Herausgegeben von Erich Marks und Helmut Fünfsinn

Mit Beiträgen von:

Anika Aschendorf, Dirk Baier, Frank Buchheit, Marc Coester, Mathieu Coquelin, Ute Frevert, Helmut Fünfsinn, Bernt Gebauer, Rüdiger José Hamm, Yuliya Hauff, Christian Heincke, Franziska Heinze, Annika Jacobs, Frank König, Oliver Malchow, Erich Marks, Karla Marks, Colette Marti, Björn Milbradt, Iris Alice Muth, Uwe Nelle-Cornelsen, Katharina Penev-Ben Shahar, Thomas Pfeiffer, Juliane Reulecke, Karoline Roshdi, Larissa Sander, Tanja Schwarzer, Kerstin Sischka, Daniel Speer, Rainer Strobl, Melanie Wegel, Tilman Weinig, Wolfgang Weissbeck, Merle Werner, Stefan Woßmann

Forum Verlag Godesberg GmbH 2019

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie: Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© Forum Verlag Godesberg GmbH, Mönchengladbach

Alle Rechte vorbehalten

Mönchengladbach 2019

Redaktion, Satz und Layout: Karla Marks

Coverdesign: Konstantin Megas, Mönchengladbach

Gesamtherstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt

Printed in Germany

978-3-96410-000-9 (Printausgabe)

978-3-96410-001-6 (eBook)

Inhalt

  1. Der 23. Deutsche Präventionstag im Überblick
  2. Praxisbeispiele und Forschungsberichte
  3. Autor*innen

Vorwort der Herausgeber

Der 23. Deutsche Präventionstag hat unter der Schirmherrschaft des Sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und unter dem Schwerpunktthema „Gewalt und Radikalität. Aktuelle Herausforderungen für die Prävention“ am 11. und 12. Juni 2018 in Dresden stattgefunden. Kongressgutachter zum Schwerpunktthema war Prof. Dr. Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften. Die Präventionsrede des Jahres 2018 hat im Rahmen der Eröffnungsveranstaltung Prof. Dr. Ute Frevert, Direktorin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin gehalten. Insgesamt haben mehr als 500 Expertinnen und Experten sowie Fachorganisationen an der inhaltlichen Gestaltung des 23. DPT durch Vorträge, Präsentationen und Moderationen mitgewirkt. Unter den 3.100 Teilnehmenden und Gästen befanden sich 170 internationale Kolleginnen und Kollegen, aus insgesamt 56 Staaten.

Das vorliegende Buch erscheint sowohl als Printausgabe als auch als EBook im Forum Verlag Godesberg. Darüber hinaus stehen die einzelnen Buchbeiträge zusätzlich zum kostenfreien Download (www.praeventionstag.de/nano.cms/dokumentation) zur Verfügung.

Die Beratungsergebnisse des 23. Deutschen Präventionstages werden erneut über verschiedene Medien und auf unterschiedliche Art und Weise dokumentiert. Der Kongresskatalog umfasst insbesondere die Abstracts zu allen Vorträgen und Ausstellungsständen sowie der weiteren Kongressbereiche.

Der Katalog war in gedruckter Form Teil der Kongressunterlagen der Teilnehmenden und findet sich darüber hinaus im Internet (www.praeventionstag.de/nano.cms/kongresskataloge). Der Deutsche Präventionstag veröffentlicht alle dem von den Autorinnen und Autoren zur Verfügung gestellten Einzelbeiträge auf DPT-Portal www.praeventionstag.de.

Ergänzt und unterstützt werden die verschiedenen Dokumentationsformen durch den DPT-YouTube Kanal, englischsprachige Publikationen, die Tägliche Präventions-News, die Daily Prevention News, die jeweiligen Jahresrückblicke sowie den Newsletter DPT-Intern.

Seit dem 13. Jahreskongress im Jahr 2008 in Leipzig wird der Deutsche Präventionstag durch das unabhängige Institut proVal (www.proval-services.net) evaluiert. Hierfür gilt es auch an dieser Stelle ebenso zu danken wie den über die Jahre vielen tausend Teilnehmenden, die uns nach den jährlichen Kongressen wichtige Rückmeldungen für die Planungen der kommenden Jahre gegeben haben. Alle bislang vorliegenden Kongressevaluationen sind auf der DPT-Internetplattform (www.praeventionstag.de/nano.cms/evaluation) archiviert und – wie auch in diesem Band – in den jeweiligen Buchdokumentationen veröffentlicht. Für den 23. Deutschen Präventionstag kommt die Evaluation in ihrem Fazit erneut zu einer sehr positiven Gesamtbewertung.

Die Herausgeber danken im Namen des Deutschen Präventionstages allen Personen und Institutionen, die in vielfältiger Weise den hier dokumentierten 23. Jahreskongress und somit dieses Buch ermöglicht haben. Namentlich danken wir allen Autorinnen und Autoren, dem gesamten DPT-Team, Karla Marks für Redaktion, Satz und Layout sowie Carl Werner Wendland für die verlegerische Betreuung.

Hannover / Frankfurt im August 2019

Erich Marks und Helmut Fünfsinn

Ute Frevert

Gewalt und Radikalität, heute und gestern

Wie geht man, wie geht die Gesellschaft mit Gewalt und Radikalität um und wie beugt sie ihnen vor? Praktiker haben damit konkrete Erfahrungen gemacht – und fragen sich möglicherweise, was denn eine Historikerin überhaupt zu diesem Thema beizutragen hat.

Was ich versprechen kann, ist: Entdramatisierung. Als Zeitgenossen oder gar unmittelbar Involvierte neigen wir in der Regel dazu, all das, was uns widerfährt, hochdramatisch zu finden – hochdramatisch und nie dagewesen, völlig neu und deshalb überwältigend. Historiker aber haben einen weiten Blick in und auf die Vergangenheit. Ihr Rück-Blick kann helfen, unsere Gegenwart besser einzuordnen in das Kontinuum der Zeit. Er kann ältere Traditionslinien aufspüren, vergangene Erfahrungen zurückholen ins Gedächtnis, das zunehmend zum Kurz-Zeit-Gedächtnis wird. Rückholung und Erinnerung erleichtern es zugleich, Neues, nie Dagewesenes genauer zu identifizieren und ins Bewusstsein zu heben. Dabei geht das angeblich so Dramatische, Skandalöse automatisch stiften – und das ist gut so, denn im Zeichen von Skandalisierung und Dramatisierung lässt sich keine gute Politik machen.

