Image

image

 

Bücher für Entdecker

Books on Demand bietet Autoren ein neues Verlagskonzept. Viele Debütanten, etablierte Autoren und engagierte Verleger nutzen den Publikationsservice von Books on Demand und bereichern den Buchmarkt mit interessanten und außergewöhnlichen Titeln. Vito von Eichborn, einer der innovativsten Buchmacher Deutschlands, wählt als Herausgeber für die Edition BoD herausragende Neuerscheinungen aus. Lesen Sie selbst, welche Entdeckungen das Programm von Books on Demand möglich macht.

Weitere Infos auch auf www.bod.de.

Jürgen Reimer, geb, 1933, war nach seinem Studium in Hamburg und Tübingen (Philosophie, Germanistik, Latein) als Gymnasiallehrer tätig. Mit seinem Debütroman „Der Ferienschreiber“ (1998) kamen erste Erfolge. Die Romane „Gruppenreise“ (2001) und „Jahre eines Unbehausten (2002) wurden in Jahresbibliografien des Max Kade Zentrums für deutschsprachige Gegenwartsliteratur der Washington Universität in St. Louis/USA, aufgenommen. 2003 erschien „Ein stiller Rebell“, 2005 ein Essayband über Thomas Mann, 2006 „Ein Abschied in Rom“. Vier Erzählungen folgten.

Jürgen Reimer lebt heute als freier Schriftsteller in Hamburg.

Vito von Eichborn war Journalist, dann Lektor im S. Fischer Verlag, bevor er 1980 den Eichborn Verlag gründete, dessen Programm noch heute ein breites Spektrum umfasst: Humor, Kochbücher und Ratgeber, Sachbücher aller Art, klassische und moderne Literatur sowie die Andere Bibliothek. Nach seinem Ausstieg im Jahre 1995 war er u.a. Geschäftsführer bei Rotbuch/Europäische Verlagsanstalt und sechs Jahre Verleger des Europa-Verlags. Seit 2005 ist Vito von Eichborn selbständig als Publizist tätig und fungiert u.a. seit März 2006 als Herausgeber der Edition BoD.

Meine Buchhändlerin sagte mir, »ja«, sagte sie …

Ja, die Erlebnisse eines kleinen Jungen in den letzten Kriegsjahren könnten reizvoll sein. Aber nicht, wenn das austauschbar ist mit den Fluten an privaten Kriegserinnerungen, die es allüberall schon gibt. Es muss irgendwie was Besonderes sein, was dieser Junge da erlebt. Ich staune immer wieder, wie viele Bücher zum Thema Nationalsozialismus verkauft werden, auch Novitäten. Und, was überzeugt an diesem Buch?“

„Zunächst mal“, fing ich vorsichtig an, „erlebt dieser Junge nicht viel Besonderes …“

„Was?“, fiel sie mir ins Wort, wie sie es gerne tut, „warum soll das jemand lesen? Auch Erinnerungen müssen spannend zu lesen sein. Es gibt doch schon so viele …“

„Aber nein“, unterbrach nun ich, „also bitte: Diesem Autor gelingt es, das Erleben vollkommen anders zu transportieren. Nach wie vor können Jüngere sich überhaupt nicht vorstellen, wie der Alltag aussah. Das Mitmenschliche droht längst hinter all den historischen Monstrositäten, hinter den unbegreiflichen Verbrechen in dieser Zeit zu verschwinden. Jürgen Reimer findet einen ungewöhnlichen Weg, wie es im Untertitel heißt, fast einen Roman zu schreiben und gleichzeitig dennoch Zeitzeuge zu bleiben.

Ich behaupte ja ohnehin: Bei aller Literatur geht es zunächst nicht um das Was, sondern um das Wie. Einen Sonnenuntergang neu zu beschreiben ist schwieriger als eine Prügelei im Krimi. Und das …“

„Genug bramarbasiert“, meinte sie frech, „also worum geht’s überhaupt?“

„Und das“, nahm ich den Faden wieder auf, „gelingt Reimer durch einen ganz besonderen Trick: indem er Schreiben und Leben ineinander verschränkt.

Der heutige Lehrer Wilnius reist in eine unbekannte Stadt. Er wohnt im Hotel, läuft durch die Straßen, sitzt auf Bänken und in Weinlokalen und denkt über seine depressiven Stimmungen und Ängste nach. Und er holt die Geschehnisse und tief sitzenden Bilder seiner Kindheit aus der Erinnerung, reflektiert sie und schreibt sie auf. Dabei greift er eben nicht in die Kriegs-Sensations-Kiste. Denn er berichtet mit dem Blick seines Alter Ego Robert von sich selbst als 10- bis 12-jährigem Jungen. So verlieren diese Erinnerungen das, was oft so peinlich daran ist: das zu Persönliche. Ich kenne endlose Manuskripte über das Erleben damals – die schlicht langweilig sind, weil das, was die Autoren loswerden wollen, nicht über das Private hinausgeht. Roberts Erzählungen sind oft lakonisch oder melancholisch – und werden durch dieses unprätentiöse Herangehen zu Literatur, eben zu einem Roman. Man beginnt schnell, sich für diesen Jungen zu interessieren.“

Der Gesichtsausdruck meiner Buchhändlerin hatte sich verändert. Nun schaute sie neugierig: „Und wo und was erlebt dieser Junge konkret?“

