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Mami
– 1960 –

Diese Oma ist spitze!

Friedhilde wächst über sich hinaus

Susanne Svanberg

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-979-2

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Der fünfjährige Marco rümpfte das Näschen. »Blödes Spiel!« schimpfte er und drehte sich ärgerlich zur Seite.

»Dir macht es keinen Spaß, weil du nicht gewinnst. Mußt eben besser aufpassen«, belehrte ihn seine Schwester und warf mit Genugtuung einen seiner Spielsteine vom Feld.

»Mag aber nicht! Kannst alleine weiterspielen.« Marco, der Silke gegenüber auf dem Teppich saß, stemmte sich hoch. »Ich will viel lieber mit der Mami nach draußen gehen.«

»Sie hat aber keine Zeit.« Silke, mit ihren sieben Jahren viel vernünftiger als der kleine Bruder, hielt Marco zurück.

»Warum?«

»Weil sie am Computer arbeitet.«

»Und warum muß sie arbeiten?« Marco hatte dieses Argument schon oft gehört, wollte sich aber nicht damit zufrieden geben.

Auf diese Frage wußte die sonst so clevere Siebenjährige auch keine Antwort, zumal sie auch lieber zum Spielen nach draußen gegangen wäre. Draußen schien die Sonne von einem wolkenlos blauen Novemberhimmel und ließ die letzten bunt gefärbten Blätter der Bäume in wundervollen Rottönen leuchten.

Ein Schimmer davon fand sich auch in Marcos dichtem braunem Schopf und in den lustigen Sommersprossen, die sein kurzes Stups­näschen zierten.

»Sie hat gesagt, daß sie mit uns auf den Spielplatz geht«, behauptete er. Dabei schob er die Unterlippe vor, was das Lausbubenhafte seines runden Gesichtes verstärkte.

»Ja, wenn sie das Kapitel zu Ende hat.« Silke sah ihrer Mami ähnlich. Sie hatte blondes Haar und blaue Augen, und auch Nadjas sanftes Wesen hatte sie geerbt.

Der kleine Bruder schlug dem Papa nach und war wild und ungestüm, wie er es gewesen war.

Vor fast fünf Jahren war Torsten als Rennfahrer tödlich verunglückt. Schnelle Autos waren sein Hobby und schließlich auch sein Schicksal.

Die Kinder hatten keine Erinnerung an ihn, denn sie waren noch zu klein, als ihr Vater von einem Rennen in Le Mans nicht zurückkehrte.

Er war damals erst 32 Jahre alt. Zu jung und zu leichtsinnig, um seine Familie ausreichend abzusichern. Die Prämien für die Versicherung waren nicht bezahlt, Nadja bekam nur eine kleine Rente.

Doch sie jammerte nicht, sondern besserte das schmale Einkommen durch Schreibarbeiten auf, die sie zu Hause erledigen konnte. Da sie vor ihrer Heirat als Journalistin gearbeitet hatte, wurde sie freie Mitarbeiterin für verschiedene Zeitschriften. Außerdem schrieb sie Kinderbücher und entwarf auch die Illustrationen dafür. Sie hatte großes Talent auf diesem Gebiet, das wurde ihr immer wieder bestätigt. Allerdings erforderte dieses Engagement viel Zeit. Zeit, die sie lieber mit ihren Kindern verbracht hätte.

»Warum dauert das so lange?« maulte Marco und gab dem Spielbrett, das noch am Boden lag, einen Tritt, daß es unter das doppelstöckige Bett glitt.

»Blödmann!« Die sonst so friedliche Silke versuchte, den kleinen Bruder an den Haaren zu ziehen.

Doch er wich geschickt aus und rannte übermütig zur Tür. Silke hinterher, denn sie war dafür verantwortlich, daß die Mami in Ruhe arbeiten konnte. »Du bleibst hier! Die Mami hat gesagt…« Silke wollte den Bruder festhalten. Vergeblich.

Trotz des Altersunterschiedes war Marco fast so groß wie sie, auf jeden Fall aber genauso stark. Deshalb wurden sie häufig für Zwillinge gehalten.

Mit der flachen Hand stieß Marco die Schwester blitzschnell vor die Brust. Silke taumelte zurück, stolperte und landete auf dem Po, während Marco triumphierend davonlief. Er rannte ins Wohnzimmer, das der Mami gleichzeitig als Arbeitsraum diente.

»Ich mag nicht mehr mit Silke spielen. Die ist soo langweilig!« beschwerte er sich.

Nadja, die gerade telefonierte, bedeutete ihrem Jüngsten, sich ruhig zu verhalten. Sie wußte, daß sie damit die Geduld des temperamentvollen Fünfjährigen auf eine harte Probe stellte. Er tobte am liebsten im Freien herum, spielte Fußball, kletterte auf Bäume und rannte mit dem Wind um die Wette. Er war schwer zu bändigen, ihr Kleiner, aber Nadja liebte ihn voll mütterlicher Zärtlichkeit, genau wie Töchterchen Silke, mit der es eigentlich nie Probleme gab.

