Thomas Schirrmacher

Fundamentalismus

Wenn Religion zur Gefahr wird

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Bestell-Nr. 395.203

ISBN 978-3-7751-7019-2 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5203-7 (lieferbare Buchausgabe)

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Kurz und bündig

Geht es Ihnen nicht auch so? Über manch einen Themenbereich würde man gerne als Normalbürger Bescheid wissen (oder muss es vielleicht sogar). Doch was die Fachleute schreiben, ist im Normalfall zu kompliziert und zu umfangreich. Wer hat schon Zeit, sich in jedes Thema wochenlang einzuarbeiten!?

Hier wollen wir Hilfestellung leisten. In Hänssler kurz und bündig geben Fachleute, die sich mit einem Thema schon seit Jahren intensiv beschäftigen, kurz und verständlich einen Überblick über das, was man wissen muss, wenn man Bescheid wissen will und mitreden können möchte.

Dabei enthält jeder Band der Reihe Hänssler kurz und bündig die folgenden Elemente:

All das ist so angelegt, dass der Leser sich in zwei bis drei Stunden (also etwa statt des Abendkrimis oder auf einer Zugfahrt) ein Thema in seinen Grundlagen aneignen kann. Die Anwendung im Leben oder das anschließende Gespräch mit anderen wird dann aber sicher etwas länger dauern …

Ich würde mir wünschen, dass dieser kleine Band Ihren Horizont erweitern kann und die Informationen liefert, die Sie suchen.

Thomas Schirrmacher

Vorwort

Meine Aufgabe

Religionen haben in der Geschichte Kriege und Massenmorde hervorgebracht (und auch Frieden im Kleinen wie im Großen sowie Achtung vor Menschenrechten). Man kann Kriege und Massenmorde aber auch mit einer bewusst nichtreligiösen Weltanschauung begründen, wie Stalin und Mao gezeigt haben. Die meisten Morde, die täglich weltweit stattfinden, haben ebenfalls keinen religiösen Hintergrund. Morde sind schrecklich. Schrecklicher empfinden Menschen politisch motivierte Morde, also vor allem Terrorismus. Sind diese noch dazu religiös begründet, steigert sich die instinktive Ablehnung weiter. Die Öffentlichkeit bringt religiösen Fundamentalismus vor allem mit Morden islamischer Terroristen in Verbindung. Das bedeutet aber zugleich, dass der Fundamentalismusvorwurf für Betroffene das soziale Aus bedeuten kann.

Meine Aufgabe ist schwierig, da ich einerseits den Leser mit den Bewegungen vertraut machen will, die üblicherweise unter dem Stichwort des religiösen ›Fundamentalismus‹ behandelt werden. Gleichzeitig sehe ich aber aufgrund jahrzehntelanger Studien und aufgrund von Gesprächen mit Führern fundamentalistischer Bewegungen und religiösen Führern etwa in bzw. aus Indonesien, Indien, China, Tibet, Uighurien, Uganda, Türkei und Tunesien einerseits den Fundamentalismusbegriff selbst sehr kritisch. Und andererseits bin ich, wenn ich den Begriff verwende, zu einer eigenen Definition gelangt, was allerdings unvermeidlich ist, da es keine auch nur annähernd einheitliche Definition von ›Fundamentalismus‹ gibt.

Ich habe mich entschlossen, die konkreten Bewegungen in den großen Religionen nicht in einem eigenen Kapitel nacheinander darzustellen, sondern sie jeweils als Beispiele für bestimmte Fragen oder Phänomene zu verwenden.

Im Umfeld des Themas müssten viele andere Themen angesprochen oder diskutiert werden, wie ›die Moderne‹, Terrorismus, Kolonialismus, Menschenrecht, Mission, Religionsfreiheit oder das Verhältnis von Kirche und Staat. Auf alle diese Dinge bin ich an anderer Stelle eingegangen, in kurz und bündig aber muss darauf verzichtet werden.

