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Die rätselhafte Frau

Carola Christiansen

Kriminalroman

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Ich widme das Buch meinen Söhnen Sebastian und Benjamin. Ihr seid immer noch großartig.

*Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen wäre rein zufällig und ist nicht beabsichtigt. Die einzige Ausnahme ist der Hund. Chica gibt es tatsächlich, heißt aber im wahren Leben Nacho und gehört meiner Freundin Ami.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Die Personen

Kriminalistische Abkürzungen

Dank

Die Autorin

1

Die Frau stapfte durch den verlassenen Park. Es war nicht besonders empfehlenswert, sich an diesem Ort alleine im Dunkeln aufzuhalten, aber wenn sie wütend war, blieb ihr Verstand manchmal auf der Strecke.

Was für ein verdammter Idiot! Ihre Wut war umso heftiger, weil sie selbst schuld war. Sie holte tief Luft, allmählich beruhigte sie sich.

Ihre schnelle Gangart hatte sie trotz der Kälte zum Schwitzen gebracht. Ungeduldig zog sie am Reißverschluss ihrer Jacke. Sofort spürte sie die Kälte an ihrem Hals und schloss den Kragen wieder.

Ein schneidender Wind fegte um die Ecken und schien alle Hamburger in ihre warmen Stuben geweht zu haben. Nicht einmal Hundebesitzer ließen sich mit ihren Vierbeinern blicken. Ein einziger Unerschrockener versuchte einige Meter vor ihr, seine widerstrebende französische Bulldogge auf die Wiese zu zerren. Die großen Ohren des Tieres flatterten wie aufgeregte Schmetterlinge im Wind.

Der Sturm schob schwarze Wolken über den Himmel. Sie türmten sich bedrohlich über ihnen. Zu allem Überfluss setzte ein leichter, aber eisiger Regen ein. Für einen Augenblick beobachtete sie abwesend den Tanz der Hundeohren. Ob jetzt doch der Zeitpunkt zum Umkehren wäre? Aber ihre Wut war noch nicht verraucht, sie brauchte noch etwas Bewegung.

Entschlossen ging sie weiter. Es zog sie hinunter an den Elbstrand. Ihre Gedanken eilten ihr voraus und sie konnte es kaum erwarten, den nassen Sand unter ihren Stiefeln zu spüren.

Sie erreichte den kleinen Museumshafen in Övelgönne. Die Bergedorf schaukelte dort sicher vertäut und zog an ihren Leinen. Weiße Gischt tanzte auf den grauen Wellen. Ein einsamer alter Segler lag neben dem Restaurantschiff. Mit auf- und abschwellendem Kling-Klong schlugen die Metallseile der Takelage gegen den Mast.

Eine einsame Bushaltestelle vor dem Anleger. Regen prasselte gegen den Plexiglasverschlag, aber zumindest bot er einigermaßen Schutz vor den Elementen. Die Frau ging mit hochgezogenen Schultern vorbei. Später könnte sie dort auf den 112er zum Altonaer Bahnhof warten.

Der Weg zwischen Strandbars und Restaurants lag wie ausgestorben vor ihr. Dahinter endlich offenes Gelände, links die stürmische Elbe, rechts eine verwitterte Steinmauer. Darüber thronten die Häuser mit Elbblick.

Sie wandte sich dem Wasser zu. Bei jedem Schritt versanken ihre Stiefel in dem nassen Sand. Der Wind tobte um sie herum, er zerrte an ihrer Kleidung und klebte ihr salzige Locken ins Gesicht. Sie blieb stehen, die Haare wirbelten wie ein Vorhang vor ihren Augen. Mit beiden Händen versuchte sie, die Mähne zu bändigen und hinter die Ohren zu streichen. Sinnlos.

Vom gegenüberliegenden Ufer schimmerte gelber Lichtschein durch die Regenschleier. Die Natriumdampflampen der Werft warfen dort einen goldenen Weichzeichner über das Gelände.

Unvermittelt begann sie zu frieren. Sie hatte zu lange die Kälte ignoriert, die langsam in ihr hochgekrochen war. Gerade wollte sie sich umdrehen und den Rückweg antreten, als ihr Blick an etwas hängen blieb. Vor ihr am Ufer verdichtete sich die Dunkelheit zu einer formlosen, undeutlichen Masse, die halb von Wellen überspült wurde. Mit einem Schlag war der warme Bus vergessen.

Sie wurde schneller, und je näher sie kam, umso mehr bestätigte sich ihre Befürchtung: Das Strandgut hatte menschliche Umrisse. Atemlos kniete sie sich in den nassen Sand. Der Körper wurde vom Wasser hin und her bewegt. Mal ein Stück höher an den Strand, mal ein Stück zurück in die Elbe. Sie sprang wieder auf und packte ihn unter den Armen. Es war harte Arbeit. Die Strömung zog an der schweren Kleidung und der nasse Sand schob sich unter dem Körper zusammen.

Endlich hatte sie es geschafft, die Person lag am Strand. Keuchend ließ sie sich daneben in den Sand fallen. Sie beugte sich über die reglose Form. Lange blonde Haare lagen wie Seetang auf dem blassen Gesicht. Als sie die Haare vorsichtig beiseiteschob, zog sie scharf die Luft ein. Schürfwunden und Blutergüsse verfärbten scheinbar jeden Quadratzentimeter der Haut. Es war kaum möglich, einzelne Gesichtspartien zu unterscheiden. Die Augen waren geschlossen. Eindeutig war nur, dass es sich um eine Frau handelte.

Sie ergriff eine der verschmutzten Hände und ließ sie fast wieder fallen. Auch die Hand war zerschunden, ähnlich brutal wie das Gesicht, und das Handgelenk stand in einem unnatürlichen Winkel vom Unterarm ab.

Vorsichtig versuchte sie, den Puls zu fühlen. Sie war nicht besonders gut darin, und bei dieser Kälte mit halb erfrorenen Fingern schon gar nicht. Sie legte die Hand zurück und wühlte in ihrer Jacke nach ihrem Handy. Mit klammen Fingern wählte sie den Notruf.

Während sie auf das Eintreffen von Polizei und Krankenwagen wartete, versuchte sie noch einmal, diesmal am Hals, einen Puls zu ertasten. Der Brustkorb unter der nassen Kleidung schien sich leicht auf und ab zu bewegen. Oder bildete sie sich das ein? Sie lauschte nach einem Herzschlag.

Frustriert richtete sie sich wieder auf. Nichts zu machen. Der Sturm heulte laut und die Kleidungsstücke waren nass und schwer. Es half nichts, sie musste warten. Sie hauchte in ihre Hände und rieb sie aneinander.

Endlich näherten sich Fahrzeuge. Die Martinshörner schrillten in ihre rotgefrorenen Ohren. Weiße Scheinwerfer schälten einen schmalen Streifen des Ufers aus der Dunkelheit, während die rotierenden Blaulichter die Umgebung in unwirkliches Licht tauchten. Nach einem letzten halb erstickten Heulen verstummten die Sirenen. Mehrere Sanitäter waren mit einer Trage, Decken und Erste-Hilfe-Koffern unterwegs zu ihr. Der Schein ihrer Taschenlampen hüpfte vor ihnen her.

