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Zeit ohne Ende. Fragen ohne Ende

Dieses Kapitel hat 468 Wörter. Diese zu lesen dauert so lange, wie eine Tube Zahnpasta in einer langen Linie auf dem Badezimmerboden auszudrücken.

Anton war sechs. Er besaß 67 Spielzeugautos, 19 Kuscheltiere, sieben komplette und zwei halbe Paare blaue Socken, eine Mama und jede Menge Zeit. Allerdings hatte er keine Ahnung, warum er sie hatte. Also die Zeit, nicht die Mama, die Socken, die Kuscheltiere oder die Autos. Antons Zeit war einfach da. Er hatte sie nicht auf der Straße gefunden, so wie neulich den kleinen, silbernen Schraubenschlüssel, den er seitdem in seiner Schatzkiste aufbewahrte. Er hatte die Zeit nicht gespart, so wie er es mit einem kleinen Teil seines Taschengeldes machte. Sie war ihm nicht zugelaufen wie ein kleiner Hund, und Anton hatte erst recht niemandem Zeit weggenommen. Zumindest nicht absichtlich. Anton wusste ja, was sich gehörte. Und das gehörte auf keinen Fall dazu.

Anton wusste sehr viel. Für einen Sechsjährigen. Antons Mutter wusste sehr wenig. Für eine Dreißigjährige, fand er. Denn warum stellte sie ihm sonst ständig irgendwelche Fragen?

Morgens vor der Schule zum Beispiel fragte Mama oft: »Anton, warum bist du noch nicht angezogen?« Abends fragte sie dann: »Anton, warum bist du noch nicht ausgezogen?«

Nach dem Spielen und vor dem Essen (und auch sonst ein paarmal am Tag) fragte Mama: »Anton, hast du dir die Hände gewaschen?« Und Anton antwortete dann entweder »Nein, vergessen!« oder »Ja, aber nur eine!«.

Auf längeren Autofahrten fragte Mama mindestens zehnmal: »Anton, musst du mal?« Anton antwortete dann neunmal: »Nei-hein!« Bei der zehnten Wiederholung nickte er aber meistens, statt zu antworten, weil er die Luft anhielt – so dringend musste er dann.

Mama kannte das schon. Sie hielt dann immer schnell an. Anton sprang aus dem Auto und verschwand hinter einem Baum, Busch oder Müllcontainer. Wenn er zurückkam, hätte er wieder antworten können. Wenn Mama etwas gefragt hätte. Tat sie aber nicht. Sie schwieg dann. Oder zog die linke Augenbraue hoch. Manchmal machte sie auch beides gleichzeitig.

Die Frage, die Mama am häufigsten stellte, war: »Himmel, wo ist nur schon wieder die Zeit geblieben?« Sie stellte diese Frage ständig, immer und überall. Im Supermarkt an der Kasse. Im Treppenhaus. In der Umkleidekabine. An der roten Ampel in der Schlüterstraße. Sogar beim Zahnarzt, mit dem Spuckeabsauger im Mund. Sie schaute auf ihre Armbanduhr und fragte: »Himmel, wo ist nur schon wieder die Zeit geblieben?«

Anton fand das fast ein wenig peinlich. Warum wusste Mama das nicht?

In ihrem Alter!

Dabei sollte man doch immer gut auf seine Sachen aufpassen, sagte Mama ihm ständig – aber besser als er machte sie es auch nicht. Sonst hätte sie ja nicht so oft fragen müssen, wo ihre Zeit geblieben war.

Warum Mama immer den Himmel befragte, verstand Anton nicht, aber recht war es ihm trotzdem. Denn eine Antwort hätte er nicht gehabt. Er wusste nicht, warum er Zeit hatte. Und er wusste auch nicht, warum Mama keine Zeit hatte.

Noch nicht. Aber das sollte sich bald ändern.

Alarmstufe 1

Dieses Kapitel hat 837 Wörter. Wer die liest, könnte in derselben Zeit auch seinem Kaninchen mit der Bastelschere eine neue Frisur verpassen.

Wenn ein Mensch viel Zeit hat und ein anderer keine, dann passen diese Menschen nicht besonders gut zusammen. Erst recht nicht, wenn sie zusammenwohnen.

Anton und seine Mama wohnten zusammen. Sogar in einer Wohnung. Die lag im vierten Stock der Margaretengasse Nummer 56.

Einen Aufzug gab es nicht, dafür aber ein schönes Treppenhaus mit einem knallroten Geländer. Zu ihrer Wohnung mussten Anton und Mama 84 Stufen hochsteigen. Und wenn sie morgens zur Schule und zur Arbeit wollten, liefen sie diese 84 Stufen wieder hinunter. Anton kannte jede einzelne Stufe. Die zwölfte und die 23. quietschten wie kleine Entenküken. Die 31. war einmal erneuert worden, weil sie durchgebrochen gewesen war. Und die 72. knarrte gruselig, wenn man in der Mitte drauftrat. Es musste aber wirklich genau die Mitte sein.

Meistens gingen Anton und Mama die Treppe einfach rauf und ein paar Stunden später wieder runter. Oder erst runter und dann wieder rauf. Dabei zählten sie abwechselnd die Stufen, erzählten sich, was sie an diesem Tag vor- oder schon erlebt hatten, sangen Lieder oder machten Witze.

Manchmal machten sie allerdings beim Hinuntergehen auch etwas anderes.

