Lothar von Seltmann

Henry Dunant – Visionär und Vater des Roten Kreuzes

Eine Romanbiographie

Lothar von Seltmann

Henry Dunant

Visionär und Vater des

Roten Kreuzes

Eine Romanbiographie

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ISBN 978-3-7751-7014-7 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-5017-0 (lieferbare Buchausgabe)

Fischer, Knoblauch & Co. Medienproduktionsgesellschaft mbH, 80801 München

SCM Hänssler im SCM-Verlag GmbH & Co. KG · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de

E-Mail: info@scm-haenssler.de

Umschlaggestaltung: krausswerbeagentur.de, Herrenberg

Titelbild: © Henry-Dunant-Museum Heiden

Bilder im Innenteil: © Deutsches Rotes Kreuz: 1, 2, 3, 4, 5, 6

© Henry-Dunant-Museum Heiden: 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16

Satz: typoscript GmbH, Kirchentellinsfurt

Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer

Rechtschreibung, © 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

… ich war mir damals wie immer bewusst,

dass ich nur ein Werkzeug in der Hand Gottes

gewesen bin.

Henry Dunant in seinen Lebenserinnerungen

Teil I

1828 – 1855

Waisenkinder im Park

»Henri! Henri! Wo steckst du nur wieder, mein Junge?«

Die lauten Rufe der Mutter nach ihrem Sohn blieben ohne Antwort. Aber wie sollte der Junge ihren Ruf in dem fröhlichen Kinderlärm, der das weite Gelände erfüllte, auch hören? Mit einer tiefen Freude im Herzen und einem glücklichen Lächeln auf ihrem hübschen Gesicht schaute Anne-Antoinette Dunant, geborene Colladon, von der Terrasse des Haupthauses hinüber in den schönen Park. Ihr geliebter Mann Jean-Jacques hatte ihn vor ein paar Jahren auf dem Landgut La Monnaie hier draußen vor der Stadt in Montbrillant anlegen lassen. Vor einiger Zeit hatte er ihn für einen Nachmittag in der Woche für die Kinder des Waisenhauses von St. Gervais geöffnet. Dieser Teil von Genf, der ehrwürdigen Stadt am See, der nach ihr benannt ist, war eine Arbeitervorstadt mit maroden Gebäuden in schmutzigen, verwinkelten Gassen und mit einer Bevölkerung, die von Wohlergehen und Wohlstand nur träumen konnte.

Anne-Antoinette war stolz auf ihren Mann, dem als angesehenem Mitglied des städtischen Rates, als ehrenamtlichem Armenpfleger und Verwalter der Almosenkasse seiner Stadt das eltern- und mittellose Völkchen besonders am Herzen lag. Der erfolgreiche, fromme Kaufmann fühlte sich für seine Schützlinge und ihre Betreuer verantwortlich. Sich um ihr Wohl zu kümmern, betrachtete der Mittvierziger als eine heilige Pflicht. Und nicht nur die städtischen Gelder sollten für die Waisenkinder sinnvoll und gut verwendet werden, nein, auch sein eigener Wohlstand und Überfluss an irdischen Gütern sollte ihre Lage ein wenig verbessern helfen. Zudem war es Jean-Jacques Dunant ein Anliegen, ihnen die unverbrüchlichen Wahrheiten seines evangelisch-calvinistisch geprägten Glaubens zu vermitteln und ihnen die Erfahrungen weiterzugeben, die er selbst mit seinem Gott gemacht hatte, dem Geber aller guten Gaben. Seine Frau, zwölf Jahre jünger als er, unterstützte ihn dabei mit großem Eifer und Einsatz. Sie bemühte sich, diese armen Kinder ähnlich zu lieben, wie sie ihre eigenen liebte, und sie war für sie da, wo immer sie sie antraf – heute eben hier auf dem eigenen Gelände. Sie hatte die Zeit dazu, weil sich Isabelle, ihr freundliches Kindermädchen, in dieser Nachmittagsstunde um die dreijährige Sophie-Anne und den einjährigen David kümmerte. Die junge Hausangestellte hatte sich mit den beiden in einen ruhigeren Teil des weitläufigen Geländes zurückgezogen, und in der Küche bereitete derweil Jungfer Claire die kommende gemeinsame Mahlzeit vor, damit sich die Hausherrin des Landgutes La Monnaie ihren kleinen Gästen widmen konnte.