Da kam sie auch schon, bereit, sich zornig auf den Bruder zu stürzen, denn sein aggressives Verhalten sollte natürlich nicht ungesühnt bleiben.

In diesem Augenblick legte Nadja den Hörer auf. »Ich muß leider gleich weg«, informierte sie die Kinder.

Das brachte Marco Straffreiheit ein, denn Silke ließ die bereits erhobene Hand wieder sinken. »Können wir mitkommen?« fragte sie hoffnungsvoll.

Nadja schlug ihren Kindern nur sehr ungern einen Wunsch ab. »Es geht leider nicht«, antwortete sie bekümmert. »Ich fahre nach Wiesbaden zu dem Verlag, von dem ich euch schon erzählt habe.« Die junge Mutter lächelte sanft. Sie hatte einen ausgesprochen hübschen Mund, der ihr Lachen besonders reizvoll wirken ließ.

Dem kleinen Sohn war das egal. Er hatte seine Warum-Phase, und da kam sie auch schon, die unvermeidliche Frage: »Warum?«

Nadja drehte ihren Bürostuhl in Richtung Kinder und breitete die Arme aus. Eine Aufforderung, die sofort verstanden wurde. Im nächsten Moment schmiegten sich Silke von rechts und Marco von links an ihre Mami. Sie hatten ein sehr herzliches Verhältnis, was immer wieder zum Ausdruck kam. Hier waren drei Menschen, die sich innig liebten.

»Ihr wißt doch, daß ich ein Buch über uns geschrieben habe, über unsere kleine Familie.«

»Da hast du reingeschrieben, daß ich in den Eimer mit Ruß gefallen bin, als der Schornsteinfeger hier war und daß Silke vor Schreck einen Stein verschluckt hat.«

»Genau«, schmunzelte Nadja, die an die vielen lustigen Episoden dachte, die sie in ihrem Manuskript schilderte. »Es ist schon eine ganze Weile her, daß ich es bei diesem Verlag eingereicht habe, und ich dachte schon, daß ich die Arbeit nie verkaufen würde. Doch jetzt hat sich der Verleger selbst gemeldet und möchte mich kennenlernen. Da muß ich natürlich hin. Gleich sogar, weil er morgen in Urlaub fährt. Das hat mir die Sekretärin gesagt. Es tut mir leid, daß wir heute nicht mehr zum Spielplatz gehen können, wie ich es euch versprochen habe.« Nadja hob und senkte die schmalen Schultern. Dabei bogen sich die Spitzen ihrer glatten blonden Haare nach außen, was äußerst reizvoll wirkte. Sie war überhaupt eine sehr hübsche, mädchenhafte Frau, der niemand ansah, daß sie 36 Jahre alt war.

»Wir können doch allein zum Spielplatz gehen«, schlug Marco schmeichelnd vor.

»Nein, das möchte ich nicht.«

»Warum?«

»Weil Kinder nicht ohne Aufsicht dort spielen dürfen«, erklärte Nadja, die stets in Sorge um ihre Kleinen war.

»Ich brauche voraussichtlich drei Stunden. Für diese Zeit bringe ich euch zu Frau Steinke.« Nadja sah keine andere Lösung. Sie hatte keine Eltern mehr und auch keine Verwandten. Die Angehörigen ihres verstorbenen Man­nes lebten in Australien.

Silke schnappte erschrocken nach Luft. »Zu dieser bösen alten Frau? Mami, das kannst du doch nicht machen! Tante Uschi hat gesagt, sie ist ein Drachen.«

»Ja, und eine Hexe auch noch«, ergänzte Marco aufgeregt. Uschi Jachmann wohnte im Haus gegenüber und beaufsichtigte die Kinder manchmal. Doch jetzt war sie in Urlaub und somit nicht erreichbar.

Nadja räusperte sich. Ihr Blick wurde streng. »So etwas darf man nicht nachplappern. Ich weiß, daß Frau Steinke mit allen Nachbarn verfeindet ist. Aber ich glaube, so böse wie ihr Ruf ist sie überhaupt nicht, und sie ist auch nicht so alt wie sie aussieht. Noch vor einem halben Jahr hat sie als Lehrerin gearbeitet. Also ist sie vermutlich 60 Jahre alt. Wahrscheinlich ist sie nur einsam und verbittert. Sie hat niemand, und deshalb werdet ihr nett zu ihr sein. Versprochen?« Forschend sah Nadja ihre Kinder an.

Normalerweise waren sie selten einer Meinung. Doch jetzt schüttelten sie solidarisch die Köpfe. »Nein. Wir mögen sie doch gar nicht, und wir wollen auch nicht bei ihr bleiben. Bitte, Mami, können wir nicht allein hier…« Silke schnupfte beleidigt. »Wir stellen auch gar nichts an. Ehrenwort!«

»Ich habe es eilig, denn ich habe versprochen, in einer Stunde dort zu sein. Gut vierzig Minuten habe ich zu fahren, muß mich noch umziehen und… Also wollen wir nicht lange diskutieren.« Nadja hatte ihre Kinder noch nie unbeaufsichtigt gelassen, und sie wollte es auch jetzt nicht riskieren. Keine ruhige Minute würde sie haben, wenn sie wüßte, daß ihre Kleinen unbeobachtet waren. Es konnte soviel passieren.«

»Wir können doch auch im Auto bleiben«, versuchte es Silke erneut, obwohl sie wußte, daß ihre Mami hart bleiben würde.