Zur Diskussion um die ›Moderne‹ ist auf den Band ›Die Postmoderne‹ von Ron Kubsch zu verweisen. Das Zusammenleben verschiedener Kulturen und Religionen in einem Land wird in meinem Band ›Multikulturelle Gesellschaft‹ beschrieben, Probleme der Religionsfreiheit in ›Christenverfolgung heute‹, Nationalismus und auch religiöser Rassismus in ›Rassismus‹. In ›Bibel und Koran‹ gehe ich auf das unterschiedliche Schriftverständnis beider Religionen ein. Im Übrigen habe ich außerhalb der Reihe kurz und bündig in meinen Büchern ›Feindbild Islam‹ eine katholische und in ›Anfang und Ende von Christian Reconstruction‹ eine evangelische fundamentalistische Bewegung detailliert dargestellt.

Diejenigen, die sich in diesem Band eine Diskussion um das richtige Verständnis der Bibel versprochen haben, weil Fundamentalismus früher einmal die Sicht bezeichnete, die Bibel sei irrtumslos, muss ich auf den Band ›Koran und Bibel‹ verweisen. Auf die Rolle Heiliger Schriften wird im vorliegenden Buch nur im 4. Kapitel auf alle Religionen bezogen eingegangen.

Eigens darauf hingewiesen sei noch, dass in Kürze ein eigener Band zum Islamismus von Christine Schirrmacher in der Reihe kurz und bündig erscheinen wird. Dort wird detailliert geschildert und historisch aufgearbeitet, was in diesem Band nur kurz skizziert und nur in seiner aktuellen Form beschrieben werden kann.

I.  Der Fundamentalismus in der Diskussion

1. Geschichte des Begriffs Fundamentalismus

Das englische Wort ›fundamentalism‹ wurde wohl erstmals 1920 von C.L. Laws in der Zeitschrift ›Baptist Watchman-Examiner‹ geprägt, um eine gegen die liberale Theologie in den USA formierte Bewegung zu beschreiben, die gerade mit einer Buchreihe ›The Fundamentals‹ bekannt worden war.

1910–1915 gaben A.C. Dixon und R.A. Torrey eine Heftreihe mit dem Titel ›The Fundamentals: A Testimony of Truth‹ heraus, deren kostenlose Massenverbreitung in 3 Mio. Exemplaren zwei Brüder, beides texanische Öl-Milliardäre, finanzierten. In diesen Schriften protestierten weltbekannte Theologen ebenso wie Erweckungsprediger aus aller Welt und aus unterschiedlichsten Kirchen gegen die liberale Theologie. Als zentral für den christlichen Glauben sahen sie die Irrtumslosigkeit und Autorität der Bibel, die Gottheit von Jesus Christus, seine jungfräuliche Geburt, seinen Tod für die Sünden der Menschen und seine leibliche Auferstehung und persönliche Wiederkehr an – übrigens alles Lehren, die damals auch für die katholische und die orthodoxen Kirchen maßgeblich waren. Politische Forderungen fehlten ganz.

George Marsden hat in seinem Klassiker ›Fundamentalism and American Culture‹ die Epoche dieses frühen Fundamentalismus mit 1870–1925 angesetzt. Die ›Fundamentals‹ waren also weniger der Anfang als der Höhepunkt und das Ende einer Bewegung. Mit dem 1925 entschiedenen berühmten ›Affenprozess‹ gegen die Unterrichtung der Evolutionslehre in Schulen – von den Fundamentalisten als Einmischung des Staates in die Familie verstanden – war der Zenit überschritten. Zwar hielt sich die fundamentalistische Bewegung weiter, bildete aber zunehmend nur noch einen kleinen Flügel der Evangelikalen, die spätestens nach dem 2. Weltkrieg die Mehrheit bildeten und einen eigenen Weg gingen. Zwar wurde 1919 in Philadelphia die ›World’s Christian Fundamentals Association‹ gegründet, sie hatte allerdings nicht lange Bestand. (Der 1948 ›gegründete International Council of Christian Churches‹, den man gewissermaßen als späteren Nachfolger ansehen könnte, blieb ebenso weitgehend auf die USA beschränkt. Deutsche Mitglieder hatten beide Gruppen nie.) 1930–1970 zog sich diese Art des Fundamentalismus für ein gottgefälliges Leben eher von der Gesellschaft zurück und man war ausdrücklich gegen politisches Engagement. Allmählich bildet sich eine Differenzierung heraus zwischen den Fundamentalisten, die sich selbstbewusst so nennen und sich von allen anderen Kirchen distanzieren, und der Masse der (Neo-)Evangelikalen, die zwar grundsätzlich ähnliche theologische Positionen vertreten, aber für eine Zusammenarbeit der Kirchen und ein Mitwirken in der Demokratie – und für Religionsfreiheit und Menschenrecht – eintreten.