Sie stand auf und klopfte mechanisch den Sand von ihrer Kleidung. Auf die Helfer folgten weitere Personen. Ein hochgewachsener, dunkelhaariger Mann ging mit großen Schritten voraus. Sie kniff die Augen gegen die blendenden Taschenlampen zusammen und sah ihnen mit ausdruckslosem Gesicht entgegen. Den Mann an der Spitze der kleinen zivilen Prozession hatte sie heute Abend schon gesehen. Er war der Auslöser für die Wut gewesen, die sie hierhergetrieben hatte.

In dem Moment begann die Frau am Boden zu stöhnen. Die Frau zuckte zusammen. Sie ging in die Hocke und legte eine Handfläche sanft an das zerschundene Gesicht. Die Verletzte riss die Augen auf. Panisch warf sie den Kopf hin und her und stieß abgehackte Worte hervor. Die Frau beugte sich tiefer zu ihr herab. »Hannah«, verstand sie, und als sie ihr Ohr noch etwas dichter an den Mund der Verletzten brachte, hörte sie etwas, das wie »Wolf« klang. »Hannah Wolf.«

Irgendetwas begann sich in ihrem Unterbewusstsein zu regen. Die Verletzte sah sie mit einem flehenden Ausdruck in den Augen an. Dann hatten die Sanitäter sie erreicht und schoben sie freundlich, aber bestimmt zur Seite. Und damit genau in den Weg des dunkelhaarigen Mannes.

»Leo«, sagte Hauptkommissar Siegfried Adam und musterte sie kopfschüttelnd. Er sah sich schnell zu seinen Kollegen um und murmelte: »Dass du dich lieber hier in der Kälte herumtreibst, als in meiner warmen Bude zu bleiben – das nehme ich persönlich!« Nach einem Blick auf die orange leuchtenden Rücken der Sanitäter setzte er hinzu: »Und natürlich musst du dich in irgendwas verwickeln!«

Bevor er weitersprechen konnte, zischte die Frau: »Erst denken, dann quatschen. Sei dankbar, wenn ich das auch tue.« Sie war lauter geworden und Adams Kollegen sahen interessiert herüber.

Er hob nur eine Augenbraue. Sie war aber noch nicht fertig.

»Und deine warme Bude? Guter Witz! Da penn ich lieber hier am Strand.«

Seine zweite Braue folgte der ersten.

»Interessant«, erwiderte er mit unbewegtem Gesicht. »Bevor du es dir gemütlich machst, müssen wir nur erst ein paar Fakten aufnehmen.«

Sie hob eine Hand, ließ sie aber resigniert wieder sinken.

»Lass es raus«, flüsterte er, »hau mir eine runter. Das geht durch unter hysterische Zeugin.«

»Führe mich nicht in Versuchung«, entgegnete sie gepresst. Mit einem knappen Kopfnicken bedeutete er ihr zu warten.

Adam trat an ihr vorbei zu den Sanitätern. Die Verletzte war wieder bewusstlos geworden.

»Ich kann noch nicht viel zu ihrem Zustand sagen«, kam der Notarzt Adams Frage zuvor, »dafür muss ich sie gründlich untersuchen. Im Krankenhaus. Vorher muss dringend ihre Körpertemperatur angehoben werden.«

Die Sanitäter hüllten die Frau in Thermodecken und legten sie vorsichtig auf die Trage. Innere Verletzungen hatte der Arzt vorläufig nicht feststellen können.

Leo fror. Sie holte tief Luft. Es hatte keinen Sinn, sich aufzuregen. Wichtiger war festzuhalten, was am Rande ihres Bewusstseins aufgetaucht war, nachdem die Frau ihren Namen genannt hatte. Falls das ihr Name war. »Hannah Wolf.« Wo hatte sie das vor nicht allzu langer Zeit gehört?

Leo zitterte schneller, als sie mit den Zähnen klappern konnte. Ein Sanitäter hatte ihr mitleidig eine Decke umgelegt. Sie weigerte sich, mit der Ambulanz ins Krankenhaus zu fahren.

Mit steifen Fingern zog sie die Decke fester um ihre Schultern. Adam rollte mit den Augen.

»Du stehst unter Schock. Ich kann nicht begreifen, warum du nicht einfach einsteigst.«

»Ddddas mmmusst ddu gggerade sagen! Ddddu wwweißt gggar nnnicht, wwwas dddas ist, vvvernünffftig.«

Wider Willen musste er grinsen. »Deine Artikulation war schon mal besser.«

Die Sanitäter wollten losfahren und warfen Adam einen fragenden Blick zu. Er zuckte mit den Schultern und sah zu Leo. Sie starrte finster zurück. Nichts zu machen.

Seine beiden Kollegen Kai von Wendsheim und Andreas Guenther näherten sich.

»Die Spurensicherung rückt an«, sagte Guenther müde, »hier handelt es sich ja wahrscheinlich nicht um einen Unfall.« Er hatte die Kapuze seines Parkas tief in die Stirn gezogen.

Von Wendsheim schüttelte den Kopf. »Wir sichern die Fundstelle.« Er seufzte. »Ein Scheißwetter, um irgendwo am Elbstrand rumzuliegen.«

Adam war so geistesgegenwärtig gewesen, gefütterte Gummistiefel anzuziehen, er trug sogar Skiunterwäsche unter seinem Anorak. Ihm war überhaupt nicht kalt.

»Du kommst jetzt mit«, sagte er zu Leo, »wir können uns im Wagen unterhalten. Im Bus gibt es immerhin eine Standheizung.«

Er warf noch einen Blick auf die Fundstelle. Dann nickte er den Kollegen zu und marschierte voraus zum Einsatzfahrzeug. Leo folgte ihm widerwillig. Der Fahrer des Busses lehnte an der Tür und rauchte eine Zigarette. Er grüßte Adam und schob die Tür auf. Adam und Leo stiegen ein. Wohlige Wärme umfing sie.

Leo seufzte. Gott, war das schön! Für so ein Gefühl lieferten Menschen ihre Freunde ans Messer und verrieten Ideale. Sie schüttelte sich. So einfach war das nun auch wieder nicht.

»Die Frau war für einen Moment wach«, sagte sie zu Adam. Sie umfasste mit beiden Händen den Teebecher, den der Fahrer ihr in die Hand gedrückt hatte, und nahm einen Schluck von der heißen Flüssigkeit. »Sie hat einen Namen gesagt, ›Hannah Wolf‹.«

In dem Bus wurde Adam inzwischen ziemlich warm in seiner Montur. Er quälte sich schwitzend aus der Jacke. Während er mit einem Arm noch im Ärmel steckte, sah er Leo fragend an. »Und, was meinst du, ist das ihr Name?«

»Woher soll ich das wissen?«, brauste Leo auf.

Adam hob seine freie Hand. »Schon gut, friss mich nicht gleich. Es würde uns einfach Arbeit sparen, wenn sie dir ihren Namen genannt hätte.« Endlich bekam er den zweiten Arm frei.

Die Tür wurde geräuschvoll aufgeschoben und Guenther erschien in der Öffnung. Sein Atem kondensierte in einer weißen Wolke vor ihm. Hinter ihm drängte auch von Wendsheim ins Fahrzeug. Die beiden verteilten sich auf die Bänke, einer neben Leo, einer neben Adam. Sie brachten einen Strom nasskalter Luft mit sich. Leo fröstelte. Ihr Teebecher war leer.

