Theo Sommer

 

Unser

    Schmidt

 

Der Staatsmann und

der Publizist

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2010

Copyright © 2010

by Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg

www.hoca.de

Satz: atelier eilenberger, Leipzig

 

ISBN 978-3-455-30720-7

 

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

 

 

 

Dem Freund

 

Inhalt

 

Vorwort     9

Einleitung     13

 

 

Vom Kanzleramt ins Pressehaus     29

 

Herausgeber und Verleger:

Wie Helmut Schmidt zur ZEIT kam     31

Der Staatsmann und die Journalisten     46

Der Zeitungsmann     65

 

 

Der Staatslenker und Staatsdenker     77

 

Der Deutschlandpolitiker     79

Der Europapolitiker     132

Der Verteidigungs- und Sicherheitspolitiker     175

Der Außenpolitiker     225

Der Wirtschaftspolitiker     251

Der Hanseat     286

Der Philosoph im Politiker     305

 

 

Ein Gespräch mit Helmut Schmidt     349

 

»Miles to go before I sleep« – Bilanz zweier Leben:

Rückblick und Ausblick     351

 

 

Anmerkungen     381

Literatur     415

Vorwort

Darf man ein Buch über einen Freund schreiben, der eine Gestalt der Zeitgeschichte ist? Ich habe mir die Antwort auf diese Frage lange überlegt, als Dr. Ulrich Ott von der ING-DiBa mit der Idee an mich herantrat, ein Buch über den Publizisten Helmut Schmidt zu schreiben. Die ING-DiBa vergibt seit 1996 jährlich den Helmut-Schmidt-Journalistenpreis. Die Idee faszinierte mich, denn ich hatte in den bald achtundzwanzig Jahren, die Schmidt jetzt schon bei der ZEIT ist, eng mit ihm zusammengearbeitet, als Chefredakteur zunächst, dann zusammen mit Marion Gräfin Dönhoff im Herausgeber-Kollegium, seit 2001 schließlich als Editor-at-Large, eine Art Altchefredakteur neben dem Altbundeskanzler. Nach reiflicher Überlegung sagte ich ja.

Zwei Gründe gaben für meine Entscheidung den Ausschlag. Zum einen war unsere Freundschaft stets eine Freundschaft auf kritische Distanz. Sie schloss weder Objektivität aus noch – bei weitreichender Übereinstimmung in grundsätzlichen Fragen – voneinander abweichende Ansichten. Ich traute mir den gebotenen inneren Abstand zu. Zum anderen war ich mir sicher, als ZEIT-Zeuge das Wirken des Publizisten Schmidt beschreiben und zugleich als studierter Historiker seine Ansichten und seinen fortdauernden Einfluss auf die deutsche Politik wie auf die deutsche öffentliche Meinung sachlich analysieren zu können. Ich hoffe, dass diese Selbsteinschätzung den Lesern dieses Buches gerechtfertigt erscheint.

Ich muss hinzufügen: Es ist ein ganz anderes Buch geworden, als im ersten Ansatz geplant war. Je mehr ich mich vertiefte in die staunenswerte Fülle von Helmut Schmidts Artikeln, je intensiver ich die Mitschnitte seiner Fernsehauftritte studierte und je faszinierter ich mich in seine Vortragstexte einlas, desto klarer wurde mir, dass die Beschränkung des Themas auf das, was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt öffentlich von sich gegeben hat, nicht den ganzen Schmidt würde widerspiegeln können. Als er 1983 in den ZEIT-Verlag eintrat, war er ja kein unbeschriebenes Blatt. Seine publizistischen Äußerungen sind nicht zu verstehen, wenn man nicht sein Denken, Handeln und Entscheiden in den Ämtern mit einbezieht, die er vor seinem Seitenwechsel von der Politik in die Publizistik bekleidet hatte. Dies wiederum machte es erforderlich, zum besseren Verständnis den zeitgeschichtlichen Hintergrund auszuleuchten, vor dem der Deutschlandpolitiker, der Europapolitiker, der Sicherheitspolitiker, der Außenpolitiker und der Wirtschaftspolitiker, aber auch der Hanseat und der Philosoph im Politiker Schmidt agierte, reagierte, regierte und räsonierte. Auf diese Weise hat sich das thematische Panorama dieses Buches zwangsläufig ausgeweitet. Aus dem Porträt des Publizisten Schmidt ist eine Darstellung auch des Staatsmanns Schmidt geworden – und darüber hinaus, gespiegelt in einer Person der Zeitgeschichte wie der ZEIT-Geschichte, ein Stück bundesrepublikanischer Historie vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Welt.

