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Annette Weinke

DIE NÜRNBERGER
PROZESSE

C.H.Beck


Zum Buch

Als Reaktion auf den deutschen Angriffskrieg und die präzedenzlosen Massenverbrechen der Nationalsozialisten einigten sich die Aliierten im August 1945 auf das «Londoner Abkommen» und die Einsetzung eines internationalen Militärgerichtshofes. In den «Nürnberger Prozessen» wurden von Oktober 1945 bis April 1949 über 200 hochrangige Vertreter des NS-Regimes, teilweise auf der Grundlage neuer völkerstrafrechtlicher Normen, individuell für ihre jeweiligen Verbrechen zur Verantwortung gezogen. Annette Weinke gibt einen Überblick zu Vorgeschichte, Ablauf und Folgen der insgesamt 13 Prozesse gegen die Führungseliten des «Dritten Reichs». Sie erläutert in allgemeinverständlicher Form die Rechtsgrundlagen dieser historisch bedeutsamen Verfahren und schildert zugleich deren politische, gesellschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen. Angesichts des Umstandes, dass die juristische Abrechnung zwar eine völlige Diskreditierung der NS-Ideologie bewirkte, die «Lehren von Nürnberg» jedoch anfangs von vielen Deutschen abgelehnt wurden, wird abschließend die Frage untersucht, warum sich die Bundesrepublik dennoch zu einem Befürworter eines ständigen internationalen Gerichtshofs zur Ahndung schwerer Menschenrechtsverletzungen entwickelt hat.

Über die Autorin

Annette Weinke lehrt als Privatdozentin Neuere und Neueste Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Inhalt

Vorwort

I. Die alliierte Debatte über deutsche Hauptkriegsverbrecher

II. Das Internationale Militärtribunal

Londoner Viermächte-Abkommen und IMT-Statut

Beweismittelsuche und Angeklagtenauswahl

Gerichtsorte und Nürnberger Prozessgemeinde

Anklageerhebung und Verhandlungsbeginn

Einsatz von Dokumentarfilmen im Gerichtssaal

Behandlung des Massenmordes an den Juden Europas

Prozessende und Urteilsvollstreckung

Bewertung

III. Die zwölf Nachfolgeprozesse gegen Eliten des «Dritten Reichs»

Politischer und rechtlicher Rahmen

Ärzte (Fall 1)

Juristen (Fall 3)

SS- und Polizeiangehörige (Fall 4, 8 und 9)

Militärs (Fall 7 und 11)

Industrielle und Manager (Fall 5, 6 und 10)

Minister und Regierungsfunktionäre (Fall 2 und 12)

IV. Wirkungen im geteilten Deutschland

Kollektivschulddebatte in den Westzonen

Deutsch-amerikanisches «Gnadenfieber»

Justizieller «Antifaschismus» in der SBZ/DDR

V. Von «Nürnberg» nach «Den Haag»?

Literaturempfehlungen

Veröffentlichte Quellen und Zeitzeugenberichte

Weiterführende Literatur

Personenregister

Für Oskar Evangelos

Vorwort

«Zwei Bilder Deutschlands liefern den dramatischen Beweis, daß die Alliierten den Krieg gewonnen haben. Zum einen das Panorama der in Asche gelegten deutschen Städte, zum anderen das Tableau der mit Nazi-Gefangenen besetzten Anklagebänke im flutlichterhellten Saal des Kriegsverbrechergerichts von Nürnberg.» Als die amerikanische Journalistin Janet Flanner dies im Dezember 1945 niederschrieb, war die Verhandlung gegen Ex-Reichsmarschall Göring und 20 anwesende Mitangeklagte schon seit fast einem Monat im Gange. Auch unter den Deutschen erkannten damals viele die besondere historische Bedeutung des Nürnberger Hauptkriegsverbrechertribunals. Hier wurden nicht nur rechtliche Grenzen gegen staatliche Willkürherrschaft und ungehemmten militärischen Expansionsdrang gezogen, sondern gleichzeitig sollten die geschichtlichen Ursachen für den nationalsozialistischen Vernichtungs- und Rassenkrieg juristisch aufgedeckt werden. Insofern war Nürnberg auch der exemplarische Versuch, Geschichte mit den Mitteln des Rechts zu «bewältigen».

Obwohl die rechtlichen und politischen Zielsetzungen der Nürnberger Prozessserie von Anfang an stark umstritten waren, haben einige der Grundideen, die 1945 von den Alliierten erstmals umgesetzt, jedoch schon Jahrzehnte zuvor formuliert worden waren, bis heute Bestand. Dazu gehört beispielsweise, dass künftig nationale Gesetze oder das Innehaben eines staatlichen Amtes keinen absoluten Schutz vor völkerstrafrechtlicher Verfolgung mehr bieten. Jedoch bedurfte es mehrerer gescheiterter Anläufe, ehe sich die Völkergemeinschaft schließlich Ende 2017 auf ein strafrechtliches Verbot von Angriffskriegen einigen konnte. Im Juli 2018, also genau 90 Jahre nach dem internationalen Kriegsächtungsabkommen des Kellogg-Briand-Pakts, der am 27. August 1928 von fünfzehn Nationen im Pariser Quai d’Orsay unterzeichnet worden war, trat die entsprechende Änderung im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Kraft.

Über die Frage, wie sich die Nürnberger Prozesse gegen 24 Repräsentanten der NS-Führung und 185 Vertreter der deutschen Eliten auf die Deutschen in Ost und West ausgewirkt haben, wird in der Zeitgeschichtsforschung seit Jahrzehnten mit Eifer und Ausdauer gerungen. Kaum umstritten ist hingegen, dass auf deutscher Seite lange Zeit Abwehr und ein auf mangelnder Informiertheit beruhendes Desinteresse überwogen. Zu den vielen Widersprüchlichkeiten des deutschen Nürnberg-Diskurses zählt daher, dass viele Deutsche zwar nach Kriegsende behaupteten, durch die Prozesse erstmals von den Gräueltaten an den Juden und anderen Minderheiten erfahren zu haben, andererseits jedoch mit derselben Vehemenz versichert wurde, die Gerichtsverhandlung habe nichts zu Tage gefördert, was nicht schon vorher bekannt gewesen sei. Kaum weniger paradox ist, dass sich deutsche Meinungsführer in Politik, Wissenschaft und Medien zwar an den durchaus vorhandenen juristischen Schwachstellen des Prozesses festbissen, sie jedoch zu allen Rechtsverletzungen der vorausgehenden zwölf Jahre ungerührt geschwiegen hatten. Offenkundig erfüllte die legalistische Kritik an Nürnberg für den einen oder anderen auch eine gewisse Schutzfunktion: So konnte man sich gegen allzu schmerzhafte Erkenntnisse und Fakten abschirmen.

Die Nachwirkungen dieser Selbstimmunisierung gegen die «Lehren von Nürnberg» – so der Titel eines amerikanischen Aufklärungsfilms von 1948 – sind teilweise noch heute in Wissenschaft und Publizistik spürbar: In dem 2004 erschienenen Buch «Die Umkehr: Deutsche Wandlungen 1945–​1995» des renommierten, revanchistischer Ideen unverdächtigen Historikers Konrad H. Jarausch findet sich beispielsweise die Feststellung, in Nürnberg sei ein «kollektiver Freispruch» des Oberkommandos der Wehrmacht erfolgt. Der Militärhistoriker Wolfram Wette hat dies aber schon vor längerer Zeit als «eine der folgenschweren Zwecklegenden der Nachkriegszeit» entlarvt, die in der Anti-Nürnberg-Agitation der düpierten westdeutschen Eliten ihren Ausgangspunkt nahm. Es hat mithin gesamtgesellschaftliche Ursachen, dass es in Deutschland bis heute kaum sozial- und kulturgeschichtlich informierte Gesamtdarstellungen zu Vorgeschichte, Ablauf und Folgen des Nürnberger Kriegsverbrecherprogramms gibt.

Wer sich noch daran erinnern kann, mit welch schrillem Tremolo in der Stimme bundesdeutsche Politiker, Kirchenführer und Journalisten Anfang der fünfziger Jahre gegen die alliierte «Siegerjustiz» von Nürnberg zu Felde zogen, wird sich vermutlich darüber wundern, dass die Bundesrepublik heute zu den entschiedensten Befürwortern eines ständigen Strafgerichtshofes (in Den Haag) zählt. Nicht weniger erstaunlich erscheint, dass die USA, die seinerzeit maßgeblich für die Planung und Durchführung der Nürnberger Prozesse verantwortlich waren, heute eine supranationale strafrechtliche Begrenzung staatlicher Souveränitäts- und Machtansprüche strikt ablehnen. Wie die wechselvolle Geschichte der Völkerrechtsentwicklung seit Ende des Ersten Weltkrieges zeigt, waren Zustimmung oder Ablehnung der später so bezeichneten «Nürnberger Prinzipien» aber seit jeher keine Frage der nationalen Identität, sondern fußten auf lebensweltlichen Prägungen, historisch-politischen Grundauffassungen sowie individuellen und kollektiven Norm- und Wertvorstellungen. Vor diesem Hintergrund ist damit zu rechnen, dass sich auch die derzeit zu beobachtende starke Polarisierung zwischen Gegnern und Anhängern einer universalen Gerichtsbarkeit zur Durchsetzung von Menschenrechten eines Tages als geschichtliche Episode erweisen wird.

I. Die alliierte Debatte über deutsche Hauptkriegsverbrecher

Niemand weiß, ob und wie viele Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn die Alliierten noch zu Kriegszeiten eine konsequente Kriegsverbrecherpolitik betrieben hätten. Tatsache ist aber, dass weder die beiden Westmächte noch die Sowjetunion über einen langfristigen Plan verfügten, wie nach dem angestrebten militärischen Sieg über Deutschland mit den verantwortlichen Haupttätern verfahren werden sollte. Zu den tragischen Aspekten der alliierten Kriegsverbrecherpolitik gehört zudem, dass Großbritannien zwar aufgrund seiner Stellung als Gastgeber der europäischen Exilregierungen bis kurz vor Kriegsende hauptsächlich für dieses Thema zuständig war, man sich jedoch infolge negativer Erfahrungen nach Ende des Ersten Weltkrieges nie innerlich mit dieser Rolle anfreunden konnte. Aufgrund dieser zwiespältigen Haltung Londons zeichnete sich die britische Kriegsverbrecherpolitik durch eine große Diskrepanz zwischen öffentlichen Ankündigungen und tatsächlichen Maßnahmen aus. Besonders deutlich wurde dies anhand des Umgangs mit der Führungsriege des NS-Regimes.

Der nicht nachlassende Druck der Exilregierungen führte dazu, dass das britische Außenministerium zunächst im Oktober 1942 die United Nations Commission for the Investigation of War Crimes (UNWCC) ins Leben rief, die damit beauftragt wurde, Beweismaterialien zu Kriegsverbrechen aus den einzelnen Ländern unter deutscher Besatzungsherrschaft zusammenzutragen. Aber auch nachdem Churchill und Roosevelt im Januar 1943 auf der Kriegskonferenz von Casablanca die «bedingungslose Kapitulation» Deutschlands zum offiziellen Kriegsziel erklärt hatten, standen die Briten einer rechtlichen Lösung des deutschen Kriegsverbrecherproblems weiterhin reserviert gegenüber und zogen Strafprozesse nur für nachgeordnete Täter und «klassische» Kriegsverbrechen in Betracht. Gleichzeitig favorisierten sie im Umgang mit führenden Repräsentanten des NS-Staates eine politische Lösung. Dazu lagen seit Sommer 1943 verschiedene Vorschläge auf dem Tisch, von denen der Plan des britischen Premiers wegen seiner besonderen Radikalität hervorstach.

So war Churchill der Meinung, die NS-Führung nicht in den Genuss eines förmlichen Rechtsverfahrens kommen zu lassen, sondern sie einfach zu «Outlaws», also zu «Vogelfreien» zu erklären, wie dies im mittelalterlichen Britannien im Umgang mit gewöhnlichen Banditen der Fall gewesen war. Damit hätte jeder beliebige alliierte Armeeangehörige vom Rang eines Generalmajors aufwärts das Recht gehabt, Führungspersönlichkeiten des «Dritten Reiches» nach kurzer Identitätsfeststellung auf der Stelle zu erschießen. Churchill selbst hatte einen relativ übersichtlichen Kreis von 50 bis 100 deutschen, italienischen und japanischen Hauptkriegsverbrechern im Auge, die er nach dieser Methode behandelt wissen wollte.

Obwohl der «Outlaw»-Plan innerhalb des Außenministeriums sogleich auf rechtliche Bedenken stieß und sich zudem die Erstellung einer diesbezüglichen Liste als praktisch undurchführbar erwies, ließ der britische Regierungschef in den folgenden Monaten nichts unversucht, sein Vorhaben bei den Verbündeten zu propagieren. Ein erster Etappenerfolg war ihm im Oktober 1943 beschieden, als die drei Hauptalliierten am Ende der Moskauer Außenministerkonferenz eine Erklärung verabschiedeten, in der sie zum einen übereinkamen, alle Kriegsverbrecher ausfindig zu machen und jenen Ländern zur Aburteilung zu übergeben, in denen sie ihre Verbrechen begangen hätten. Zum anderen legte der Schlussabsatz der «Moskauer Erklärung» vom 1. November 1943 auf Churchills Anregung hin fest, all jene «Hauptkriegsverbrecher», deren Verantwortung «nicht geographisch begrenzt» sei, «aufgrund einer gemeinsamen Entschließung der Alliierten» zu bestrafen.

Kurze Zeit später musste Churchill jedoch erkennen, dass seine unkonventionellen Vorschläge dazu geeignet waren, ihm Beifall von der falschen Seite einzutragen. Als die «Großen Drei» Ende des Monats in Teheran zu einer ihrer Kriegskonferenzen zusammentrafen, nutzte Stalin die Gelegenheit eines ausschweifenden Trinkgelages, um vor den versammelten Gästen zu fordern, den gesamten deutschen Generalstab – konkret nannte er eine Zahl von mindestens 50.000 Mann – auf einen Schlag zu liquidieren. In seinen Memoiren gab Churchill später an, er habe ob dieser launigen Erklärung des sowjetischen Führers empört ausgerufen: «The British Parliament and public will never tolerate mass executions. Even if in war passion they allowed them to begin, they would turn violently against those responsible after the first butchery had taken place. The Soviets must be under no delusion on this point.» Daraufhin habe sein amerikanischer Amtskollege Franklin D. Roosevelt die Situation zu entschärfen versucht, indem er mit maliziösem Lächeln die Zahl auf «nur» 49.000 reduzierte.

Auch wenn die rückblickend behauptete Entrüstung des britischen Premiers mehr der Tatsache geschuldet war, dass der ebenfalls anwesende Sohn des amerikanischen Präsidenten Stalins makabre Witzeleien ernst nahm und ihnen Beifall spendete, änderte dies nichts daran, dass Churchill auch nach Teheran weiterhin an der Idee festhielt, das Problem der Hauptkriegsverbrecher auf dem Wege summarischer Exekutionen «aus der Welt zu schaffen». Dementsprechend verärgert war er auch, als er im Oktober 1944 anlässlich eines Staatsbesuchs in Moskau feststellen musste, dass der sowjetische Diktator inzwischen anderer Meinung war. So hatte Stalin mit Blick auf die seit Sommer 1943 im eigenen Lande laufenden publikumswirksamen Kriegsverbrecherprozesse Gefallen an einer rechtlichen Lösung gefunden und plädierte vor diesem Hintergrund für ein großes internationales Tribunal gegen die NS-Führung. In einem Telegramm an Roosevelt kommentierte Churchill diese Kehrtwende des sowjetischen Staatschefs mit der spöttischen Bemerkung, «Onkel Joe» habe in der Kriegsverbrecherfrage unerwartet eine «überkorrekte Haltung» eingenommen. Dabei war sich der britische Premier nur allzu bewusst, dass Stalins Einschwenken auf eine neue Linie das endgültige Aus für seinen «Outlaw»-Plan bedeutete, da die Öffentlichkeiten der westlichen Länder mittlerweile an den alliierten Diskussionen um die Kriegsverbrecherfrage regen Anteil nahmen.