»Die KTU ist da«, sagte von Wendsheim.

Adam räusperte sich.

»Okay, Männer«, Leos Anwesenheit irritierte ihn mehr, als er sich eingestehen wollte. Irgendein Reptilieninstinkt fern in seinem Hinterkopf. Es entzog sich seiner Kontrolle. Bevor er weitersprechen konnte, wurde die Tür erneut geöffnet. Ein unbekannter Polizeibeamter vom KDD sah herein.

»Leute, Zeit für euch, in die Heia zu gehen. Gibt es noch etwas, das wir wissen sollten?«

Der Mann von der Nachtschicht machte sich Notizen und Adam unterdrückte ein Gähnen. Er spürte plötzlich seine Müdigkeit. Der Gedanke an Schlaf wurde beinahe übermächtig.

Leos Blick wanderte zwischen den beiden hin und her. »War’s das jetzt? Ich würde mich langsam auch gern auf den Weg machen.«

»Wir werden dich natürlich nach Hause bringen.«

Adams vertrauliche Anrede stand im Raum und seine Kollegen sahen ihn überrascht an.

Adam seufzte. »Frau Johann und ich kennen uns.«

Leo hörte ihm interessiert zu, doch sie hielt den Mund und wartete auf die Fortsetzung. Er hatte aber nicht vor, seine Kollegen weiter über ihre Bekanntschaft aufzuklären.

»Ich fahre dich. Bei dieser Kälte und nach deinem Schock – du geisterst besser nicht mehr durch Altona bei Nacht.«

Wie rührend, dachte Leo. Aber sie sagte nichts, denn die Aussicht, in dieser Kälte zu Fuß nach Hause gehen zu müssen, war alles andere als verlockend.

Schweigend saßen sie in Adams Mustang nebeneinander. Adam hielt vor ihrer Haustür. Sie hatte die Autotür schon geöffnet und hangelte sich aus dem Fahrzeug, als er sagte: »Dir ist klar, dass du morgen zur Wache kommen musst?« Seine Stimme war heiser. »Wir müssen deine Aussage zu Protokoll nehmen. Aber schlaf dich erst mal aus. Irgendwann im Laufe des Tages reicht völlig.«

»Wie gnädig«, erwiderte sie. Sie stand gebeugt vor dem Wagen und sah ihn durch die Türöffnung an. Sein Blick war stur auf die Windschutzscheibe gerichtet. »Gute Nacht!« Die Autotür knallte zu.

Adam zuckte zusammen. Er legte den Gang ein und fuhr los.

Im Krankenhaus wurde die Patientin zur Beobachtung auf die Intensivstation gebracht. Sie war stark unterkühlt und hatte zahlreiche Verletzungen. Sie wurde unter dem Namen Hannah Wolf eingetragen. Bei der Nachtschwester auf der Intensivstation löste der Name eine verschwommene Assoziation aus.

Als auf der Station endlich Ruhe einkehrte und sie sich mit ihrem Buch in den Schwesternaufenthaltsraum zurückzog, erstarrte sie nach dem Lesen der ersten Seiten. Eine eisige Kälte zog langsam ihre Wirbelsäule hoch. Die Romanheldin hieß Hannah Wolf.

Zu Hause angekommen, sah Leo in der Küche das Buch. Sie erinnerte sich. Vor knapp zwei Wochen war sie das letzte Mal in der Buchhandlung in Ottensen gewesen. Wenn ihre Erinnerungen zu stark wurden, trieb es sie dorthin. Die Verkäufer kannten sie inzwischen und wussten, dass sie auf der Suche nach etwas war, das ihre eigenen Erlebnisse zurückdrängen konnte. Leider hielt es nie lange vor. Das letzte Mal also hatte man ihr dieses Buch empfohlen, das jetzt vor ihr auf dem Küchentisch lag! Der Klappentext war vielversprechend gewesen. Geschrieben hatte es eine Katharina Hofmann. Leo nahm das Buch in die Hand, überflog noch einmal die Zusammenfassung. Da sah sie es: Hannah Wolf war die Protagonistin des Thrillers.

2

Acht Uhr, Polizeiwache Mörkenstraße, Altona. Hauptkommissar Siegfried Adam hielt sich an einem Kaffeebecher fest, während seine Kollegen langsam eintrudelten. Adam gähnte. Sein Blick wanderte von seiner Armbanduhr zu seinen Schuhen. Rahmengenähte Budapester, spiegelblank geputzt. Diesen Luxus gönnte er sich, bei Schuhen hatte er noch nie gespart.

Die Ankunft Karl Walthers riss ihn aus seinen Gedanken. Was trieb den Chef um, zu so früher Stunde hier aufzutauchen? Senile Bettflucht, dachte Adam kopfschüttelnd.

Walther ging bis zum Ende des Raums. Er stoppte vor der Warmhaltekanne, deren Fassungsvermögen gerade eben für eine neu eingesetzte Sonderkommission reichte. Er zapfte sich einen Kaffee.

Walther war ein stämmiger Endfünfziger, der Weinproben und Golfspielen liebte. Ersteres sah man ihm an. Ungerührt schüttete Walther einen Berg Zucker in seinen Becher. Noch schwieg er, bewegte nur energisch einen Teelöffel durch die Pampe. Die kristallinen Kohlenhydrate stoben auseinander. Während sie sich gleich darauf wieder setzten, nahm er endlich seinen Ermittlungsleiter ins Visier.

»Adam, guten Morgen! Haben Sie gut geschlafen?« Bevor Adam etwas erwidern konnte, fuhr er fort: »Die Frau vom Elbufer, gestern Abend. Es gibt interessante Neuigkeiten.« Er setzte den Becher an und nahm einen Schluck.

Adam schauderte bei dem Gedanken an die süße Brühe.

»Dieser Name, den sie irgendwann von sich gegeben hat …« Walthers Gesicht verzog sich leicht. Der Kaffee war selbst in einer gesättigten Zuckerlösung ungenießbar. »Es ist der Name der Hauptperson eines kürzlich erschienen Kriminalromans.«

Adam zog eine Augenbraue hoch. Und?, sagte sein Blick.

»Was ich damit sagen will, die Frau hat inzwischen das Bewusstsein wiedererlangt, und sie behauptet steif und fest, ihr Name sei Hannah Wolf.« Walther versuchte noch einen Schluck von der teerartigen Flüssigkeit. Er schüttelte sich. »Also dieser Kaffee …« Seine Stimme wurde leiser. »Egal, Fakt ist, dass alles, was sie bisher zu ihrer Person gesagt hat, eins zu eins mit dieser fiktiven Protagonistin übereinstimmt. Das hat die Nachtschwester von der Intensivstation bestätigt.«

Inzwischen waren auch die beiden Kommissare Kai von Wendsheim und Andreas Guenther erschienen. Und Aminata-Marie Neubauer, die Vierte im Team. Alle hatten sich erst an der Kanne bedient und dann einen Platz gesucht.

»Was schließen wir nun daraus?«, fragte Adam. »Dass sie dieses Buch selbst geschrieben hat?«

Von Wendsheim zuckte die Schultern. »Und wenn es einfach nur ein Zufall ist?«

Karl Walther musterte die beiden.