Vielen schulde ich Dank. Ohne ihr Interesse und ihre Unterstützung wäre es mir nicht möglich gewesen, das Manuskript binnen acht Monaten zu vollenden. Für großzügige Förderung und anregende Begleitung meiner Arbeit danke ich vor allem Dr. Ott und der ING-DiBa, deren Kommunikationschef er ist. Mein Dank gilt den ZEIT-Kollegen, deren Erinnerungen und Erfahrungen mit Helmut Schmidt mir viel Stoff geliefert haben und die es hinnahmen, dass ich eine Zeit lang mehr in meiner Schreibklause zubrachte als in der Redaktion. Er gilt all denen, die mir hilfreiche Kritik und Anregungen haben zuteilwerden lassen, allen voran Haug von Kuenheim, aber auch Giovanni di Lorenzo, Nina Grunenberg und Robert Leicht, ferner Miriam Zimmer und Kerstin Wilhelm von der ZEIT-Dokumentation, deren verlässlicher Findigkeit ich die rasche Auffüllung verschiedenster Beleglücken verdanke. Von besonderem Wert war mir darüber hinaus die Hilfestellung, die mir Mario-Gino Harms bei der Beschaffung von Unterlagen aus dem Archiv der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg unermüdlich geleistet hat. Nicht zuletzt danke ich meiner Assistentin Barbara Knabbe, die das Manuskript durch all seine mannigfachen Metamorphosen betreut und ihm so nachsichtig wie geduldig an ihrem Computer Gesicht und Gestalt gegeben hat, und Kathrin Liedtke für ihr einfühlsames Lektorat. Um Nachsicht bitte ich auch meine Familie, die unter den Geburtswehen dieses Buchprojekts mehr zu leiden hatte als der Autor selber.

Zu danken habe ich schließlich all denen, die vor mir über Helmut Schmidt geschrieben haben: unter den journalistischen Biographen Sibylle Krause-Burger, Hans-Joachim Noack, Martin Rupps, Michael Schwelien, Mainhardt Graf von Nayhauß, der Brite Jonathan Carr und der Franzose Dominique Pelassy. In erster Linie gilt mein Dank jedoch dem Heidelberger Historiker Hartmut Soell, dessen magistrale zweibändige Schmidt-Biographie eine schier unerschöpfliche Quelle von Fakten und Einsichten ist. An etwaigen Stärken dieses Buches haben sie alle ihren Anteil. Etwaige Schwächen habe ich allein zu verantworten.

Theo Sommer

Hamburg, im August 2010

Einleitung

Vor einem halben Jahrhundert, im Sommer 1961, bin ich Helmut Schmidt zum ersten Mal begegnet. Ich reiste von der Jahreskonferenz des Londoner Instituts für Strategische Studien aus Genf nach Hamburg zurück, als der zweiundvierzigjährige SPD-Politiker in mein Schlafwagenabteil zustieg. Er bezog das untere Bett, ich das obere. Wir haben damals die halbe Nacht bei Fürstenberg-Pils miteinander geredet. Gesprächsstoff hatten wir genug. Für strategische Fragen hatte ich mich seit längerem interessiert. Im Herbst 1957 hatte ich für die ZEIT Kissingers Nuclear Weapons and Foreign Policy besprochen und hatte dann im folgenden Jahr für den jungen Harvard-Professor bei einem Auftritt im Hamburger Amerikahaus gedolmetscht, da er sich außerstande sah, Spezialausdrücke wie second-strike capability oder intermediate range missiles in seiner Muttersprache wiederzugeben (»Mit meinem Deutsch ist es wie mit meinem Gepäck: Es kommt erst morgen«, entschuldigte er sich). Auch hatte ich mich im Sommer 1960 in Kissingers International Summer Seminar an der Harvard University und danach als erstes deutsches Council-Mitglied des Londoner Institute for Strategic Studies intensiv mit strategischen Fragen beschäftigt. Schmidt und ich besaßen viele gemeinsame Bekannte in der strategic community. So fanden wir rasch Kontakt zueinander.

In jener Nacht im Schlafwagen habe ich zum ersten Mal Schmidts enorme Sachkenntnis bewundert. 1962 kam dann sein Buch Verteidigung oder Vergeltung heraus. Es verschaffte mir die Chance meines allerersten Fernsehauftritts; in der Wessel-Runde diskutierten Emil Obermann vom Süddeutschen Rundfunk, Hans Schmelz vom Spiegel und ich mit ihm über sein Werk – das erste überhaupt, das sich in Deutschland kompetent und autoritativ mit dem Thema auseinandersetzte. Eine lange Reihe langer Gespräche schloss sich in den folgenden Jahren an.

Im Herbst 1969 lud mich Schmidt ins Frankfurter Interconti am Main, wo er als designierter Verteidigungsminister in Willy Brandts Kabinett seine Mannschaft zusammenstellte. Schon 1966 hatte er mir angeboten, falls er Verteidigungsminister würde, mit ihm auf die Hardthöhe zu gehen, um im Ministerium eine Planungsabteilung aufzubauen und zu leiten. Nun kam er darauf zurück. Abermals bot er mir an, im Verteidigungsministerium einen Planungsstab einzurichten. Außerdem sollte ich eine »kritische Bestandsaufnahme« der Bundeswehr organisieren und das erste Weißbuch schreiben. Ich sagte zu und blieb – so war es von vornherein verabredet – ein knappes Dreivierteljahr. Es war eine kurze und wahnsinnig arbeitsreiche, aber aufregende und fruchtbare Zeit an seiner Seite.

Damals habe ich seine enorme Arbeitskraft zu bewundern gelernt. Ich sehe noch den Stapel von Vorlagen vor mir, auf zwei oder drei Teewagen vor ihm aufgebaut, die er nach all den Sitzungen, Truppenbesuchen und oft auch Parteiterminen bis weit nach Mitternacht durcharbeitete. Manchmal steckte ich frühmorgens um drei, wenn im Ministerbüro noch Licht brannte, den Kopf bei ihm hinein. Wir tranken einen dünnen Whisky und schickten einander dann ins Bett, denn für halb acht war schon wieder der erste Termin angesetzt. Von Schmidts Arbeitsweise habe ich damals übrigens viel gelernt. Problemidentifizierung, Definition der Notwendigkeiten und Möglichkeiten, Diskussion der Vorschläge, schließlich Beschluss und Umsetzung – das war eine Art von Führung, wie ich sie so nicht wieder erlebt habe, zugleich entschieden, offen für jede vernünftige Anregung, aber auch für jeden vernünftigen Einwand. Diskussion war für ihn ein notwendiges Element der eigenen Meinungsbildung und Beschlussfassung.