Gewalt und Radikalität: Das sind zwei Begriffe, die uns schaudern lassen, die eigentlich nicht hineingehören in unsere zivilisierte Welt, in der wir Kindern schon in Familie und Schule beibringen, Respekt voreinander zu haben und zu praktizieren – und vor allem: Konflikte nicht mit Gewalt lösen zu wollen.

Aber – das darf man nicht vergessen – dieser Lernprozess verläuft langsam, quälend langsam, in jeder einzelnen Person und in der Gesellschaft insgesamt.

Historisch, auf längere Sicht haben wir dabei durchaus Fortschritte gemacht. Gewaltkriminalität, vor allem Mord oder schwere Körperverletzung, geht tendenziell zurück, sagt die Kriminalstatistik. Manches, was früher erlaubt war, steht jetzt unter Strafe, wie die Vergewaltigung in der Ehe oder sexuelle Belästigung. Sicher sind die Dunkelziffern hoch. Aber das waren sie auch schon im späten 19. Jahrhundert, als der Staat und seine Beamten damit begannen, Zahlen über angezeigte Straftaten und deren Ahndung zu sammeln und zusammenzuführen.

Auch die nicht aktenkundige Gewalt – zum Beispiel unter männlichen Jugendlichen und jungen Männern – hat in unseren Breiten vermutlich eher nicht zugenommen. Prügeleien auf dem Schulhof oder auf dem Nachhauseweg kommen heute vor, kamen aber auch schon vor hundert oder zweihundert Jahren vor. Mit dem Unterschied, dass sich damalige Kinder und Teenager die Erwachsenen zum Vorbild nehmen konnten. Väter und Lehrer prügelten bis in die 1970er Jahre munter drauflos. Kirchweihfeste und Jahrmärkte waren Ereignisse, bei denen die Männerfäuste flogen, oft in alkoholisiertem Zustand.

Gewalt war als Straf- und Disziplinarmittel bis weit ins 20. Jahrhundert hinein selbstverständlich. Nur mit Mühe hat man sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts von der öffentlichen Prügelstrafe verabschiedet. In geschlossenen Räumen aber, in Schulen wie in Erziehungsheimen, in Gefängnissen oder beim Militär, durfte weiter geprügelt werden, und nicht zu wenig.

Auch das gehört zu Gewalt: die „legitime“ Gewalt, die Autoritätspersonen gegenüber ihren Untergebenen anwenden. Noch im Ersten Weltkrieg beschwerten sich Soldaten über die unwürdigen, ihnen Gewalt antuenden Strafen, mit denen Offiziere selbst kleinere Vergehen ahndeten. Aufgrund öffentlichen Drucks wurden diese Strafen dann abgeschafft, offiziell zumindest. Dass es inoffiziell immer noch ziemlich unwürdig und gewaltsam zugehen kann beim Militär, erfahren wir regelmäßig aus der Presse.

Zwei Dinge gilt es folglich zu beachten: Erstens ist Gewalt nicht nur der Fußtritt, den ein junger Mann aus lauter Spaß an der Freud oder als willkürliche Aggression einer jungen Frau in einer Berliner U-Bahn-Station verpasst und der sie die steile Treppe hinunterfallen lässt. Gewalt ist auch dort am Werk, wo Institutionen hinter geschlossenen Türen Disziplin und Gehorsam einüben, oft mithilfe physischer Gewalt. Beide Formen von Gewalt haben, zweitens, eine lange Tradition. Sie sind nicht erst im 21. Jahrhundert aufgetaucht.

Trotzdem hat sich einiges geändert in den vergangenen Jahrzehnten: Zum einen ist es gelungen, die öffentlichen Institutionen einigermaßen gewaltfrei zu machen. Das war alles andere als ein Selbstläufer. Immer wieder haben Zeitgenossen Kritik an gewaltsamen Übergriffen geübt, Petitionen eingereicht, Beschwerden geschrieben. Es hat lange gedauert. So hat der Gesetzgeber bis ins Jahr 2000 gewartet, um jedem Kind das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung zuzusichern.

Zum anderen hat sich die Sensibilität der Öffentlichkeit geändert. Was im 19. Jahrhundert üblich war, erregt heute Aufmerksamkeit und Anstoß. Es war letztendlich eine neue Generation von Eltern, die den prügelnden Lehrern in den Arm fielen – aber eben erst in den späten 1960er Jahren. Ein zentrales Motiv war die Abwehr gegen Demütigung. Demütigung muss nicht immer und automatisch mit physischer Gewaltausübung einhergehen. Demütigen kann man auch durch Blicke, Worte, Gesten – und ihre Unterlassung (wenn ich jemanden ostentativ nicht grüße). Umgekehrt aber wirkt Gewalt immer demütigend: Sie macht dem Opfer deutlich, dass der Täter keinen Respekt vor ihm hat, dass er es buchstäblich in den Staub tritt.

Demütigung ist in dem Maße zu einem Problem geworden, wie sich unsere Gesellschaft demokratisiert hat und wir den Grundsatz bürgerlicher Gleichheit verinnerlicht haben. Von daher ist es kein Zufall, dass die Sensibilität für Demütigung mit dem Lernen und Einüben demokratischer Werte und Verhaltensformen wuchs. Die späten 1960er und 1970er Jahre bilden hier eine Wasserscheide. Die breitflächige Attacke gegen Autoritäten – Professoren, Lehrer, Polizisten, Richter etc. – war verbunden mit dem Anspruch, sich von ihnen nicht mehr in die Knie zwingen zu lassen. Das kann man fast wörtlich nehmen.

Damit sind aber die Gewalt und das Demütigungspotential unter Gleichen noch nicht strukturell vom Tisch. Die Berichte über Mobbing unter Schülern oder Arbeitskollegen sprechen Bände. Andererseits ist auch das keine ganz neue Erscheinung. Neu ist lediglich die Empörung über solche Verhaltensweisen, die Empfindlichkeit, mit der Menschen darauf reagieren.