»Und was ist, wenn sie uns verhext, die böse Alte?« fragte Marco, der die Frau, die im Obergeschoß wohnte, stets mit größtem Mißtrauen beobachtete.

Diesmal schüttelte Nadja den Kopf. »So etwas kommt doch nur im Märchen vor«, meinte sie amüsiert. »Ein großer Junge wie du, Marco, weiß das, nicht wahr?« Nadja stellte den kleinen Sohn, der auf ihr linkes Knie gerutscht war, wieder auf die Füße.

»Aber manchmal… manchmal werden Märchen wahr. Das hat Tante Uschi gesagt«, konterte der Kleine auffallend ernst.

»Und daß man sich vor der Steinke fürchten muß, hat sie auch gesagt, die Tante Uschi«, unterstützte Silke den Bruder.

»Das hat sie nicht so gemeint.« Nadja war nicht bereit, sich den allgemeinen Vorurteilen anzu­schlie­­ßen. Sie hatte Friedhilde Steinke bisher immer freundlich gegrüßt, obwohl ihr Gruß nie erwidert wurde. Grundsätzlich glaubte sie an das Gute in den Menschen, und sie war in dieser Hinsicht noch nie enttäuscht worden. Sie begegnete allen Leuten freundlich, und so wurde sie auch behandelt.

»Mami, warum dürfen wir nicht hierbleiben? Wir sind doch schon groß.« Flehend sah Silke ihre Mami an.

»Nicht groß genug. Wenn ich euch allein lassen würde, wäre ich so aufgeregt, daß ich gar nicht verhandeln könnte. Versteht ihr das?« Nadja sah ihre Kinder aufmerksam an.

Sie senkten mutlos die Köpfe. So klein sie auch waren, wußten sie genau, daß die Mami manches Opfer für sie brachte.

Diesmal war die Reihe an ihnen, der Mami zuliebe etwas zu ertragen, das sie gar nicht mochten.

»Gut«, schnupfte Marco, »gehen wir hoch. Aber vielleicht kommen wir dir als Katze entgegen, wenn du uns abholst.«

»Ich mag nicht, daß ihr einen solchen Unsinn redet. Wascht euch bitte die Hände und zieht euch frische Pullis an.« Nadja eilte in ihr Schlafzimmer. Dort wählte sie einen knöchellangen Rock und eine weiße Bluse aus. Eine passende Kostümjacke dar­über und schon war sie fertig. Trotz der etwas strengen Kleidung sah sie jung und anmutig aus.

Sie nahm ihre beiden Kinder an der Hand, um bei der Hausbewohnerin im oberen Stockwerk zu klingeln.

*

An der Wohnungstür von Friedhilde Steinke wurde nie geklingelt. Freunde oder Bekannte hatte sie nicht, und auch sonst verirrte sich niemand ins Obergeschoß des Zweifamilienhauses. Wenn Friedhilde ihre Wohnung verließ, schloß sie sorgfältig ab. Sie ging durchs Treppenhaus und durch die Straßen, als würde sie ihre Mitmenschen nicht wahrnehmen.

Mit niemand wollte sie etwas zu tun haben, weil sie sich vor Enttäuschungen fürchtete. Auch zu den Kollegen von früher hatte sie keine Verbindung mehr. Sie war, mitten in einer Großstadt, zur Einsiedlerin geworden.

Nur ihre Zwillingsschwester Ro­semarie kam gelegentlich vorbei, doch sie besaß einen Schlüssel zu Friedhildes Wohnung. Rosemarie verhielt sich ähnlich wie ihre Schwester. Doch im Gegensatz zu Friedhilde war sie nie verheiratet gewesen.

Zeitlebens hatte sie Beziehungen zum anderen Geschlecht als verwerflich betrachtet. Ihren Unterhalt verdiente sie als Handarbeitslehrerin im Schuldienst und war zu einer echten alten Jungfer geworden. Von jeher hatte sie Friedhilde in dieser Hinsicht beeinflußt. Sie nahm der Schwester ihre Heirat übel und redete erst wieder mit ihr, als sich Friedhilde von ihrem Mann und ihrem Sohn getrennt hatte.

Als an diesem frühen Nachmittag das melodische Bim-Bam der Türglocke durch die stille Wohnung tönte, fuhr Friedhilde erschrocken zusammen. Sie war gerade dabei, Fotos von Steinen verschiedener Sorten und Größen zu sortieren. Eine Arbeit, bei der sie die Lupe brauchte, denn es gab viele Kleinigkeiten zu beachten.

Durch eine hektische Bewegung brachte Friedhilde das Ergebnis einiger Arbeitsstunden wieder durcheinander. Hastig erhob sie sich, um durch den Spion an ihrer Wohnungstür in den Hausflur zu sehen. Draußen stand die junge Frau aus dem Erdgeschoß.