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SABINE SCHOLL

O.

ROMAN

Gefördert durch das Bundeskanzleramt Wien
und die Foundation Obras Portugal

Erste Auflage

© 2020 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Alexander Weidel, Christian Ruzicska

Korrektorat: Peter Natter

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:

Erik Spiekermann und Marco Stölk, Berlin

ISBN 978-3-966390-22-4

eISBN 978-3-966390-23-1

Wir waren keine Propheten und keine Götter
und keine Fische, wir ertranken!

O Meer, bring uns zurück, was du uns nahmst.

LINA ATTFAH

Entweder man hofft – oder man macht was.

CAROLA RACKETE

Inhalt

PARADIESISCH

JENSEITS DER MAUER

SO VIEL RAUSCH

DAS MEERESBRÜLLEN

DAS LACHEN DER SÖHNE

GEFORMTE BRAUEN

DIE BERGUNGSARBEIT

WIEDER VEREINT

GESCHÄFTE MIT DER NOT

EINE VERLOCKENDE HÖHLE

UNTERIRDISCHE GENÜSSE

DIE BLENDUNG

METALL UND DÄRME

WINDINSEL

VERFÜHRT!

DIE SPRACHE DER WALE

ROTE MÜTZEN

DIE VERGESSENEN

VIEL ZU SCHÖN

BLUTIGE RÖHREN

DIE UNGEHÖRTEN

GESTRAFT

DAS ALLERSCHRECKLICHSTE

DIE GELÖSCHTE ZEIT

WUNDERLICHE MUSIK

TABU

PHILOSOPHIE DER INSEL

ANKUNFT I

ANKUNFT II

ANKUNFT III

INSPIRATIONEN UND ANREGUNGEN

DANKE

PARADIESISCH

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O. keuchte. Die Bluse klebte ihr an der Haut. Als sie den Olivenbaum erreichte, auf dessen waagrecht gewachsenen Ast sie noch vor einer Stunde geruht und von dem sie hinunter aufs weinrote Meer geblickt hatte, wurde ihr klar, dass sie im Kreis gegangen war. Sie musste etwas ändern, wollte sie weiterkommen. Die Wasserfläche in der Ferne schimmerte nun nicht mehr verlockend. Die borstigen, kurzbeinigen Ziegen, die von den Büschen Blätter fraßen, waren O. inzwischen egal. Sie wischte sich über die Stirn. Obwohl die Sonne bereits tief über dem Horizont stand, war es immer noch heiß. Sie drehte ihre blauen Strähnen hoch und klemmte sie mit einer Spange zusammen. Dann fiel ihr eine Öffnung im Felsen auf, wo ein grüner Zweig wuchs. Die einzige Pflanze weit und breit, die nicht verdorrt und vom Staub graublau geworden war, sondern grün leuchtete.

O. trat näher heran und untersuchte den dunklen Spalt, der die Größe eines menschlichen Körpers aufwies. Neugierig geworden, wollte sie das Innere der Höhle erkunden. Doch als sie sich vorsichtig hineinbeugte, flog ein Fliegenschwarm auf und ihr direkt ins Gesicht. Sie wich zurück. War der Spalt nichts weiter als ein Abort? Und deshalb die Fliegen? Dann aber wehte zitronige Kühle aus dem Dunkel und lockte ihren erhitzten Körper, machte ihr den Mund wässrig. Sie ging ein paar Schritte voran. Der Duft wurde intensiver. O. setzte ihre Stirnlampe auf, tastete sich vor. Feuchte Wände, leichte Rinnsale, Moder und Moos. Um ihre Angst zu bändigen und zu erfahren, wie tief der Raum sein mochte, begann O. zu singen, ein Kinderlied. Ein Vogel wollte Hochzeit machen in dem grünen Wa-halde … Sie ging weiter und erreichte bald schon eine Krümmung des unterirdischen Gangs, an dessen Ende ein schmaler Streifen Helligkeit aufleuchtete. O. erhöhte das Tempo und trat bald schon auf eine mit grünblättrigen Bäumen und Koniferen bewachsene Lichtung. Pappelweiden, Erlen, duftende Zypressen. Vögel zwitscherten, flogen von ihren Nestern auf, Häher und Möwen suchten nach Futter. Der Felswand entlang rankten sich mit Trauben behangene Weinstöcke. Vier Quellen entsprangen dem Stein. Sie befüllte die Trinkflasche, setzte sich in den Schatten. Ein sanfter Wind wehte. O. zog die Stiefel ab. Genoss die Ruhe. Keine Verstärker, kein Grölen. Beschloss hier zu übernachten. Falls ein Gewitter käme, könnte sie in die Höhle übersiedeln. Sie streckte sich aus. Das Gras war weich, die Hitze ließ langsam nach. Sie döste.

Ein Kitzeln an ihrer Wange und helles Geklimper dünner, goldener Armreifen weckten sie auf. Durch ihre halb geöffneten Lider erkannte sie eine großgewachsene, blonde Gestalt, dunkeläugig, mit schönem Gesicht und zu Zöpfen geflochtenen Locken, die vor ihr kniete und sie fragte: »Wer bist du?«

O. fuhr hoch, noch benommen.

»Ich bin O. Ist das dein Schlafplatz? Ich wusste ja nicht …«

»Ich bin Calypos. Alles hier gehört mir, und du bist nicht eingeladen. Ich muss dich fortschicken. Aber …«, die Reifen an den schmalen Handgelenken klimperten, »… du gefällst mir. Hast du Hunger? Durst?«

O. nickte.

Calypos nahm sie an der Hand, führte sie zu einer Decke, auf der ein Mahl aus Früchten, Fladen, weißem, salzigem Käse und schwarzen Oliven bereitet lag.