Und neu ist auch die Frequenz, mit der Bürger und Bürgerinnen davon erfahren. Die Presse berichtet darüber. Noch viel umtriebiger sind die sozialen Medien, in denen sich solche Mobbings oft abspielen und die ihre Nutzer darüber ins Bild setzen. Es gibt Websites, auf denen man den sogenannten happy slappings zuschauen kann; andere Zeitgenossen posten, zustimmend, ihre Videoaufnahmen von Gruppenvergewaltigungen.

Wir neigen dazu, dies als Verrohung unserer Gesellschaft zu beschreiben, als eine neue Qualität und Quantität von Gewalt, die sich manche Mitglieder der Gesellschaft über andere anmaßen. Ob die Umgangsformen hierzulande tatsächlich so viel roher und respektloser sind als noch vor dreißig, fünfzig oder hundert Jahren, ist schwer nachzuprüfen. Was zählt, ist, dass wir sie so empfinden. Und das wiederum hat mit einer im Vergleich zu früher größeren Erwartung zu tun, dass Bürger einander mit jener Achtung begegnen, die sie von anderen für sich beanspruchen.

Gewalt setzt diese Achtung außer Kraft und verneint sie. Manchmal ist Gewalt ohne Richtung, hat keinen unmittelbaren Anlass und trifft ihr Objekt eher zufällig, ist damit im eigentlichen Sinne nicht strategisch und machtbetont. Sehr viel häufiger aber richtet sich die ausgeübte Gewalt, körperlich oder verbal, gegen konkrete Opfer, und das sind immer die Schwächeren: Obdachlose, Ausländer und vor allem: Frauen. Wer die Hassmails liest, die exponierte Politikerinnen und Journalistinnen wie Claudia Roth oder Dunja Hayali erhalten, der kann nur erschrecken vor so viel gerichteter, lustvoller Aggressivität. Fast alle diese Hassmails kommen von Männern, und alle zielen auf das Geschlecht der Angegriffenen. Das jedenfalls ist neu. Wie man diesem genuin männlichen Hass beikommen kann, wäre ein wichtiges Thema auf einer großen Tagung über Prävention.

Noch ein Wort zur Radikalität. Radikal sein ist ja eigentlich nichts Schlimmes. Radikal bedeutet, etwas an der Wurzel zu fassen, grundsätzlich, tiefschürfend, unbeugsam. Aber es bedeutet eben auch: Kompromisslosigkeit. Wer sich radikal verhält, ist nicht auf Verständigung aus, sondern will seine eigenen Positionen durchsetzen. Ein radikaler Moralist – und fast alle Radikalen sind Moralisten – lässt keine anderen Meinungen gelten, er stellt seine Moral nicht zur Verhandlung. Mit Radikalen reden fällt schwer, denn sie hören nicht zu – oder lassen sich doch keinen Nanomillimeter von ihrer Position abbringen.

Deutschland hat viel Erfahrung mit Radikalität. Die späten 1920er und frühen 1930er Jahre waren geprägt von einer politischen Radikalisierung, die zwei Lager – Kommunisten und Nationalsozialisten – gleichermaßen erfasste und in eine Spirale der Gewalt hineinzog. Es gab damals sogar Prügeleien im Reichstag und verbale Kriegsspiele, die im Bundestag bislang noch ausgeblieben sind. Auch die sogenannte Politik der Straße ist heute sehr viel ziviler als damals, als paramilitärische Verbände aufeinander eindroschen und politische Morde begingen.

Trotzdem darf man die neue Radikalisierung, wie sie derzeit zu beobachten ist, nicht kleinreden. Sollte sie tatsächlich zu einer größeren Bewegung führen, wäre das eine ernste Gefahr für unsere Demokratie. Denn Demokratie zeichnet sich dadurch aus, dass widerstreitende politische Meinungen und Interessen gewaltfrei miteinander ringen. Dieses Ringen geht selten so aus, dass die eine Seite den Sieg davon trägt und die andere klein beigibt. In der Regel findet man einen Kompromiss, der für beide Seiten lebbar ist. Die Verweigerung des Kompromisses aber, unter dem Vorzeichen der Radikalität, bedeutet das Ende demokratischer Kommunikation.

Hier ist die vielbeschworene Mitte der Gesellschaft gefragt. Der Nationalsozialismus hat es in den 1930er Jahren geschafft, diese Mitte zu erobern und ebenfalls zu radikalisieren. Heutzutage sollte es, gerade angesichts der günstigen Wirtschaftslage und einer 70jährigen Lernerfahrung in Demokratie, einfacher sein, die Mitte stabil und bei der demokratischen Sache zu halten.

Das heißt nicht, die radikalen Extreme außer Acht zu lassen. Aber es gilt, einen Spalt zwischen die Extremisten und jene Bürger zu treiben, die ihnen ihre Proteststimme geben. Sie sollten ihren Platz in der breiten demokratischen Mitte wieder einnehmen, und mit ihnen muss man um Kompromisse streiten. Auch das gehört zur Prävention.

Dirk Baier

Gewalt und Radikalität –

Forschungsstand und Präventionsperspektiven1

Gutachten

für den 23. Deutschen Präventionstag

am 11. & 12. Juni 2018 in Dresden

Zürich, im Mai 2018


1 Der Autor bedankt sich für die vielfältigen Anregungen zu einer ersten Version des Gutachtens im Rahmen des Heiligenberger Gesprächs am 23.2.2018. Der Dank gilt namentlich Andreas Armborst, Andreas Beelmann, Marc Coester, Stefan Daniel, Irmtraud Eckart, Miryam Eser, Michaela Glaser, Claudia Heinzelmann, Anja Herold-Beckmann, Thomas Heppener, Bernd Holthusen, Saskia Lützinger, Erich Marks, Andreas Mayer, Thomas Müller, Jürgen Mutz, Harald Schmidt und Céline Sturm.