Guenther überlegte: »Vielleicht ist es sogar autobiografisch? Dann hätte sie es nicht nur geschrieben, sondern wäre auch gleichzeitig die Hauptperson.«

Karl Walther räusperte sich. Für einen Moment überkam ihn ein beinahe väterliches Gefühl für seine Truppe.

»Das ist nur einer der vielen Faktoren, die uns noch unbekannt sind.« Er stellte den fast vollen Kaffeebecher ab und schob ihn unauffällig ein Stück zur Seite. »Findet erst mal heraus, wer sie ist. Dann machen wir weiter. Step by step. Wer gehörte zu ihrem Umfeld, wollte sie einer davon aus dem Weg räumen usw. Motiv, Möglichkeit, Manufaktur. Fakten, Fakten, Fakten! Und natürlich müsst ihr klären, ob es am Ende nicht doch ein Unfall war.«

Damit machte er sich auf den Weg in sein Büro, zu einem vernünftigen Morgenkaffee.

»Motiv, Möglichkeit – Mist!«, sagte Guenther genervt.

»Sollte das wirklich so schwer sein?«, fragte Aminata Neubauer und sah in die Runde. »Ich meine, herauszufinden, wer sie wirklich ist?«

»Wenn sie behauptet, diese Hannah Wolf zu sein«, knurrte Adam, »dann müssen wir als Erstes die Autorin dieses Werks ausfindig machen. Außerdem müsste irgendeiner von uns, am besten die belesenste«, er grinste, »sich mit dem Inhalt des Wälzers vertraut machen.«

»Ach, schon klar«, entgegnete sie, »interessant, deine Wahl des Artikels …«

»Siehst du, genau das habe ich gemeint, be-le-sen.«

Während Neubauer mit den Augen rollte, runzelte Guenther die Stirn. »Wir können nicht mal davon ausgehen, dass es versuchter Mord war.«

»Logisch«, spottete von Wendsheim, »sie wird einfach vom Schiff gefallen sein. Von irgendeiner Yacht … Bisschen raue See, aber das hält einen echten Segler doch nicht von seinem Törn ab.«

»Es gibt tatsächlich andere Möglichkeiten, ins Wasser zu fallen. Es muss keine Segelyacht sein. Adeliger Snob!«

Adam grinste. »Ich liebe es zwar, euch bei eurer Kreativrunde zuzuhören …«

»Da kommt doch jetzt was.« Misstrauisch drehte Guenther sich zu Adam um.

»… aber egal, ob sie beim Baden zu weit rausgeschwommen oder angetrunken vom Schiff gesprungen ist, wir brauchen dieses Buch.«

»Okay. Wissen wir, wie es heißt?«, fragte Neubauer.

»Aber sicher.« Von Wendsheim dachte kurz nach. »Tödliches Geheimnis

»Und, wer hat’s geschrieben? Lass mich raten, Hannah Wolf?«

»Falsch«, entgegnete von Wendsheim und sah Guenther triumphierend an, »das ist nur der Name der Protagonistin. So nennt man übrigens die Hauptperson oder Hauptdarstellerin in einem Buch.« Routiniert wich er dem Boxhieb gegen seinen Oberarm aus. »Die Autorin heißt Katharina Hofmann.«

»Wer hätte das gedacht«, Adam lächelte spöttisch. »Ich bin beeindruckt, unser Literat. Mit Belletristik scheinst du dich auszukennen. Der Zuschlag geht an dich.«

Von Wendsheim sah ihn fragend an.

»Dein Auftrag lautet: schnellstmögliche Beschaffung dieses Werks.«

»Nichts leichter als das.« Von Wendshem grinste und tippte auf seinem Smartphone herum. »E-Books, super Erfindung.«

»In diesem Fall hätte ich gern ein Exemplar zum Anfassen«, widersprach Adam. »Mach dich vom Acker und besorge uns ein altmodisches Buch. Gedruckt, auf Papier.«

Von Wendsheim stöhnte übertrieben und murmelte etwas von »Dinosaurier …«.

Guenther sah ihm schadenfroh hinterher, aber da wandte Adam sich schon ihm zu: »Du findest heraus, wie weit die Frau bei dem Wetter gestern abgetrieben worden sein kann und ob irgendwo in diesem Umkreis jemand von einem Schiff gefallen ist. Oder ob sonst jemand vermisst wird.«

»Von welchem Zeitpunkt gehen wir aus?«

»Dem Zustand ihrer Unterkühlung nach war die Frau maximal drei Stunden im Wasser.« Adam fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. »Das hat der Arzt den Jungs vom KDD gestern mitgeteilt. Bleibt die Frage, wo sie diese drei Stunden verbracht hat. Wurde sie irgendwo ins Wasser geworfen und ist ans Ufer getrieben? Oder wollte man sie an der Fundstelle versenken und die Strömung hat sie zurück an Land geschwemmt?«

»Ein Selbstmordversuch wird es nicht gewesen sein, bei ihren Verletzungen«, erwiderte Guenther. »Hat der Arzt dazu etwas gesagt?«

»Laut Arzt war es kein Unfall. Die Verletzungen im Gesicht stammen aus unterschiedlichen Zeiträumen. Einige liegen höchstens drei, andere zehn Tage zurück. Die meisten wurden ihr vor etwa einer Woche zugefügt.«

Die Männer sahen sich an.

»Der Arzt geht von Faustschlägen aus«, fuhr Adam fort, »das gebrochene Handgelenk könnte eine Abwehrverletzung sein.«

Guenther betrachtete nachdenklich seine Fingernägel.

»Es scheint also, als hätte jemand sie systematisch misshandelt …«

Von Wendsheim war an der Tür stehen geblieben. Er hatte erst Adam und dann Guenther zugehört und drehte sich noch einmal um. »Entweder wollte man sie zum Reden bringen oder die Täter hatten ein sadistisches Motiv.«

»Die Täter oder der Täter«, fiel Guenther von Wendsheim ins Wort.

»Rache könnte auch infrage kommen«, überlegte der unbeirrt. »Wurde sie sexuell missbraucht?«

Adam verneinte mit einem Kopfschütteln.

Die beiden Kommissare spekulierten in gewohnter Weise. Sie nannten es »Fact-Slam«: Bei einem eingespielten verbalen Schlagabtausch schleuderten sie sich ihre Gedanken zu einem Fall um die Ohren. Das konnte zu erstaunlich konstruktiven Rededuellen führen, die von ihnen in schwindelerregendem Tempo ausgetragen wurden. Ihre Kollegin hielt sich meistens heraus.

Adam unterbrach die beiden. »Man hat Psychopharmaka in ihrem Blut gefunden, die sie offenbar über einen längeren Zeitraum eingenommen hat. Wir brauchen ab sofort Verstärkung für Routinearbeiten. Ich rede mit dem Alten. Kollegen von der Streife sollen herausfinden, ob Spaziergänger gestern Abend etwas am Ufer beobachtet haben. Hundebesitzer zum Beispiel, die heute wieder ihre Runde drehen. Außerdem müssen wir zeitlich eingrenzen, wann gestern jemand zuletzt an der Fundstelle vorbeigegangen ist, ohne etwas zu sehen. Und vielleicht hat unsere Spurensicherung ja sogar Spuren gesichert.«

Guenther war schon neben von Wendsheim an der Tür. Neubauer sah Adam fragend an.

»Wir reisen in eine unbekannte Dimension, zwischen Fiktion und Realität.«

Neubauer hüstelte.

»Also gut, wir fahren ins Krankenhaus und besuchen die Romanfigur. Mal sehen, ob sie sich inzwischen an ihr eigenes triviales Leben erinnern kann. Und ob wir sie befragen dürfen.«

Adam musste plötzlich an Leo denken, die heute irgendwann vorbeikommen würde, um ihre Aussage zu machen. Er sah auf die Uhr. Es war Viertel vor zehn. Das sollte spät genug sein.

»Nati«, dieser Kosename war eigentlich für Familienmitglieder und wenige, besonders enge Freunde reserviert, »wir treffen uns in zehn Minuten an meinem Wagen.« Er fügte hinzu: »Ich hoffe, dass Kai zurück ist, bevor wir losfahren. Dann kannst du dir auf dem Weg ins Krankenhaus schon mal das Buch vornehmen.«

Aminata Neubauer schüttelte den Kopf, ihre unzähligen, sorgfältig geflochtenen Zöpfchen flogen durcheinander.

»Sorry, Sigi«, bei seinem schmerzlichen Zusammenzucken grinste sie boshaft. »Beim Autofahren kann ich nicht lesen. So viele Tüten kannst du gar nicht einstecken, wie mir dabei schlecht wird!«

Er zog eine Augenbraue hoch. »Sag noch einmal Sigi zu mir, dann kannst du wählen zwischen Disziplinarverfahren oder Waterboarding!«

»Sorry, Boss …« Sie unterdrückte ein Kichern. Ihre dunkle Stimme hatte einen deutlich bayrischen Einschlag. Vor vier Jahren war sie aus München nach Hamburg gekommen. »Aber Sigi passt doch so gut zu Nati!«

Adam verzog das Gesicht. »Gut, wenn du bockig sein willst … sieh zu, wann du den Text in deiner Freizeit inhalierst. Hauptsache, du machst es schnell. Und ich bin immer noch der HAUPTkommissar. Für alle kleinen Kommissare und Oberkommissare zum Mitschreiben: absolut NICHT Sigi! Never ever!«

Er hielt ihr die Tür auf. Kaum allein, wählte er Leos Handynummer. Nach dem vierten Klingeln war sie am Apparat.

»Johann«, sagte sie, obwohl sie seine Nummer bestimmt erkannt hatte. Er hörte ein unterdrücktes Gähnen heraus.

»Frau Johann«, sagte Adam, »ich wollte kurz mit Ihnen abstimmen, wann Sie heute Ihre Aussage zu Protokoll geben können.«

»Oh, Herr Adam«, erwiderte Leo, »wann passt es denn?«

»Lassen wir den Quatsch. Kannst du heute Nachmittag gegen 16 Uhr vorbeikommen?« Er lauschte in die Stille am anderen Ende des Hörers. Dabei sah er sie vor sich, groß und schlank, mit rotblonden Locken und diesen unglaublich hellen grünen Augen.

»Okay, Sigi …«

Er konnte ein Aufstöhnen nicht verhindern. Was sollte das? Gab es ein Sigi-Komplott?

»Wann immer es dem Hüter der Ordnung passt, Sigi!«

»Gut«, knurrte er. »Dann sehen wir uns heute Nachmittag.«

Er legte auf und machte sich auf den Weg zum Büro des Alten. Vor der Tür klingelte sein Handy. Es war Louisa, seine achtjährige Tochter.

Neubauer wartete vor dem Mustang auf Adam. Es war nasskalt und ungemütlich. Die vorherrschende Farbe um sie herum schien grau zu sein. Bei dem Gedanken an Hauptkommissar Adam musste sie schmunzeln. Sie mochte ihn. Er war geradeheraus und öfter mal launisch, aber kein karrieregeiler Schreibtischhengst. Als Gruppenleiter war er in Ordnung, besser als die meisten anderen, trotz seines albernen Machogehabes. Und als Mann? Hoppla, hörte sie da ihre Mutter sprechen?

Die Außentür schwang auf und Adam kam auf sie zu. Seine Haare standen in alle Richtungen. Er grinste und hob einen Daumen. Der Alte hatte seinen Vorschlag angenommen.

Er ließ sich in den Sitz fallen und entriegelte die Beifahrertür. Sie hatte sich noch nicht mal angeschnallt, da warf er ihr schon ein Buch in den Schoß. Tödliches Geheimnis von Katharina Hofmann. Kai hatte es also rechtzeitig beschafft.

»Die Spurensicherung hat keine erhellenden Hinweise«, sagte Adam nach kurzem Schweigen.

»Wäre ja auch zu schön gewesen.«

»Korrekt.« Adam blickte angestrengt durch die Frontscheibe auf die Fahrbahn. Er schaltete die Scheibenwischer ein. »Laut Tidenkalender könnte man in etwa berechnen, wie weit sie mit der Strömung treiben konnte. Aber sie können noch nicht sagen, von wo die Frau angetrieben wurde, oder ob sie an der Fundstelle deponiert worden ist. Unsere Zeugin hat sie ja aus dem Wasser gezogen und der Strand ist nach dem Eintreffen der Sanitäter restlos zertrampelt worden. Also – keine Chance!«

Neubauer schwieg. Halbtote Frauen, die emotionslos irgendwo abgeladen wurden, waren ihr aus der Heimat ihrer Mutter nicht fremd. Hier war es eher eine beunruhigende Ausnahme. Sie hatte eine Weile gebraucht, bis ihr klargeworden war, dass das Leben einer Frau in diesem Land genauso viel galt wie das Leben eines x-beliebigen Mannes. Das war einer der Gründe, für die sie ihre neue Heimat liebte, seit beinahe zwei Jahrzehnten schon. Mit zwölf Jahren war sie mit ihrer Mutter aus Madagaskar gekommen. Ihr Weg hatte sie zuerst nach Bayern geführt. Dort hatte ihre wunderschöne Mutter Herrn Neubauer kennengelernt, einen bayrischen Bauern. Die nächsten 20 Jahre waren sie in Süddeutschland hängen geblieben.

Adam war verstummt und sie begann, das Buch in Augenschein zu nehmen. Die Qualität des Einbands war fester als bei einem gewöhnlichen Taschenbuch, aber trotzdem noch weit von einer gebundenen Ausgabe entfernt. Diese hochwertigere Ausführung machte sich in einem Mehrpreis von etwa fünf Euro bemerkbar.

»Hoffentlich ist das noch in unserem Budget«, spottete sie.

»Wieso, wenn du es liest, musst du es auch kaufen«, entgegnete Adam.

»Ich lese freiwillig doch keine Krimis!« Sie verzog das Gesicht.

»Sondern? Telefonbücher und Statistiken?«

»Ich bevorzuge Sachbücher und Biografien.«

Der Einband zeigte eine nächtliche Landschaft in Schwarz- und Grautönen. Der Mond war von Wolken verhangen. Aus dieser düsteren Szenerie leuchtete in flammendem Rot und Orange ein brennendes Haus. Leuchtend gelb prangte der Titel auf dem dunklen Himmel. Darunter stand etwas kleiner und in weißer Schrift der Name der Autorin, Katharina Hofmann.

Flüchtig überflog Neubauer den Klappentext, aber was sie eigentlich suchte, fand sie nicht. Sie öffnete das Buch auf der Vorder- und Rückseite und murmelte: »Komisch.«

Der Wagen machte einen kleinen Schlenker, als Adam zu ihr herübersah.