»Wie kamst du hierher?«

Calypos strich neugierig mit ihren Fingern über die Innenfläche von O.s Hand, als sollte so die Karte ihrer Wege entziffert werden.

»Eigentlich habe ich mich verirrt. Ich wollte fort von dem Lärm dort unten. Bin schon so lange unterwegs, habe mehrere Inseln hinter mir. Ich bin Musikerin. Mein Instrument ist die Flöte.«

Calypos klatschte erfreut in die Hände. »Wie schön! Du wirst für mich spielen!«

O. nickte, während sie Oliven und Käse aß. Calypos lagerte neben ihr, reichte ihr einen Becher Granatapfelsaft.

»Wie gut, dass du mich gefunden hast! Die Vögel hatten mir bereits gezwitschert, eine Frau werde in mein Reich dringen und mein Dasein verändern. Komm, spiel mir was vor!«

»Später. Ich muss noch essen. Aber ich mache auch Aufnahmen. Von Menschen, denen ich begegne, von Tieren, vom Meer und von meiner Flöte. Hör mal!«

O. entnahm ihrem kleinen wasserdichten Beutel das Telefon und tippte auf dem Bildschirm herum.

»Das ist ein Lied, das mich seit meiner Kindheit begleitet.«

O. begann zu summen, während eine feine Stimme aus dem Gerät erklang.

Wenn der Morgen kommt,

Und der Himmel ist klar,

Hebe ich meinen schweren Kopf,

Weil die Sonne brennt,

Und mein Schweiß tropft in die Erde.

Ich sehe eine Frau auf Knien

Das Zuckerrohr schneiden.

Ich sehe einen Mann am Strand,

Der wirft die Netze aus.

O. schluckte den letzten Bissen hinunter, griff nach ihrer Flöte und spielte die Melodie, versuchte den Wind nachzuahmen mit ihrem Luftstrom. Calypos, angeregt davon, griff nach einem Bambusrohr und blies hinein. Gemeinsam bildeten sie eine Wolke aus Klang. Calypos atmete durchs Röhricht, ein, aus, ein, aus. O. hauchte ins Holzinstrument, erzeugte Töne in voneinander abgesetzten Stößen. Zusammen variierten und tremolierten sie, vergaßen darüber die Zeit und fielen irgendwann lachend ins Gras. Durstig lief O. zur Quelle, ließ sich frisches Wasser in die Kehle und übers Kinn rinnen, tauchte das Gesicht in den Strahl. Calypos reichte der Besucherin Trauben, deren Reben so dicht bewachsen waren, dass man die Früchte kaum einzeln abpflücken konnte. O. biss einfach hinein in die Dolde, der Saft schoss heraus und befleckte die weißen Tücher, die sie um ihre Körper geschlungen trugen. Sie lachten. Sie warfen sich ins Gras. Sie lauschten den Rufen der Vögel: fein aufeinander abgestimmte, kurze, gurgelnde Rufe, in Reihe gezwitschert, und rasch aufeinanderfolgendes Piepsen. Dazu ein schnelles Auf und Ab von Pfeiftönen, die sich drei-, viermal wiederholten. Dazwischen Tschilpen, melodiöse dreitönige Phrasen. Ein Stakkato aus einer anderen Kehle hielt dagegen. Das Brummen von Insekten in unmittelbarer Nähe ließ O. schläfrig werden. Von Weitem vernahm sie das Getöse lang gezogener Wellen, die gegen die felsigen Ufer der Insel schlugen.

Entzückt von der ihr gebotenen Gastlichkeit verschob O. die Weiterreise. Calypos lud sie ein, zu bleiben, so lang, wie es ihr gefiel.

Es vergingen Wochen.

Längst waren Kleidung und Stiefel beiseite geräumt. Manchmal jedoch, spätabends, nachdem sie dunklen Wein getrunken hatten, direkt vom Bauern in Korbflaschen geliefert – der beste Wein dieser Insel, hatte Calypos beteuert –, vermeinte O., hinter den Zedern und dem dichten Gebüsch voller Zikaden Schatten zu bemerken. Wurden sie beobachtet?

»Wer ist das?«

»Paranoia!«, scherzte Calypos, und ordnete sich die sonnenhellen Locken. »Du bist immer noch geschädigt von all den Typen, die du auf deinen Fahrten getroffen hast. Komm, trinken wir was! Und berichte mir von Abenteuern!«

»Was magst du lieber? Wenn ich musiziere oder erzähle?«

»Beides gleich gern«, schmeichelte Calypos. »Ich bin glücklich, dich hier zu haben.«

O. ließ ihre Zunge in Calypos’ süßen Mund gleiten, sie schmeckte das Echo von Wein und Trauben, sie glitt über glatte Zähne.

»Nie war es schöner als mit dir«, flüsterte sie. »Wenn ich an all die Männer denke, mit denen ich auf Reisen geschlafen habe – manchmal habe ich es gar nicht gewollt, aber es hatte sich ergeben, weil wir im selben Zimmer übernachteten, um Geld zu sparen, oder nachts einen Spaziergang machten. Auch wenn ich sie nicht wirklich begehrte, habe ich es getan. Berührungen, ein warm atmender Körper neben mir im Bett. Ich lud mich auf.«

»Hat es dir denn gefallen?«

»Manchmal ja, manchmal war es nur praktisch, manchmal auch willkommen, manchmal einerlei. Ich wusste, es wäre anstrengender gewesen, Nein zu sagen. Und ich genoss es, begehrt zu sein.«

Calypos strich O. über die Arme, bis hinunter zu den Fingern, verhakte die eigenen darin, seufzte schließlich.

»Manchmal denke ich, die Götter neiden mir mein Glück. Sie sind eifersüchtig und grausam. Aber was habe ich sonst schon außer der Liebe! Ich bin nie woanders gewesen. Das ist der Nachteil des Paradieses. Ich muss bleiben und werde höchstens von Zeit zu Zeit besucht. Und es gibt ja auch keinen Grund, sich von hier zu entfernen, nicht wahr?«

»Hier ist alles vollkommen.«

Am Himmel erschienen die ersten Sterne.

O. zeichnete mit ihrem Finger Linien zwischen den Himmelskörpern und hörte Calypos’ Atem neben sich, ein deutlich vernehmbares aber sanftes Schnarchen. Sie verlor sich im fetten Lila des Himmels, an dem der schiefstehende Mond prangte. Dann meinte O. ein Husten zu hören. Ein Flüstern jenseits der Steinmauer, die Calypos’ Reich begrenzte. Sie summte, um Schatten und Schrecken zu vertreiben.

Leise glitt sie von der Bettstelle, um Calypos’ Schlaf nicht zu unterbrechen und schlich durchs feuchte Gras hin zu den Bäumen, wo sie die Zuhörer vermutet hatte. Sie kletterte über die Mauer. Der Mond ließ die unebenen Steine eines Wegs aufleuchten, der um den Berg führte. Kiesel drückten sich gegen ihre Fußsohlen, Stacheln zerkratzten ihr die Knöchel. Doch wie von unsichtbarer Schnur gezogen, ging sie weiter. Das verzerrte Spiegelbild des Mondes lag auf der Oberfläche des Meeres. Plötzlich erblickte sie eine Ansammlung menschlicher Silhouetten, die an ihren hochgestreckten Armen kleine Leuchtkörper in Richtung des Mondes hielten. Sie standen mit dem Rücken zu O. Sie trat lautlos näher und erkannte, dass die Lichter von den Bildschirmen kleiner Telefone stammten, mit denen die Menschen dort nach Signalen suchten. Sie schwiegen. Seufzten schließlich und steckten die Geräte wieder ein. Begannen zu murmeln.

O. machte, dass sie davonkam, ohne bemerkt zu werden. Sie kletterte zurück auf die taufeuchte Wiese, zog sich Stacheln aus der schmerzenden Sohle, versiegelte die Wunden mit Spucke, bevor sie sich aufs Lager begab und an Calypos schlafwarmen Körper schmiegte.

»Weißt du, wer diese Leute außerhalb der Umfriedung sind?«, fragte sie am nächsten Morgen.

»Von wem sprichst du?«

»Ich habe Schatten gesehen, neulich am Abend, während wir uns erzählten. Können sie unsere Sprache verstehen?«

»Wozu willst du das wissen? Hast du mir nicht berichtet, wie froh du bist, hier angekommen zu sein? Denk nicht über unser Reich hinaus! Sobald du es verlässt, wird es dir wieder schlecht ergehen. Bleib hier, mit mir, und sei unsterblich!“

»Ja, schon. Nur …«

»Wir haben es hier schön. Und die Fremden werden nicht wagen, in mein Paradies einzudringen. Ein Zauber schützt dessen Grenzen. Kein Eindringling nähert sich ungestraft. Sie gehören nicht hierher. Und wollen ohnehin übers Meer. Nichts als Weiterreisen liegt in ihrem Sinn. Sie warten auf ein Boot. Wir bleiben und müssen uns nicht ändern. Wir haben es hier schön.“

Calypos umarmte O., schmiegte das Gesicht an deren Schulter. Calypos Haut duftete, und der Duft machte O. schläfrig. Sie schloss die Augen.

Als sie erwachte, war sie noch bedeckt vom Staub ihres morgendlichen Ausflugs. Calypos geleitete sie zur Quelle, tauchte ein Tuch hinein, rieb damit über ihren nackten Körper, schüttete ihr Wasser übers Haar, säuberte die dunklen Strähnen. Trocknete sie, brachte ein leichtes, seidenes Tuch und drapierte es.

»Du kannst alles von mir haben, Liebste! Sag, was du willst, und ich werde deine Wünsche erfüllen!«

O. verstand.

Calypos hatte immer schon hier gelebt und kannte nichts Anderes als diesen paradiesischen Ort. Sie genoss ihre Gesellschaft, weil O. Dinge gesehen hatte, von denen Calypos nicht einmal träumen konnte, ohne aber je zu verstehen, warum man sich überhaupt freiwillig entfernen sollte. Es reichte Calypos, den Geschichten von O. zu lauschen und sich darüber zu gruseln, wie schlimm es anderswo zuging. Und Tag für Tag überredete Calypos den Gast erneut, doch länger zu bleiben und von der Ferne, die sie durchschritten hatte, zu berichten.

Doch nicht ungestraft. Das Erzählen weckte Erinnerungen in O. und ihr Verlangen, sich fortzubewegen. Sie konnte die Versammlung menschlicher Silhouetten draußen nicht vergessen.

»Wer kommt sonst noch vorbei, dich zu besuchen?«, fragte O.

»Meist Seemänner, die Probleme mit ihren Booten haben und sie auf meiner Insel reparieren. Sie steigen den Berg hoch auf der Suche nach quellfrischem Wasser und landen bei mir. Sie bewundern mich wegen meiner grünen Wiese und meinem Haar in der Farbe der Sonne. Das sind sie nicht gewohnt. Ich bin das Besondere. Und überall erzählen sie später davon. So wurde ich berühmt. Je weiter sie von mir wegfahren und je mehr Zeit vergeht, desto aufregender wird die Erzählung, desto wilder die Abenteuer, die sie mit mir erlebten. Aber …«, Calypos gähnte bereits, »… egal. Bitte spiel mir die Flöte!«

O. stieß ihren Atem in das Holz, während ihre Finger Töne fanden. Das Instrument wurde im Spiel warm, O.s Zunge leckte an der flachen Spalte, ihr Mund saugte sich an der Rundung des Flötenkopfes fest. Das Instrument war ihr vertrauter als ein Mensch, weil es einen Raum schuf, in dem sie aufging. Klang drang in sie ein, Atem formte die Musik. Bereits als kleines Mädchen leuchtete ihr ein, dass das Musizieren eine höhere Form des Lebens war.

Am frühen Morgen des nächsten Tages erhob sich O., als Calypos noch schlief, und stieg in ihre Stiefel, packte ihr Aufnahmegerät und ein paar Kekse ein, wollte Genaueres wissen und folgte noch einmal dem Pfad herum um den Berg. Im Gestrüpp verfangene Fetzen von Plastik, vergilbte Tüten und vom Wind zerrissene Folien in den Ästen, lose Seiten Zeitungspapier, von der Einwirkung der Sonne längst verblasst, leere Plastikflaschen in allen Größen, ausgebleichte Papierbandagen, Kanister in verschossenen Farben bildeten eine Fährte, der sie folgte. O. trampelte den Weg fest, knickte Zweige ein, sprang von Fels zu Fels, die Anhöhe hinunter. Möwen kreisten über ihrem Kopf. Ein Geruch von Thymian, Salz und Kot lag in der Luft. Und etwas Anderes, Vertrautes wehte heran. O. spürte dem Hauch nach. Suppenwürfel? Sie hatte nichts gegessen, bevor sie aufgebrochen war. Mit der Stiefelspitze kickte sie gegen eine Wasserflasche, die daraufhin den Hang hinunterkollerte, auf weggeworfene Becher und Trinkhalme traf, auf Kartons, zerdrückte Getränkedosen, Milchpackungen, alte Batterien, zerschnittene Gummistiefel. Dann horchte O. auf. Ein leises Singen drang zu ihr. Sie war sich plötzlich unsicher, ob sie weitergehen sollte. Hockte sich in den Schatten eines vorspringenden Felsens, lauschte dem Gesang, aktivierte ihr Aufnahmegerät.

Was weißt du denn schon über Tschebou Djen,

Yassa, Tcheray und Maafay, meine Lieblingsspeisen?

Was weißt du denn schon über Felsen schmeißende Nigga

Im Kampf gegen die Militärs, die in mein Viertel schwirren?

Was weißt du denn schon über die Kinder mit

Maschinengewehren, die jede Minute den Krieg erwarten?

Was weißt du denn schon?

Was weißt du denn schon über den heiligen Ort,

Was weißt du denn schon, wie wir hierherkamen,

Um Geld zu verdienen und es nachhause zu schicken?

Dann ein unerwartetes Geräusch. Jemand hustete. Eine junge Frau in hautengen, an den Knien eingerissene Jeans und einer Jacke in Tarnfarben sprang von der Felsnase, O. direkt vor die Füße.

»Was machst du hier?«

»Was machst du hier?«

»Ich wache.«

»Ich wache auch.«

»Was war das für ein Lied, das du gesungen hast? Das war schön.«

Die Frau zog ihr Telefon hervor.

»Ich habe meine Mutter angerufen. Nur hier oben gibt es guten Empfang. Sie wartet jeden Tag, dass ich mich melde. Und dann singe ich mit ihr zusammen das Lied.«

»Darf ich dich aufnehmen?«

»Wozu?«

»Ich bin Musikerin.«

Die Frau nickte: »Die Flöte. Manchmal hörte ich sie hier.«

Zu ihrem Tarn-Anzug trug sie eine Kappe über dunklem Haar und Flipflops an nackten Füssen. Ein Geruch von Rauch und Suppe umgab sie.

»Warum seid ihr hier?«

»Wir warten.«

»Worauf?«

»Ein nächstes Boot.«

»Wie seid ihr hierher geraten?«

»Geschmuggelt.«

»Warum?«

»Mit einem Visum könnte ich das erhoffte Land per Flugzeug erreichen. Wer keine reichen Eltern hat, kriegt keins.«

»Wie habt ihr es dann gemacht?«

»Auf der Ladefläche eines Lasters. Die Schlepper bedeckten unsere Köpfe mit Planen. Wir sollten nichts sehen, damit wir die Route nicht verraten würden, falls wir erwischt und verhört worden wären.«

Plötzlich unterbrach sie ihren Bericht.

»Hast du was zu essen?«

O. gab der Sängerin ihre Kekse.

»Wie heißt du?«

»Salma.«

»Ich bin O.«

»In Lagerhallen haben wir einen Monat lang auf die Weiterreise über das Meer gewartet. In jeder Halle gab es dreihundert Menschen und mehr. Flohbisse plagten uns. Es gab keine Decken. Nur zwei Toiletten. Häufig nur eine Portion Essen für acht oder zehn Leute. Wir schliefen auf dreckigen Matten. Nachts stahlen wir Datteln von den Bäumen, um irgendwas im Bauch zu haben. Das Schlimmste aber war, dass es nur Salzwasser gab. Ein Glück, dass wir keine Cholera bekamen. Wir haben gelitten … Ich muss jetzt fort. Kommst du wieder?«