Inhaltsverzeichnis Gutachten

  1. Einleitung
  2. Begriffe, Modelle und Faktoren
  3. Aktuelle Daten zu physischer Gewalt und politischem Extremismus
  4. Die Prävention von Gewalt und politischem Extremismus
  5. Ausblick

1. Einleitung

Gewalt und Radikalität sind Themen mit hoher Aktualität und „Dauerbrenner“ in den Medien. Dies ist folgenreich: Laut einer bundesweit repräsentativen Befragung aus dem Jahr 2017 haben 71 % der deutschen Angst vor Terrorismus und 62 % Angst vor politischem Extremismus.2 Diese beiden Ängste führen damit aktuell die Hitliste der Ängste der Deutschen an.

Gewalt und Radikalität umfassen zugleich ein breites Spektrum an Verhaltensweisen; zudem sind zumindest unter dem Begriff der Radikalität auch spezifische Einstellungsmuster zu fassen, was das Spektrum der zu betrachtenden Phänomene noch einmal vergrößert. Das verbindende Moment zwischen all diesen Phänomenen ist, dass sie als mögliches Ende eines Radikalisierungsprozesses verstanden werden können. Sowohl die Gewaltanwendung als auch verschiedene Formen der Radikalität sind Ergebnis einer Radikalisierung. Insofern handelt es sich in gewisser Weise um Äquivalente, die an dieser Stelle gemeinsam betrachtet werden können, wobei gleichwohl ein Schwerpunkt auf das Thema extremistischer Radikalität gelegt werden soll.

Radikalität bedeutet entsprechend des lateinischen Wortstamms, dass spezifische Ideen „zu Ende gedacht“, „bis zu den Wurzeln“ gedacht werden. Dabei kann es sich um verschiedene Ideen handeln; vor dem Hintergrund der derzeitigen Lage im deutschsprachigen Raum werden auch in diesem Gutachten nicht alle möglichen Formen der extremistischen Radikalität betrachtet, sondern es geht um ideologischpolitische Formen der Radikalität. Für diese bietet sich der Begriff des politischen Extremismus an. Politischer Extremismus ist eine aktuelle Form der Radikalität. Nachfolgend soll dabei eine Betrachtung verschiedener politischer Extremismen erfolgen, d.h. unter dem Begriff der Radikalität wird nicht allein der islamistische Extremismus (auch als Dschihadismus oder Salafismus3 bezeichnet) verstanden, sondern es werden ebenso der Rechtsextremismus und der Linksextremismus als derzeit besonders relevante Formen des politischen Extremismus berücksichtigt.

Anspruch der nachfolgenden Ausführungen ist es dabei, empirisch, d.h. datenbasiert die aktuelle Lage und derzeitige Entwicklungstrends einzuschätzen. Aus diesem Grund werden in umfassender Form verschiedene Statistiken präsentiert. Hierzu gehören Hellfelddaten der Polizeilichen Kriminalstatistik ebenso wie Dunkelfelddaten aus Befragungsstudien, zu denen verschiedene Sonderauswertungen dargestellt werden. Auf Basis der Analyse von empirischen Daten ist es einerseits möglich, sich den realen Entwicklungen anzunähern, die i.d.R. weniger dramatisch ausfallen als dies allgemein angenommen wird – gerade zu den Themen Gewalt und Radikalisierung sind Dramatisierungen wenig hilfreich. Andererseits ermöglicht die differenzierte Betrachtung, einige Leitlinien bzw. Herausforderungen für die zukünftige Präventionsarbeit zu benennen.

Auch wenn Gewalt und Radikalität vor allem im Jugend- und Heranwachsendenalter einen Zuspruch erfahren, wird sich nachfolgend nicht allein auf die Betrachtung dieser Altersgruppen beschränkt. Dies würde verhindern, die Rolle anderer Altersgruppen adäquat in den Blick zu nehmen. Anspruch ist es, den deutschsprachigen Raum zu betrachten, wobei insbesondere bei den empirischen Auswertungen Ergebnisse aus Deutschland im Mittelpunkt stehen.

2. Begriffe, Modelle und Faktoren

2.1. Begriffe und Modelle

Als Gewalt kann der intentionale Einsatz physischer oder mechanischer Kraft durch Menschen, der sich unmittelbar oder mittelbar gegen andere Personen richtet, verstanden werden (vgl. u.a. Böttger 1998). In der Literatur werden unter dem Begriff der Gewalt auch verbal oder relational schädigende Verhaltensweisen verstanden, für die jedoch der Begriff der Aggression angemessener ist.4 Im Folgenden wird nicht die gesamte Spannbreite negativer, potentiell schädigender, aggressiver Verhaltensweisen betrachtet, sondern es wird eine Fokussierung auf physische Gewalt vorgenommen, d.h. entsprechend der Klassifikation von Buss (1961) auf direkt-körperliches, aggressives Verhalten (Übergriffe wie Schlagen, Treten, Angriff mit Waffe), da für diese Gewaltform Daten aus dem Hell- wie dem Dunkelfeld vorliegen und da dieses Verhalten im besonderem Maße (u.a. auch dann, wenn es in Zusammenhang mit extremistischen Zielen steht) dazu beiträgt, Empfinden, Denken und Handeln der Bevölkerung im Allgemeinen und Politik im Besonderen zu beeinflussen.5

Im Gegensatz zum Begriff der physischen Gewalt geht das Verständnis zum Begriff der Radikalität weit auseinander. Gewöhnlich wird dabei nicht der Begriff Radikalität, sondern der Radikalisierung genutzt. Auch dabei handelt es sich um einen umstrittenen, in verschiedener Art und Weise benutzten und insgesamt unklaren Begriff (u.a. Malthaner 2017). Einigkeit besteht insofern darin, dass es sich um einen Prozess handelt, der dazu führt, dass sich Personen oder Gruppen radikalisieren, und zwar hinsichtlich ihrer Überzeugungen oder ihres Verhaltens. Obwohl sich der Begriff Radikalisierung auf die kollektive Ebene beziehen kann und hier beschreibt, wie sich Gruppen, Organisationen, Parteien usw. verändern (u.a. Della Porta 1995), soll an dieser Stelle die individuelle Ebene im Mittelpunkt stehen, wobei nicht ignoriert werden darf, dass „individual trajectories are linked to social contexts“ (Malthaner 2017, S. 377) und daher die individuelle Radikalisierung mit kollektiven Radikalisierungen in Beziehung steht. Mit Khosrokhavar (2014) kann Radikalisierung dann als Prozess definiert werden, der dazu führt, dass Individuen Gewalt einsetzen, um extremistische Ideen durchzusetzen. Allerdings ist es wichtig, gleichfalls die ideologische Radikalisierung zu betrachten, d.h. die Übernahme extremistischer Einstellungen, die auch als Vorläufer oder Auslöser extremistischer Gewalt gelten können.

Der Fokus auf die individuelle Ebene lässt sich u.a. mit dem „Spezifitätsproblem“ (Pisoiu 2013, S. 48) begründen: Makro- und Mesoansätze können nicht erklären, „dass nicht alle Individuen, die von Radikalisierungsfaktoren betroffen sind, sich auch tatsächlich radikalisieren und gewalttätig werden. Zudem sind nicht alle sich radikalisierenden Individuen von diesen strukturellen Ursachen und Prozessen betroffen“.

Auch Alava et al. (2017) weisen auf die verschiedene Verwendung des Begriffs Radikalisierung hin, der z.T. synonym zu Begriffen wie Fundamentalismus, Dschihadismus, Extremismus oder Terrorismus verwendet wird. In Übereinstimmung mit der Definition der Europäischen Union bzw. der Vereinten Nationen6 definieren sie Radikalisierung wie folgt: „the term [... ] is referred to as a process that leads to extremism and possibly terrorism“. In dieser Definition klingt eine wichtige Unterscheidung an: zwischen Radikalität und Extremismus. Radikalität kann nicht generell als problematisch eingestuft werden sondern kann auch zu Innovation und damit zu gesellschaftlichem Fortschritt führen, worauf bereits Moscovici (1976) aufmerksam gemacht hat; ökologische oder feministische Bewegungen stehen beispielhaft für eine innovative Radikalität. Extremismus hingegen schließt die Zustimmung zur Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung der Ziele ein: „Während Extremisten Gewalt zur Veränderung der Gesellschaft einsetzen, tun Radikale das nicht unbedingt, obwohl auch ihr Ziel die Umwälzung der herrschenden Verhältnisse ist“ (Aslan et al. 2018, S. 18).

An dieser Stelle soll sich daher an der Definition von Beelmann et al. (2017, S. 441) orientiert werden, nach der es sich bei der Radikalisierung um einen Entwicklungsprozess handelt, „an dessen Ende eine von geltenden Rechtsnormen signifikant abweichende extremistische Grundhaltung steht, die auf eine gewaltsame Änderung bestehender gesellschaftlicher und staatlicher Verhältnisse ausgerichtet ist“; oder wie Neumann (2013, S. 874) noch kürzer und prägnanter formuliert: „the process whereby people become extremists“.

Statt der Radikalität werden daher im Folgenden Phänomene des Extremismus (und Prozesse, die zum Extremismus führen) betrachtet. Dabei soll sich entsprechend der aktuellen gesellschaftlichen Relevanz auf Formen des politischen Extremismus konzentriert werden. Politischer Extremismus ist dadurch gekennzeichnet, dass er den demokratischen Verfassungsstaat ablehnt und einerseits dessen „konstitutionelle Komponente (Gewaltenteilung, Grundrechtsschutz), andererseits seine demokratische (Volkssouveränität, menschliche Fundamentalgleichheit)“ (Goertz/Goertz-Neumann 2018, S. 11) beseitigen oder einschränken möchte. Die verschiedenen Extremismen haben demnach einige Gemeinsamkeiten: sie richten sich gegen das Grundgesetz bzw. die Verfassung eines Landes; sie sind anti-demokratisch, anti-pluralistisch und autoritär; sie sind intolerant, nicht an Kompromissen interessiert, einem Schwarz-Weiss-Denken verhaftet; sie lehnen das geltende Recht ab; sie betrachten alle Mittel als gerechtfertigt, um ihre Ziele zu erreichen (vgl. auch Schmid 2011, S. 630). Auch Eser Davolio und Lenzo (2017, S. 12) stellen die Gemeinsamkeiten verschiedener Formen des politischen Extremismus heraus: Hierzu zählen, das Schwarz-Weiß-Denken, Freund-Feind-Schemata, der Wahrheitsanspruch, die Kameradschaft, die Demokratiefeindlichkeit, die Medienfeindlichkeit und der Antisemitismus. Der Gegner des politischen Extremismus ist der demokratische Verfassungsstaat, der gekennzeichnet ist durch: „Abwahlmöglichkeit, Gewaltenkontrolle, Grundrechte, Individualitätsprinzip, Pluralismus, Rechtsstaatlichkeit und Volkssouveränität“ (Pfahl-Traughber 2017, S. 47). Die Haltung zur Demokratie ist neben der Gewaltbefürwortung Merkmal, in dem sich Radikale und Extremisten deutlich unterscheiden: „while radicals might be violent or not, might be democrats or not, extremists are never democrats“ (Schmid 2013, S. 10).

Zusammenfassend lässt sich politischer Extremismus daher wie folgt definieren: Hierunter werden diejenigen Einstellungsmuster und Verhaltensweisen bezeichnet, die durch eine Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates, seiner Grundwerte und Verfahrensregeln gekennzeichnet sind und die anstreben, diesen – unter Anwendung von Gewalt – zu überwinden (vgl. Baier et al. 2016). Beelmann (2017, S. 9ff) folgend umfasst Extremismus vier Kernelemente: 1. Ausgeprägte Vorurteilsstrukturen (beim Rechtsextremismus z.B. Ethnozentrismus); 2. Wahrnehmungen von Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen; 3. eine klare Einstellung gegen Demokratie und Menschenrechte; 4. eine Gewaltaffinität bzw. Gewaltbereitschaft und/ oder ein (politisch motiviertes) Gewalthandeln. Zu unterscheiden sind aktuell mindestens drei Formen des politischen Extremismus7:

Letztlich charakterisieren neben den angesprochenen verbindenden Elementen der verschiedenen Extremismen (Demokratiefeindlichkeit, Gewaltbefürwortung, Freund-Feind-Denken usw.) jeweils spezifische ideologische Ziele die einzelnen Extremismusformen. Baier und Manzoni (2017) haben hierzu eine eigene Konzeption vorgelegt und Messinstrumente konstruiert, um die verschiedenen Extremismen in standardisierten Befragungen zu erfassen. Die ideologischen Ziele des Rechtsextremismus bestehen demnach in der Diktaturbefürwortung, dem Sozialdarwinismus, dem Rassismus, der Ausländerfeindlichkeit, der Muslimfeindlichkeit und dem Antisemitismus. Der Linksextremismus ist gekennzeichnet durch Kommunismus, eine No-Border-Orientierung, Kapitalismusfeindlichkeit und Feindlichkeit gegenüber Polizei und Staat. Im islamistischen Extremismus geht es um diese Ziele: Einführung von Gottesstaat und Sharia, Höherwertigkeit des Islam, Feindlichkeit gegenüber dem Westen, Feindlichkeit gegenüber nichttraditionellen Muslimen, Feindlichkeit bzgl. der autochthonen Bevölkerung (z.B. Deutschenfeindlichkeit).

Ein wichtiges Kennzeichen des politischen Extremismus besteht dahingehend, dass einerseits Verhaltensweisen, andererseits Einstellungen zu beachten sind. Bislang dominiert dabei die Einstellungsforschung. Allerdings finden sich auch verschiedene Studien, die extremistische Täter zum Ausgangspunkt der Analyse machen. Alles in allem werden extremistische Einstellungen und Verhaltensweisen weitestgehend unabhängig voneinander untersucht. Auch im Folgenden werden daher diese Untersuchungsebenen getrennt betrachtet. Wenn extremistisch motivierte Gewalt ausgeübt wird, dann wird diesbezüglich auch von Terrorismus gesprochen (vgl. für eine Diskussion des Begriffs auch Armborst 2017). Terrorismus beinhaltet, dass Gewalt gegen Personen oder Sachen ausgeführt wird, um politische, religiöse oder ideologische Ziele zu erreichen.

Im Zusammenhang mit dem Begriff der Radikalisierung wird zudem dem Konzept der De-Radikalisierung verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt. Dabei ist zwischen De-Radikalisierung und „disengagement“ zu unterscheiden. „Deradikalisierung beschreibt eine Umkehrung des kognitiven Radikalisierungsprozesses, also in der Regel die Aufgabe einer extremistischen Ideologie. Disengagement demgegenüber meint das Aufgeben gewalttätigen oder terroristischen Handelns, wobei die entsprechende Ideologie beibehalten werden kann“ (Illgner 2017, S. 17). Auch in dieser Definition spiegelt sich die Unterscheidung zwischen Einstellungen und Verhaltensweisen.

Der Prozess der Radikalisierung, d.h. der Prozess der Entwicklung zum Extremisten, wurde verschiedentlich versucht modellhaft abzubilden. Auf die mittlerweile zahlreichen Modelle der Radikalisierung kann an dieser Stelle nicht im Detail eingegangen werden (vgl. u.a. Ceylan/Kiefer 2018, S. 49ff). Ferguson et al. (2008) haben u.a. anhand des Nord-Irland-Konflikts verschiedene Faktoren benannt, die dazu beitragen, dass es zur Radikalisierung von Personen, insbesondere den Anschluss an gewalttätige Gruppierungen kommt. Hierzu zählen bspw. die Existenz von Missständen und wahrgenommenen Ungerechtigkeiten, die von gesellschaftlichen Subgruppen thematisiert werden. Diese Missstände („political grievances“) können sich nicht nur auf die kollektive Ebene beziehen (z.B. Benachteiligung und Unterdrückung bestimmter Gruppen), sondern auch auf die individuelle Ebene (Ungerechtigkeiten und Viktimisierungserfahrungen, die eine Person selbst betreffen (vgl. McCauley/Moskalenko 2008). Die Bedeutsamkeit von „grievances“ betont auch das Vier-Stufen-Model von Borum (2011a). Dieses Modell versucht, die Veränderungen abzubilden, die zum terroristischen Denken führen. Ausgangspunkt ist, dass eine Situation oder ein Ereignis als „not right“ eingestuft wird (der Missstand). Im darauffolgenden Schritt wird dieser Missstand als „not fair“, als ungerecht betrachtet. Der dritte Schritt umfasst, dass Verantwortung für diese Ungerechtigkeit attributiert wird (auf Personen, Gruppen, Staaten). Zuletzt kommt es zur Abwertung bzw. Dämonisierung des Verantwortungsträgers, womit eine Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt gegeben ist. Ähnliche Stufenmodelle stammen bspw. von Moghaddam (2005) oder Wiktorowicz (2005). Auch die Studie von Schils und Verhage (2017) bestätigt, dass wahrgenommene Missstände für die extremistische Radikalisierung wichtig sind: „feelings of general discontent and perceived injustice bring people to search for alternatives“ (S. 15).

Generell ist, wie bei anderen Phänomenen auch, davon auszugehen, dass Radikalisierung multikausal bedingt ist. „Causal factors often include broad grievances that ,push' individuals toward a radical ideology and narrower, more specific ,pull' factors attract them“ (Borum 2011a, S. 57). Precht (2007) unterscheidet zwischen drei verschiedenen Bereichen, in denen Faktoren für eine Radikalisierung zu verorten sind:

Malthaner (2017) fasst den Prozess der Radikalisierung pointiert wie folgt zusammen: Es handelt sich um „individual pathways of ,becoming an extremist'“ (S. 392), „triggered by a personal crisis, facilitated by (pre-existing) personal ties, and driven by dynamics within small groups of friends“ (S. 382).

Leuschner et al. (2017) formulieren anhand von sechs Thesen ein Modell, um den Prozess der Radikalisierung zu beschreiben, wobei sie insbesondere die Gemeinsamkeiten zwischen terroristischen Anschlägen und School-shootings herausarbeiten. Ihre erste These lautet: „Ausgangspunkt der Vorfeldentwicklung sind persönliche Kränkungen und Krisen (personal grievances)“ (S. 59). Diese Kränkungen und Krisen führen zu einer „suchenden und sondierenden Haltung in Bezug auf neue Lebenskonzepte und Deutungsmuster“ (S .61); hiermit einher geht eine Öffnung für extremistische Ideologien. Wird das „Selbstkonzept im Lichte der Ideologie interpretiert“, kommt es zu einer „Neudefinition des Selbstkonzepts“ und zu einer „Zuspitzung der Radikalisierung“ (S. 64).