„Es gibt eine ferne Erinnerung an glückliche Ferien als Fünfjähriger 1938 an der Nordsee. Überwiegend berichtet uns Lehrer Wilnius vom 10- bis 12-jährigen Robert von etwa 1943 bis 1945 in Hamburg und Neumünster: von seinem Staunen an einem umwerfenden Abend im Varieté, von den Hitlerjungs und den Schikanen der Hordenführer, von der prügelnden Lehrerin und seiner Bewunderung für die Eisenbahn in Altona, von den Straßenkämpfen der Kinder und dem Fliegeralarm im Keller, von ersten erotischen Fantasien und wie der Vater zum Verhör abgeführt wurde, von Schulstunden, quälenden Lehrern und den Intrigen der Kinder untereinander, von Erbsensuppe und Kakaosuppe mittags und von Bomben am hellen Tag, von einer Hinrichtung wegen des Abhörens von Feindsendern und von einem erschossenen Häftling.

Vor allem aber schildert Wilnius die Ängste und Unsicherheiten, die Einsamkeit und Verletzlichkeit, Roberts Nicht-Begreifen und Nicht-verstehen-Wollen – und er spricht von sich selbst heute angesichts dieser eindringlichen Bemühungen, seine Erinnerungen zu bewältigen. Dies ist voller Emphase …“

Ich brach ab, denn meine Buchhändlerin hatte mir das Buch aus der Hand genommen. Sie las hier und da hinein mit dem typischen Diagonalblick der Vielleserin, murmelte „das ist ja richtig gut geschrieben … gar nicht kitschig, wär ja gefährlich … das vermittelt offensichtlich den kindlichen Alltag mal anders“ – da ging die Ladentür auf, und meine Buchhändlerin eilte von dannen, um die Kundin zu begrüßen.

Ich verspreche: Roberts Erlebnisse machen ohne den üblichen Zeigefinger vieles aus dieser Zeit buchstäblich begreifbar, und wir Leser mögen diesen hilflosen, einsamen, neugierigen Jungen.

Vito von Eichborn

Er schleppte sich unter Arkaden die Straße entlang. Der heiße Mittag lastete schwer auf den Steinen. Die Stadt schien wie ausgestorben. Kaum ein Passant, der ihm begegnete. Ein einziger Radfahrer. Es schien ihm, als sei er nur von glühenden Gebäuden umgeben, die langsam auf ihn zukamen, ihn einkreisen wollten. Wie konnte ich heute morgen spazierengehen, ohne an die Gefahr des Mittags zu denken? Er wußte, daß ihn immer, wenn die Sonne hoch am wolkenlosen Himmel stand, ein dunkles Gefühl überfiel, das ihm eine böse Macht schickte und dem er hilflos ausgeliefert war. Es kam ohne lange Ankündigung, heimtückisch. Und wenn er die ersten Anzeichen spürte, dann war es meistens zu spät, um sich noch wehren zu können. Er empfand jetzt einen ersten Anflug. Wenn er nicht aufpaßte, war er verloren. Die Krallen dieser Macht würden bald stärker zupacken, sein Inneres ergreifen. Wer von denjenigen, die nicht betroffen waren, konnte schon die Gefahr ermessen, die von diesem Strudel ausging, der alles, das Ich und die Welt und die Mitmenschen in einen Abgrund der Sinnlosigkeit riß.

Bei besonders schlimmen Anfällen spürte er oft eine Lust sich auszulöschen, die er zugleich liebte und haßte. Der Tod als möglicher Weg aus einer Qual. Einerseits fühlte er sich stark genug, um sich gegen diesen destruktiven Impuls zu behaupten, andererseits beruhigte das Wissen, daß es immer noch einen letzten Ausweg gab.

Als Wilnius die Tür öffnete, schlug ihm lautes Stimmengewirr entgegen. Einige Stufen führten in einen kleinen rechteckigen Raum hinab. An drei Seiten der Wände standen einfache Holzbänke mit Armlehnen, welche die Gäste zum Abstellen ihrer Weingläser benutzten. Die vierte Seite des Raumes öffnete sich zu einer Art Schanktisch, der in die Wand eingelassen war. Hinter ihm schenkte eine verblühte, mürrisch aussehende Frau aus Literflaschen Wein in einfache Gläser. Die Mitte des Raumes nahm ein großer ovaler Tisch ein, um den Männer und Frauen mittleren Alters in lautem, angeregtem Gespräch nebeneinander standen. Sie hatten fast alle ein Glas in der Hand und erinnerten dabei an eines der Kurmittelhäuser, in denen Personen mit einem Glas Wasser in Gruppen beieinanderstanden. Hier allerdings sprachen sie keinem Heilwasser, sondern dem Frankenwein zu.