»Darf ich nächstes Mal mit zu den anderen? Ich würde gern eure Lieder hören.«

»Wenn du willst. Zuhause war Singen verboten. Als Kinder durften wir noch, aber als wir zu Frauen heranwuchsen, war nicht einmal das Hören von Musik erlaubt. Polizei strich nachts durch die Viertel. Wo heimlich musiziert wurde, nahm man die Leute fest, verurteilte sie zu Stockschlägen. Aber vergessen haben wir die Lieder nicht. Auch deshalb wollten wir fort.«

»Sag mir, wenn ich helfen kann.«

»Du musst genügend Essen für alle mitbringen.«

»Morgen? Selber Ort, selbe Zeit?«

Die junge Frau nickte und kletterte in ihren Plastikschlappen vorsichtig, um nicht zu rutschen, über die Felsen davon. O. blickte ihr nach. Sie hatte immer geglaubt, etwas Entscheidendes würde ihr fehlen. War deshalb auch aufgebrochen. Nun aber wusste sie, dass sie etwas besaß, das wertvoller war als alles andere: den Reisepass eines verheißungsvollen Landes, der, wohin man auch kam, Einlass gewährte. Nachdenklich stapfte sie zurück, summte Salmas Lied, überstieg die Steinmauer, die die Oase von der Trockenheit trennte.

Calypos’ Brust hob und senkte sich regelmäßig.

O. steckte das Telefon zurück in ihren Seesack. Sie schnappte sich ihre Flöte und spielte Salmas Melodie.

JENSEITS DER MAUER

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Calypos tauchte einen Olivenzweig in Wasser und besprenkelte O.s Gesicht, kühlte ihre Haut, benetzte mit den nassen Blättern ihren Hals.

»Deine Farbe hat sich verändert, seit du bei mir wohnst. Inzwischen leuchtet deine Haut wie fruchtbare Erde. Deine Haarspitzen verlieren ihr Blau. Wir sollten sie färben.«

Calypos bereitete eine Paste aus zerstampften Blaubeeren und Honig, bestrich damit die Strähnen. Dann hieß es warten. Die Sonne stand hoch. Sie zogen sich in den Schatten zurück. Später standen sie nackt unterm Wasserstrahl der Quelle. Calypos wusch O. das Haar, dessen Spitzen wieder blau schimmerten.

»Erzähl mir von fremden Göttern«, bat Calypos, als sie wieder auf Grasbüscheln lagen und den Himmel betrachteten, den keine Wolke je trübte. Und O. erzählte. Sie spielte die Flöte. So verging ein weiterer Tag und noch einer. Calypos hielt O. beschäftigt. Sie vergaß ihre Verabredung mit Salma.

Am dritten Tage erwachte O. abermals früh, packte Trauben, Fladen und Oliven ein, kletterte über die steinerne Umgrenzung, folgte dem Pfad, setzte sich unter den Felsvorsprung, wartete. Sie zog ihren faltbaren Westernhut aus der Tasche, dessen Gewebe sich mit ein paar Handgriffen sofort aufrichten ließ, wann immer sie Schutz benötigte. Sie setzte ihre Flöte an die Lippen. Spielte. Da erschien Salmas schlanke Gestalt.

»Guten Morgen, Salma!«

»Guten Morgen! Du bist nicht gekommen wie verabredet!«

»Tut mir leid, ich wurde festgehalten.«

Durchs Gebüsch stiegen sie hinab zur kleinen Bucht unterhalb der Felsen, wateten durch Haufen aus Plastik, Styropor, ausgebleichten Tauen, Einweghandschuhen, gebrauchten Binden. In der Mitte des Lagers brannte ein Feuer. Ein paar Dutzend Gestalten saßen darum, fütterten die Flammen mit dürren Zweigen. Ihre Gesichter glänzten feucht.

»Nach dem Morgenbad wird gebetet. Dann erst gibt es Suppe.«

Die Gestalten nickten O. zu, als sie den Proviant verteilte. Sie setzten sich zu einem gemeinsamen Mahl und erzählten von ihren Hoffnungen, bald einen sicheren Ort zu finden, an dem sie leben und arbeiten könnten. Dass sie ihre Familien nachholen wollten.

»Ich habe Wirtschaft studiert. Später eine Bank gemanagt. Eine Staatsbank, und ich musste arbeiten, ohne je bezahlt zu werden. Sie haben mir nur das Geld für den Bus gegeben. Sonst nichts.«

»Ich habe mein Leben riskiert, um über die Grenze ins Nachbarland zu kommen. Aber dort hatte ich nur kleine Jobs und zu wenig Geld. Also zog ich weiter.«

»An der Küste haben wir uns getroffen. Die meisten von uns haben 2000 Dollar für einen Platz auf dem Boot bezahlt.«

»Ich musste unter Deck sitzen, weil ich schwarz bin. Dort war es sehr eng. Zwei Tage lang konnte ich mich kaum bewegen.«

Die anderen nickten.

Die Speisen waren längst aufgegessen. Die Suppe fertiggeschlürft.

»Hast du mehr?«

»Oder Seife?«

»Eine SIM-Karte?«

O schüttelte den Kopf. Zog beschämt ihre Flöte hervor, spielte, anstatt zu sprechen. Verlor sich in Tönen. Die Geschmuggelten begannen zu singen.

O. versuchte den Melodien zu folgen und verstummte schließlich. Es war zu kompliziert. Sie hörte zu. Später begleitete Salma die Besucherin zurück an den Rand von Calypos’ Paradies.

»Ich komme wieder. Beschaffe euch ein Boot. Versprochen!«

Salma zuckte mit den Schultern.

Als O. zurück über die Mauer sprang und mit den Stiefeln in der Hand durchs Gras schlich, trat Calypos aus der Höhle, bekleidet nur mit einem weißen Tuch um die Hüften, die sonnenhellen Locken zerzaust, die Stirn von einer tiefen Zornesfalte gespalten.