Anne-Antoinette Dunant rief noch einmal erfolglos nach ihrem Sohn, raffte dann ihren weiten Rock ein wenig hoch und stieg die Stufen der Freitreppe zum Hof hinunter, um zu den Kindern hinüberzugehen. Henri hatte die fröhliche Schar eigentlich herbringen sollen, wie er das immer gegen Ende des Nachmittags tat. Aber heute hatte er seine Pflicht offenbar vergessen. Der Junge vermochte den Ruf der Mutter wohl auch gar nicht zu hören. Es war laut und lebhaft im Park, und die Kinder ließen sich ohnehin nur ungern in ihren Spielen stören. Sie hatten doch nur einmal in der Woche die Gelegenheit, hier draußen unter den noch jungen edlen Laub- und Nadelbäumen und im bereits üppig wuchernden Gesträuch nach Herzenslust zu laufen und zu springen, Fangen und Verstecken zu spielen, ihre Bälle und Reifen zu treiben und dabei den Mief und die bedrückende Enge ihres traurigen Heims und das strenge Regiment ihrer Aufsichtspersonen für ein paar Stunden zu vergessen. Jetzt aber ging die Zeit leider schon wieder zu Ende, und die Kinder sollten bei Kuchen und heißer Schokolade, bei Obst und Saft und mit der wie immer zum Abschluss erzählten oder vorgelesenen Geschichte wieder zur Ruhe kommen, ehe ihre Betreuer sie in die Stadt zurückholten.

Die junge Frau Dunant rief noch ein paarmal in den fröhlichen Kinderlärm hinein den Namen ihres Ältesten, der zwar gerade erst vier Jahre alt, in seiner geistigen Entwicklung jedoch schon viel weiter war. Aber der kleine Henri reagierte nicht, auch nicht auf das bald sehr energische »Jean-Henri!«, wie er eigentlich hieß. Mit vollem Namen wurde der Junge allerdings nur im besonderen Ernstfall angesprochen.

Aber wo steckte er nur? Der Mutter blieb nichts anderes übrig, als ihr Kleid gerafft zu halten und den Knaben irgendwo unter den anderen Kindern im weitläufigen Park zu suchen. Dabei kam ihr zunächst ein anderer Henri entgegen.

»Sie haben mich gerufen, Madame?«, fragte der blonde Lockenkopf höflich und verbeugte sich vor seiner Gönnerin.

»Dann heißt du wohl auch Jean-Henri wie mein Junge?«, fragte die Frau und reichte dem kleinen Kerl die Hand.

»Jawohl, ich heiße Jean-Henry, und ich schreibe meinen Namen englisch, mit Ypsilon«, bestätigte der Junge.

»Aber mein Henri hat am Ende ein schweizerisches i und ist ganz sicher jünger als du. Außerdem hat er schwarzes Haar und wird zumeist einfach Henri gerufen«, gab die Frau mit einem freundlichen Lächeln zurück.

»Ich bin zwar ein wenig klein geraten, aber ich werde trotzdem schon acht, Madame«, antwortete der Junge brav und verbeugte sich wieder.

»Du bist wohl zum ersten Mal hier in La Monnaie?«

»Ja, Madame. Ich bin neu in unserem Heim, seit meine Eltern bei einem bösen Unglück in den Bergen ums Leben gekommen sind. Ich habe sonst niemanden, der sich um mich kümmert.« Dann schaute der Junge zu der Frau auf und sprach weiter, sodass die Frau zunächst keine Möglichkeit hatte, auf den traurigen Tatbestand zu reagieren: »Es ist sehr schön in Ihrem Park. Viel schöner als bei uns im Heim in St. Gervais. Darf ich einmal wiederkommen?«

Anne-Antoinette Dunant reichte dem Jungen die Hand: »Das mit deinen Eltern tut mir sehr leid, Jean-Henry. Du darfst selbstverständlich immer dabei sein, wenn die anderen Kinder auch hier sind, mein Junge. Ich hoffe, du hast immer Freude daran und kannst deine Traurigkeit dabei ein wenig vergessen.«

»Das werde ich sicher, Madame. Darf ich Ihnen helfen, Ihren Henri zu suchen ? Wie sieht er aus ?«

Die Frau ließ den Rocksaum herunter und strich dem Jungen über seine blonden Locken: »Mein Henri ist ein wenig kleiner als du, trägt ein weißes Hemd und hat fast schwarze Locken. Komm, großer Jean-Henry mit englischem Ypsilon, gehen wir und suchen den kleinen mit dem schweizerischen I.«

»Warum dürfen wir eigentlich in Ihrem schönen Park spielen, Madame?«, fragte der Junge, während er neben seiner Gönnerin herlief und dabei unter den anderen Kindern nach dem kleinen Henri mit den dunklen Haaren Ausschau hielt.

