vergehen, denkt der Padre. »Mein Leben erscheint mir wertlos, seit ich dieses unnatürliche Begehren in mir fühle, Padre. Ich gehe als Heuchler durchs Leben. Die elegantesten mathematischen Formeln erscheinen mir wie Floskeln, wie abgedroschene Phrasen. Selbst die Schönheit der Natur ist von mir vergiftet, ich genieße den blauen Himmel nicht mehr, Padre, weil ich denke: Für mich hat Gott ihn nicht erschaffen, für mich hat er die tiefste Hölle erschaffen, dort werde ich landen und zu Recht, denn ich verdiene es nicht, die Absolution zu erhalten, ich verdiene es nicht!«

Der Padre hört ein Geräusch.

»Warte!«, ruft er, doch der andere hat den Beichtstuhl bereits verlassen. Die kleine Holztür schlägt zu, dann hört der Padre leiser werdende Schritte über den Steinboden der Kirche eilen. Am Ende fällt das schwere Eingangsportal ins Schloss. Anschließend herrscht Stille.

Der Padre bleibt eine Weile sitzen. Er schaut auf die Uhr: 18:10 Uhr, es ist noch Zeit bis zur Abendmesse. Er fühlt sich nach diesem seltsamen Gespräch leer. Eine gepeinigte Seele. Eine gepeinigte Seele mit einem hohen moralischen Empfinden und einem tiefen Abgrund der Lust in sich. Er seufzt. Vielleicht ist das eigentliche Vergehen gar nicht so schlimm, aber wenn dieser Sünder es so empfindet, dann spielt die objektive Tat keine Rolle. Oder doch? Würde er ihm nur endlich sagen, worum es geht! Dann könnte er zumindest reagieren. Natürlich hat er längst einen unguten Verdacht, der andere hat ja diesen Nachhilfeschüler erwähnt. Und das wäre … Doch er will nicht vorausgreifen. Wenn er den Sünder richtig einschätzt, wird er gewiss bald zurückkehren, vielleicht schon morgen.

Endlich rafft der Padre sich auf und verlässt den Beichtstuhl. Er wird etwas essen und sich anschließend auf die Messe vorbereiten.

3

Lucas Hernández steigt an der Metro-Station Sol aus, folgt dem Strom der Passagiere, die an die Oberfläche streben, und zieht sich, als er die Treppe hochkommt, die lästige Gesichtsmaske herunter. Langsam geht er über den länglichen Platz, genießt das freie Atmen und die warmen Sonnenstrahlen und betrachtet das Treiben der vielen Menschen, die hier, im Herzen Madrids, aufeinandertreffen, ohne sich zu begegnen. Er hat Zeit und nimmt sich vor, nichts zu tun, was die Gefühle und Gedanken, die in ihm hochkommen, überdecken könnte. Er hört noch immer die Stimme des Padre, die dieses und jenes sagt. Er fühlt noch immer die Anspannung, unter der er selbst stand. Welch eine Situation! Welch eine Beichte! Eine Beichte, die etwas zum Gegenstand hat, was noch gar nicht geschehen ist, wovon er aber weiß, dass es unvermeidlich stattfinden wird. Unvermeidlich! Und strenggenommen findet es bereits dadurch statt, dass er weiß, was er tun wird. Wie lang soll diese Beichte dauern, bis es soweit ist? Wie lange wird er in der Lage sein, das Unvermeidliche hinauszuzögern, bevor er zur Tat schreiten muss? Und dass er muss, dass er müssen wird, steht so fest wie nichts in seinem Leben. Oder gibt es einen Ausweg aus der Sünde? Könnte er einfach fortgehen und nie wiederkehren? Alles hinter sich lassen und vergessen? Er schüttelt unwillkürlich den Kopf. Wie sollte das ausgerechnet jetzt noch möglich sein, nachdem es ihm zwanzig Jahre lang nicht gelungen ist? Immer war es da, irgendwo im Hinterkopf, stets bereit, nach vorne zu springen wie ein wildes Tier, das sich nimmt, was es will, mit der Grausamkeit eines Tieres, mit der Raserei eines Tieres, mit der Kraft eines Tieres. Wie soll man vor einem Schiff, das übers Meer fährt, flüchten, wenn man im Kreis darauf herumrennt? Genau dies aber würde er tun, wenn er jetzt fortginge. Er muss der Sünde ihren Lauf lassen, um zu wissen, was danach kommt. Er muss wissen, ob es ein Jenseits der Sünde gibt. Er muss tun, was sein Herz ihm diktiert und sein Verstand nicht widerlegen kann. Unnatürliche Neigung. Ja, es ist eine unnatürliche Neigung, er ist sich dessen vollkommen bewusst, es gibt keine Entschuldigung dafür, nicht vor ihm selbst und nicht vor Gott. Seit zwanzig Jahren sündigt er im Herzen, seit zwanzig Jahren hat er keinen glücklichen Tag auf Erden verbracht, und nun nähert er sich dem Moment der Wahrheit. Wird er in der Lage sein, seine Sünde zu begehen? Und wird er anschließend daran glauben können, dass Gott selbst die perfideste aller Sünden, diejenige, die von langer Hand vorbedacht und geplant war, vergibt? Wird der Glaube dafür ausreichen? Er weiß es nicht, er weiß nur, dass es zu spät ist, Halt zu machen. Er wird wieder zum Padre fahren und ihm das Unvermeidliche beichten.

4