»Wo warst du?«

»Na, draußen.«

»Was hast du dort gemacht?«

»Ich habe beobachtet.«

»Was?«

»Na, Eidechsen, Skorpione, Schlangen, die die Hitze genießen. Hier bei dir ist es ja nie richtig heiß. Ich habe Sehnsucht nach dem Geruch von Abgasen und dem Dreck in der Großstadt, in der ich aufwuchs.«

Calypos reagierte wütend.

»Du willst mein Reich verlassen?«

»Ein schöner Ort wie deiner ist auf Dauer unmöglich zu ertragen. Ich bin Beschwernisse gewöhnt.«

»Ich liebe dich. Warum willst du fort?«

»Warum willst du verharren?«

»Ich kann nicht anders. Mein Los lautet zu bleiben, was andere glauben, dass ich es sei.«

»Mir aber ist langweilig.«

»Wir könnten Gäste einladen!«

»Warum nicht die Menschen vom Strand?«

»Nein, die nicht. Das sind zu viele.«

»Aber sie haben Lieder.«

»Die haben wir auch.«

»Aber sie haben andere. Welche, die ich nicht kenne.«

»Du bist unersättlich. Hör die Vögel! Hör den Wind in den Bäumen! Bleib!«

»Verschaff’ den Geschmuggelten ein Boot! Damit wirst du sie los. Sofort.«

Calypos witterte eine Chance, willigte ein.

Sie erhoben sich im Morgengrauen und machten sich ans Werk. Calypos gab O. eine mächtige Axt, geschmiedet aus gehärtetem Erz, der Schaft geschwungenes Olivenholz. Sie begannen Bäume zu schlagen, Pappelweiden, Erlen, Tannen. O. schnitt Bretter zurecht und polierte das raue Holz. Calypos bohrte die notwendigen Löcher in die Bohlen. Gemeinsam fügten sie die Bauteile ineinander. Aus Betttüchern nähte Calypos Segel. O. befestigte sie am Boot.

Nachts hörte sie nun häufiger Nachrichten über den Weltempfänger. Mali Jet, Rhythm 93,7 Awka, Nigeria Rock FM, Thisara Your Yoice, Radio Mama FM 100,3, Radio Tonga, Nuku’alofa. Und je länger sie ihre Bohlen schliff und in heißem Wasser bog, desto stärker sehnte sie sich danach, das Gefährt mit den Geschmuggelten gemeinsam zu nutzen. Nachts blieb der Schlaf aus.

Und O. griff nach ihrer Flöte, spielte Schlaflieder.

Doch Calypos’ Augen beobachteten wachsam sämtliche ihrer Bewegungen.

»Erzähl mir vom Musiker mit dem geflochtenen Haar«, flüsterte Calypos. »Du sagtest, seinetwegen wolltest du Musik machen.«

»Du meinst Mozart?«

»Ich weiß nicht, wie er heißt. Aber du hast von ihm geschwärmt.«

»Es kam selten vor, dass meine Mutter sich um mich kümmerte. Sie hatte nie Zeit. Vergrub sich im Schreibzimmer oder empfing Gäste. Nur in der Liebe zu klassischer Musik waren wir Komplizinnen. Zusammen hörten wir Opern. Sie toupierte mir den Hinterkopf, band mir das Haar im Nacken mit einer Schleife aus schwarzem Samt zusammen. Das war einer der wenigen Momente, in denen Mutter mich berührte. Sie besorgte mir eine rote Weste, ein weißes Hemd mit Rüschen, kaufte mir schwarze Lackschuhe mit glänzenden Silberschnallen. Führte mich den Gästen vor. Ich spielte Flöte. Sie waren verzaubert und applaudierten. Als ich älter wurde, begann ich zu begreifen, dass ich nichts als eine Figur in Mutters Kopf war. Sobald ich anfing, eigene Lieder zu erfinden, wollte sie nichts davon wissen.«

Tränen traten O. in die Augen.

»Komm!«, murmelte Calypos, zog sie an sich und küsste ihre nassen Wangen. »Nicht weinen! Denk nicht mehr daran!«

Umschlungen von Calypos Lilienarmen schlief O. endlich ein.

Als das Schiff nach Wochen vollendet war, füllte Calypos das Gefährt mit Körben voller Speisen, Wasserkanistern, Schläuchen mit schwarzem Wein. Die beiden brachten Decken und Tücher an Bord, zum Schutz gegen die Kälte der Nacht und die Hitze des Tages. Es sollte den Aufbrechenden an nichts fehlen. Calypos hoffte, die geliebte O. nun allein für sich zu haben. Ließ sich bedecken von ihren zärtlichen Küssen.

Und O. strengte sich an. Doch nur zum Schein. In der letzten Nacht stellte sie sich schlafend. Erst als das vertraute Schnarchen erklang, griff O. nach ihrem Beutel, schlüpfte in die Stiefel, entfaltete den Westernhut, verließ die Höhle. So schnell sie konnte, lief sie den Berg hinunter, traf die Geschmuggelten, die bereits im Boot auf sie warteten. Sie legten ab, bevor Calypos erwachte.