»Nun, mein Junge, wir Dunants möchten euch Kindern ein wenig Freude machen. Ihr in eurem Heim habt es nicht so gut wie meine Kinder hier draußen. Wir sind Christen, Jean-Henry. Wir lieben den Herrn Jesus Christus. Seine Liebe lässt uns das tun. Der Herr Jesus liebt uns, und er möchte, dass wir seine Liebe an andere weitergeben. Er möchte auch, dass wir unseren Reichtum mit denen teilen, die arm sind. Und ihr in eurem Kinderheim seid nun mal arme Wesen, denen es an allem fehlt, während wir hier draußen reich beschenkte Leute sind. Auch der Reformator Johann Calvin, dieser große Sohn unserer Stadt, hat vor bald dreihundert Jahren die Christen schon gelehrt, dass sie so handeln sollen. Und wir handeln gerne so, weil wir von Gott gesegnet sind und viel haben an Gut und Geld. Deshalb dürft ihr Kinder in jeder Woche für einen Nachmittag nach hier kommen und in unserem großen Garten nach Herzenslust spielen und toben und euch so richtig satt essen an den guten Dingen, die unsere Köchin für euch vorbereitet.«

Der Neue unter den Waisenkindern blieb nach dieser Antwort kurz stehen, verbeugte sich wieder vor Frau Dunant und sagte: »Von dem Jesus weiß ich nicht viel, Madame, und auch nicht von dem Johann Calvin, oder wie der Mann heißt. Ich bin erst kurze Zeit in dieser Stadt. Meine Eltern gehörten zur katholischen Kirche. Aber trotzdem vielen Dank dafür, Madame, dass Sie das so machen, und vielen Dank dafür, dass ich auch hier sein darf.« Dann schaute er sich wieder um und zeigte bald in eine bestimmte Richtung. »Dort hinten, der kleine dunkelhaarige Junge im weißen Hemd bei Emile und dem Mädchen, das könnte Ihr Jean-Henri sein. Entschuldigung, Sie sagen ja nur Henri. Zu uns Heimkindern gehört der nicht, also muss es Ihr Junge sein. Ich laufe hin und hole ihn.«

Ohne eine Antwort der Frau abzuwarten, rannte Jean-Henry über die Wiese hinüber zu den üppig blühenden Rhododendren, wo er den kleinen Henri entdeckt hatte. Der saß dort im Schatten der Sträucher im Gras und erzählte wortund gestenreich zwei anderen Kindern offenbar irgendeine Geschichte.

Momente später kam Jean-Henry zurück mit seinem kleinen Namensvetter an der Hand, gefolgt von dessen beiden Zuhörern von eben. »Hier bringe ich Ihren Sohn, Madame.«

»Gut gemacht, mein Junge«, bedankte sich die Frau und wandte sich an ihren Henri, dessen Augen strahlten und dessen Wangen glühten und der sich gerne von der Mutter in die Arme nehmen ließ. »Hast du mein Rufen nicht gehört, mein Junge?«

»Nein, Mamá. Ich habe Aurelie und Emile die Geschichte von dem Mann an dem Weg nach Jericho erzählt, den die bösen Räuber geschlagen hatten und dem niemand geholfen hat, Mamá.«

»Und dann ist ein freundlicher Fremder gekommen und hat ihm doch geholfen, Madame«, mischte sich Aurelie ein. Und Emile ergänzte: »Das war der barmherzige Sammelritter. Der hat dem armen Mann geholfen.«

Anne-Antoinette Dunant musste lächeln über den Eifer und die Begeisterung der drei Kinder. »›Sammelritter‹ ist ein lustiges Wort, Emile. Aber es trifft. Der Samariter, wie der fremde Mann eigentlich genannt wird, war wirklich ein ritterlicher Mensch, und er hat den verletzten Mann aufgesammelt und in die Herberge gebracht. Aber ich sag’ euch auch, was das Wort bedeutet: Der Mann, der dem anderen geholfen hat, kam aus Samaria – so heißt das Land dort in Palästina – und er ist deshalb ein ›Samariter‹, so wie die Menschen aus der Schweiz ›Schweizer‹ genannt werden.«

»Und ›Samariter‹ nennt man auch bei uns die Leute, die anderen helfen, stimmt’s, Mamá? Und jeder Christenmensch soll ein Samariter sein und sich um die Armen kümmern«, fügte der kleine Henri an und fragte sofort weiter: »Versammeln wir uns gleich zum Essen und zur Geschichte, Mamá?«

»Das tun wir, mein Junge. Ruft ihr vier Kinder jetzt bitte die anderen herbei. Wir setzen uns zunächst auf die Terrasse zu Kuchen und Schokolade und genießen Obst und Saft. Danach gibt es die Geschichte, und dann ist der schöne Tag leider schon wieder zu Ende. Schade zwar, aber in der nächsten Woche gibt es ja einen neuen Tag auf La Monnaie.«

Wenige Minuten später drängte sich das fröhlich plappernde Völkchen – die Kinder waren übrigens sämtlich älter als der kleine Erzähler biblischer Geschichten – auf der Terrasse um den Tisch mit vielen süßen Leckereien und dem großen Obstkorb, und jedes hätte wohl am liebsten sofort zugelangt. Eine so reich gedeckte Tafel würde es erst nach einer Woche wieder geben. Also galt es, sich kräftig zu bedienen.

»Nicht ohne Tischgebet, ihr Lieben!« