Pleiten, Pech und Leichen

HYBRID VERLAG

Impressum

Vollständige Ebook-Ausgabe

12/2019

 

 

 

 

© by Elke Schwab

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung:

© 2019 by Creativ Work Design, Homburg

 

Lektorat: Matthias Schlicke

Korrektorat: Birgit van Troyen

Buchsatz: Sylvia Kaml

Autorenfoto: Manfred Rother

 

 

Coverbild ›Funkschatten‹

Fotograf/Bild: Ruth Ledersteger

Umschlaggestaltung: © Creativ Work Design, Homburg

Coverbild ›Kantschu‹

© by Hygin Graphix

 

 

ISBN 978-3-96741-010-5

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

 

 

 

Elke Schwab

 

Pleiten, Pech und Leichen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kriminalkomödie

 

 

 

Dieses Buch widme ich meiner Oma, die im wirklichen Leben ein echter Knaller war.

Prolog

 

 

Es gibt Tage, die gehören aus dem Kalender gestrichen. Und damit meine ich nicht meine Periode, sondern wirklich miese Tage, an denen einfach nichts gelingen will.

Heute ist so einer.

Wie sagt meine Oma immer so treffend: »Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist.«

Vermutlich denke ich deshalb an Tagen wie diesen an meine Oma, denn so einfach lasse ich mich nicht unterkriegen.

Als Bäckereiverkäuferin stehe ich mir jeden Tag die Beine in den Bauch, bediene die unterschiedlichsten Kunden und lasse so manchen Wutanfall an mir abprallen, weil mein Kunde gerade niemand anderen hat, den er beschimpfen kann. Ich arbeite Zwischenschicht. Früh vier Stunden, abends vier Stunden. Dazwischen vier Stunden Mittagspause.

Das ist ja alles nicht wirklich tragisch.

Viel schlimmer ist das Gehalt, das ich für diesen Job bekomme. Ich bin nämlich nur als Hilfskraft angemeldet, damit der Arbeitgeber nicht in die Verlegenheit kommt, mir mehr bezahlen zu müssen. Für ihn zählt nur die Bäckereifachverkäuferin als ausgebildete Arbeitskraft. Dabei kenne ich mich in seinem Sortiment besser aus als er selbst, da der gnädige Herr kein einziges Brötchen, das über seinen Ladentisch geht, selbst gebacken hat. Kommt alles vom Großmarkt. Dafür spielt er den Despoten.

Das Einzige, was mich in diesem Laden hält, ist die Parfümerie nebenan. Wohltuende Düfte steigen mir in die Nase, und durch die Glasscheibe, die unsere Läden im Erdgeschoss des Einkaufszentrums voneinander trennt, sehe ich immer die neusten Trends. Und die Preise …

Als ich in dieser Bäckerei anfing zu arbeiten, war es nur eine Frage der Zeit, bis ich einen Einfall hatte, wie ich mir etwas Geld dazuverdienen konnte. Die Parfümerie bot sich als Goldgrube geradezu an. Nur, wie sollte ich an die wertvollen Düfte herankommen?

Doch wo ein Wille, da ein Weg.

Diesen weisen Spruch habe ich auch von meiner Oma. Die gute Frau hatte schon immer für jedes Problem eine Lösung parat. Sie ist mein leuchtendes Vorbild, um nicht zu sagen mein einziges; denn außer meiner Oma habe ich schon lange keine Verwandten mehr.

Ich fand heraus, dass die Artikel kurz nach der Lieferung noch nicht elektronisch gesichert sind. Das ist der Moment, in dem ich zugreifen muss, um an die wertvollen Flakons heranzukommen.

Seit heute Morgen steht die neuste Kreation von Coco Chanel, »ein orientalisch-blumiger Duft voller Sinnlichkeit, eine Reise in das üppige Reich aus 1001 Nacht«, in der Parfümerie direkt hinter der Glaswand. Der klassische Flakon und der bekannte Schriftzug bürgen für höchste Qualität.

Wen wundert’s, dass sich die Kundinnen bereits den ganzen Tag am Schnupperflakon bedienen, der zum Anlocken auf einer Säule thront. Dabei bedarf dieser Duft keines Köders. Jede Frau weiß, wie verführerisch er ist.

Ich muss dieses Parfüm haben. Auf Ebay wird schon lange danach gesucht. Bisher war der Duft noch nicht im offiziellen Verkauf, darum hat es noch keinen Anbieter gegeben, der dieses Goldstück hätte auftreiben können.

Bis heute!

Ich sehe es schon vor mir. Die Damen werden sich bei der Auktion gegenseitig überbieten, bis meine Kasse mal wieder so richtig klingelt.

Als es Richtung Feierabend geht, werde ich nervös. Der Strom an schnüffelnden Kundinnen will gar nicht abreißen. Aber bald muss etwas passieren, wenn ich mir den glitzernden Flakon von seinem gläsernen Sockel schnappen will. Das Einkaufszentrum macht bald zu und morgen ist es zu spät.

Der heutige Tag gehört zu denen, die aus dem Kalender gestrichen werden sollten. Auch noch ein Montag. Am Morgen habe ich mich ernsthaft gefragt, ob ich wirklich das gemütliche Bett verlassen soll, um mir acht Stunden mit dem Verkauf von Brötchen um die Ohren zu schlagen. Der Gedanke, mir selbst dabei ein paar Extrabrötchen zu verdienen, ließ mich dann doch aufstehen. Ich hätte auf meinen ersten Impuls hören sollen, denn meine innere Stimme sagt mir, dass ich gerade im Begriff bin, einen schweren Fehler zu begehen. Aber seit wann höre ich auf meine innere Stimme?