Das den ganzen Raum erfüllende Geschnatter der Menschen, das sich für Wilnius wie eine Geräuschkulisse ausnahm, die aus einer Mixtur von fröhlichen, ernsten, kreischenden, lauten und hellen, dunklen und eindringlichen Stimmen bestand, wurde plötzlich durchbrochen. Es waren laute und schimpfende Töne, die aus einer Ecke der Wilnius gegenüberliegenden Bankseite kamen und im Unterschied zu dem allgemein eher harmlosen Gerede der meisten einen heftigen, fast pöbelhaften Charakter hatten. Die Stimme hob sich so deutlich von dem temperamentvollen, weinseligen, aber heiter-friedlichen Chor der anderen ab, daß die meisten verstummten und für einen Augenblick zu lauschen schienen. Es waren Töne, die deutlich aggressiver waren als die der anderen und den Eindruck des Peinlichen hervorriefen. Einige Personen, die um den mittleren Tisch mit dem Rücken zur anderen Bankreihe standen, wandten den Kopf. Ein Alter, mit kahlem Schädel und rotem Gesicht, ließ seine Wut an einer Frau aus, die neben ihm saß und seine Ehefrau zu sein schien. Wilnius sah, daß sie eine grüne, mit Stickereien verzierte Bluse trug. Ihre tizianrot gefärbten krausen Haare paßten nicht recht zu dem schmalen, faltigen, verhärmten Gesicht. Sie trug eine Sonnenbrille, unter der eine spitze gebogene Nase zum Vorschein kam. Während der Alte mit erhobener Stimme auf die Frau einschrie, saß sie eher still und eingeschüchtert in gekrümmter Haltung da. „Mach mich nicht an!“ pöbelte er durch den Raum. Und diese Worte standen so ganz im Gegensatz zu dem Verhalten der Frau. „Das interessiert doch keinen Menschen!“ schrie er weiter. Eine Pause entstand, die in die momentane Stille des Raumes fiel und etwas unheimlich wirkte. Neugierde hatte alle erfaßt, und auch der letzte Schwätzer sah jetzt angestrengt in die Richtung der beiden Alten, in der Hoffnung, etwas Sensationelles miterleben zu dürfen. Man sah deutlich, daß sich die Lippen der Frau bewegten und einige Worte der Erwiderung zu flüstern schienen. Dabei verzog sie keine Miene, so daß eine Regung aus ihrem Gesicht nicht zu entnehmen war. Auch konnte man nicht verstehen, was sie sagte. Es mußten Worte sein, die den Alten in eine noch größere Wut versetzten, denn er fuchtelte mit den Armen wild gestikulierend und seine Stimme überschlug sich fast: „Ich hau gleich auf den Tisch daß die Gläser tanzen!“ Das wirkte komisch; denn da er auf der Bank saß, stand ihm kein Tisch zur Verfügung, auf den er hätte schlagen können. Einige der Gäste lachten. Die Schankdame beugte sich aus ihrem Gehäuse über den Tresen und steckte ihren Kopf in den Raum. Der Alte schrie: „Ich will das nicht! Wer bin ich denn, daß du mich so behandelst?“

Wilnius’ Nachbar war mit einem vollen Glas vom Tresen zurückgekehrt und rief laut und deutlich zu den beiden hinüber: „Geht ins Bett und vertragt euch!“ Die meisten lachten. Die eine oder andere Frau verzog den Mund zu einem säuerlichen Lächeln. Dann setzte man die Gespräche in heiterer Laune fort. Wie wird das erst in den eigenen vier Wänden weitergehen, dachte Wilnius. Als schienen die beiden Alten dem Appell seines Nachbarn Folge leisten zu wollen, erhoben sie sich plötzlich von ihren Plätzen. Die Alte verzog immer noch keine Miene. Ihr Gesicht hatte einen resignierten, fast gleichgültigen Ausdruck. Aus seinen Zügen schien jedoch die Wut gewichen zu sein. Und als wollte er etwas wiedergutmachen, half er ihr fast liebevoll, eine leichte sommerliche Jacke über ihre Bluse zu ziehen. Wer die Szene beobachtete, wunderte sich über diese Geste, die so sehr im Gegensatz zu seiner Schimpftirade stand. Dann verließen sie den Raum, ohne sich noch einmal nach den anderen Gästen umzusehen.

Der Mann neben Wilnius leerte mit einem einzigen Zug die Hälfte seines Weinglases und stellte es dann neben sich zur Rechten auf die Banklehne. „Ich kenne den Mann“, sagte er in einem bedauernden Tonfall. „Er kommt oft hierher, allerdings allein, und ich habe mich schon ein paarmal mit ihm unterhalten.“ Wilnius gab sich geselliger. Die kleine Szene, die er eben beobachtet hatte, bewegte ihn. Von dem Nachbarn zu seiner Seite konnte er vielleicht etwas über die Hintergründe erfahren. „Warum hat er sich denn eben so aufgeführt?“ fragte er. „Ich weiß nicht, was ihn heute so erregt hat. Ich weiß nur, daß er mir erzählte, seine Frau sei ein Teufel. Neulich habe er einen Teller, einen gar nicht so wertvollen Teller zerbrochen. Er habe es bedauert und … Ich glaube, er sagte mir, er habe noch ‚Schade‘ gesagt, aber die Frau habe ihn nur böse angesehen und mit Liebesentzug gestraft.“ Der Mann drehte sich zur Seite, um das abgestellte Weinglas wieder in die Hand zu nehmen. „Liebesentzug“, wiederholte Wilnius verwundert und runzelte die Stirn. „Das klingt doch komisch, nicht wahr, wenn man das Alter der beiden in Betracht zieht! Aber er meinte es anders. Als ich ihn fragte, was er denn mit Liebesentzug meine, erzählte er mir, seine Frau würde wegen einer solchen Lappalie eine Woche lang nicht mit ihm sprechen. Stellen Sie sich das einmal vor: zwei Personen in einer Zweizimmerwohnung und reden eine Woche nicht miteinander, kein einziges Wort. Das heißt: sie verweigert ihm jedes Gespräch. Stumm geht die Alte also eine Woche lang durch das Zimmer und sieht an ihm vorbei. Der arme Mann versucht dann immer … er versucht, ein Gespräch wieder in Gang zu bringen, er bettelt fast. Nichts. Sie reagiert nicht, und das macht ihn rasend. Mich würde das auch rasend machen.“ „Ist sie vielleicht krank, psychisch krank?“ warf Wilnius ein. „Keineswegs, das ist es ja gerade. Die Fau ist gesund, vö1lig normal. Sie spricht während der Woche mit allen anderen Leuten und erzählt ihnen, wie schlecht und wie grausam sie von ihrem Mann behandelt würde. Aus reiner Boshaftigkeit will sie ihn quälen.“ „Das ist ja furchtbar“, murmelte Wilnius ohne Anteilnahme und setzte zum Schein eine gequälte Miene auf. Dann trank er den Rest seines Glases aus. „Ich kann verstehen, wenn der Alte durchdreht, ausflippt … wie hier heute, bei dieser Hö11e zu Hause“, sagte sein Nachbar. „Eine Hölle aus Eis“, ergänzte Wilnius. „Wenn ich mich mit ihm unterhalte, dann erzählt er mir jedesmal, wie einsam er sich zu Hause fühlt. Wissen Sie, die Rentner, aber auch Jüngere treffen sich hier. Sie kommen meistens ohne ihre Frauen, bleiben eine Stunde. Aber sie gehen von hier weg, wenn sie ihren Schoppen getrunken haben, nach Hause und werden dort empfangen und umsorgt. Der Alte, den wir eben erlebt haben, möchte hier immer so lange wie möglich bleiben. Einmal traf ich ihn hier allein, als alle anderen schon gegangen waren. Und da war er natürlich froh, daß ich noch reinkam.“ Er sah auf die Uhr. „Wie spät ist es eigentlich? Oh, schon so spät. Ich muß los. Wiedersehen. Sie sind nicht von hier?“ „Nein“, sagte Wilnius. Er sah dem Mann nach, der es eilig hatte und, bevor er die Stufen zur Tür hinaufging, noch einmal nach der einen oder anderen Person einen Gruß sandte, ohne daß dieser erwidert wurde.

Fast bedauerte er, daß der Mann so schnell das Lokal verlassen hatte. Er hätte sich gern noch eine Weile mit ihm unterhalten. Was er erzählt hatte, ging ihm durch den Kopf und er verspürte wieder die Lust, Gedanken, die sich daran knüpften, zu notieren. Er war allein, während alle anderen angeregt miteinander plauderten. In solcher Situation besann er sich des Mittels, das ihm schon oft geholfen hatte, aus der Not eine Tugend zu machen. Ich muß noch etwas schreiben, dachte er. Ich bin eben anders als die anderen, und das will ich auch bleiben, sagte er zu sich. Ich halte mich nicht für etwas Besonderes, das wäre dummer Hochmut, durch nichts zu begründen. Aber warum soll ich mich nicht zu meiner Schwäche bekennen? Warum soll ich nicht den scheuen Einzelgänger, der ich ja nun einmal bin, bejahen? Ich ertrage meinen Zustand besser, wenn ich schreibe, ihn durch Schreiben in eine mildere, weniger schmerzhafte Form zu bringen versuche. Mehr will ich doch nicht.

Am Nachmittag hatte Wilnius ein Gefühl, als gähne die Innenstadt. Viele Menschen hatten diesen Sonntag zu einem Ausflug in die nähere Umgebung genutzt. Kaum ein Auto fuhr. Der Marktplatz wirkte endlos; er erstreckte sich verlassen in einer schattenlosen Fläche. Vor den Fenstern der Geschäfte waren die Jalousien heruntergelassen, um die Auslagen vor der Sonneneinwirkung zu schützen. Aber die Sonne stand jetzt schon tiefer, und die Häuserzeilen einer Straßenseite warfen zu dieser Stunde längere Schatten auf den Gehweg, so daß Wilnius nicht mehr schutzlos der Hitze ausgeliefert war. Außerdem war ein leichter Wind aufgekommen, der von den Weinbergen in die Stadt herüberwehte und das Gehen erträglicher machte als noch zur Mittagszeit.

Wilnius war in gehobener Stimmung. Der Aufenthalt in der Weinstube hatte ihn belebt, und er freute sich auf den Abend. Er sah sich in seinem Weinlokal sitzen. Er stellte sich vor, wie schön es sein müßte, dort einen Gesprächspartner zu finden, mit dem man sich über den Zustand der Welt einigen könnte. Er ließ das Neumünster zur Linken und bog in die Domstraße ein. Vor einer italienischen Eisdiele saßen ein paar junge Menschen unter knallroten Sonnenschirmen. Stumm und gelangweilt löffelten sie ihr Eis aus langstieligen Gläsern. Jetzt rollte eine Straßenbahn knirschend hinter ihm heran. Die Räder gaben in einer Kurve ein Quietschgeräusch von sich, das in der sonntäglichen Stille besonders eindringlich hallte. Er überlegte, ob er mit ihr fahren sollte. Warum stieg er nicht einfach ein, um sich die Zeit bis zum Abend zu vertreiben? Er wußte, daß sie nach zwei Stationen den Fluß überqueren würde. Er könnte dort aussteigen, am Ufer spazierengehen und auf diese Weise die Steinfassaden der Stadt ein wenig hinter sich lassen.

Die Bahn hielt neben ihm. Aber dann sah er, daß sie fast leer war. Nur zwei Personen saßen verloren im ersten Wagen, der zweite Wagen war unbesetzt. Plötzlich packte ihn wieder die Angst bei der Vorstellung, allein in einer fast leeren Bahn durch die heißen, menschenleeren Straßen der Stadt zu fahren. Er wußte, daß ein Alleinsein, das nicht von anderen begleitet wurde, das er nicht in der Nähe anderer Menschen erlebte, ihm zur Qual werden konnte. Er hatte diesen Zustand oft erfahren müssen. Für einen Augenblick huschten vergangene Bilder an ihm vorbei, Bilder, die ihn schmerzlich an frühere Zustände des Alleinseins erinnerten. Er zögerte. Aber obwohl die Angst, wieder in einen derartigen Zustand zu geraten, in ihm hochkroch, war es zu spät. Etwas, das außerhalb seines Willens war, zog ihn unwiderstehlich in die Bahn hinein. Er wußte eigentlich nicht warum. War es dieses Fortbewegtwerden als solches, das er suchte? Aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Die Straßenbahn fuhr an, und die Eisdiele mit den wenigen jungen Menschen entschwand seinen Blicken. Er war wie benommen, saß ohne Fahrschein allein im Anhänger einer gelben Straßenbahn, die durch die menschenleere Innenstadt fuhr. Sollte er an der nächsten Haltestelle wieder aussteigen? Ihm war jedoch, als hätte er schwere Gewichte an den Beinen – oder hatte er sie im Kopf? – die ihn auf seinen Platz herunterdrückten. Das Rathaus erschien zu seiner Rechten, die Bahn hielt, keiner stieg zu, die Bahn fuhr nach kurzem Halt wieder an.

Er fuhr ohne Ziel. Zum Fluß hinunter, zur Brücke, den Häuserwänden entkommen, den Steinen, welche die Hitze ausstrahlten, die ihn in eine Angst versetzen könnte. Der Enge entfliehen. Ich werde am Ufer spazierengehen, sagte er sich. Aber eigentlich weiß ich nicht, was ich dort soll. Das Knirschen der Räder unter ihm steigerte seine Unsicherheit. Die Bahn bog in eine lange Geschäftsstraße ein, die vom Zentrum wegführte. Das quälende Gefühl, ohne Ziel zu sein, bohrte in ihm. Ich habe in meinem Leben noch nichts geschafft, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Was sollte er in dieser Stadt? Hätte er nicht besser in seiner Wohnung einen Roman beginnen können? Glas, Beton, bunte Auslagen zogen stumm, von Käufern verwaist, an ihm vorbei. Die eine Seite der Straße war in gleißendes Sonnenlicht getaucht, die andere lag ein wenig im Schatten. Jetzt mündete die Straße auf einen weiten Platz, auf dem die Bahn hielt. Die schweigenden Häuserfassaden, die ihn umstanden, wurden auch hier nur von einem Eiscafé unterbrochen, welches ein paar vereinzelte Gäste aufgesucht hatten. Sie verloren sich an kleinen runden Tischen unter einer bunten Markise.

Ein neuer Impuls trieb ihn zum plötzlichen Aussteigen. Er hätte sich zu den wenigen Gästen ins Café setzen können. Aber die lähmende Gegenkraft in ihm ließ ihn erneut zögern. Die Bahn setzte sich in Bewegung. Sie fuhr jetzt auf einem schnurgeraden Streckenabschnitt, der von dunklen hohen Bürohäusern zu beiden Seiten gesäumt wurde. Es schien ihm, als fahre sie besonders schnell, als habe sie es eilig, die Stadt hinter sich zu lassen. Die düsteren grauen Häuser flimmerten an den Scheiben vorbei.

Nach kurzer Zeit erreichte die Bahn den Fluß. Er sprang aus dem Anhänger, in dem er die ganze Zeit allein gesessen hatte und ging zu den Uferanlagen hinunter. Die Brücke, die sich vor ihm über den Fluß legte, war eine andere als die alte, die er wegen ihrer Figuren liebte, und die in ihren Fundamenten noch aus der Römerzeit stammte. Diese hier war breit und modern. Der Verkehr, der wochentags über sie hinwegging, war heute auf wenige Fahrzeuge reduziert und die Straßenbahn verlor sich fast auf ihr, als sie über sie hinwegfuhr.

Eine bedrückende Stille lag über der Gegend. Die gepflegten Rosenbeete in den Anlagen zu beiden Seiten der Promenade verströmten einen schweren Duft. Der Fluß lag träge vor ihm. Eine Reihe von Sitzbänken, die in gleichmäßigem Abstand zueinander standen, luden zum Verweilen ein. Bis auf eine einzige, die von einem schlafenden alten Mann belegt war, waren alle unbesetzt. Die heißen Nachmittagsstunden krochen dahin. Wilnius warf sich auf eine Bank und sah auf das jenseitige Ufer, das von hohen alten Bäumen bestanden war.

Er fürchtete gewisse Stimmungen und suchte sie doch zugleich. Er versuchte sie zu meiden, floh sie, glaubte aber, ihnen aus einem unerklärlichen Grund bisweilen nicht entgehen zu können und sie durchleiden zu müssen. War es nicht heute wieder genauso gewesen? Er wußte: Wenn dem Anfall nicht mehr zu entkommen war, dann konnte ein bewegungsloses Stillsitzen helfen und die „seelische Migräne“, wie er sie nannte, erträglicher machen. Bewegungslos verharren und warten, bis der kalte Griff sich lockerte und die Krise vorüber war. – Wenn ihm das gelang, dann konnte die Seele nach einer gewissen Zeit wieder zu atmen anfangen. Er vergaß immer wieder, daß es heiße Tage waren, die ihm Gefahr brachten. Seit dem frühen Morgen hatte er dieses depressive Element gespürt, das sich unmerklich aus einem lauernden Zustand windet, um sich seiner in einem bestimmten Augenblick zu bemächtigen. Eine Zeitlang hatte er noch zu fliehen vermocht. Die Probierstube hatte ihm für eine Weile Schutz gewährt. Im stillen aber wußte er, daß es nur ein Aufschub war, bis ihn dieser quälende Zustand einholen würde.

Er haßte den Mittag und auch noch den frühen Nachmittag unter südlicher Sonne. Er fürchtete den alles verschlingenden Feuerball, der durch Zufall einer kosmischen Konstellation auf paradoxe Weise Leben ermöglichte, obwohl doch eine grausame Lust am Zerstören eigentlich von ihm ausging. Dazu ein fast wolkenloser Himmel, der etwas Gewaltiges, zugleich unendlich Leeres, Kaltes und Beklemmendes hat. Ein hoher Himmel gab Wilnius das Gefühl, verlassen zu sein. Der Kern seiner depressiven Anfälle waren jedesmal Angst und Einsamkeit.

Auch heute war es nicht anders. Ihn packte an den heißen Tagen die Angst vor der Gleichgültigkeit kosmischer Gebilde gegenüber den Menschen. Wenn in seiner Kindheit andere von der „lieben Sonne“ sprachen, den guten alten Mond verklärten und beim Anblick der Gestirne sich geborgen fühlten, dann war es ihm verwehrt, an einen Gott zu glauben, der den Kosmos für den Menschen geschaffen hatte, um ihn auf diese Weise seiner Fürsorge und Liebe zu vergewissern. Wenn er von seinem Zimmer aus hin und wieder den Sternenhimmel beobachtete, dann schauderte ihn bei der Vorstellung, daß es hinter dem, was er sah, noch unendlich so weiterging. Vor allem war es das Wort ‚unendlich‘, das ihm Schmerzen bereitete. Kein Gedicht, wie etwa das von Matthias Claudius, das die Erwachsenen so gerne vorlasen, konnte ihm als Kind das Gefühl von Verlassensein nehmen. Doch wirkten Mond und Sterne im Vergleich zum grellen Licht der Sonne noch beruhigend. Trotz seiner behüteten Kindheit konnten seine Eltern nicht verhindern, daß ihm an bestimmten Sommertagen, wenn die Sonne hoch an einem blauen, wolkenlosen Himmel stand, ein Gefühl überkam, das sich am ehesten mit dem Gefühl vergleichen läßt, das ein Kind in einem dunklen Wald haben mag, in dem es ausgesetzt wurde und das sich dort ohne den Schutz eines erwachsenen Menschen wiederfindet.

Wilnius erinnert sich an den Tag, mit dem alles angefangen hatte. Er mochte acht oder neun Jahre alt gewesen sein; es mußte 1942 gewesen sein. Irgendwo draußen tobte der Krieg in seiner schlimmsten Phase. Es war noch die Zeit vor den Bombennächten. Er wußte nichts von Krieg und Tod. Es waren nur Worte, welche die Erwachsenen gebrauchten, unter denen er sich nichts vorstellen konnte.

Es war die Linie 2, mit der sie fuhren, um die Großeltern zu besuchen, die am Stadtrand einen Schrebergarten besaßen. Die Räder der Straßenbahn, die sie ans Ziel bringen sollte, ratterten und jaulten durch die gesamte City. Die Stadt brütete dumpf in der Sonntagnachmittagssonne eines heißen Sommertages vor sich hin. Über dem Häusermeer, den menschenleeren Straßen, den Plätzen, den Kaufhäusern mit den Puppen hinter riesigen Schaufenstern – über allem lastete der heiße Sonntag. Die Stadt schien wie ausgestorben. Nur das ächzende Geräusch des einen Wagens, der in den Gleisen knirschte, hallte drinnen wider.

Sie saßen mit wenigen Fahrgästen auf Holzbänken einander gegenüber. Die wenigen Personen in leichter, sommerlicher Kleidung wischten sich den Schweiß von der Stirn. Am Ende der einen Bank hatte sich der Schaffner niedergelassen, neben der kleinen Schiebetür, welche die Passagiere vom Fahrerstand trennte. Oft stand Robert vorn auf der Plattform neben dem Fahrer und bewunderte ihn, wenn er die Kurbel mit der Hand drehte oder ein kleines Seitenfenster öffnete, nach einer außen befestigten Stange griff, um eine Weiche zu stellen. Er liebte das Geräusch, wenn die Gleisteile der Weiche aneinanderstießen. Wie gern hätte er einmal an der Schnur gezogen, die auf der hinteren Plattform vom Dach des Wagens herunterhing und die der Schaffner zog, wenn er dem Fahrer vorn das Zeichen zum Weiterfahren übermitteln wollte. Welche Macht besaß doch der Schaffner, wenn er durch das Klingelzeichen den Augenblick zur Weiterfahrt bestimmte. Einen der Berufe dieser beiden Männer würde er später auch einmal gerne ausüben. Aber für welchen sollte man sich entscheiden?

Heute saß er mit seinen Eltern auf der Fahrgastbank und rührte sich nicht. Die Linie 2 hielt am Rathausplatz, dann knarrte sie die ansteigende, menschenleere Straße zum Hauptbahnhof empor, ließ diesen Koloß hinter sich, bog hinter dem Haus Schadendorf in eine breite Straße ein, die zum Berliner Tor führte. Die Bahn benötigte anderthalb Stunden auf ihrer Fahrt vom Stadtviertel, in dem Robert wohnte, durch die City bis zu dem Außenbezirk, in dem sich der Schrebergarten der Großeltern befand.

Robert hatte während der Fahrt eine nie gekannte Traurigkeit empfunden. Er konnte sich nicht erklären, woher sie kam. Er war ihr hilflos ausgeliefert. Dunkel empfand er, daß es diese eigenartige Stimmung, die mit der Hitze des Tages verbunden war, der zudem noch ein Sonntag war, gewesen sein mußte, die ihn so schwer bedrückte. Alles Leben schien um ihn herum geflohen zu sein. Die Panik eines allein Zurückgebliebenen erfaßte ihn. Wenn er später über diese Erfahrung nachdachte, die er damals zum erstenmal machte, dann fiel ihm bei einer Analyse immer nur das Schweigen ein, das von den sonntäglichen Fassaden der Geschäftshäuser aus Stahl und Glas ausging. Während dieses inneren Vorganges schien ihm, als seien seine Eltern innerlich von ihm abgerückt, ja als gäbe es keine Verbindung zu ihnen. Trotz ihrer Anwesenheit, ihrer körperlichen Nähe, fühlte er sich allein, entsetzlich allein. Plötzlich war ihm alles zuwider, was er noch die ganzen Jahre zuvor gemocht hatte: diese Sonntagnachmittagsfahrten zu den Großeltern, die schläfrigen, langen Nachmittage im Garten mit Kaffeetrinken, Apfelschnitten, den roten gezuckerten Johannisbeeren, die für ihn immer bereitstanden. Selbst der Nachbarjunge, der mit seinem Ball auf ihn wartete, war ihm gleichgültig. Ein Gefühl, als würde die Welt stillstehen, als gäbe es nie wieder ein Fortschreiten, ließ alles bis dahin Begehrte als nichtig erscheinen. Wann kommt endlich der Abend!? schrie es in ihm. Wann fahren wir zurück? Wann darf ich den Garten der Großeltern wieder verlassen? Ohne sich dessen zu dieser Zeit bewußt zu sein und erst später beim Versuch, diese inneren Vorgänge rückblickend zu analysieren, gelang es Wilnius, das zentrale Empfinden dieses Sonntags, das ihn als Kind bewegte, herauszufinden: Wann kommt endlich der Abend? Diese Frage lebte unausgesprochen in dem Neunjährigen und damit verbunden die Angst, es gäbe vielleicht nie wieder einen Abend mit seinen beruhigenden Schatten, keine bergende Abenddämmerung, keinen Schutz der Nacht.

Im Zeitraffer weniger Sekunden hatte Wilnius einen Tag seiner Kindheit erlebt. Das Ereignis dieses Sonntags hatte sich ihm so unauslöschlich eingeprägt, daß es ihm immer, wenn er seinen „Anfall“ hatte, durch den Kopf jagte. Rasch aufeinanderfolgende Bilder gruppierten sich zu einer Erlebnisinsel, an die sich in solchen Augenblicken seine Erinnerung klammerte. Dann half ihm das Bewußtsein, es bestehe eine Kontinuität zwischen dem Sonntag seiner Kindheit und dem Zustand, in dem er sich in seinem Leben gerade wieder befand. Und es lag ein gewisser Trost darin, zu wissen, daß es sein Selbst war, das auf dieser Welt litt, sein Eigenes, das er so mit keinem teilte, von dem auch keiner wissen konnte.

Es war dieser Anfall an einem Sonntag in seiner Kindheit, der ihn in Abständen bis in die Gegenwart des heutigen Tages immer wieder mit dieser unendlichen Traurigkeit überfiel. Das Wissen um diesen Anfall, der auf der Lauer lag, beherrschte ihn selbst dann, wenn er sich in einem gleichmütigen Zustand befand. Aber er sagte zu sich: Das bin doch ich, das ist doch wenigstens kein Produkt der Erziehung oder ängstlicher Anpassung an meine Umwelt. Das ist doch kein Empfinden, das ich anderen abgeguckt habe und nachmachen wollte, weil sie mir mit ihrem Tun imponieren und ich mich mit ihnen identifizieren wollte. Dieses Selbst fand ich ja in mir vor, ihm stand kein Muster zur Seite. Und vor allem: Es machte mich unglücklich, es legte sich wie ein Schatten über mein Lebensgefühl, das sich auch gern zu der Fröhlichkeit der anderen emporgeschwungen hätte.