Man kann fünf Phasen1 des öffentlichen Sprachgebrauchs für ›Fundamentalismus‹ von 1920 bis heute unterscheiden.

Seit 1920 wurde der Begriff erst zur Selbstbezeichnung, dann zur Bezeichnung jener Protestanten in den USA verwendet, die gegen die liberale Theologie an den Fundamenten des christlichen Glaubens und an der göttlichen Inspiration der Bibel festhalten. Die Bewegung und die Verwendung des Fundamentalismusbegriffes ebbte aber bis zum 2. Weltkrieg ab. Fundamentalismus war hier also ein innerchristlicher Begriff zur Selbstbezeichnung einer Bewegung aus den USA mit kleinen Ablegern in einigen westlichen Ländern2, der von den Gegnern als stark abwertender theologischer Begriff verwendet wurde.

Dann war es zunächst einmal für Jahrzehnte ziemlich still, sowohl um den Fundamentalismusbegriff als auch um die damit bezeichneten Gruppen.

In den 1960er Jahren wurde der Begriff Fundamentalismus in der philosophischen und wissenschaftstheoretischen Debatte als Gegenstück zum sogenannten Fallibilismus des kritischen Rationalismus im Gefolge von Karl Popper und seinem Schüler Karl Albers verwendet. Dieser besagt, dass es im eigentlichen Sinn keine wahren Aussagen gibt, sondern nur Aussagen, die prinzipiell falsifizierbar (als falsch zu erweisen) sind, aber bisher nicht falsifiziert wurden. Jede philosophische Position, die davon ausging, dass es begründbare wahre Aussagen für bestimmte Fragen oder Bereiche des Denkens gebe, galt als ›fundamentalistisch‹. Fundamentalismus war hier also jedes Ausgehen von einer unbestreitbaren Erkenntnisgewissheit. Es war also ein philosophischer, stark abwertender Begriff, der sich vor allem gegen alle anderen Denkrichtungen richtete, die meisten davon nichtreligiös oder gar atheistisch. Die so Bezeichneten lehnten den Begriff ab.

Besonders seit der iranischen Revolution unter Ayatollah Khomeini 1979 wurde Fundamentalismus zum politischen Begriff für alle gewaltbereiten oder gewalttätigen, oft terroristischen islamischen Bewegungen, die sich gegen die Grundlagen der politischen Theorie des Westens wie Demokratie, Menschenrechte und Trennung von Religion und Staat richtete. Wieso gerade der Begriff Fundamentalismus zum Schlagwort wurde, der die Schrecken des Terrorismus innerhalb der islamischen Welt einfing, ist bisher meines Wissens nicht untersucht worden. Fundamentalismus war hier ein ebenso politischer, wie auf den Islam als Religion bezogener Begriff.