Wir blieben auch nach meiner Bonner Zeit in Fühlung. Einmal erlebte ich ihn wenige Jahre später, wie die Öffentlichkeit ihn nie zu sehen bekam: verbittert, wütend und zugleich reuevoll. Das war 1976, im Gästehaus des Hamburger Senats an der Alster. Er hatte ein paar Freunde gebeten, mit ihm den Entwurf der Regierungserklärung zu schmirgeln und zu polieren. Im vorangegangenen Wahlkampf hatte er, unvollkommen informiert oder schlecht beraten, eine Rentenerhöhung versprochen. Neue und unzweideutige Zahlen bewogen ihn dann, die Erhöhung zu verschieben. Das löste im Lande einen Proteststurm aus. Von »Rentenfiasko« und »Rentenlüge« war die Rede. Er machte einen Rückzieher. Im Entwurf der Regierungserklärung war davon nicht ein Wort zu lesen. Er wischte das Beamtenpapier unwirsch beiseite, stellte das Thema ganz an den Anfang und diktierte die großartigen Sätze: »Eine Regierung ist nicht unfehlbar. Dies behaupten nur totalitäre Regierungen von sich. Hingegen steht es einer demokratischen gut an, wenn sie klarer Kritik folgt.« Zwei Jahre später bekannte er: »Es ist bitter, solche Fehler einsehen zu müssen. Es ist bitter, sie öffentlich eingestehen zu müssen.«

Dann kam 1977 der »deutsche Herbst« des RAF-Terrors, der Mogadischu-Aktion, der Schleyer-Entführung. Helmut Schmidt hatte eine Reihe von Experten in den Kanzlerbungalow eingeladen, um über MBFR zu sprechen – die festgefahrenen Verhandlungen über Mutual and Balanced Force Reductions in Europa, die er wieder in Gang bringen wollte. Aber er kam nicht, oder lange nicht, denn an diesem Tag wurde bekannt, dass Hanns Martin Schleyer ermordet worden war. Er stieß erst zu unserer Gruppe, nachdem er die Rede aufgesetzt hatte, die er am nächsten Tag im Bundestag halten wollte. Ich habe ihn nie wieder dermaßen erschüttert, so unendlich müde, so schwermütig gesehen. »Ein großes Glas mit Eis und dann so viel Wermut, wie anschließend noch reingeht«, sagte er erschöpft zu der Ordonnanz; ich notierte mir den Satz auf einer Papierserviette. Am nächsten Tag nahm er vor dem Parlament in demutsvollem Bewusstsein von Versäumnis und Schuld die Verantwortung auf sich – ganz im Sinne von Max Webers Satz, dass alles Tun in Tragik verflochten sei. »Zu dieser Verantwortung stehen wir auch in der Zukunft«, sagte er und fügte hinzu: »Gott helfe uns!«

Einen ähnlich bitteren Moment erlebte ich dann im November 1983 mit, beim Kölner Parteitag der SPD nach Schmidts Abwahl ein Jahr zuvor. Da sprachen sich nur noch ganze sechzehn Delegierte für den von ihm 1977 mit einer Rede vor dem International Institute for Strategic Studies initiierten NATO-Doppelbeschluss aus. Die Geschichte hat Helmut Schmidt freilich recht gegeben. Zehn Jahre nach seiner Londoner Rede ist ihm der späte Triumph zuteilgeworden, dass die Mittelstreckenraketen – die sowjetischen SS-20 im Osten und die amerikanischen Pershings und Marschflugkörper im Westen – auf der Grundlage des von seiner Partei abgelehnten, aber dann von Helmut Kohl ausgeführten Doppelbeschlusses tatsächlich abgeschafft wurden. Seine Weitsicht, seine entschlossene Konsequenz zahlten sich aus.

Im Jahre 1983 kreuzten sich dann unsere Pfade aufs Neue. Im Mai jenes Jahres zog er als ZEIT-Herausgeber ins Pressehaus ein; seitdem sind wir Flurnachbarn. Da saß er nun in seinem bescheidenen Büro und begann eine zweite Karriere, ein zweites Leben. Es schloss sich nahtlos an das erste Leben an.

Als Helmut Schmidt im Mai 1974 unversehens Bundeskanzler geworden war, hatte ich ihn in einem ganzseitigen ZEIT-Artikel im neuen Amt begrüßt. Der Artikel war ungewöhnlicherweise in Briefform abgefasst und mit »Lieber Helmut« überschrieben – der Hamburger Anrede, die den Vornamen mit dem »Sie« verbindet, auf diese Weise zugleich Distanz ausdrückend und Freundschaft. Darin versuchte ich, die Klischees zu entkräften, die über Schmidt im Schwange waren: »Schneller Brüter«, »kühler Macher«, »Erfolgsmensch im Hans-Albers-Stil«, oder ahnungslose Bemerkungen wie: Augenmaß und Zähigkeit seien seine Sache nicht, typisch für ihn seien demonstrative Hektik und zelebrierter Stress; um Gottes willen keine Kontemplation. Der Auffassung, dass er ein reiner Pragmatiker sei, den nicht der Horizont interessiere, sondern nur der Streifen Terrain vor seinen Füßen, hielt ich schon damals entgegen, dass er durchaus in der Lage sei, jedermann die sittlichen Grundlagen seiner Politik sichtbar zu machen, und dass er sich oft von Vorstellungen leiten lasse, die letztlich einer rein philosophischen Wurzel entsprangen. Ich verglich ihn mit Franz Josef Strauß: »derselbe scharfe Intellekt, dieselbe angriffslustige Polemik, dieselbe Kunst der Rede«. Aber ich markierte auch den entscheidenden Unterschied: »Sie sind disziplinierter, konsequenter auch. Und anders als Strauß spielen Sie nicht so dicht am Rande der eigenen seelischen Abgründe. Ihre Selbstkontrollmechanismen funktionieren besser. Ihre Achtung vor dem Gesetz ist stärker entwickelt.« Ich schrieb: »Sie gelten als Atlantiker – und sind es gewiss auch. Aber das heißt nicht, dass Sie den Amerikanern alles durchgehen ließen; Sie haben da schon früher manches offene Wort zu Ihrem alten Bekannten Henry Kissinger gesprochen. [Mit Ihrem Freund Giscard d’Estaing] stehen Sie in der Pflicht, den festgefahrenen EG-Dampfer wieder flottzumachen.« Im Übrigen vertraute ich, was den Stil seiner Amtsführung anging, ganz seinem Instinkt: »Er wird nicht zulassen, dass Sie zum Heiligen stilisiert werden, wo Sie keiner sind.« Und ich schloss mit den Worten: »Seien Sie meiner freundschaftlichen Ergebenheit auch dann, auch dort versichert, wo die andere professionelle Warte mir Kritik abnötigen wird.«

Als Helmut Schmidt Kanzler wurde, war sein schwarzes Haar noch kaum angegraut; als er achteinhalb Jahre später gestürzt wurde, war es weiß geworden. Wie Metternich mag er sich als Arzt im großen Weltspital empfunden haben, der dem Elend nicht zu steuern vermochte. Er war nicht autoritär wie Adenauer. Er stürmte nicht heilsgewiss voran wie Brandt. Er setzte auf die Vernunft, der er mühsam eine Klientel zu schaffen suchte; ein schwieriges Unterfangen in einer Zeit, in der das Zerbröseln des gesellschaftlichen Konsenses Führung immer schwieriger machte. Aber Schmidt tat seine Pflicht, und er tat sie mit Anstand, Würde und Stil. Er versuchte, in der Politik einen Begriff von Ratio, Leidenschaftslosigkeit und Augenmaß aufrechtzuerhalten, der über den Parteien stand, auch über der eigenen Partei.

Sein Ausgangspunkt war schwieriger als der seiner Vorgänger. Eigentlich hatte er ja Baumeister werden wollen, aber als er ins Palais Schaumburg einzog, war das Zeitalter der Architektonik zu Ende. Die wesentlichen außenpolitischen Strukturen standen; die Einordnung der Bundesrepublik in das weltpolitische Grundmuster der Epoche war abgeschlossen. Konrad Adenauer hatte das westliche Deutschland erst in den Rahmen des europäischen Einigungswerkes eingepasst, dann in das Atlantische Bündnis. Der deutsch-französischen Versöhnung fügte er den deutsch-israelischen Wiedergutmachungsvertrag an, beides historische Ausgleichleistungen; im Inneren stellten er und Ludwig Erhard die Anfänge des heutigen Sozialstaates auf das solide Fundament einer marktwirtschaftlichen Ordnung, um deren Leistungsfähigkeit uns die Welt beneidete. Willy Brandt fügte dann in das Kontinuitätsgeflecht westdeutscher Außenpolitik die zweite Determinante ein: das Streben nach Kontakt mit Ostdeutschland und Osteuropa, nach Kooperation auch, wo immer die kommunistische Welt dazu bereit und fähig war; dies bei gleichzeitiger Vorsorge allerdings, dass der fortdauernde Rückhalt im Westen uns instandsetzte, auch Konfrontationen durchzustehen, die uns der Kreml aufzwingen mochte. Brandt beendete den Sonderkonflikt der Westdeutschen mit Osteuropa, indem er die »wirklich bestehende Lage« anerkannte. Ansonsten war er der Mann euphorisch angepackter Reformen, getragen von einer Aufbruchstimmung sondergleichen, die sich in dem hoffärtigen Satz seiner ersten Regierungserklärung widerspiegelte: »Wir fangen erst richtig an.«

Helmut Schmidt gestattete sich solchen draufgängerischen Opportunismus nicht. Die Zeit, in der er als Kanzler antrat, und die Welt, die er vorfand, waren auch nicht danach. Die Ölkrise vom Herbst 1973 hatte die Szenerie von Grund auf verändert. Unter diesen Umständen musste Schmidt allen Baumeister-Ehrgeiz beiseiteschieben und sich ganz aufs Bewahren, Zusammenhalten, Stützen und Stabilisieren verlegen. »Konzentration und Kontinuität« war seine erste Regierungserklärung überschrieben, »Das Erreichte sichern« die zweite (1976), »Mut zur Zukunft« die dritte (1980). Keine Regierung fange bei null an, und keine könne Wunder vollbringen, war seine Antrittsbotschaft: »Das Mögliche aber muss sie mit aller Kraft verwirklichen.«