Die Reisenden erwischten eine sanfte, lauwarme Drift, die sie aus dem Dunstkreis der Insel in nördlicher Richtung beförderte, und machten gute Fahrt. Später frischte der Wind auf, Wolken verdunkelten den Himmel, die Wellen wurden wilder. Ungestüm näherten sich die Wogen dem Boot. Windstöße verklumpten sich wie Disteln und wirbelten das Gefährt in alle Himmelsrichtungen. Wasser klatschte den Passagierinnen hart ins Gesicht. O. schnallte ihren Beutel fest um den Körper. Spuckte das bittere Wasser aus. Die Gefährtinnen hatten sich in Decken gehüllt. Eiskalt war das finstere Nass, das gegen sie peitschte. Das Boot streifte krachend über einen Felsen. Mit lautem Ächzen tat sich ein Riss am Boden auf. Das Gefährt teilte sich in zwei Hälften und die Reisenden stürzten in die braunschwarze Flut. O. packte ein Brett, hielt sich fest daran. Und rief nach ihrer Beschützerin.

»Atena, Atena, wo bist du?«

Doch O. hörte nicht ihre eigene Stimme, hörte nur das Geheul des Windes und die Schreie der Frauen, die in Decken gewickelt wie Raupen untergingen. Der schwere Wollstoff saugte sie tiefer und tiefer hinunter bis auf den Grund.

»Atena, Atena!«

SO VIEL RAUSCH

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Doch es war nicht Atenas Stimme, die O. vernahm, als sie die Augen wieder aufschlug. Sie hustete, spuckte Wasser und blickte ins Gesicht einer Blonden, die ihr half, sich aufzurichten.

»Ist der Sturm vorbei?«

Die Blonde nickte.

»Viele von euch konnten wir retten. Meine Helferinnen und ich.«

Sie deutete nach hinten, wo O. in reflektierende Wärmefolien gehüllte Gestalten erblickte. Sie konnte niemanden erkennen.

»Salma? Salma? Bist du da?«

O.s Stimme war schwach, ihr Blick unscharf. Sie glaubte ein leichtes Nicken bei einer der Gestalten zu bemerken. O. beugte sich vor und küsste die lebensbringende Erde. Die Riemen ihres wasserdichten Beutels schnitten ihr fest in die Haut. O. wischte Sandkörner von ihren Lippen. Die blonde Retterin reichte ihr den Arm und zog sie hoch. Ihre Muskeln waren steif, die bestickten Stiefel voller Wasser. O. zog sie aus, leerte sie, klemmte sie sich unter die Achseln, taumelte barfuß über den Sand.

»Wie heißt du?«

»Leuko. Ich wohne auf dieser Insel zusammen mit meiner Schwester. Immer wieder helfe ich Schiffbrüchigen.«

»Ich bin O.«

»Ich weiß. Atena hat mir Nachricht geschickt, dass du Hilfe brauchst. Und da du nahe unserer Küste warst, haben wir eure Rettung übernommen.«

»Ich habe noch nie einen derart starken Sturm erlebt. Meine Knie sind weich und mir ist schwindlig.«

»Keine Angst, ich stütze dich. Komm! Aber ich sage dir gleich, deine Gefährtinnen müssen sich verschleiern. Ihre alten Kleider haben wir bereits verbrannt. Wir dulden keine Blöße. Nackt und frei schreiten bei uns nur Herrscherinnen. Haltet euch daran und es wird euch gut ergehen.«

Die Geretteten wurden zu einer kleinen Ansiedlung mit Häuschen aus Holz und Steinen geführt.

O. durfte bei Leuko wohnen.

»Was wird aus meinen Gefährtinnen?«

»Misty, meine ältere Schwester, die auf der anderen Seite der Insel lebt, hat viele Söhne, die sie verheiraten will. Da kommt deine Bootsladung gleichsam als Geschenk. Zuerst werden die Frauen gemästet und wenn sie stark genug sind, um Kinder auszutragen, verteilen wir sie auf die einzelnen Hütten.«

Noch war O. zu erschöpft, um sich zu kümmern. Sie musste schlafen und essen. Auch graute ihr davor, Leukos Residenz zu verlassen. Allein das Geräusch des Meeres verursachte ihr Übelkeit. Sie begrüßte das Gackern der Hühner, die das feindselige Rauschen vom Strand übertönten. Doch nachts musste O. zur Toilette hinterm Haus. Auf dem Weg vernahm sie ein Zischeln, das nicht aus dem Verschlag der Hühner kam, sondern von einer im Mondlicht leuchtenden Gestalt.

»Ich bin’s, Salma.«

»Woher soll ich wissen, ob das stimmt?« O. blieb misstrauisch.

Daraufhin begann die Erscheinung zu singen:

Was weißt du denn schon über den heiligen Ort,

Was weißt du denn schon, wie wir hierherkamen,

Um Geld zu verdienen und es nachhause zu schicken?

»Du bist es!«, flüsterte O.

Sie umarmten sich.

Salma erzählte.

»Ich versuche schon seit Stunden, dich zu finden. Wir können hier nicht bleiben.«

»Warum?«

»Du hast bestimmt gehört, was sie vorhaben. Wir wollen nicht verheiratet werden. Wir müssen weiter. Kommst du mit? Oder gefälltes dir hier?«

O. schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Ich war zu schwach. Nicht einmal meine Flöte habe ich ausgepackt. Aber eigentlich habe ich genug von kleinen Inseln. Auch wenn ihre Einwohner gut zu mir sind.«

Am nächsten Morgen, nachdem Leuko die Gerettete in ein leichtes, mit Blumen bedrucktes Kleid gehüllt hatte, trat O. das erste Mal bei Tageslicht vor die Türe, atmete die milde, von duftenden Gewürzen getränkte Luft, lächelte und fasste ihre Retterin am Arm.