Bis zum Herbst 1944 hatte der amerikanische Präsident Roosevelt nur mäßiges Interesse an der deutschen Kriegsverbrecherthematik gezeigt. Auch das Schicksal der NS-Führungseliten ließ ihn – wie die zuvor beschriebene Episode beweist – weitgehend kalt. Dies änderte sich erst, als im September 1944 innerhalb der US-Regierung ein handfester Streit über die Nachkriegsplanungen für das besetzte Deutschland ausbrach. Auslöser war ein gegen das amerikanische Militär gerichteter Plan des US-Finanzministeriums, der vorsah, Deutschland nach der militärischen Niederlage in den Status eines Agrarlandes zurückzuversetzen, um zu verhindern, dass von deutschem Boden jemals wieder ein Krieg ausgehen könnte. Das Memorandum unter dem Titel Program to Prevent Germany from Starting a World War III (nach seinem Erfinder Henry M. Morgenthau jr. auch kurz «Morgenthau-Plan» genannt) sah für das Deutsche Reich einen karthagischen Frieden vor. Dazu gehörten nach Vorstellungen des Finanzministers nicht nur eine komplette Deindustrialisierung und Demilitarisierung Deutschlands, sondern auch harte Vergeltungsmaßnahmen gegen deutsche Kriegsverbrecher. Konkret plädierte Morgenthau dafür, eine Liste von «Erzverbrechern» zu erstellen und diese ohne Gerichtsverfahren erschießen zu lassen. Zum anderen verlangte er die Einsetzung von Militärkommissionen für die Aburteilung von «Verbrechen gegen die Zivilisation». Damit waren sowohl Geiselerschießungen als auch Tötungen aufgrund von Rasse, Nationalität, Religion oder politischer Überzeugung gemeint. Nach Morgenthaus Vorstellung sollte in all derartigen Fällen eine Verurteilung automatisch zur Todesstrafe führen; lediglich in Ausnahmefällen war die Deportation in eine außerhalb Deutschlands gelegene Strafkolonie vorgesehen. Darüber hinaus plante er, alle Mitglieder von NS-Organisationen bis zum Beweis ihrer Unschuld in Arbeitslagern zu internieren.

Morgenthaus Vorschläge richteten sich vor allem gegen die Richtlinien der Combined Chiefs of Staff, die in ihrem Handbook of Military Government for Germany relativ moderate Bestrafungsmaßnahmen vorgesehen hatten. Seine Ideen standen zudem unter dem Eindruck der Berichte, die seit der im Juli 1944 erfolgten Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek durch die Rote Armee auch in der westlichen Presse abgedruckt worden waren. Roosevelt, der bis dahin noch kaum einen Gedanken an die künftige amerikanische Besatzungspolitik in Nachkriegsdeutschland verschwendet hatte, segnete den Plan seines Finanzministers noch im selben Monat ab, distanzierte sich jedoch kurze Zeit später ebenso abrupt wieder davon, als Teile des geheimen Memorandums an die Presse gelangten und den Wahlkampf des Präsidenten zu belasten drohten.

Verantwortlich für dieses Meisterstück einer typischen Indiskretion à la Washington war vermutlich Morgenthaus Kabinettskollege Henry L. Stimson. Anders als Morgenthau, der aufgrund seines familiären jüdischen Hintergrundes starkes Interesse an der Kriegsverbrecherfrage zeigte und zu diesem Zweck auch enge Kontakte zum stellvertretenden UNWCC-Vorsitzenden Herbert C. Pell und dem Leiter des War Refugee Board John W. Pehle pflegte, hatte der amerikanische Kriegsminister bis dahin weder Besorgnis über das besondere Schicksal der europäischen Juden geäußert, noch war ihm an einem offensiven Umgang mit deutschen Kriegsverbrechen gelegen. Dass er sich dennoch im Herbst 1944 erstmals intensiv für diese Themen engagierte, hing in erster Linie damit zusammen, dass er die radikalen wirtschaftspolitischen Zielsetzungen des Morgenthau-Memorandums verhindern wollte, da er jene für kontraproduktiv und schädlich hielt. Obwohl in Stimsons Kritik auch immer wieder antisemitische Untertöne aufschienen – es war die Rede von «racheerfülltem Semitismus» –, war er doch Pragmatiker genug, um zu erkennen, dass man zwecks Erreichung dieses Ziels die Belange jüdischer Opfer stärker als bisher berücksichtigen musste. Zudem war er überzeugt, dass eine rechtsstaatliche Aufarbeitung deutscher Kriegsverbrechen sowohl bei der Nachwelt allgemein wie bei den Deutschen im Besonderen einen positiven Eindruck hinterlassen würde. Dabei hatte der Kriegsminister offensichtlich die Strafbestimmungen des Versailler Vertrages im Auge, die nach seiner Meinung vor allem deshalb vom deutschen Volk abgelehnt worden seien, weil die Alliierten sie den Deutschen hatten aufzwingen wollen.