Ich heiße Jennifer Klein, meine Freunde nennen mich Jenny. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, chronisch pleite und trete in so ziemlich jedes Fettnäpfchen, das es gibt. Ich lebe allein in einer schnuckeligen Wohnung, die ich mir nur leisten kann, weil die Vermieterin einen Narren an mir gefressen hat. Seit fünf Jahren arbeite ich im größten Einkaufszentrum der Stadt, in der Bäckerei »Frisch und lecker« als Hilfskraft. Einen vernünftigen Beruf habe ich nie gelernt. Weil ich als Verkäuferin gerade mal genug zusammenbekomme, um meinen Lebensunterhalt zu bezahlen, verdiene ich mir abends durch An- und Verkauf auf Ebay etwas dazu.

An- und Verkauf – klingt richtig gut.

Ein bisschen leben will ich schließlich auch. Meine Freundin Anna hat mich daran erinnert, dass es keinen Sinn ergibt, das Leben an sich vorbeiziehen zu lassen. Am Wochenende steht wieder ein Besuch in der Disco an. Dafür müssen neue Klamotten her. Mit den alten Schinken brauche ich nicht aufzukreuzen, denn das wäre vergebliche Liebesmüh.

Also, wie komme ich an diesen Flakon? Lange muss ich nicht überlegen. Die Kundinnen werden weniger, und die Verkäuferinnen sind müde, das sehe ich ihnen an.

Na gut. Ich bin auch müde. Aber mein Plan lässt meinen Puls wieder auf Touren kommen. Allein deshalb kann und werde ich nicht auf dieses Fläschchen verzichten. Ich genieße diesen Kick. Viel dringender brauche ich jedoch das Geld, um nach Feierabend wieder unter Leute gehen zu können. Zu Hause herumzulungern, macht auf Dauer keinen Spaß. Schon gar nicht, wenn die Vermieterin ständig mit ihren langweiligen Gesprächen nervt.

Es ist soweit.

Niemand ist in der Parfümerie. Meine beiden Kolleginnen sitzen rauchend im hinteren Aufenthaltsraum. Jetzt muss es einfach nur noch schnell gehen.

Ich ziehe hastig meine Winterjacke über und marschiere los. Im Vorbeigehen greife ich den Flakon. Aus dem Augenwinkel erkenne ich einen großen, kräftigen Mann mit Glatze. Karl Renner, der Security-Chef.

Ich renne los, ohne mich umzudrehen. Renner ist gnadenlos, bekannt dafür, schon den Diebstahl von Artikeln unter einem Euro zur Anzeige zu bringen. Ich will gar nicht wissen, was er mit mir machen würde.

Verdammt, ich bin in die falsche Richtung gelaufen; der Ausgang liegt genau hinter mir. Zwischen Ausgang und mir läuft Karl Renner, der seinem Namen alle Ehre macht. Ich reiße die erstbeste Tür auf. Sie führt zur unteren Einkaufsebene. Gerade als ich auf die Treppe zulaufe, packt mich Renners Pranke und reißt mich herum.

»Hab ich dich, du Luder!«, schnalzt er. »Dich habe ich schon lange im Auge.«

»Ich bin kein Luder und per du sind wir auch nicht«, trotze ich, obwohl meine Situation äußerst beschissen ist.

Er reißt an meiner Jacke, grinst und flüstert in mein Ohr: »Du kannst mir den Flakon ruhig geben, ich weiß, dass du ihn eingesteckt hast. Du kommst jetzt mit. Das war dein letzter Coup. Endlich bist du mir ins Netz gegangen.«

Ich spüre seine Spucke an meinem Ohr. Angeekelt wehre ich mich gegen den großen, massigen Mann. Doch er ist viel stärker als ich. Immer noch bewegen wir uns auf die Treppe zu. Plötzlich zieht er mich fest an sich. Ich reiße mich los, komme ins Taumeln und krache so heftig gegen das Treppengeländer, dass mir der Beckenknochen schmerzt. Ich höre ein leises Klirren, doch darüber kann ich nicht nachdenken, denn Renner folgt mir und packt mich fest am Po. Ich kämpfe, um mich aus seinem Griff zu befreien, als er zähnebleckend meint: »Zier dich nicht so! Wer stiehlt, nimmt es mit der Moral nicht so genau.«

Immer heftiger versuche ich mich aus seinem Griff zu befreien. Irgendwie gelingt es ihm, seinen freien Arm um meine Brüste zu legen und zuzudrücken. Mir bleibt die Luft weg. Mittlerweile sind wir am oberen Treppenabsatz angekommen. Wie besessen strampele ich weiter. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlt sich Renner siegessicher und lockert den Griff. Panisch und mit aller Kraft reiße ich mich los, drehe mich um. Aus Angst, die Treppe hinunterzufallen, kralle ich mich an Renners Anzugjacke fest. Verzweifelt schließe ich die Augen. Ich will sein Gesicht nicht sehen, wenn er über mich herfällt und grinst. Doch der Druck lässt nach. Karl Renner stößt einen lauten, langgezogenen Schrei aus – begleitet von einem reißenden Geräusch. Ich schaue erschrocken auf und sehe, wie er die Treppe hinunterstürzt. Auf der untersten Stufe bleibt er liegen und starrt mich aus weit aufgerissenen Augen an. Er sagt nichts, bewegt sich nicht.