»Ich bin bereit für eine Veränderung. Aber nach dem Schiffbruch habe ich Angst vor dem Meer, brauche Erholung. Du hast doch erzählt, deine Schwester wohnt im Landesinneren. Dort gibt es Wald und dunkleres Grün. Ich hätte Lust, sie zu besuchen.«

Leuko war einverstanden. »Das trifft sich gut, morgen geht ein größerer Transport dorthin. Wenn du magst, hast du einen Platz im Führerhaus. Die anderen Geretteten reisen auf der Ladefläche, bedeckt von Planen, damit sie uns nicht gestohlen werden. Sie sind wertvoll. Aber gib acht! Misty übertreibt es manchmal mit dem Feiern. Nicht, dass du dich wiederum erschöpfst!«

Kaum angekommen, und kaum dass O. die schwere süße Luft von Tannengrün geatmet, die gefleckten Kühe mit ihren schönen Augen gegrüßt und sich die Kehle an einer kühlen Quelle benetzt hatte, wurde sie bereits in die Halle geführt, wo Misty thronte, blond wie ihre Schwester. Die Herrscherin bat O., Platz zu nehmen, reichte ihr einen goldenen Kelch, und sie prosteten einander zu.

»Auf meine Gäste! Und das Fest ihnen zu Ehren!«

»Auf die Gastgeberin!«

O. fielen die Partys ihrer Eltern ein.

Zuhause hatten die Gäste an langen schweren Tischen Platz genommen. Kristalllüster flackerten über ihren Köpfen. In die hohen Lehnen der altertümlich wirkenden Stühle waren die Gesichter wilder Tiere geschnitzt. Die Aschenbecher quollen jedes Mal über.

Helene, ihrer Mutter beste Freundin, half stets beim Zerlegen der Braten, während ihre Mutter, Poppy, mit dem roten Haar und Sommersprossen bis hinunter zu den Brüsten, das Essen auf die Teller verteilte. An Helenes Brust baumelte eine goldene Spindel, die hin- und herpendelte, sobald sie sich vor einen Gast beugte, um den mit Fleisch beladenen Teller zu servieren. Blicke fingen sich an ihrem Dekolletee, folgten den Bewegungen des Goldes. Helene wusste, sie war die Schönste. Schöner sogar als Poppy. O.s Vater, Siegmund, trug seine Locken schulterlang. Wegen der Helden aus den alten Schriften, die er studierte.

»Nur Sklaven wurden kurz geschoren. Die edlen Herrscher durften ihre Mähnen behalten, wie ich!«

Und wenn die Gäste traurig geworden waren, begab sich Poppy mit Helene in die Küche, wo sie einen Cocktail aus Erdbeeren, Rhabarber und lieblichem Wein bereiteten, versüßt mit einem Mittel gegen Kummer und Groll, damit die dunkle Seite des Lebens vergessen wurde. Helene hatte den Umgang mit starken Drogen bei ihrer Tante in Ägypten gelernt, wo auf fruchtbaren Feldern die Kräuter wuchsen, einige milder, andere gefährlich. Die Menschen dort waren geschickte Heiler. Poppy und Helene boten allen Gästen ein Gläschen an. Kinder erhielten eine kleine Portion. Und alle wurden froh, umarmten sich, küssten sich auf die Wangen, rückten näher aneinander. Ihnen wurde warm, und sie begannen zu tanzen. Sie tanzten, bis mit rötlichen Armen Aurora aufstieg vor den Fenstern. Erst dann sanken die Gäste ermattet auf Sofas oder schliefen auf Kissen am Boden oder suchten sich Matratzen in den zahlreichen Zimmern und fielen in tiefen Schlaf voller Träume. Das Haus war groß, Schlafgelegenheiten gab es genug.

Misty hätte ihrer Mutter gefallen, und die lebenden Schlangen, die sie um ihre Mitte gewickelt trug, hätten ihren Vater entzückt, dachte O. Er hielt die gefährlichen Tiere im Keller zusammen mit tödlichen Spinnen.

Mistys Brüste waren von einem goldmetallenen Oberteil bedeckt. Als Rock diente gefleckte Kuhhaut. Das Kleid, das die Dienerinnen O. angelegt hatten, war aus feinem, fast durchsichtigem Gewebe. Über die Stirn hatten sie ihr einen Goldreif mit einem funkelnden Stern geschoben. Das Haar trug sie offen, frisch gewaschen und glänzend von duftenden Ölen. War O. Mistys Opfer oder war sie der Herrscherin gleichgestellt?

Sie nippte am Wein, lauschte den Zimbeln und Trommeln. Die frisch angekommenen Frauen blieben auch in diesem Teil der Insel verhüllt. Alle waren geladen, zu feiern und sich zu vergnügen. Nur den Männern war es verboten hinzuzustoßen. Sie warteten in eigens dafür geflochtenen Hütten, die sie vom Festmahl verbannten. Nach ein paar Schlucken würzigen Weins jedoch begannen die Frauen zu lallen und zu klagen, sich am Boden zu winden.

Misty ließ Räucherwerk entzünden und erfreute sich am Rausch. Schwang die Fackel, schlug mit der anderen Hand die eisernen Qaraqib. An ihrem Gürtel züngelten die Schlangen. Sie bat O. zum Tanz. Entblößte ihre Brüste. Zog ihren Gast eng an sich. Die Gefährtinnen erhoben sich. O. in ihrem Taumel bemerkte, wie sie unter ihren Tüchern weit schwingende Röcke trugen. Von Schleiern befreit, breiteten sie ihre Arme aus und begannen, sich um die eigene Achse zu drehen. Der Stoff ihrer Röcke wurde von den Luftströmen in die Höhe getragen, bildete einen waagrechten Kreis um jeden Körper. O. wurde schwindlig. Drohte zu fallen. Wurde von Misty aufgefangen, die Schlangen wickelten sich um ihre Mitte, spielten auf ihrer Haut.

Mistys Brüste drängten sich an O.