Von Friedrich Schiller stammt das schöne Wort: »Wer Großes leisten will, muss tief eindringen, scharf unterscheiden, vielseitig verbinden, standhaft beharren.« Nach diesem Maßstab hat Helmut Schmidt Großes geleistet. War er auch ein großer Kanzler? Im Rahmen dessen, was in seiner Ära möglich war, ist er das sicherlich gewesen. »Ein jegliches hat seine Zeit«, sagt der Prediger Salomo, »Pflanzen und Ausrotten, Würgen und Heilen, Brechen und Bauen.« Helmut Schmidts Kanzlerzeit verlangte Bewahren, Weitermachen, Vertrauen sichern. Er verweigerte sich dem nicht. Doch indem er das Werk von Konrad Adenauer und Willy Brandt fortsetzte, umsetzte in Praxis und Alltag, einsetzte für die Lebenszwecke der Bundesrepublik, etablierte er recht eigentlich erst eine bundesrepublikanische Staatsräson und eine fortwirkende Tradition Bonner, später Berliner Regierungshandelns. Wenn er – in einer Festrede zum neunzigsten Geburtstag von Richard von Weizsäcker1 – mit Genugtuung die Kontinuität der deutschen Politik auf allen wesentlichen Feldern hervorhob, zumal ihre Stetigkeit und Berechenbarkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik, der Europapolitik und der Friedenspolitik, so wird man mit Fug und Recht sagen dürfen, dass er als Kanzler dafür den Grundstein gelegt hat. Seine herausragende Leistung bestand darin, dass er die Westdeutschen in die Normalität einübte, sie an das Unspektakuläre gewöhnte und ihnen Sinn für das Mögliche gab. Was bis dahin parteipolitisch bitter umstritten war, verschmolz unter ihm zu einer erkennbaren und handhabbaren Einheit: Westpolitik und Ostpolitik, Bündnistreue und Nachbarschaftspflege, Verteidigungswille und Abrüstungswille. Und mehr als irgendeiner seiner Vorgänger baute er, die heraufdräuende Globalisierung früh erkennend, die Bedürfnisse der westdeutschen Wirtschaftskraft in das weltpolitische Konzept der Bundesrepublik ein.

Mit eindringlicher Beredsamkeit vertrat Helmut Schmidt das deutsche Grundinteresse, vermeidbare Konfrontationen zwischen den Blöcken auch tatsächlich zu vermeiden, da dem Ziel eines möglichst problemlosen Nebeneinanders der beiden deutschen Staaten, geschweige denn dem Fernziel der Wiedervereinigung, mit Krisen nicht genützt wäre. Dabei war ihm klar, dass Neues kaum noch zu konstruieren war, sondern dass es nun darauf ankam, die »stille Einhaltung und volle Anwendung« der Ostverträge durchzusetzen. Den Europäern in beiden Lagern wies er die Aufgabe zu, stets von neuem mäßigend auf ihre jeweilige Vormacht einzuwirken und bei aller Sorge um die eigene Sicherheit doch die Zukunftsperspektive der Zusammenarbeit offenzuhalten. So kämpfte er an der Seite Giscard d’Estaings wie ein Löwe darum, dass die Folgen der sowjetischen Afghanistan-Invasion Ende 1979 nicht auf Europa durchschlugen. Dem Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau schloss er sich an, doch verweigerte er sich zu Carters Zeiten wie in der Ära Reagan jedem Handelskrieg gegen die Sowjetunion und das unter Kriegsrecht stehende Polen; auch trieb er das westeuropäisch-sowjetische Erdgas-Röhren-Geschäft voran.

Die selbstbewusste Definition unserer vitalen äußeren und inneren Interessen, wie Schmidt sie 1986 in seiner Abschiedsrede vor dem Bundestag zusammenfasste, ist der Mehrheit der Bundesbürger längst zur Selbstverständlichkeit geworden. Auf der Weltbühne vertrat er die deutschen und europäischen Anliegen mit respektheischender Konsequenz, Eloquenz und Effizienz. Er tat dies in einer Weise, die nicht nur der Bundesrepublik nützte, sondern darüber hinaus auch der Europäischen Gemeinschaft und der Welt jenseits ihrer Grenzen. Wie es sein Freund Giscard in der Zueignung eines Fotos ausdrückte, das in Schmidts Langenhorner Arbeitszimmer steht: »Pour mon ami, le chancelier Helmut Schmidt, dont l ’action est bénéfique pour l ’Europe et pour le monde«.

Nun ist historische Leistung allemal ambivalent. Den Stärken der Großen entsprechen ihre Schwächen. Adenauer hatte sie, Brandt hatte sie; Schmidt auch. An allen hat die Zeit ihre zermürbende Kraft gezeigt. Adenauer hatte sich selbst überlebt; Brandt verfiel in Lustlosigkeit; Schmidts Physis verweigerte ihm nach dem letzten Wahlsieg den Dienst. Geplagt von wiederkehrenden Ohnmachten und Herzstillständen, die erst ein im Oktober 1981 eingesetzter Schrittmacher beendete, versah er seine Amtsgeschäfte. Angeschlagen, wie er war, misslang ihm Entscheidendes. Er warf nur noch einen schmalen geistigen Schatten. Auf die Umweltbewegung, die Friedensbewegung, die Grünen und Alternativen reagierte er viel zu spät. Die notwendige Reform der Reform blieb im Ansatz stecken, die Anpassung der Wirtschaftspolitik an die neuen Umstände hinkte den Umständen hinterher. Eine Kabinettsumbildung brachte nur zutage, dass sich aus dem Unterholz der SPD Hochstämmiges nicht mehr zu entwickeln schien. Mit den Schmidt-Stimmen, die den Freien Demokraten über die Zehn-Prozent-Marke verholfen hatten, begannen Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff auf eigene Rechnung zu wuchern. Und in der SPD bröckelte die Unterstützung für den Kanzler zusehends ab.