In den USA wurde 1979 die sogenannte ›Moral Majority‹ von Jerry Falwell gegründet, in der sich erstmals Evangelikale im großen Stil politisch engagierten, zugleich aber mit katholischen, jüdischen und anderen religiösen und konservativen Gruppen kooperierten. Der Wahlsieg von Ronald Reagan 1980 wurde ihnen zugeschrieben, was nur insofern stimmt, als es einen historischen Wechsel gab: Die Evangelikalen hatten bis dahin, etwa noch bei der Wahl des evangelikalen Präsidenten Jimmy Carter (1977–1981), überwiegend für die Demokraten gestimmt. Obwohl sich die alte fundamentalistische Bewegung der USA von diesem Engagement für die Republikaner fernhielt, wurde der Begriff Fundamentalismus auf die neue religiöse Rechte der USA übertragen. Da nach 1977 erstmals religiöse Parteien in Israel mitregierten, wurde auch dort die religiöse Rechte nach 1979 so bezeichnet.

Die vierte Phase bildet die Übernahme des Begriffes in den rein politischen Bereich als Beschreibung der Flügel zivilisationskritischer Bewegungen, die einen Kompromiss mit herrschenden Regierungen ablehnten. In Deutschland wurde vor allem für die Partei ›Die Grünen‹, nachdem sie 1983 erstmals in den Deutschen Bundestag gewählt worden war, zwischen ›Fundis‹, die eine Koalition mit anderen Parteien ablehnten, und den ›Realos‹, die für eine Beteiligung an der Macht auf Teile ihrer Forderungen zunächst zu verzichten bereit waren, unterschieden. Die bekanntesten Fundis waren Rudolf Bahro und Jutta Ditfurth, der bekannteste Realo Joschka Fischer. Die Fundis wollten die linkssozialistischen Bestrebungen in der Tradition der Studentenbewegung, den unbedingten Pazifismus und die Technologiekritik nicht aufgeben. Der Realo Fischer führte später als Außenminister Krieg in Bosnien. Der Begriff wurde allmählich auch auf andere Parteien und politische Bewegungen übertragen.

In der fünften Phase wurden die verschiedenen Bedeutungen miteinander verquickt. Da auch der Islam den Koran für Gottes Wort hält, sieht man die Gemeinsamkeit zwischen der islamischen Revolution und christlichen Fundamentalisten der USA. Eigentlich passt das nicht, weil im Islam alle Muslime den Koran für göttlich und fehlerlos halten, nicht nur ein bestimmter Flügel wie in den USA (und zudem die Überlieferungen von Muhammad und seiner Gefährten ›Hadith‹ ebenso wichtig sind). Des Weiteren kannten die amerikanischen Fundamentalisten immer schon eine internationale Textkritik und Auslegungsdiskussion: die Muslime nicht, weil im Islam neben den Koran gleichwertig die Überlieferung (›adith‹) tritt. Außerdem planten die christlichen Fundamentalisten keine Revolution mit Gewalt und traten für Religionsfreiheit ein.

Dann wurde der Umstand, dass die bezeichneten Christen und Muslime davon ausgingen, die Wahrheit zu kennen, mit dem philosophischen Begriff verknüpft, obwohl dieser sich doch gerade überwiegend gegen nichtreligiöse Denkschulen in der Philosophie richtete und dort eher dazu diente, eine Denkschule – den sogenannten kritischen Rationalismus – als die einzig wirklich aufgeklärte zu bezeichnen und alle anderen pauschal abzuwerten. Damit fanden sich plötzlich durchaus moderne Philosophen und traditionell pazifistische Freikirchen in einem Boot mit Terroristen wieder.

Schließlich wurde die fehlende politische Kompromissbereitschaft der grünen ›Fundis‹ mit hineingerührt. War schon beim Islam der Begriff zu einem politischen Schlagwort der Tagespolitik – auch gegen unliebsame Gegner – geworden, galt dies für die Parteipolitik erst recht. Derweil war der Begriff längst auf die unterschiedlichsten religiösen und politischen Gruppen ausgedehnt worden. Die einen zählten nun jede terroristische oder gewaltlegitimierende Gruppe dazu, die anderen den jeweils radikalsten oder unbeliebtesten Flügel einer Religion oder Partei, die nächsten jeden, der einen Wahrheitsanspruch vertrat, und wieder andere schlicht und einfach ihre Gegner. Regierungen begannen Krieg, Zwangsmaßnahmen und Einschränkungen von Menschenrechten damit zu begründen.