Etwas Anstrengendes. Etwas sehr Anstrengendes.

Anton und Mama schwiegen sich an. Meist bis in den zweiten Stock hinunter. Erst dort traute Anton sich wieder, etwas zu sagen.

Das Schweigen war ein sicheres Zeichen für einen Morgen mit Alarmstufe 1.

So ein Morgen kam immer sehr plötzlich. Und überraschend, aus heiterem Himmel und unerwartet dazu. Dabei hätte Anton sich gern auf solche Tage vorbereitet und sie im Kalender angekreuzt. Wenn er denn nur gewusst hätte, wann es mal wieder so weit war! Aber Anton konnte es nur vermuten. Alarmstufe 1 trat ein, wenn er mal wieder VIEL und Mama KEINE Zeit hatte.

Je mehr Zeit er sich für etwas nahm, desto weniger hatte sie. War das nicht wirklich seltsam? Denn eigentlich müsste man Zeit doch zusammenrechnen können, so wie Murmeln, dachte Anton. Er zum Beispiel hatte sechs Murmeln, und seine Freundin Marie hatte drei. Machte zusammen neun Murmeln. War ganz einfach. Das hatte er sogar schon rechnen können, bevor er im Sommer in die Schule gekommen war.

Aber warum war das mit der Zeit nicht auch so?

Mama wollte zum Beispiel, dass Anton morgens vor der Schule ordentlich und langsam aß. Er sollte sich richtig hinsetzen, sein Brot nicht hinunterschlingen und alles erst runterschlucken, bevor er sprach. Wenn er also genau das tat, was Mama wollte (und das waren immerhin fünf Dinge), und zusätzlich eine einzige, klitzekleine Sache tat, die er wollte (nämlich sein Butterbrot so zurechtknabbern, dass es die Form eines Hasen hatte) – dann dauerte sein Frühstück eben so lange wie ein halber kräftiger Regenschauer im April.

Das war nicht lang, aber auch nicht kurz. So mittellang eben.

Mama machte morgens viele Dinge, die sie wollte, und brauchte dafür auch viel länger als Anton. Sie nahm sich morgens zum Beispiel wirklich immer Zeit, um aufzustehen. Dann wusch sie sich und zog sich an. Sie kontrollierte Antons Schultasche, räumte die Küche auf, machte die Betten, packte Altglas oder Altpapier ein und trank eine Tasse Kaffee im Stehen. Das waren ACHT Sachen. Mindestens. Und alles in allem dauerte das sogar länger als ein ganzer kräftiger Regenschauer im April. Nach Antons Murmelrechnung hätten er und Mama also zusammen so viel Zeit haben müssen, wie es dauert, bis im April bei Regen die Gullys überlaufen. Hatten sie aber nicht. Sagte zumindest Mama.

Denn die stellte wieder ihre blöde Lieblingsfrage, während sie erst auf Antons Hasenbrot und dann auf die Uhr blickte: »Himmel, wo ist nur wieder die Zeit geblieben?« Dann zog sie die linke Augenbraue hoch, atmete tief ein und wieder aus, strich Anton über den Kopf und rief ihm aus dem Flur zu: »Hopp, hopp, Anton-Hase, hast du schon mal auf die Uhr gesehen? Bitte beeile dich, wir müssen lo-hos!«

Anton hatte natürlich nicht auf die Uhr gesehen. Warum auch? Er konnte sie ja nicht lesen. Außerdem wollte er sie nicht lesen. Er fand Uhrenlesen blöd. Und Mama fand es blöd, dass er es blöd fand. Blöd, blöd, blöd.

An Tagen wie diesen aß Anton dann schweren Herzens schnell sein Hasenbrot auf. Allerdings nie, ohne dem Hasen zuerst mit einem Extrahapps die Ohren abzubeißen.

So viel Zeit musste sein!

Dann trank er seinen letzten Schluck Kakao und zog sich seine Schleifenschuhe und seine Jacke an. Wenn er Mama im Flur begegnete, hatte die zum Glück schon wieder ihre linke Augenbraue heruntergelassen, alle ihre Taschen auf den Schultern verteilt und wartete mit dem Schlüssel klimpernd an der Wohnungstür.

Anton zog die Tür leise hinter sich zu und folgte Mama durchs Treppenhaus. Schweigend. Bis in den zweiten Stock hinunter. Dann machte meist einer von beiden einen Witz oder stimmte ein Lied an. Und alles war wieder gut. So gut wie Mamas Gesichtsausdruck, wenn sie ihm dann erst mit dem rechten und dann mit dem linken Auge zuzwinkerte. Das sah schon echt komisch aus. Also komisch im Sinne von lustig. Und ein bisschen blöd. Aber das sagte Anton ihr nie. Er wusste ja, was sich gehörte.

Und das gehörte nicht dazu.

Alarmstufe 2

Dieses Kapitel hat 594 Wörter. Es zu lesen dauert in etwa so lange, wie heimlich zwei Stücke von der Schokotorte in dich reinzustopfen, die eigentlich dein Papa zum Geburtstag kriegen soll.

Anton hatte nie die Absicht, Alarmstufen auszulösen. Weder Alarmstufe 1 noch 2. Und doch passierte es (wenn auch ganz selten), dass aus einem normalen Morgen ein Morgen mit Alarmstufe 2 wurde. Total überraschend, überrumpelnd und überfallend.

Alarmstufe 2komplett