Plagten ihn nie Zweifel an der Richtigkeit seiner Linie? »Nur die Dummen zweifeln nicht«, beschied er einen Frager. Zu spät ging ihm auf, dass er das in der nachdrängenden Generation aufkeimende Bedürfnis nach individueller Emanzipation und kreativem Handeln in der Politik unterschätzt hatte. An den Achtundsechzigern störte ihn deren »Primitiv-Marxismus plus Anarchismus plus Wille zur Gewalt«, ihre Schwärmerei, ihr Alleinseligmachungsanspruch. Die SPD wollte er nicht zu einem »Dachverband von Minderheitengruppen mit Minderheitenmeinungen« verkommen lassen. Er dachte vom Staate, nicht von der Gesellschaft her. Zu arbeitsbesessen, zu gründlich seien er und seine Altersgenossen wohl gewesen, bemerkte er Jahre später einmal, »um die Lockerheit, die Lässigkeit und die Lebenskunst der neuen Generation mitzuerleben und aufnehmen zu können«.2

Die Deutschen haben manchen Exkanzler erlebt, der bloß finster über die Hintergründe seines Sturzes sinnierte und spintisierte.

Nicht so Helmut Schmidt. Er blieb rastlos tätig, schrieb in siebenundzwanzig Jahren 270 tragende Artikel für die ZEIT, verfasste an die dreißig Bücher, reiste unablässig um die Welt, hielt unzählige Vorträge und trat häufig im Fernsehen auf. »Es treibt mich«, begründete er dies, »in die Debatte einzugreifen, um zu sagen, was nach meiner Meinung geschehen müsste.«3 Die Publizistik wurde für ihn, frei nach Clausewitz, zur Politik mit Einmischung anderer Mittel. Sie hielt ihn im Rampenlicht und ist unzweifelhaft der Grund dafür, dass er für viele Menschen im Lande zu einer glaubwürdigen Auskunftsperson, zum verlässlichen Ratgeber, ja: zum Idol, zum leuchtenden Vorbild geworden ist. Immer schon war er mehr als ein Politiker: ein Staatsmann nämlich. Heute sehen die Deutschen in ihm einen Menschen, der Orientierung gibt und Richtung weist. Sie vertrauen ihm. »Stil-Ikone, Querdenker, Weltethiker, Nationalheiliger« nannte ihn der Stern, »Moralinstanz und geistiges Geländer«. Und erläuterte: »Wo Schmidt draufsteht, ist Orientierung drin, denken die Menschen.«4 Nichts anderes meinte Richard von Weizsäcker, als er schrieb, hinter Helmut Schmidts Autorität stehe »eine lebenslange, gewaltige Arbeit mit sich selbst, ein Ringen mit den Konflikten des Menschen in seiner Zeit, eine Auseinandersetzung mit der Spannung zwischen Verstand und Gefühl, Leidenschaft und Disziplin, Interesse und Moral, Gesinnung und Verantwortung, dem großen Wurf und dem kleinen Schritt«.5

Während seiner Amtszeit war Schmidt nicht immer so hochgeschätzt. Da empfand manch einer seine Selbstdisziplin als Arroganz, seine Sachlichkeit und Nüchternheit als Kälte. Als er aus dem Amt schied, war sein Popularitätswert (»Gute Meinung« minus »Keine gute Meinung«) in den Allensbacher Umfragen von 60 im November 1977 auf 44 im September 1982 gesunken,6 die innerparteilichen Querelen hatten auch sein Ansehen lädiert. Anders heute: Als elder statesman hat er sich über allen Parteien als politisch-moralische Instanz etabliert. Noch immer wirft er einen langen Schatten auf die politische Bühne. Wie der Spiegel es hintersinnig ausdrückte: »Die Deutschen sind jetzt schlauer, auch weil sie wissen, was nach Schmidt kam.«7

Seine Volkstümlichkeit ist von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, von Jahr zu Jahr gewachsen. Noch im Jahre 2002 schrieb Martin Rupps: »Die Menschen sind von ihm nicht hingerissen. Schmidt erreicht ihre Köpfe, nicht ihre Herzen. Er wird geschätzt und respektiert, aber nicht verehrt und verklärt.«8 Aber schon 2005 war er nach einer Emnid-Umfrage für Discovery Geschichte der beliebteste Politiker der jüngsten deutschen Geschichte; 38 Prozent der Befragten trauten ihm am ehesten zu, die Probleme der Gegenwart zu lösen. Im User-Ranking von Focus Online stand der Einundneunzigjährige an oberster Stelle der Top-3-Politiker. Die Süddeutsche Zeitung nannte Schmidt schon im Frühjahr 2004 das »Denkmal der deutschen Politik«9. »Helmut Schmidt ist heute der meistrespektierte Deutsche der Deutschen«, stellte im Sommer 2010 der Spiegel fest. »Für 83 Prozent der Bundesbürger verkörpert Helmut Schmidt das Deutschland, das sie sich wünschen. Und er genießt die höchste Achtung [...] Einem inzwischen einundneunzigjährigen Kettenraucher wird mehr Vertrauen entgegengebracht als dem Rest der politischen Klasse.«10 Volle 74 Prozent halten ihn für eine moralische Instanz; die höchste Quote. Bei der Antwort auf die Frage »Wer verkörpert ein Deutschland, wie Sie es sich wünschen?« lag Schmidt mit 83 Punkten einen Punkt hinter Günther Jauch und einen Punkt vor Joachim (Jogi) Löw.