Während Roosevelt und Churchill sich Mitte September 1944 in Quebec zu einer ihrer letzten Kriegskonferenzen trafen, beauftragte Stimson einen im Dienste seines Ministeriums stehenden New Yorker Anwalt, ein umfassendes Konzept für die Bestrafung deutscher Kriegsverbrechen auszuarbeiten. Der Entwurf, den Generalleutnant Murray C. Bernays daraufhin vorlegte, fasste einige der wesentlichen Ideen zusammen, die zuvor von den Rechtsexperten der UNWCC diskutiert worden waren, ergänzte diese aber darüber hinaus um rechtliche Lösungsansätze, die auf seine praktischen Erfahrungen als Anwalt der Securities and Exchange Commission zurückgingen. Bernays’ Vorschläge wichen in zweierlei Hinsicht vom bis dahin geltenden Kriegsvölkerrecht ab: Zum ersten erklärten sie Handlungen, die die Achsenmächte vor Kriegsausbruch an ihren eigenen Staatsangehörigen verübt hatten, zu einer kriminellen Verschwörung zum Kriege und damit zu strafbaren Verletzungen des Kriegsvölkerrechts. Zum zweiten sahen sie vor, bestimmte führende NS-Organisationen unter Anklage zu stellen, so dass allein die Mitgliedschaft in einer dieser Organisationen eine Strafbarkeit begründet hätte, ohne dass der Nachweis einer individuellen Schuld hätte erbracht werden müssen.

Trotz ihrer Radikalität und der Nichtbeachtung des Verbots rückwirkender Strafgesetzgebung («nulla poena sine lege») stießen Bernays’ Ideen nicht nur beim Kriegsminister und dessen Stellvertreter John J. McCloy auf großen Zuspruch, sondern fanden erstaunlicherweise auch bei führenden Juristen wie dem Attorney General Francis A. Biddle und dem Judge Advocate General Myron C. Cramer gleichermaßen großen Anklang. Zusammen mit dem Vorschlag des stellvertretenden Chefs der Zivilverwaltungsabteilung des Kriegsministeriums William C. ​Chandler, die NS-Regierung außerdem wegen Führens eines illegalen Angriffskrieges anzuklagen, bildete Bernays’ Entwurf die hauptsächliche rechtliche Grundlage für das spätere interalliierte Prozessprogramm.

Der Präsident selbst, zu diesem Zeitpunkt schon gesundheitlich stark angeschlagen, äußerte sich vor seinem Tode nur ein einziges Mal explizit zu den Plänen seines Kriegsministers. So bat er Außenminister Edward R. Stettinius am 3. Januar 1945 darum, ihn über den Stand der Ermittlungen hinsichtlich der deutschen Kriegsverbrechen zu unterrichten und verband dies im Übrigen mit der folgenden Anweisung: «Die Anklage [gegen Hitler und die anderen Hauptkriegsverbrecher; A. W.] sollte auch eine Verurteilung wegen der Einleitung eines Angriffskriegs als Verletzung des Kellogg-Pakts enthalten. Vielleicht könnte man diese und andere Anklagepunkte mit dem Vorwurf der kriminellen Verschwörung verbinden.» Ob Roosevelt seine Zustimmung zum Drei-Punkte-Anklageplan (Verschwörung, Angriffskrieg, Zugehörigkeit zu einer kriminellen NS-Organisation) tatsächlich unter dem Eindruck des seinerzeit sehr populären Hollywood-Spielfilms The Hitler Gang von John Farrow erteilte, oder ob dies doch eher dem Einfluss seines Sonderberaters und Redenschreibers, dem Richter Samuel Rosenman, geschuldet war, wird sich vermutlich nicht mehr klären lassen. Mit Sicherheit verfügte der Präsident aber nach dem politisch verbrannten Morgenthau-Plan über kein anderes Konzept, das die entstandene Lücke hätte füllen können. Insofern ist Roosevelts spätes Einschwenken auf die Linie der Befürworter einer rechtlichen Lösung doch wohl eher als spontane Publicrelations-Maßnahme zu sehen, als dass es irgendeiner inneren Überzeugung entsprungen wäre. Wichtiger als die Frage nach seinen Motiven ist jedoch, dass durch diese politische Entscheidung eine juristische Eigendynamik in Gang gesetzt wurde, der auch die widerstrebenden Briten nichts mehr entgegenzusetzen hatten. Trotz aller weiterhin erhobenen Bedenken führte dies somit in letzter Konsequenz dazu, ein International Military Tribunal oder deutsch: Internationales Militärtribunal (IMT) zu gründen.