Er lag schon lange wach und grübelte. Eine Zeitlang mußte er geschlafen haben, eine Stunde, vielleicht zwei. Dummes, hemmungsloses Lachen hallte von der Straße herauf. Es ärgerte ihn. Die helle Nacht ließ die Menschenstimmen enger zusammenrücken. Sie bekamen einen aufdringlichen, fast bedrohlichen Charakter. War es eine Weile still, begann das Lachen der Leute von neuem. Er zog die Decke über den Kopf.

Ob er früh schlafen ging oder, vom Wein berauscht, spät nach Mitternacht heimkehrte – er erwachte gegen Morgen aus bedrückenden Träumen auf, verschwitzt, mit schmerzhaftem Stechen im Kopf, vor allem an den Schläfen. Er hatte nicht die Kraft sich zu bewegen und war doch unbarmherzig wach.

An Einschlafen war wohl nicht mehr zu denken. Von draußen waren die ersten Vogellaute zu hören. Zuerst waren es einzelne, leise noch und zaghaft. Nach kurzer Zeit umgab ihn ein mehrstimmiger Chor. So war es immer. Gerade die ersten vorsichtigen Laute haßte er. Wieviele Nächte hatte er schon wachend verbracht. Meistens Sommernächte, die wieder einen warmen Tag verhießen. Wie oft hatte er gehofft, noch Schlaf zu finden. Völlig kaputt und übermüdet hatte er dann den Morgen erwartet, bis die Vögel zu zwitschern anfingen. Dann gab er die Hoffnung auf, hielt sich verzweifelt die Ohren zu.

Er würde keinen Schlaf mehr finden. Auch war es zu spät, um noch eine Tablette zu nehmen. Sie würde bis in die hellen Morgenstunden wirken. Das wollte er nicht. Es war besser, früher aufzustehen und kalt zu duschen. Trotzdem würde er sich den ganzen Tag schlapp und übernächtigt fühlen. Er drehte sich von einer Seite zur anderen, bis die Unruhe ihn veranlaßte, aus dem Bett zu springen. Er mußte sich nach stundenlangem Wachliegen ein wenig Bewegung verschaffen.

Im Hotel war es totenstill. Nicht einmal ein Schnarchen, über das man sich wenigstens hätte ärgern können, drang durch ein Nachbarzimmer zu ihm herüber. Diese Stille im Haus. Es schien, als wollten sich die Vögel draußen alle Mühe geben, die Hotelbewohner zu wecken: so sehr schwoll ihr Gesang an. Jetzt machte sich jemand im Nebenzimmer zu schaffen. Es wirkte fast beruhigend. Er ging ans Fenster und schob den Vorhang ein wenig beiseite. Der Morgen dämmerte, es war fast hell. Irgendwo in der Stadt schlug eine Kirchenuhr. Es waren helle, langsame Schläge, die von weither zu kommen schienen. Er zählte: vier Uhr. Den Himmel überzog ein zartes Rot. Die Straße unter ihm lag verlassen und menschenleer im hellen Morgenlicht. Er blickte auf die Dächer der anderen Straßenseite. Was mochte dort vor sich gehen? Ob alle noch schliefen? Oder gab es auch Menschen, die wie er nicht schlafen konnten? Er stöhnte, wandte sich vom Fenster ab, ließ die helle, frühe Stunde ins Zimmer strömen und legte sich wieder auf sein Bett. Er starrte an die Decke und überließ sich seinen Wachträumen.

Plötzlich sah er Tante Ida vor sich. Es war Sommer 1938. Es mußte im Sommer 1938 gewesen sein, denn die Händlerin hatte ihn gefragt: „Wie alt bist du, Robert?“ „Fünf“, hatte er stolz geantwortet. „Ich bin Tante Ida“, hatte sie gesagt und ihm ein Stück Schokolade gegeben. Ferien in einem norddeutschen Seebad. Auf seinem Bett liegend spürte Wilnius noch die Wärme eines sommerlichen Morgens, die alles wohltuend umgab, ein Gefühl stiller Geborgenheit vermittelte. Er dachte an Tante Ida und zugleich, daß er damals nichts wußte. Und wie es heute wieder eine Tante Ida gibt und gestern gab und morgen geben wird, die einen kleinen Laden unterhält, in den frühmorgens die Sonne scheint, die einem Fünfjährigen freundlich ein Stück Schokolade zusteckt, während der Vater die Berliner Illustrierte kauft und sich eine Zigarre anzündet – so wissen alle diese Fünfjährigen nicht, daß sie in einem kleinen, künstlich umzäunten Paradies leben, das seine trügerische Idylle nur der Tatsache verdankt, daß man nichts weiß. Sie, die Fünfjährigen, wissen nichts und die Väter auch nicht. Die bevorzugten Fünfjährigen müssen glauben, die ganze Welt sei eine einzige Idylle. Aber gleich hinter dem Paradies, das die Unschuldigen für endlos, total halten, beginnt das Grauen, von dem sie nichts ahnen. Auch der nicht mehr Unschuldige wähnt sich in einer Art Paradies, einem zwar nicht totalen, aber doch für eine Zeitlang vorhandenen, wenn er das Grauen vergißt, seinen kleinen Sohn auf dem Rücken über die Sandbank ans Wasser zum Meer schleppt und sich für glücklich hält.