Auf die Frage, warum er eigentlich so beliebt, so populär sei, gab Helmut Schmidt einmal mit einem Quäntchen Selbstironie zur Antwort: »Das liegt an meinen weißen Haaren. Die Leute glauben, wer weiße Haare hat, muss auch weise sein.«11 Ein andermal spöttelte er: »Das hängt damit zusammen, dass die Deutschen mit ihrer Führung nicht zufrieden sind. Dann konzentrieren sie sich eben auf zwei Greise« – auf ihn und auf Richard von Weizsäcker. Ihn kennzeichne die Gelassenheit des Alters, sagte er einem Interviewer, der ihn darauf hinwies, dass er laut Umfragen der Politiker sei, der am meisten Vertrauen genieße. »Wenn es stimmt«, wiegelte er ab, »liegt es daran, dass ich nicht mehr im Amt bin. Eine nachträgliche Vertrauenskundgebung.« Doch ist er sich durchaus im Klaren darüber, dass er seine überwältigende Popularität vor allem der Blässe der gegenwärtigen deutschen Führungsgarnitur verdankt. »Es ist die Empfindlichkeit eines Horst Köhler, es ist die Mutlosigkeit einer Angela Merkel, es ist die Kampfunlust eines Sigmar Gabriel, die den kühlen Schmidt heute fast cool wirken lässt«, befand Georg Diez in einem neueren Psychogramm im Magazin der Süddeutschen Zeitung.12

Ein Blick ins Internet bestätigt diesen Befund. Massenhaft finden sich dort Äußerungen wie: »Wie schön wäre es, einen Mann wie ihn zum Kanzler zu haben!« – »Wäre er doch bloß noch im Amt!« – »Diese Integrität fehlt seit seinem Abgang in der Politik.« – »Wunderbar, unser Altkanzler, wie er eben ist!« – »Es müsste viel mehr Helmut Schmidts geben«. Manche Blogger und Facebook-Kommentatoren verfallen in schiere Panegyrik: »Ein großer Deutscher, ein steter Mahner. Ach, hätten wir ihn doch als König von Deutschland!« – »Intelligenz, Integrität, Scharfsinn, Altersweisheit, profundes Geschichtswissen, Glaubwürdigkeit, bestechende Sprache, Humor und eine Prise Arroganz: Man zeige uns nur eine einzige vergleichbare Persönlichkeit, welche aktuell uns und unser Land angeblich zu unserem Besten vertritt!« – »Dieser Mann hat Charakter und Charisma und ist dazu noch schlau, smart und humorvoll.« – »Er hat es nicht nötig, irgendjemand nicht auf die Füße zu treten.« – »Solche Männer braucht das Land.« – »Schmidt-Schnauze for President!« – »Ehrenkanzler auf Lebenszeit!« – »Ich finde ihn so geil, seine Frau liebe ich auch.« – »Ein Freund des ehrlichen Worts. Wir können froh sein, dass er sich im hohen Alter noch als Patron der Deutschen verpflichtet fühlt.«

Gewiss gab es immer wieder auch einige abfällige Bemerkungen, vor allem auf den Webseiten der rechten Szene. Ein Beispiel auf terra germania: »Wieso bloß kriege ich so ein unzivilisiertes Kribbeln in meiner Faust, wenn ich den Schmidt blubbern höre. Ich weiß es nicht. Warum in aller Welt schiebt man den nicht in irgendein Altersheim und sediert ihn mit genug Kiffzeug, dann merkt er vielleicht selber irgendwann, wie überflüssig er ist.« Ein zweites Exempel: »Wo kandidiert Schmidt jetzt eigentlich? Im Altersheim für den Posten das Etagen-Ältesten?« Aber das sind seltene Ausnahmen.

Auf gequälte Weise respektvoll, wiewohl nicht unbedingt hämefrei, war die Analyse von Georg Diez, mit der die Süddeutsche das sechs Jahre zuvor von ihrem eigenen Magazin errichtete »Denkmal« bepieseln ließ. Der Autor nennt Helmut Schmidt einen »grand old Grantler«, Marcel Reich-Ranicki vergleichbar, »der so hochmütig ist wie Schmidt, der auch nie geliebt wurde, ganz im Gegenteil, und der erst jetzt, im hehren, aber auch harmlosen Alter verehrt und gefeiert wird«. Bei beiden werde betont, »dass sie ja sagen, was sie denken, was heute wohl tatsächlich eine Seltenheit geworden ist«; dass sie »mit klaren, einfachen Sätzen und Urteilen hantieren«; und dass, was sie sagen, »eh keine Konsequenzen mehr hat«. Der Text steckt voller kunstvoll gedrechselter feuilletonistischer Sottisen. Schmidt sei ein »Orakel ohne Agenda«, ein Dauergrummler, ein Kanzler-Performer, dessen Popularität seiner Schiffermütze, seinem Schnupftabak, seinem Schnodderton gelte, seinem Stil also, jedoch nicht dem Inhalt seiner Botschaften. Bewundert werde er weniger für das, was er sagt, als für die Art, wie er es sage.