Meine Beine fühlen sich an wie Gummi. Ich schaue mich um. Ich bin allein. Wieder ein Blick auf Karl Renner. Der liegt unverändert da.

Soll ich nachsehen, ob es ihm gut geht?

Verschwinde so schnell wie möglich, sagt meine innere Stimme – und dieses Mal höre ich auf sie. Im Eilschritt steuere ich den Notausgang an. Erst jetzt merke ich, dass sich die Ausbeute dieses Tages im Futterstoff meiner Jacke verteilt hat. Der Flakon ist zerbrochen, und das Parfüm entfaltet seinen Duft in einem kaum zu ertragenden Ausmaß. Ich stinke wie ein orientalischer Harem.

Egal. Ich laufe weiter, öffne die Notausgangstür und lande direkt auf dem Parkplatz, auf dem mein Auto steht.

Mein Auto! Ein ausrangierter Leichenwagen, den mir meine Freundin mal überlassen hat. Mein ganzer Stolz! Annas Familie betreibt das Bestattungsunternehmen »Marquards letzte Reise«. Ich hatte Glück; als der Wagen für die Firma nicht mehr geeignet war, dachte meine Freundin sofort an mich. Genau zu der Zeit fiel meine alte Karre gerade auseinander.

Ich steige ein und schaue mich um. Niemand ist mir gefolgt. Trotz Kälte kurbele ich hastig die vorderen Fenster herunter, um den Gestank besser ertragen zu können. Dann öffne ich meine rechte Faust, die ich immer noch so fest verschließe, dass sich bereits ein Krampf in der Hand ankündigt.

Kann es noch schlimmer kommen? Es kann!

Darin liegt ein Knopf. Ich weiß, wessen Knopf das ist.

1

 

Ich betrete meine Wohnung und lege den vermaledeiten Knopf auf die Ablage, auf der sich so ziemlich alles sammelt, was ich nicht gebrauchen kann. Eigentlich müsste mich jetzt mein Hund mit lautem Bellen begrüßen. Doch was ist das? Käpt’n Ahab sieht mich und humpelt jaulend davon. Das Letzte, das ich sehe, ist das wippende Türchen der Katzenklappe, die ich extra für ihn in die Terrassentür eingebaut habe. Eine Hundeklappe wäre zu teuer gewesen, und bei Käpt’n Ahabs Größe reicht eine für Katzen allemal. Dann begreife ich. Meine Duftnote tut ihm in der Nase weh. Frustriert ziehe ich mich aus, fische die Glassplitter aus dem Futterstoff und stopfe das ganze miefige Zeug in die Waschmaschine. Als ich unter die Dusche gehe, fällt mein Blick in den Spiegel. Mein Herz setzt einen Schlag aus. Ich bin übersät mit Blutergüssen. Meine Oberarme sind voller blauer Flecke, auch meine Hüfte und die Oberschenkel. Sogar mein Po. Zum Glück ist Winter, da falle ich mit langärmeligen Klamotten nicht weiter auf. Den Rest sieht man zur kalten Jahreszeit sowieso nicht. Denn jetzt heißt es für mich, nicht aufzufallen. So was Doofes aber auch. Mein ganzes Leben besteht darin, ständig irgendwo anzuecken. Wie soll ich mir das ausgerechnet jetzt verkneifen können? Allein der Duft, der immer lästiger wird, ist schon verräterisch. Der muss verschwinden. Oder mit einem anderen Duft übertüncht werden. Ich stelle mich unter die Dusche und lasse das warme, mit stark duftendem Duschbad versetzte Wasser so lange über meinen Körper rieseln, bis ich mir sicher bin, nicht mehr nach Coco Chanel zu riechen. Ich spüre, wie meine Sorgen nach und nach verschwinden. Warmes Wasser über den geschundenen Körper laufen zu lassen, wirkt wie Balsam auf die Seele. Nachdem ich mich überwunden habe, die Dusche zu verlassen, wickele ich mich in meinen Morgenmantel und reiße sämtliche Fenster zur Rückseite des Hauses auf, damit der verräterische Duft aus der Wohnung abziehen kann. Ich werfe mich auf die Couch, wickele mich in tausend dicke Decken ein und hoffe, dass mein Hund wieder zurückkommt und sich auf mich legt.

Stattdessen klingelt es an der Tür.

Oh nein! Hat mich doch jemand gesehen? Kommen sie, um mich zu holen? Ich springe vom Sofa, suche die Jogginghose und das Sweatshirt, als ich ein Rufen hinter der Wohnungstür vernehme.

»Jenny! Ich weiß, dass du da bist.«

Meine Vermieterin Silvia Probst. Einerseits ist diese Frau eine echte Zumutung, andererseits gerade jetzt eine Erleichterung: keine Polizei, keine Verhaftung.

»Ich komme ja schon!« Ich ziehe noch schnell ein paar Socken an und eile zur Tür.

Silvia sieht mal wieder schrecklich aus. Ihre krausen, mausbraunen Haare stehen vom Kopf ab, als hätte sie einen Finger in die Steckdose gehalten, die grauen Augen sind weit aufgerissen.

Mit den Worten: »Hast du gerade die Nachrichten gehört?«, schiebt sie ihren massigen Körper in meine Wohnung. Sie setzt sich auf einen Sessel gegenüber der zer-wühlten ›Schlaflager-Couch‹.

»Meine Güte, warum hast du alle Fenster aufgerissen? Es ist saukalt und jemand könnte einsteigen, während du auf dem Sofa schläfst.« Sie springt auf, verschließt die Fenster und dreht die Heizung hoch.

»Was ist passiert?«, frage ich und unterdrücke meine Wut darüber, dass sie sich eigenmächtig an meinen Fenstern bedient.

»In der Europa-Galerie ist ein toter Mann gefunden worden. Du arbeitest doch da«, ruft sie so laut, dass es in meinen Ohren pfeift.

Aber was habe ich erwartet? Natürlich würde man ihn finden.

Silvia redet weiter. »Es ist der Chef der Security, sagen sie. Stell dir mal vor, die Kriminalpolizei ermittelt!«

»Warum ermitteln die denn?«, frage ich geschockt.

»Weil es nicht sicher ist, ob der Mann durch einen Unfall oder durch Gewalteinwirkung gestorben ist. Er wurde am Fuß einer Treppe gefunden.«

Ihr Gesicht ist leichenblass, obwohl sie in dieser Sache doch nichts zu befürchten hat. Aber so ist sie nun mal, und nur deshalb kann ich mir diese Wohnung leisten. Bestandteil des Mietvertrags ist nämlich, immer ein offenes Ohr für die Vermieterin zu haben, die seit dem Unfalltod ihres Mannes an einer allgemeinen Phobie leidet. Bei Vertragsabschluss hatte ich mir unter dieser Phobie etwas total Unkompliziertes vorgestellt – ein Klacks, den ich nebenbei bewältigen würde. Doch seit fünf Jahren bekomme ich jeden, auch nur den leisesten, Anflug von Angst oder Verzweiflung meiner Vermieterin bis ins Detail geschildert. Ich habe mich schon oft gefragt, wie es diese Frau schafft, in dieser gefährlichen Welt zu überleben. Und jetzt muss ich die Aufregung meines Gegenübers erdulden, die eigentlich meine sein sollte. Das ist nicht so einfach. Mit jedem Wort, das Silvia weiterplappert, werde ich kribbeliger, nervöser, aggressiver. Ich muss mich beherrschen, sie nicht rauszuwerfen. Das könnte nämlich zur Folge haben, dass sie mich rauswirft. Ein Leben im rückwärtigen Teil meines Leichenwagens habe ich schon hinter mir. Das war nicht meine beste Zeit. Also schweige ich und höre zu.

»Die Menschen sind doch alle Verbrecher«, lamentiert sie. »Gehst du morgen wieder arbeiten?«

»Was soll ich sonst machen? Ich habe keine Wahl, wenn ich Geld verdienen will – auch wenn es nur ein Hungerlohn ist.«

»Du bist so mutig!« Silvias graue Augen beginnen zu leuchten, dass mir angst und bange wird. »Deshalb bin ich so froh, dass du im Erdgeschoss wohnst. Ich würde mich das niemals trauen. Schon der Gedanke, dass jemand einfach so eine Fensterscheibe einschlagen und einsteigen könnte, lässt mir graue Haare wachsen.«

Die hast du auch so schon, denke ich brummig, frage aber beherrscht freundlich: »Wie kommst du jetzt darauf? Der tote Mann wurde doch im Einkaufszentrum gefunden.«

»Ach, weißt du, die Welt ist voller schlechter Menschen. Und wenn jetzt solche Gewalttaten schon ganz in unserer Nähe passieren, müssen wir doch damit rechnen, dass die Verbrecher unter uns leben.«

Sie wirft einen Blick auf die Fensterreihe, die zur Straße zeigt. Alle sind mit Lamellen verhängt, sodass ein Blick ins Innere unmöglich ist. Zum Glück bin ich heute Morgen nicht dazu gekommen, sie zu öffnen, sonst bekäme Silvia jetzt die nächste Panikattacke.

Das Erdgeschoss war für mich der ausschlaggebende Punkt, diese Wohnung trotz ihres Schönheitsfehlers zu nehmen. So kann mein Hund durch die Katzenklappe immer rein- und rauslaufen, während ich den ganzen Tag auf der Arbeit bin.

Den Einbau dieser kleinen Öffnung hat mir Silvia nur erlaubt, weil kein Mensch hindurchpasst.

Silvia steht schwerfällig vom Sessel auf und nähert sich dem Wohnzimmerfenster. Misstrauisch beobachte ich sie und höre, wie sie sagt: »Es wäre wirklich ganz einfach, wenn jemand die Absicht hätte, dich zu überfallen.«

»Wer sollte mich schon überfallen wollen?«, frage ich bemüht lässig. Ich habe ganz andere Sorgen und keine Gelegenheit, meine verworrenen Gedanken zu ordnen. Ständig kreist die Frage in meinem Kopf, wo ich einen Fehler gemacht haben könnte. Aber ich kann mich nicht konzentrieren.

Silvia schiebt die Lamellen auseinander, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Sie stößt einen spitzen Schrei aus und kreischt: »Da steht jemand!«

»Wo?«

»Direkt am Fenster!« Sie lässt die Lamellen fallen und eilt zur Wohnungstür.

Ich ahne, wen sie gerade gesehen hat, schaue aber trotzdem nach und finde meine Vermutung bestätigt. Mein mir ewig treuer Beobachter Tobias Winter geht mit schnellen Schritten auf die andere Straßenseite. Er hat wohl wie üblich gelauscht.

Die Tür schlägt zu. Ich bin wieder allein.

Gott sei Dank.

2

 

Ein Geräusch weckt mich. Und das schon vor dem Wecker. Genervt öffne ich die Augen und schalte das Licht ein, um der lästigen Ursache auf den Grund zu gehen.

Neben mir auf dem Bett steht Käpt’n Ahab und wedelt wie wild mit dem Schwanz. Zum Glück hat er noch beide Hinterbeine, sonst würde er umfallen. Vorne fehlt ihm das rechte Bein, darum auch sein Name.

Auch dreibeinig ist mein Käpt’n Ahab schnell wie der Blitz. Ich wundere mich ständig, dass er bei seinen gewagten Straßenüberquerungen noch kein weiteres Bein verloren hat. Jetzt steht er vor mir, als erwarte er ein Lob.

Ich schaue ihn an und sehe zu meinem Entsetzen, dass seine Pfoten voller Erde sind. Das Laken kann also wieder mal in die Wäsche. Vermutlich hat er Silvias Garten umgegraben. Ich weiß ja, wie gerne er seine Schätze vor mir versteckt.

»Na, wieder mal auf Entdeckungsreise gewesen?«, frage ich und quäle mich aus dem Bett. Mir tun sämtliche Knochen weh. Mühsam hinke ich unter die Dusche und hoffe, dass das warme Wasser den Schmerz vertreibt.

Erst als ich mich berieseln lasse, geht der Radiowecker los. Und das in einer Lautstärke, dass die ganze Nachbarschaft was davon hat.

Dabei bin ich mir sicher, dass die Rentner rechts und links neben mir keinesfalls um diese Uhrzeit geweckt werden wollen; und meine Vermieterin auch nicht. Silvia hat genug Geld für fünf weitere Leben, so viel hat ihr der verstorbene Gatte hinterlassen. Sie braucht nicht mehr arbeiten zu gehen.

Notgedrungen verlasse ich vorzeitig die angenehme Dusche, wickele mich in ein Badetuch, tapse mit meinen nassen Füßen ins Schlafzimmer und schalte das plärrende Radio aus. Käpt’n Ahab hat es sich inzwischen im noch warmen Bett bequem gemacht. Bei dem Anblick werde ich traurig. Warum muss ich immer so früh das kuschelige Bett verlassen? Jetzt mit Ahab herumzuknuddeln wäre tausendmal schöner als diesen Scheiß-Job in der Bäckerei zu machen.

Lustlos gehe ich zurück zur Dusche – nicht, ohne weitere Pfützen auf dem Boden zu hinterlassen. Aber das ist mir egal. Die können von alleine trocknen.

Ich föhne mir die Haare, bis ich so struppig aussehe wie mein Hund. Das gefällt mir. Meine kurzen, blonden Haare sind für diese Frisur wie geschaffen. Jetzt noch ein bisschen Gel drauf, und ich konkurriere in meiner Stacheligkeit mit Ahab – nur mit dem Unterschied, dass der Hund kein Gel braucht.

Als ich nach meiner Jacke greifen will und ins Leere fasse, erinnere ich mich, was damit passiert ist. Der Versuch, den Parfümduft herauszuwaschen, ist gestern erst nach dem fünften Waschgang gelungen. Jetzt hängt sie auf der Wäscheleine und trocknet, was noch eine lange Zeit dauern kann. Ich schaue auf das Thermometer: zwei Grad. Ein bisschen kalt ohne Jacke. Aber was soll ich machen?

Ich verlasse die Wohnung nur in Jeans und Pullover.

Die Kälte raubt mir den Atem. Zum Glück steht mein Auto direkt vor der Tür. Doch was ich sehe, stimmt mich auch nicht optimistisch. Ich habe gestern Abend wohl vergessen, die Scheiben zu schließen.

Plötzlich taucht Tobias vor mir auf. »Die wahren Optimisten sind nicht überzeugt, dass alles gut gehen wird, aber sie sind überzeugt, dass nicht alles schief gehen kann«, begrüßt er mich schwülstig zu dieser frühen Stunde. Seine gerade Haltung vermittelt dabei den Eindruck, er sei hochnäsig. Doch ich weiß es besser, auch wenn ich bis heute nicht dahintergekommen bin, warum er immer diese stramme Haltung annimmt.

»Was soll dein Gebrabbel?«

»Das ist kein Gebrabbel, meine Schöne, aber doch Ungebildete. Das ist Schiller. Bei diesen Temperaturen ohne Jacke herumzulaufen, lässt mich Schlimmes ahnen.«

Sofort wird mir heiß. Ahnt Tobias was? Weiß er was?

»Gib mir deine Jacke!«, fordere ich ihn ohne weiteren Kommentar auf und zerre so lange an ihm, bis er sie ausgezogen hat. Hastig schlüpfe ich hinein und fühle mich sofort besser. Mit schnellen Schritten steuere ich mein Auto an und steige ein.

»So war das aber nicht gedacht. Das ist meine Jacke.«

»Du kannst ja nach Hause gehen und dir eine andere anziehen. Ich habe nur eine und die hängt zum Trocknen im Bad.«

»Das ist Diebstahl!«

»Willst du mich anzeigen? Bevor du das tust, würde ich an deiner Stelle mal genau darüber nachdenken. Ich kann nämlich den Spieß umdrehen und dein Stalking vor meiner Tür melden. Das ist nämlich strafbar.«

Tobias streckt den Kopf durch die geöffnete Scheibe und flüstert: »Auch ich kann den Spieß umdrehen.« Dabei kommt er mir verdammt nahe.

Also doch. »Was willst du damit sagen?« Eigentlich will ich es nicht wissen. Aber jetzt ist die Frage raus.

»Ich weiß, was du gestern angestellt hast. Und das ist ebenfalls strafbar.« Er grinst. »Dann teilen wir uns eine Zelle, und ich schreibe meinen Liebesroman einfach nur ein bisschen um.«

Ich schwitze aus allen Poren. Der Kerl schleicht mir wirklich überall hin nach. Ich fühle mich verraten, durchleuchtet, verloren. Mir wird schwindelig. Aber ich lasse mir nichts anmerken. Im Gegenteil. Ganz cool starte ich den Motor und knurre ihn an: »Wenn du deinen Kopf nicht sofort aus meinem Fenster nimmst, schleife ich dich ein paar Kilometer mit.«

»Verdammtes Biest! Gib mir wenigstens meinen Geldbeutel und meine Schlüssel!«

Dem Wunsch komme ich noch nach und brause davon.

 

 

Der Weg vom Parkplatz zur Bäckerei fällt mir schwer. Mein rechtes Bein schmerzt noch immer von dem Zusammenprall mit dem übergewichtigen Karl Renner. Ich würde es gern entlasten, aber wenn ich hinke, falle ich auf. Also beiße ich die Zähne zusammen und sehe einen langen, grauenvollen Tag auf mich zukommen. Hinzu kommen die Zweifel, wen ich gestern alles übersehen haben könnte. Dass Tobias Zeuge geworden ist, passt mir gar nicht in den Kram. Damit hat er mich in der Hand. Ich muss etwas finden, womit ich seinen Trumpf überbieten kann. Sein ständiges Auflauern vor meiner Haustür wird da wohl nicht reichen.

Kaffeeduft hüllt mich ein, als ich die Galerie betrete. Blecherne Musik ertönt aus Lautsprechern, die man nirgends sieht. Die Schnulzen steigern angeblich die Kauflust der Leute. Zum Glück ist Weihnachten vorbei. Zu der Zeit war es kaum auszuhalten. Jetzt spielen sie alte deutsche Schlager, die ich spätestens nach einer Stunde nicht mehr wahrnehme.

Meine Kolleginnen sind schon alle da. Sie sind eigentlich jeden Tag vor mir da. Den Ehrgeiz, die Erste im Bäckerladen zu sein, habe ich nicht. Eigentlich noch nie gehabt. Auch heute sagen ihre Blicke mehr als tausend Worte. Uns trennen Welten. Unsere Zusammenarbeit basiert nur auf gegenseitiger Beherrschung. Deshalb halte ich mich lieber abseits auf. Die Nähe zu den Plappermäulern käme mir auch nicht zugute, sollte ich wieder einen neuen Coup planen. Doch davon werde ich in nächster Zeit wohl die Finger lassen müssen. Das rät mir die Anwesenheit der vielen Männer und Frauen, die ich aus den Augenwinkeln beobachte. Deren Unauffälligkeit schreit geradezu »Polizei«. Das Einkaufszentrum wird also unter die Lupe genommen. Es sieht nicht so aus, als sei der Fall als Unfall abgeschlossen.

Schlimmer hätte es nicht kommen können.

»Hast du mitgekriegt, was gestern passiert ist?«, kommentiert meine Kollegin Susi mein überraschtes Gesicht.

»Nein.«

Sie erzählt mir alles, was sie weiß. Und das ist nicht viel. Was mir dabei gehörig gegen den Strich geht, ist ihre Lobhudelei für Karl Renner. »Da haben wir endlich einen guten Mann, der den Dieben mal richtig auf die Finger klopft, schon bringt ihn jemand um.«

»Also war er nicht der richtige Mann«, kontere ich und gebe mir alle Mühe, so teilnahmslos wie möglich zu gucken. Ich will auf keinen Fall, dass dieser Kerl bemitleidet wird.

»Warum?«

»Sonst hätte er sich nicht umbringen lassen.«

Damit ist das Geplänkel beendet. Susi weiß nicht, was sie darauf entgegnen soll. Sie dreht sich mit einem verächtlichen Blick um und beginnt, die Theke abzuwischen.

Mein Blick schweift zur Parfümerie nebenan. Der Sockel auf der Glasvitrine ist leer. Ob sie einen neuen Flakon hinstellen? Gespannt behalte ich den Sockel im Auge. Doch kaum ist der Flakon aufgestellt, gesellen sich auch schon mehrere Frauen hinzu, die eindeutig keine Kundinnen sind. Sie benutzen die Flasche Coco Chanel also als Köder.

Wer ist so blöd und klaut dasselbe Teil zweimal? Ich will gerade verächtlich lachen, als mir die Antwort einfällt: ich! Denn mir ist die Beute futsch gegangen. Der ganze Stress war völlig umsonst. Doch wie die Dinge aussehen, werde ich in nächster Zeit kein Parfüm mehr mitgehen lassen können.

Frustriert bringe ich den arbeitsreichen Tag hinter mich.

 

Am Abend bin ich erleichtert, ohne neue Zwischenfälle nach Hause fahren zu können, und freue mich auf einen gemütlichen Feierabend mit meinem zotteligen Hund. Doch kaum in meiner Wohnung gelandet, sehe ich, dass Käpt’n Ahab nicht allein ist. Meine Oma sitzt neben ihm. Die beiden funkeln sich mit bösen Blicken an. Oma Käthe und Käpt’n Ahab können sich nicht leiden. Schon vom ersten Tag an. Ich setze mich zwischen die beiden und frage: »Was machst du denn hier?«

Käthe schaut auf und schimpft: »Was ist das denn für eine Begrüßung? Ich dachte, du freust dich, wenn du mich wiedersiehst.«

Das Feingefühl eines Trampeltiers. Kaum ausgesprochen, tun mir meine Worte leid. Mit ausgestreckten Armen gehe ich auf Oma zu und nehme die kleine, rundliche Frau mit aller Herzlichkeit in die Arme. Sie ist meine ganze Familie. Mehr ist nicht mehr übrig.

Da sollten wir zusammenhalten – vor allem, weil wir uns verdammt ähnlich sind. Ihre Wärme tut mir gut. Wir lassen uns aufs Sofa sinken, und ich spüre, dass ich sie am liebsten nicht mehr loslassen würde. Doch plötzlich fängt Ahab an zu kläffen wie ein Verrückter.

»Aus!«, schreie ich. Doch das interessiert ihn so wenig wie sonst auch. Auf meine Kommandos hat er noch nie gehört. Warum also gerade jetzt?

»Schaff diesen Flohpinscher aus der Wohnung«, kreischt meine Oma.

»Das ist kein Flohpinscher«, verteidige ich meinen Hund.

»Was denn sonst? Schau mich mal an. Ich bin voller Haare.«

Jetzt befinde ich mich in einer echten Zwickmühle. Ich kann Ahab nicht einfach vor die Tür setzen. Auch nicht für einen Abend. Dafür habe ich den struppigen, kleinen Dreibeiner viel zu gern. Also entscheide ich mich für einen Kompromiss und sperre ihn ins Schlafzimmer.

Endlich ist es ruhig im Wohnzimmer.

Oma öffnet eine Flasche Rotwein. »Der Wein schmeckt ganz besonders gut.«

»Wo hast du ihn geklaut?«

»Wie kommst du darauf, dass er gestohlen ist?«

»Weil du immer sagst, dass Diebesgut am besten schmeckt.«

Peinlich berührt rückt Oma ihren Rock zurecht. »Na ja. Der kleine Laden bei mir um die Ecke wird von einem Türken geführt.«

»Aha. Rassistisch?« Ich grinse.

»Blödsinn! Ich doch nicht.« Oma ist empört. »Aber dieser Kerl hat mir einfach Hausverbot erteilt, weil ich meine Zeitung mal anschreiben lassen wollte.«

»Der kennt dich eben besser, als gut für dich ist.«

»Jedenfalls bin ich nicht mit leeren Händen aus dem Laden gegangen.« Stolz hebt sie das Kinn, und ich muss lachen.

Wir stoßen an und probieren den Wein. Er schmeckt wirklich vorzüglich.

»Hattest du einen bestimmten Grund, heute zu kommen?« Ich gebe mir Mühe, meine Frage geschickter als eben zu stellen.

Oma steht auf und geht zu den mit Lamellen verhängten Fenstern. Sie schiebt den Sichtschutz zur Seite. Ich halte den Atem an. Hoffentlich steht Tobias nicht direkt davor und versetzt Käthe in Angst und Schrecken.

Aber nichts dergleichen passiert.

»Morgen früh habe ich einen Gerichtstermin im Landesgericht Saarbrücken. Um nicht den weiten Weg in der Frühe fahren zu müssen, dachte ich mir, ich schlafe einfach bei dir«, antwortet meine Oma mit Blick auf die Straße.

»Musst du als Zeugin aussagen?«

»Nein! Ich werde beschuldigt, Steuern hinterzogen zu haben.«

»Was hast du getan?«

»Stell dir mal vor. Ich habe lediglich Alkohol und Zigaretten aus Luxemburg rübergefahren. Dafür wird man heutzutage strafrechtlich verfolgt.«

»Kleine Sünden straft der liebe Gott sofort.«

Oma wirft mir einen bösen Blick zu. »Aber das tue ich doch nur für die, die selbst nicht rüberfahren können.«

»Um es ihnen zum doppelten Preis zu verkaufen.«

»Von irgendwas muss ich ja leben – und meinen Sprit bezahlen.«

»Es gibt Gesetze«, halte ich schwach dagegen. »Sie geben dir vor, wie viel du von dem Zeug über die Grenze bringen darfst.«

»Von Gesetzen musst du gerade sprechen.«

Stimmt. Damit hat sie recht. Also sage ich nichts mehr.

»Welche Strafe kann ich schlimmstenfalls bekommen?«

Ich pruste laut los: »Sie werden dich zu sozialer Tätigkeit verdonnern, denn Geld können sie von dir keins nehmen.«

»Sehr witzig«, brummt Oma.

»Ich stelle mir gerade vor, wie du in einer Pflegeeinrichtung hilfst. Da passt du hin wie der Fuchs in den Hühnerstall.«

»Du glaubst doch nicht, dass ich hilflose Leute bestehlen würde?«

»Nur die, die genug haben.«

Oma überlegt kurz und nickt. Wieder muss ich schallend lachen.

Dann gestehe ich Oma, in welche Lage ich mich manövriert habe. Meinen ständigen Beobachter erwähne ich allerdings nicht; das ist mir einfach zu peinlich.

Es wird ein langer Abend, bis wir beide schließlich müde ins Bett fallen. Als einzige Lösung fällt uns mein Einstieg in Omas Schmuggelgeschäft ein. Aber darüber will ich zuerst mal gründlich nachdenken. Sie ist deswegen bereits vorbestraft. Das würde mir gerade noch fehlen.

Aber das Denken fällt mir schwer. Geistig bin ich bei Käpt’n Ahab, der diese Nacht unfreiwillig auf dem Sofa nebenan verbringen muss.

3

 

Schon wieder wache ich vor dem Wecker auf. Dieses Mal höre ich meine Oma neben mir herumwursteln. Sie sitzt aufrecht im Bett und kratzt sich am Bein.