Auch Matt (2017) skizziert ein Modell der Entwicklungspfade in die Radikalität. Der Einstieg erfolgt demnach über Beziehungen zu Personen, die bereits aktiv sind, oder aber über das Internet. Motiviert wird dieser Einstieg durch eine Unzufriedenheit mit der eigenen Situation. In den Beziehungen zu aktiven Personen bzw. aufgrund der Internetaktivitäten entsteht ein Gefühl der Zugehörigkeit und damit einer Unterscheidung von Ingroup und Outgroup. Im nächsten Schritt erfolgt eine allmähliche Loslösung vom bisherigen Leben, den bisherigen Haltungen, Beziehungen und Gewohnheiten. Auf diesem Weg wird eine neue, bedeutsame Identität aufgebaut. Als zentral wird in dieser Konzeption der Gruppenprozess erachtet, durch den eine Zugehörigkeit etabliert wird.

In der Transformative Learning Theory (Wilner/Dubouloz 2010) wird davon ausgegangen, dass persönliche Krisen den Ausgangspunkt für eine Radikalisierung darstellen. Können diese Krisen nicht mit den vorhandenen Möglichkeiten (sog. meaning schemes) bewältigt werden, so werden neue Muster gesucht, die identitätsstiftend sind. Hiermit verbunden ist eine Offenheit auch für extremistische Deutungen und Angebote. Krisen und Erfahrungen des Scheiterns werden auch von Steffen (2015) als Ursache für eine Radikalisierung benannt. Ähnlich formuliert Zick (2017, S. 23): Der Radikalisierungsprozess „kann bei Erfahrungen beginnen, wie z.B. individuelle Missachtungs- und Desintegrationserfahrungen, die zu einer Nähe zu anderen Personen führen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben und mit denen sich soziale Motive einfacher erfüllen lassen. Die Nähe erhöht die Wahrscheinlichkeit der Annahme von Botschaften, die Überzeugungen enthalten. Diese binden sich an extremistische Gruppen oder bilden sie, sodass sich ultimative Identitäten entwickeln. In diesem Zug bilden sich sukzessive radikale Strukturen und Interaktionssysteme heraus, die unabhängig von allen individuellen Erfahrungen und Motiven die Subjekte prägen“ (Zick 2017, S. 23).

Eine Herausforderung für alle Modelle ist, dass Einstellungen und Verhaltensweisen nicht notwendiger Weise übereinstimmen müssen. Oder anders ausgedrückt: Es gibt Personen, die gewalttätige oder extremistische Einstellungen befürworten, aber nicht entsprechend handeln; und es gibt Personen, die sich gewalttätig und extremistisch verhalten, deren Ursachen aber nicht in entsprechenden Einstellungen und Überzeugungen liegen (u.a. Borum 2011). Verschiedene Autoren schlagen daher vor, den Prozess der Radikalisierung zu unterscheiden von Einstellungen vom Prozess der Radikalisierung des Verhaltens (z.B. McCauley/Moskalenko 2014). Aslan et al. (2018, S. 19) sprechen von „kognitiver und gewalttätiger Radikalisierung“.

Von besonderer Bedeutung ist zudem, dass Radikalisierung nicht allein auf Krisen und wahrgenommenen Missständen beruhen muss. Personen, die bereits eine kriminelle Vergangenheit haben, die u.a. auf Sozialisationsdefiziten beruht, wenden sich ebenfalls nicht selten dem Extremismus zu, weil sie hier ihr Bedürfnis nach Risiko und Gewalt ausleben können. So zeigt sich bspw., dass etwa zwei Drittel der aus Deutschland nach Syrien bzw. in den Irak ausgereisten Personen vor diesem Radikalisierungsschritt bereits kriminell auffällig gewesen waren (Bundeskriminalamt 2016). In Bezug auf Rechtsextreme und Linksextreme bestätigen Eilers et al. (2015), dass häufig eine kriminelle Vorgeschichte vorhanden ist. Für den Rechtsextremismus weisen auch bereits die Ergebnisse von Willems et al. (1993) darauf hin, dass sich allgemein auffällige bzw. kriminelle Jugendliche häufiger dem Rechtsextremismus anschließen.

Auch die Analyse von straffällig gewordenen islamistischen Aktivisten bestätigt, dass es mehrere Wege der Radikalisierung gibt (Srowig et al. 2017). Zwar verweist diese Analyse darauf, dass persönliche Krisen im Sinne einer Erkrankung oder eines Verlusts einer nahestehenden Person von Bedeutung sind. Zugleich werden auch allgemeine, delinquenzerhöhende Einflussfaktoren identifiziert, so z.B. Gewalterfahrungen in der Familie sowie Alkohol- und Drogenkonsum.

Die Ausführungen zu den verschiedenen Modellen der Radikalisierung können grafisch anhand Abbildung 1 zusammengefasst werden. Unterschieden werden darin zwei Pfade der Radikalisierung. Der erste Pfad bezieht sich darauf, dass mikro- und mesosoziale Hintergrundfaktoren eine kriminogene Sozialisation zur Folge haben. Dieser Pfad bildet mehr oder weniger eine delinquente Karriere ab, die in spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen (u.a. geringe Selbstkontrolle und Empathie, Defizite in der Informationsverarbeitung, geringe Bildung) und familiären, schulischen oder nachbarschaftlichen Bedingungen (u.a. negativer elterlicher Erziehungsstil, schulischer Misserfolg, geringe soziale Kohäsion im Wohnumfeld) ihren Ausgangspunkt hat. Ergebnis der kriminogenen Sozialisation ist eine fehlende Norminternalisierung; es besteht eine Identität, die Delinquenz einschließt und die auch eine Bereitschaft beinhaltet, sich im Bereich des politischen Extremismus zu engagieren.