Allein schon der französische Spruch »Le style c ’est l ’homme« könnte den SZ-Magaziner widerlegen. Außerdem spürt er selber, dass die Menschen sich in einer Zeit der Stillosigkeit nach ebensolchem Stil sehnen. Der Ernst, mit dem Schmidt seine Ansichten kundtut, die Gründlichkeit, mit der er sie belegt, und die schlichte Klarheit, mit der er sie formuliert, versöhnt selbst dort, wo man damit gar nicht übereinstimmt. Das ist wohl der eigentliche Kern des von Diez beschriebenes Phänomens »Schmidtismus«: die Suche nach einem Großvater – und nach seiner Autorität, seinen Ecken und Kanten, seiner Sachbezogenheit, Stetigkeit und Unerschrockenheit. Wie Georg Diez ganz richtig erkennt: »Es sind eben vor allem die Enkel, die Schmidt für sich entdeckt haben, die sich für Schmidt begeistern.« Im Angstjahrzehnt der Nullerjahre sei der Kult um ihn gewachsen. »Er hat im allgemeinen Wabern Gestalt gewonnen«, muss der Kritikus eingestehen. Und er trifft – bei aller Sichtbehinderung, die ihm seine eigenen Scheuklappen bescheren – den Nagel auf den Kopf, wenn er pointiert: »Die Sehnsucht nach Helmut Schmidt ist die Sehnsucht nach Politik.«

Dies ist ein Buch über Helmut Schmidt, den Staatsmann und den Publizisten. Ich habe mich auf diese beiden Facetten – Dimensionen? – eines Menschen beschränkt, beschränken müssen, dessen Profil noch von vielen anderen Wesens- und Tätigkeitsmerkmalen bestimmt wird, von Neigungen, Begabungen und Stärken, die hinter dem Bild der öffentlichen Persönlichkeit verborgen bleiben.

Auf Helmut Schmidt, unseren fünften Bundeskanzler, trifft in der Tat die Beschreibung »Einer wie keiner« zu. Er ist nicht nur ein Fachpolitiker; er ist ein Rundum-Politiker, der Erste in der Bundesrepublik, der zugleich in der Außenpolitik, der Sicherheitspolitik und der Wirtschaftspolitik sattelfest war. Ein kraftvoller Redner, der in jeder Situation, sei es im parlamentarischen Schlachtengetümmel, sei es vom Katheder oder auf der Kanzel, die richtige Tonlage traf. Ein Musikfreund, der Klavier spielt und Orgel; der für eine Schallplattenaufnahme zusammen mit Christoph Eschenbach und Justus Frantz ein Mozart-Konzert für drei Klaviere und ein Klavierkonzert Johann Sebastian Bachs einspielte, mit dem London Philharmonic Orchestra das Erste, mit den Hamburger Philharmonikern das Zweite; der Bach – »mein Lieblingskomponist« – huldigt und nach einem Konzertbesuch in der Leipziger Thomaskirche bekennt: »Kaum jemals habe ich tiefer gefühlt, was es bedeuten kann, ein Deutscher zu sein und [...] welches Glück aus der Musik fließen kann«; der obendrein über den Thomaskantor und seine Musik als »Rekreation des Gemüts« Verständiges und Verständliches einfühlsam vorzutragen weiß. Ein Kunstliebhaber, der auf die Frage, welche natürliche Gabe er besitzen möchte, zur Antwort gibt: »Malen können«; der El Greco und Emil Nolde und Ernst Barlach verehrt; und der Freundschaft pflegte mit dem Bildhauer Henry Moore und dem Maler Bernhard Heisig. Ein Bücherwurm auch, der unablässig zur Pflege der Lesekultur aufrief (»damit wir nicht zu einem Volk der Saturierten und Manipulierten werden«); befreundet mit Siegfried Lenz; ein Gegner indes der abschüssigen Bahn, die in Stumpfheit und Borniertheit führt. Ein Mann, der vor der Überflutung mit Fernsehen und Geräusch warnte, selber jedoch im Fernsehen als Interviewter vor der Kamera stets eine glänzende Figur machte und als Interviewer – siehe seine TV-Gespräche mit den Großen dieser Welt13 – vor exerzierte, wie auch in diesem Medium Qualität, Tiefgang und Seriosität zu fesseln vermögen. Ein politischer Akteur schließlich, der sein Handeln philosophisch fundierte; der über Immanuel Kant und Karl Popper in einer Weise zu reden verstand, dass die Philosophie-Professoren beeindruckt waren; der indes niemals die Bodenhaftung verlor – getreu seinem Motto: »Wir sollten die fernen Lichter nicht vergessen, aber hier und heute praktische Politik machen.«14

Vor fünfunddreißig Jahren hat Helmut Schmidt einmal in einer Rede gesagt: »Wahrscheinlich ist es zu allen Zeiten nicht leicht, unter den eigenen Zeitgenossen die überragenden herauszukennen und sie dann außerdem noch anzuerkennen.«15 Was ihn selber betrifft, so haben in Deutschland die meisten Zeitgenossen keinen Zweifel, dass er, der Staatsmann wie der Publizist, in die Kategorie der Überragenden gehört. Sie kennen ihn heraus und sie anerkennen ihn. Sie wissen: Deutschland wäre ärmer ohne ihn.

 

Vom Kanzleramt ins Pressehaus