»He«, sie schreckte aus ihren Gedanken auf. »Achte auf die Straße, Boss!«

Adam knurrte etwas Unverständliches.

Neubauer seufzte. »Also gut, bevor du dein unwürdiges Leben aufs Spiel setzt und meine glänzende Karriere als Nachfolgerin gefährdest … Normalerweise gibt es bei diesen Büchern eine kurze Autoren-Vita. Die kann mehr oder weniger ausführlich sein, aber eigentlich ist sie immer dabei. Inzwischen sogar meistens mit Bild.«

»Und?« Adam hob die Schultern.

»Nada, nix. Gibt’s hier nicht.« Sie hob das Buch am Rücken und schüttelte es, als könnte die Vita herausfallen.

»Nach unserem Krankenhausbesuch werden wir also Kontakt zu dem Verlag aufnehmen«, sagte Adam und tippte mit einem Zeigefinger aufs Lenkrad. Er rief die Zentrale an. Die Kollegen sollten die Nummer des Verlags heraussuchen und seinen späteren Anruf ankündigen und verifizieren.

Sie hielten vor der Notaufnahme des Altonaer Krankenhauses. Neubauer wühlte in Adams Handschuhfach nach der Plakette »Einsatzfahrzeug im Dienst«.

Er klemmte den Ausweis von innen an die Windschutzscheibe. Dann beugte er sich noch einmal zum Handschuhfach herüber und zog etwas heraus. Sie stöhnte, als Adam seine schwarze Ray Ban aufsetzte.

Im Gebäude drängten sie sich an der Schlange der Wartenden vorbei. Neubauer folgte Adam, ohne eine Miene zu verziehen. Wenn er unbedingt den Terminator geben wollte, bitte.

Adam war schon am Empfangstresen angekommen und sah der Schwester über den Rand seiner Brille in die Augen. Ein kurzer Blickkontakt, ein paar erklärende Sätze, und sie befanden sich auf dem Weg zum Zimmer der Unbekannten. Im Moment wurde sie als Hannah Wolf geführt.

Aufgrund der unklaren Umstände, unter denen die Frau aufgetaucht war, hatte Adam eine Bewachung angefordert. Vor dem Zimmer saß ein uniformierter Polizeibeamter. Er erhob sich, als die beiden sich näherten. Seine rechte Hand lag in der Nähe seiner Dienstwaffe. Adam und Neubauer zeigten ihre Ausweise. Der Beamte prüfte sie sorgfältig, bevor er einen Schritt zur Seite trat und ihnen die Zimmertür öffnete.

»Alles ruhig bis jetzt«, sagte er.

Das Zimmer war relativ klein. Die blonde Frau lag in dem Bett am Fenster. Das andere Bett war leer.

Sie war wach. Ihr Gesicht war unter unzähligen Pflastern und Mullbinden verborgen und ihr rechter Arm war geschient und steckte in einem dunkelblauen Sportgips. Mit halb geschlossenen Augen lag sie auf dem Bett und starrte an die Decke. Sie wandte den Kopf auch nicht um, als die beiden Polizisten näher an ihr Bett herantraten. Mehrere Schläuche verbanden sie mit durchsichtigen Beuteln an einem Infusionsständer, aus denen klare Flüssigkeit in ihre Vene träufelte.

Adam nahm die Sonnenbrille ab und räusperte sich. »Guten Morgen.« sagte er. »Wie geht es Ihnen?«

Sie stieß ein kurzes Schnauben aus. Langsam drehte sie den Kopf und sah ihn an. Auf dem rollbaren Nachttisch neben ihr stand ein Tablett mit Frühstücksresten. Sie folgte seinem Blick mit den Augen.

»Hunger?«, fragte sie. Es kam verzerrt über ihre aufgeplatzten und geschwollenen Lippen.

Ihr Gesicht unter den Verbänden schien sich dabei kurz zu verziehen. Ob amüsiert oder fragend, war nicht zu erkennen.

»Fangen wir mit Ihren Personalien an«, fuhr Adam fort. »Ihr Name ist Hannah Wolf? Stimmt das?«

Ein kaum merkliches Nicken war die Antwort.

»Können Sie uns erklären, wie Sie letzte Nacht dort ans Elbufer gekommen sind?«

»Und warum«, ergänzte Neubauer.

Das Schweigen erstreckte sich bis in jeden Winkel des Raums. Die Stille schien beinahe greifbar zu sein. Als plötzlich die Tür geöffnet wurde und eine Schwester hereinkam, zuckten alle drei zusammen.

3

Valentin Wagner pfiff leise vor sich hin. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so zufrieden gewesen war. Zufrieden und erfüllt von einem unbändigen Glücksgefühl.

Er sah sich um und versuchte, seine Umgebung in der Totale aufzunehmen, wie bei einem Kameraschwenk. Die frisch verputzten weißen Wände, der sorgfältig wiederhergestellte Stuck an der Decke, die abgeschliffenen und neu versiegelten Dielenbretter, all das erfüllte ihn mit Stolz. Er lehnte sich in seinem ebenfalls brandneuen Schreibtischstuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. In dem Moment, in dem er seine Füße in einem Anflug von Übermut auf dem Schreibtisch ablegen wollte, öffnete sich die Milchglastür zu seinem Büro und Val schaute um die Ecke.

»Ts ts ts«, kommentierte sie seine lässige Haltung, »mein lieber Bruder, es gibt noch einiges zu tun.«

Wagner seufzte. Für einen kostbaren Moment hatte er sich wie Philip Marlowe gefühlt. Der Augenblick war vorbei. Er schwang die Beine zurück auf den Boden und stand auf. Gleichzeitig landeten auch seine Gedanken wieder hart auf dem Boden. Und dort lauerte unerbittlich die Tatsache, dass er eine gewaltige Summe in die Renovierung dieses Büros investiert hatte. Die Ausgaben mussten sich schleunigst rentieren.

Val war inzwischen ganz hereingekommen und stellte mehrere Kartons auf seinem Schreibtisch ab. Sie stöhnte und wischte sich mit dem Handrücken Schweißperlen von der Stirn. Ein dunkler Streifen blieb zurück.

»Wie ist denn unsere Auftragslage«, fragte sie herausfordernd.

Wagner rollte mit den Augen. »Sowie sich irgendein potenzieller Auftraggeber in unser Büro verirrt, bist du die Erste, die es erfährt.«

»Urkomisch«, erwiderte sie. »Ich hoffe, dass das noch in diesem Jahrhundert passiert.«

»Tja«, sagte er spitz, »falls sich jemals jemand finden sollte – pass bitte auf, dass du ihn nicht vergraulst.«

Ein schrilles Gelächter war die Antwort. Sie unterbrach sich, als Johanna Peters hereinsah.

Johanna Peters und Leo Johann waren Arbeitskolleginnen gewesen. Außerdem eng befreundet. Dramatische Ereignisse am Hamburger Flughafen hatten im vergangenen Jahr dazu geführt, dass sich ihre Wege mit denen der Zwillinge gekreuzt hatten. Das war die Geburtsstunde eines eigenartigen Kleeblatts geworden. Als Peters sich kurz darauf einer Chemotherapie unterziehen musste und deshalb von ihrer regulären Arbeit beurlaubt wurde, hatte sie Administration und Buchhaltung der Detektei Wagner & Wagner übernommen. Es ging ihr trotz der Infusionen die meiste Zeit erstaunlich gut.