Dass der Begriff Fundamentalismus aus völlig unterschiedlichen, ja nicht zusammenpassenden Bedeutungen zusammengeschmiedet wurde, macht sich bis heute in seiner enormen Bedeutungsbreite und in seiner enormen emotionalen Kraft bemerkbar.

Erst Mitte und Ende der 1980er Jahre versuchten erste Wissenschaftler, die tatsächlichen oder vermeintlichen strukturellen Gemeinsamkeiten dieser Bewegungen herauszukristallisieren, wobei allerdings jeder – soweit ich das übersehen kann – seinen eigenen Katalog vorlegte und vorlegt. Es setzte eine erste Woge von Buchveröffentlichungen zum Thema ein. Aber erst seit dem 11. September 2001 wird der Begriff zu einem der Lieblingsworte der Medien und findet sich in diversen Sachbuchtiteln.

2. Meine Definition

Fundamentalismus ist militanter Wahrheitsanspruch

Man sollte meines Erachtens nur von Fundamentalismus sprechen, wenn Gewalt im Spiel ist oder eine echte Gefahr für die innere Sicherheit besteht.

Als Fundamentalisten werden seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in der Öffentlichkeit meist einfach radikale, gewaltbereite, religiös motivierte Extremisten oder sogar einfach religiöse Terroristen verstanden. Was der Volksmund mit ›Fundamentalismus‹ meint, ist aber militanter Wahrheitsanspruch, und genau das empfinde ich als die kürzeste Definition.

Meines Erachtens gibt es nur zwei Möglichkeiten, den Begriff ›Fundamentalismus‹ für eine seriöse Anwendung zu retten: Entweder wird der Fundamentalismusbegriff näher an den alltäglichen Sprachgebrauch herangeführt und auf wirklich gewaltnahe Bewegungen bezogen. Oder aber die weite Verwendung auf allerlei Bewegungen ist gewünscht, dann muss der Begriff dringend entemotionalisiert werden und eine neutrale, nicht abwertende Bedeutung erlangen. Dazu müsste es einen Großeinsatz von Fachleuten geben, die sich den Massenmedien entgegenstellen – derzeit eine Illusion.

Meines Erachtens sollten sich diejenigen, die die Öffentlichkeit vor fundamentalistischen Strömungen warnen, auf die Gruppen beschränken, die durch ihre prinzipielle Rechtfertigung von Gewalt oder durch Gewaltbereitschaft – oder gar durch angewandte Gewalt – gefährlich sind, oder von denen wenigstens die Gefahr ausgeht, dass sie auf undemokratische Weise politische Gewalt über Andersdenkende gewinnen wollen. Deswegen lautet meine Definition:

Fundamentalismus ist ein militanter Wahrheitsanspruch, der aus nicht hinterfragbaren höheren Offenbarungen, Personen, Werten oder Ideologien einen Herrschaftsanspruch ableitet, der sich gegen Religionsfreiheit und Friedensgebot richtet und nichtstaatliche oder nichtdemokratisch-staatliche Gewalt zur Durchsetzung seiner Ziele rechtfertigt, fordert oder anwendet. Dabei beruft er sich oft gegen bestimmte Errungenschaften der Moderne auf historische Größen und Zeiten, nutzt diese Errungenschaften aber zugleich zur Ausbreitung und schafft meist eine moderne Variante alter Religionen und Weltanschauungen. Fundamentalismus ist eine modernitätsbestimmte Transformation von Religion oder Weltanschauung.