Der zweite Pfad (gestrichelte Pfeile) fußt nicht auf defizitären Sozialisationserfahrungen, wobei nicht ausgeschlossen wird, dass diese durchaus eine Bedeutung dafür haben, wie mit krisenhaften Situationen umgegangen wird. Ausgangspunkt dieses Pfades sind krisenhafte Erfahrungen, die sich auf die persönliche Ebene beziehen können (z.B. Krankheit, Trennung/Tod eines Elternteils, Benachteiligungserleben) oder aber auf die soziale Ebene (insb. Wahrnehmung gesellschaftlicher Missstände im Umgang verschiedener Gruppen miteinander). Diese krisenhafte Situation löst eine Identitätskrise, die Suche nach einer neuen Orientierung, nach Sinn aus. Es findet eine identitätsbezogene Öffnung für Neues statt.

Wie Abbildung 1 verdeutlicht, sind für die Phasen der Identitätsformierung (Pfad 1) und der Identitätssuche (Pfad 2) makro- und mesosoziale Kontextbedingungen bedeutsam. Als Kontextbedingungen sind dabei verschiedene Faktoren zu betrachten: die Existenz und Aktualität von Ideologien oder religiösen Ideen; die Verfügbarkeit von Verhaltensvorbildern; die Gegenwart spezifischer Opportunitäten (z.B. Angebote extremistischer Gruppierungen im Wohnort); das Vorhandensein von Akteuren, die Normenkonformität stützen (z.B. Eltern, Lehrkräfte, Präventionsakteure). Die makro- und mesosozialen Kontextbedingungen wirken sich moderierend auf die weitere Entwicklung aus; dies macht die Erklärung bzw. Prognose individueller Entwicklungen schwer: Auch wenn eine kriminogene Sozialisation oder krisenhafte Sozialisationserfahrungen vorliegen, ist keine lineare Entwicklung zu Gewalt und Extremismus vorgegeben. Entscheidend ist, wie diese Erfahrungen mit dem Umfeld interagieren.

Wenn das Umfeld hierfür die Voraussetzungen liefert, dann zeigt sich häufig, dass der weitere Weg in Richtung Gewalt und Extremismus über Gruppen Gleichgesinnter führt. Diese Gruppen führen zu einer Abschottung gegenüber der Außenwelt; es werden eigene Norm- und Wertesysteme etabliert, die spezifische Einstellungen und Verhaltensweisen nahe legen. Gleichfalls bedeutet eine Abschottung in Gleichgesinntengruppen nicht, dass notwendig physische oder extremistische Gewalt gezeigt wird. Auch hier sind Kontextbedingungen förderlich oder hinderlich – wie generell nicht immer die Ausübung von Gewalt am Ende der Entwicklung stehen muss. So kann die Ausführung einer Gewalttat durch Sicherheitsbehörden oder auch einfach durch umstehende Personen verhindert werden.

Abbildung 1: Modell der Radikalisierung (eigene Darstellung)

Das in Abbildung 1 dargestellte Modell der Radikalisierung ist als ein Versuch der Ordnung des bisherigen Erkenntnisstandes zum Thema Radikalisierung einzustufen. Es beansprucht nicht, alle vorhandenen Wege der Radikalisierung abzubilden. Es versucht zugleich, Gewalt und Extremismus als Resultat von zwei möglichen Entwicklungspfaden zu sehen und damit auf Ähnlichkeiten in den Entstehungsprozessen der unterschiedlichen Phänomene hinzuweisen. Diese zwei Entwicklungspfade stellen Idealtypen dar; zwischen diesen Pfaden sind vielfältige Überschneidungen denkbar. Die Suche nach Identität kann bspw. auch für den Pfad der kriminogenen Sozialisation von Bedeutung sein.

2.2. Hintergrundfaktoren und Kontextbedingungen

Zu den verschiedenen in Abbildung 1 aufgeführten, die Radikalisierung beeinflussenden Hintergrundfaktoren und Kontextbedingungen liegen Befunde empirischer Studien vor.8 In diesem Abschnitt sollen ausgewählte Forschungsbefunde hierzu präsentiert werden.

Beelmann et al. (2017) kritisieren mit Bezug auf den Erkenntnisstand zu Einflussfaktoren der Radikalisierung, dass bislang keine entwicklungsorientierte Perspektive festzustellen ist. Anzustreben ist – wie in Bezug auf die Erklärung von Gewaltverhalten – die Identifikation von übergreifenden psycho-sozialen Entwicklungsbedingungen, da nur auf dieser Basis auch wirksame Präventions- und Interventionsmaßnahmen entwickelt werden können. Vorgeschlagen wird von Beelmann et al. (2017) ein Erklärungsmodell, das gesellschaftliche von sozialen und individuellen Risikofaktoren unterscheidet. Vergleichbar unterscheiden Frindte et al. (2016) Prädiktoren, die sich auf die Wahrnehmung makrosozialer, mesosozialer und mikrosozialer Bedingungen beziehen. Entsprechend der Unterscheidung in Abbildung 1 werden auch von anderen Autoren die Einflussfaktoren von Gewalt und Extremismus auf unterschiedlichen Ebenen verortet. Pisoiu (2013) unterscheidet bspw. die Makro-, Meso- und Mikroebene. Auch Bögelein et al. (2017) differenzieren die Einflussfaktoren entlang der Unterscheidung von Gesellschaft, Gruppe und Individuum. Vergleichbare Modelle finden sich im Bereich der Gewaltforschung (u.a. Beelmann/Raabe 2007).

2.2.1. Mikrosoziale Hintergrundfaktoren

Personenmerkmale: Beelmann et al. (2017, S. 444) vermuten, dass sich „extremistische Gewalt wahrscheinlich zu grossen Anteilen durch ähnliche Faktoren erklären [lässt; d.A.] wie andere Gewalttaten“. Personen, die Gewalt und Aggression als Mittel der Konfliktlösung einsetzen und insofern eine dissoziale Auffälligkeit aufweisen, dürften damit ein höheres Risiko der Radikalisierung aufweisen. Zusätzlich werden von Beelmann et al. (2017) u.a. folgende individuelle Risikomerkmale genannt: problematische sozial-kognitive Verarbeitungsmuster, überhöhter Selbstwert, Abenteuersuche und Impulsivität.