»Ist alles in Ordnung, Schätzchen?«, fragte Val, die gar nicht Val hieß. Warum sie sich so nannte, konnte sie selbst nicht mit Sicherheit sagen. Am ehesten lag es wohl an einer Art Sentimentalität ihrem Zwillingsbruder gegenüber, der auf den schönen Namen Valentin getauft war.

Bevor sie antworten konnte, klingelte es.

Die drei starrten sich an. Val hatte sich als Erste gefasst. Sie fuhr sich über die Haare und ging mit energischen Schritten zur Tür.

»Ja, hallo, Detektei Wagner«, flötete sie in die Gegensprechanlage. Gleich darauf drückte sie wortlos den Summer. Ihr Bruder und Johanna Peters sahen sie fragend an.

Val seufzte und schüttelte den Kopf. »Keine Kundschaft«, sagte sie, »aber trotzdem ein Grund zur Freude, es ist Leo.«

»Leo? Wie schön«, rief Peters.

Als Leo hereinkam, musterte sie ihre Freundin Johanna irritiert. Bei ihrem letzten Treffen, und das war nur ein paar Tage her, hatte diese noch eine ziemlich dunkle Kurzhaarfrisur gehabt. Heute trug sie mittellange blonde Haare.

»Also, Jo«, Leo hob die Augenbrauen, »irgendwann laufe ich auf der Straße einfach an dir vorbei.«

Leo hielt Johanna Peters auf Armeslänge von sich und betrachtete sie kritisch. Dann zog sie sie zu sich heran und sagte: »Du siehst gut aus.«

»Das gilt auch für dich, ma chère«, sagte Val und pflückte Leo aus der Umarmung.

Wagner betrachtete die weibliche Wiedersehensfreude aus der Entfernung.

Leo musterte die nicht ausgepackten Kartons und den zusammengerollten Teppich kommentarlos. Sie boxte Wagner gegen den Oberarm. »Und, gibt’s Kaffee?«

»Aber sicher, Schatz«, antwortete Val an seiner Stelle und war schon auf dem Weg in die Teeküche. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück. »Für alle, oder?«

Peters und Wagner nickten und sie verschwand.

»Habt ihr schon losgelegt?«

Wagner seufzte. »Wir wären jedenfalls bereit.«

Johanna Peters setzte hinzu: »An uns soll’s nicht liegen.«

»Tja, wer weiß.« Leo brach nachdenklich ab.

Val kam mit einem Tablett mit vollen Kaffeebechern aus der Küche. Sie musterte Leo prüfend.

»Na komm schon, irgendetwas bedrückt dich doch.«

Leo zögerte. Endlich sagte sie: »Ich war gestern Nacht noch an der Elbe. Am Strand lag eine halbtote Frau.«

Drei Augenpaare starrten sie an. Leo verschränkte die Arme vor der Brust. Ungewollt stiegen die Bilder des gestrigen Abends vor ihr auf. Sie fröstelte.

»Bei dem Sturm, wieso?«

»Wann?«

»Wo genau?«

Leo musterte alle der Reihe nach. »Stopp!« In die abrupte Stille hinein sagte sie: »Jetzt spitzt erst mal die Lauscher. Das Verrückteste kommt noch!« Wie konnte sie es ihnen erklären? Sie wusste selbst nicht, was sie davon halten sollte. »Die Frau ist scheinbar einem Roman entstiegen!«

Val drückte ihr wortlos einen Becher in die Hand und zeigte mit dem Tablett Richtung Wartezimmer. Wagner bildete das Schlusslicht. Er murmelte etwas von Tintenherz. Leo ließ sich in einen Sessel fallen.

»Nun erzähl mal«, forderte Val sie auf. »Das klingt völlig verrückt.« Sie grinste. »Und wer mich kennt, der weiß, dass ich total auf völlig verrückt stehe.«

»Der Name der Frau ist aus einem Thriller, den ich gerade lese … und anscheinend nicht nur der Name.«

Die Krankenschwester bemerkte die angespannte Stimmung im Raum. Sie warf Adam einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Der Zustand von Frau Wolf ist noch sehr instabil«, sagte sie, »ich bin erstaunt, dass sie überhaupt hier sein dürfen.«

»Wir haben nicht vor, ihre Patientin aufzuregen«, erwiderte er.

Die Krankenschwester holte tief Luft. Neubauer bemerkte es und fiel besänftigend ein: »Uns ist bewusst, dass wir sensibel vorgehen müssen. Aber Frau Wolf wurde schwer verletzt gefunden. Wir können nicht ausschließen, dass ihr Leben immer noch in Gefahr ist.«

Die Krankenschwester nickte. »Denken sie aber daran, was Frau Wolf durchgemacht hat.« Sie näherte sich resolut dem Krankenbett und musterte die Frau, die sich selbst »Hannah Wolf« nannte. Es fand eine lautlose Kommunikation zwischen Patientin und Pflegerin statt.

»Sie müssen das Zimmer für einen Moment verlassen.«

Widerspruch war augenscheinlich zwecklos. Adam setzte sich in Bewegung und seine Kollegin folgte ihm aus dem Raum. Vor der Tür begann er mit einer schweigsamen Wanderung. Er hasste Krankenhäuser. Außerdem hatte er schon viel zu oft vor ähnlichen Zimmertüren warten müssen.

Neubauer folgte ihm mit den Augen. Seine Runden zerrten an ihren Nerven. Endlich öffnete sich die Tür und die Schwester winkte sie herein.

Die Patientin sah ihnen aus sauberen Verbänden entgegen. Auch ihr Bettzeug wirkte frisch aufgeschüttelt. Allerdings machte die Krankenschwester nicht den Eindruck, als wollte sie das Zimmer bald wieder verlassen.

Adam senkte den Blick auf seine eleganten Halbschuhe. Mit gerunzelter Stirn sah er wieder hoch.

»Es wäre hilfreich, wenn sie uns bei dem Interview mit Frau Wolf allein ließen.«

Die Schwester verzog das Gesicht. »Ich glaube kaum, dass das möglich sein wird«, erwiderte sie fest. »Jemand muss entscheiden, wann es für die Patientin zu viel ist.«

Bevor Adam etwas entgegnen konnte, ertönte ein leiser, aber beharrlicher Alarm.

Die Krankenschwester, die laut Namensschild Mikaela hieß, warf einen schnellen Blick auf die Frau im Krankenbett. Die Frau neigte unmerklich den Kopf. Schwester Mikaela nickte widerstrebend zurück.

»Es sieht aus, als müsste ich sie doch allein lassen«, sie war schon auf dem Weg zur Tür. »Aber ich werde den diensthabenden Arzt informieren.«

Adam konnte sich ein kleines Lächeln nicht verkneifen.

»Frau Wolf«, begann er, sobald die Tür sich geschlossen hatte, »wir waren gerade bei den Umständen, unter denen Sie letzte Nacht gefunden wurden. Können Sie uns etwas dazu sagen? Erinnern Sie sich daran, was passiert ist?«

Während er auf eine Antwort wartete, glitt Adams Blick durch den Raum. Er blieb an dem Schrank hängen, in dem ihre persönlichen Habseligkeiten untergebracht sein mussten.