Ich stimme der Definition von Christian Jäggi zu: »Ich gehe davon aus, dass fundamentalistische Verhaltensweisen einen letztlich erfolglosen – weil immer abwehrenden und damit gewaltsamen – Versuch rückwärts gerichteter Rebellion gegen soziale Entfremdung, ethnisch-kulturelle Entwurzelung, weltanschauliche Heimatlosigkeit und gesellschaftlichen Wertezerfall der Moderne und der Postmoderne darstellen.«3

Der Sozialethiker Stephan H. Pfürtner behandelt in seinem Buch ›Fundamentalismus‹ unter anderem die ›Fundis‹ der Partei ›Die Grünen‹, die Sekte ›Volkstempel‹ von Jim Jones, gegen die Religionsfreiheit eingestellte Traditionalisten in der katholischen Kirche, Links- und Rechtsextremismus und Terrorismus, ja sogar gewaltbereite Fußballfans und Hooligans.

Er definiert: »Fundamentalismus ist Flucht ins Radikale, oft verbunden mit Gewalt, unter Verweigerung von hinreichender Realitätswahrnehmung, von Rationalität und Freiheitsentfaltung für Individuum und Gesellschaft.«4 Hans-Gerd Jaschke zählt zum gewalttätigen Fundamentalismus in Europa unter anderem linken und rechten Terrorismus, die IRA, die ETA, sowie die RAF.5

Einer der bedeutendsten Fortschritte des modernen Rechtsstaates ist, dass er allein das Monopol auf legitime physische Gewalt hat und diese auch dem Zugriff einzelner Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften entzogen ist. Fundamentalismus liefert unter Rückgriff auf letzte Wahrheiten Gründe dafür, gegen diese legitime Gewalt vorzugehen.

Zur fundamentalistischen Gewalt gehört aber auch die Gewalt nach innen. Gegenüber den eigenen Mitgliedern, damit diese Linientreue halten, oder gegenüber Aussteigern, sei es, um diese zu bestrafen oder zu ächten, sei es, um dadurch andere vom Ausstieg abzuhalten.

In diesem Sinne war aus meiner Sicht die Haltung der mittelalterlichen Kirche, dass man sie ohne bürgerliche Konsequenzen nicht verlassen konnte, fundamentalistisch. Die katholische Sicht besagt bis heute, dass man die katholische Kirche eigentlich gar nicht verlassen kann, da die Taufe wirksam bleibt. Aber heute ist das eine theologische Feststellung, der in der Regel keine bürgerlichen Konsequenzen mehr folgen, geschweige denn politische. Deswegen handelt es sich auch nicht um Fundamentalismus.

Fundamentalismus kann aber auch vom Staat ausgehen, wenn dieser unter Kontrolle fundamentalistischer Kräfte gerät. So sehe ich Fundamentalismus in islamischen Staaten überall dort, wo der Abfall vom Islam weiterhin mit dem Tod, mit staatlichen Strafen, mit schweren bürgerlichen Konsequenzen oder mit Ausschluss aus der Familie bedroht wird.

Der Religionswissenschaftler Gernot Wießner sieht (in einem der besten Beiträge zum Thema) in der ganzen Religionsgeschichte Fundamentalismus immer dort, wo es zur »Enttabuisierung des Lebens« kommt, also immer, wenn die Unantastbarkeit und Heiligkeit des Lebens außer Kraft gesetzt wurde und wird. Er vertritt also, »dass unter den Begriff des religiösen Fundamentalismus diejenigen religiös-politischen Bewegungen subsumiert werden könnten, die für die Durchsetzung einer Grundordnung unter den Menschen nach den verbindlichen Vorgaben einer autoritativen Offenbarung das Leben enttabuisieren und die ideologische Rechtfertigung für diese Enttabuisierung aus ihrer Vorstellung vom Wesen und Walten des religiösen Gegenübers legitimieren, in theistischen Religionen aus deren Gottesvorstellung. Ein Blick aus der Gegenwart in die Geschichte der Religionen in der Vergangenheit kann zeigen, dass es diesen Typ des religiösen Fundamentalismus wohl immer gegeben hat«6.