»Dein Flohpinscher hat Flöhe.«

»Hat er nicht. Es gibt Duschen, die halte ich für eine bessere Alternative als Kratzen«, gebe ich mürrisch zurück.

Geistesgegenwärtig schalte ich den Radiowecker aus, damit er nicht wieder genau dann losplärrt, wenn ich unter dem wohlig warmen Wasserstrahl stehe.

»Dein Hund ist schuld.«

»An Ahab kann es nicht liegen. Wir haben gestern Abend das Bett frisch bezogen. Da ist kein Haar von ihm dran. Und heute Nacht war er nicht hier.«

»Willst du damit sagen, dass ich ungepflegt bin?«, hakt Oma nach.

»Zum Beispiel!«

Sie wirft mir ein Kissen an den Kopf. Lachend lassen wir uns zurücksinken und sinnieren über das Für und Wider einer Dusche am frühen Morgen.

Als ich wieder aufwache, ist es hell.

Erschrocken fahre ich hoch. Der Wecker zeigt acht Uhr. Ich müsste schon längst im Bäckerladen stehen. »Scheiße! Jetzt habe ich verschlafen.« Ich springe aus dem Bett und gleichzeitig in die Hose. Der Länge nach knalle ich auf den Boden, genau auf den Bluterguss an der Hüfte. Der Schmerz ist so heftig, dass mir die Luft wegbleibt.

Erschrocken klettert meine Oma aus dem Bett. »Kindchen! Was ist mit dir?« Besorgt beugt sie sich zu mir runter.

Da hockt sie in Unterwäsche mit Hüfthalter – ein Anblick, bei dem ich trotz misslicher Lage lachen muss.

»Lachst du mich aus?«

»Käme mir nie in den Sinn.« Schon wieder pruste ich los.

»Brigitte Bardot sieht heute auch nicht mehr so aus wie früher«, hält Oma Käthe beleidigt dagegen und stolziert zum Bett zurück, neben dem sie ihre Kleider abgelegt hat.

Ich schaffe es endlich aufzustehen und mich fertig anzuziehen. Spontan beschließe ich, den Tag ohne Dusche zu beginnen. Ich verabschiede mich von Oma Käthe mit einer Umarmung und einem Kuss. Doch bevor ich aus dem Haus eile, rufe ich ihr zu: »Schick mir eine SMS, wie der Prozess ausgegangen ist!«

»Ach Kindchen! Ich rufe dich lieber an. Mit dem kleinen Ding kann ich so schlecht tippen.«

»Okay! Dann sprich mir auf die Mailbox, falls ich das Handy nicht in Reichweite haben sollte.«

»Geh schon, Kindchen!«

Ich schlage die Haustür hinter mir zu.

Niemand steht auf dem Bürgersteig. Erstaunt schaue ich mich um. Keine Spur von Tobias Winter. Als mein Blick an mir runterwandert, stelle ich fest, dass ich immer noch seine Jacke trage. Vielleicht hat er keine zweite.

Der Gedanke gefällt mir.

Ich steige in den Wagen und fahre los. Doch wenn der Tag schon so anfängt, geht er meistens auch so weiter. Ich finde keinen freien Parkplatz. Nur noch zahlungspflichtige, was mir bei meinem Hungerlohn nicht in den Kram passt. Die Parkplatzsuche zieht sich in die Länge und führt zu keinem Ergebnis. Wütend parke ich auf einem öffentlichen Platz zwischen zwei Kleinwagen. Als ich aussteige, bemerke ich überraschte und fragende Gesichter einiger Passanten. Ich will ihnen gerade die Zunge rausstrecken, als mir einfällt, dass ich mit einem Leichenwagen unterwegs bin. Also verhalte ich mich so unauffällig wie möglich und steuere meinen Arbeitsplatz an. Schon wieder überall Polizisten. Sie befragen Kunden und Mitarbeiter des Einkaufszentrums.

Ich strenge mich an, mein Hinken zu unterdrücken, und lege einen Zahn zu, um so schnell wie möglich hinter der Ladentheke zu verschwinden.

Doch wer steht vor dem Eingang der Bäckerei?

Ich brauche gar nicht genauer hinzusehen. Schon an der Statur kann ich ihn erkennen; niemand sonst hat so eine perfekte Haltung wie er: Tobias Winter – mein Stalker.

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Hat er mich angezeigt?

Vor Schreck vergesse ich, dass ich nicht hinken darf, und ziehe mein schmerzendes Bein nach. »Frau Jennifer Klein?« Eine männliche Stimme ganz nah an meinem rechten Ohr.

Schockstarr bleibe ich stehen und drehe mich langsam um. Dort steht ein großer Mann, deutlich größer als ich mit meinen einsfünfundsiebzig. Ich fühle mich klein und mickrig. Er schaut mich von oben herab an und grinst süffisant.

Rasch besinne ich mich, hebe die Schultern, um größer zu wirken, und frage: »Wer will das wissen?«

»Kriminalhauptkommissar Harald Dennerlein«, kommt es zurück. Er tippt sich an die hohe Stirn. Erst jetzt sehe ich, dass er schütteres, fast graues Haar hat. Alles an dem Typ sieht kalt aus. Ob das am Job liegt?

Ich nicke zaghaft.

»Sie kannten sicherlich Karl Renner?«

»Wer kennt den nicht?«, brumme ich.

»Dann wissen Sie auch, was hier im Einkaufszentrum passiert ist?«

»Wer weiß das nicht?«