»Ich erinnere mich im Moment an nicht viel mehr als an meinen Namen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Aber ich verstehe nicht, warum mein Mann nicht informiert wurde. Christopher Wolf, er ist ein bekannter Hamburger Unternehmer.« Sie sah von Adam zu Neubauer. »Er muss krank sein vor Sorge!«

Dunkle Schatten lagen um ihre Augen. Die Augen selbst wirkten riesig in dem misshandelten Gesicht.

Neubauer seufzte. Umständlich zog sie das Buch aus ihrer Umhängetasche. Sie sah Adam fragend an. Er nickte. Daraufhin reichte sie der Frau das Buch. Hannah Wolf nahm es entgegen. Sie warf einen verständnislosen Blick darauf und sah hoch.

»Sehen Sie sich das Buch bitte genau an«, sagte die Polizistin.

Die Frau drehte das Buch in ihren Händen. Sie wirkte verunsichert und schien nicht zu wissen, was die Polizisten von ihr erwarteten. Schließlich begann sie, den Klappentext zu lesen. Schon nach dem ersten Satz schnappte sie nach Luft. Adam beobachtete sie aufmerksam. Adrenalin. Die Wirkung war deutlich zu erkennen, wie Tinte, die sich auf einem Stück Löschpapier ausbreitet. Ihre Hände fingen an zu zittern.

Hannah Wolf ahnt nicht, wen sie so überstürzt geheiratet hat. Anfangs scheint es, als wäre ihre Sehnsucht nach Liebe endlich erhört worden. Bald aber häufen sich seltsame Ereignisse, und sein Benehmen ihr gegenüber verändert sich dramatisch. Was ist in der Vergangenheit dieses erfolgreichen Selfmade-Unternehmers passiert, dass er niemanden auch nur in die Nähe seiner lange vergessenen Kindheitserinnerungen kommen lässt? Je länger sie mit Christopher verheiratet ist und je vertrauter sie miteinander werden, umso unberechenbarer scheint er zu werden. Bis sie durch einen Zufall auf sein Geheimnis stößt und ihr klar wird, dass dieses Wissen sie unweigerlich in tödliche Gefahr bringt.

Die Frau, die vorgab, Hannah Wolf zu sein, gab einen gequälten Laut von sich. Mit schnellen Schritten war Neubauer am Bett und beugte sich über sie. Die Frau rang nach Luft. Das, was sie von ihrem Gesicht unter den Verbänden erkennen konnte, war weiß wie die Wand des Krankenzimmers.

»Ich verstehe das nicht! Was ist das für ein Buch? Ich heiße Hannah Wolf und mein Mann heißt Christopher Wolf. Aber wie kommen wir in dieses Buch?« Ihr Blick wanderte von Neubauer zu Adam, ihr Gesicht war schmerzverzerrt. »Es stimmt, ich hatte Angst in letzter Zeit, Angst vor meinem Mann. Aber ich weiß nicht mehr warum. Und wo ist er? Er muss doch bemerkt haben, dass ich nicht nach Hause gekommen bin.« Die Stimme der Frau war kurz davor, sich zu überschlagen.

Neubauer beugte sich vor und ergriff ihre unverletzte Hand. »Keine Angst. Wir werden der Sache auf den Grund gehen.«

Aber die Frau ließ sich nicht beruhigen. Sie richtete sich weiter im Bett auf und brachte den Infusionsständer zum Schwanken. Die Kommissarin drückte ihre Hand. Eine Weile starrte die Frau sie an, dann sank sie endlich zurück in die Kissen.

Neubauer warf Adam einen Blick zu.

»Frau, äh, Wolf«, sagte er, »wir tun alles, was wir können, um das herauszufinden. Helfen Sie uns dabei, versuchen Sie, sich zu erinnern. An einen Teil ihrer Adresse, den Namen einer Freundin. Irgendeine Kleinigkeit.« Er starrte auf das Buch, das sich zwischen ihren Händen bog.

»Offenbar erkennen Sie sich in diesem Buch wieder. Können Sie sich daran erinnern, es gelesen zu haben? Hat es Sie besonders beeindruckt? Oder beunruhigt?«

Sie antwortete nicht.

Adam fuhr fort: »Gibt es Parallelen zu Ihrem Leben? Haben Sie es vielleicht selbst geschrieben? Sagt Ihnen der Name Katharina Hofmann etwas?«

Die Frau starrte vor sich hin. Plötzlich holte sie aus und warf das Buch mit erstaunlicher Wucht an die Wand neben der Tür. Während Neubauer verblüfft verfolgte, wie das Buch von der Wand fiel, begann die Frau, sich im Bett vor und zurück zu wiegen. Übergangslos fing sie an zu schreien.

Adam zog widerwillig an der Schnur für den Notruf. Ein rotes Licht über der Tür begann zu blinken. Wenig später flog sie auf.

Die Befragung war beendet. Auch der Schutzpolizist hatte kurz um die Ecke geschaut und war dann von einem Arzt und einer Krankenschwester beiseitegeschoben worden.

Adam und seine Kollegin mussten den Raum verlassen. Dieses Interview hatte nicht viel gebracht. Die Frau saß halb aufgerichtet im Bett und schluchzte. Beim Hinausgehen bückte sich Adam und hob das Buch auf.

4

Mein Name ist Hannah Wolf. Als Kind war ich sehr zurückhaltend, und die Freunde meiner Eltern sagten, dass ich unnatürlich bescheiden wäre. Es fiel mir einfach schwer, den Ansprüchen meiner Umwelt zu genügen. Mir fielen Dinge auf, die andere nicht bemerkten, und der normale Smalltalk befriedigte mich nicht nur nicht, es war mir sogar praktisch unmöglich, daran teilzuhaben.

Erstaunlicherweise erfreute ich mich später trotzdem der Aufmerksamkeit des anderen Geschlechts. Ich war groß und schlank. Mein Haar glänzte wie poliertes Ebenholz, und über meine dunklen Augen schrieben nicht wenige meiner Verehrer Gedichte. Dass ich schüchtern und verträumt war, hielten viele junge Männer für geheimnisvoll.

So lange, bis sie herausfanden, dass ich absolut nichts mit ihnen anfangen konnte. Oder wollte.

Einen Großteil meines Lebens fühlte ich mich einsam, kompromisslos einsam. Es war, als könnte es niemals jemanden geben, der mich verstand. Nicht einmal ansatzweise.

Ich hatte gerade eine zähe und anstrengende Affäre mit einem Mitstudenten beendet, als ich Christopher über den Weg lief. Oder er mir. Wahrscheinlich eher wir uns.

Er war ein paar Jahre älter als ich und erfrischend unbeeindruckt von meinem Äußeren. Trotzdem klebte sein Blick an mir, nachdem wir uns im Eingang eines Coffeeshops versehentlich angerempelt hatten.

»Sorry«, sagte er und trat einen Schritt zurück.

Seine Stimme erzeugte ein Kribbeln in meinem Bauch.

»Kein Problem«, erwiderte ich ein wenig heiser. Ich hielt seinem Blick stand und sah etwas in ihm nachgeben. Schnell schlug ich die Augen nieder. Ich hatte nicht vor, gleich wieder den nächsten Mann zu erobern. Aber es war zu spät. Keine Sekunde ließ er mich mehr aus den Augen.