II. Das Internationale Militärtribunal

Londoner Viermächte-Abkommen und IMT-Statut

Kurz nachdem amerikanische und britische Presseorgane damit begonnen hatten, schockierende Bildreportagen über die befreiten Konzentrationslager Buchenwald, Bergen-Belsen und Dachau zu veröffentlichen, fiel in Washington der Startschuss zum alliierten Kriegsverbrecherprogramm. Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme am 12. April 1945 bestätigte Roosevelts Nachfolger Harry S. Truman zunächst das von Stimson initiierte Memorandum Trial and Punishment of Nazi War Criminals, das die wichtigsten Ziele der künftigen amerikanischen Strafpolitik gegenüber der «Achsenkriminalität» umriss. Am 2. Mai 1945, zwei Tage nach Hitlers Suizid, gab das Weiße Haus dann eine amtliche Verlautbarung zum weiteren Umgang mit den deutschen Hauptkriegsverbrechern heraus, in der angekündigt wurde: «Es ist unser Ziel, so bald wie möglich ein internationales Militärtribunal einzusetzen und eine Verfahrensordnung aufzustellen, die eine zügige Prozessführung gewährleistet und kein Ausweichen oder Hinhalten zulassen wird – eine Verfahrensordnung jedoch, die mit unserer Tradition der Fairness gegenüber jenen, die eines Verbrechens angeklagt sind, im Einklang steht.» Noch am selben Tag berief Truman den Supreme Court Justice Robert H. Jackson durch den Präsidentenerlass Nr. 9547 formell zum Chefankläger.

Am 3. Mai fuhr Richter Rosenman nach San Francisco zu der dort tagenden Gründungsversammlung der Vereinten Nationen, um den Außenministern Großbritanniens und der UdSSR, Eden und Molotow, den amerikanischen Entwurf für eine alliierte Vereinbarung über die Errichtung eines internationalen Gerichtshofes zur Aburteilung der deutschen Haupttäter vorzustellen. Aufgrund seiner vorherigen Kontakte zu den Engländern war Rosenman bekannt, dass das britische Kriegskabinett die von Truman favorisierte Idee eines Vier-MächteTribunals gegen die Nazi-Prominenz noch Ende April 1945 auf das Schärfste abgelehnt hatte. Umso größer war seine Überraschung, als die britische Delegation auf Anhieb in allen Punkten einlenkte; die entsprechenden Instruktionen waren dem britischen Außenminister erst wenige Stunden vor der anberaumten Besprechung aus London zugekabelt worden. Gegenüber den amerikanischen und sowjetischen Delegierten suchte Eden den plötzlichen Sinneswandel Whitehalls damit zu erklären, dass sich die Sachlage durch den Tod Hitlers und Goebbels entscheidend geändert habe, wodurch die britischen Bedenken teilweise hinfällig geworden seien. Diese Begründung war zwar nicht völlig aus der Luft gegriffen, mindestens ebenso entscheidend war jedoch, dass sich die Briten nur ungern dem Vorwurf aussetzen wollten, als einziger der drei Verbündeten eine juristische Lösung zu blockieren. Angesichts der Tatsache, dass Amerikaner und Sowjets einen großen Prozess befürworteten und auch die neue französische Regierung unter General de Gaulle einem derartigen Vorhaben zugestimmt hatte, erkannte die Churchill-Regierung, dass weiterer Fundamentalwiderstand in dieser Frage nur zu einer Isolierung Großbritanniens führen würde. Dementsprechend konzentrierte man sich von jetzt ab darauf, die Ausarbeitung eines praktikablen Prozessverfahrens zu fordern.

Court des CassationUNWCCIMT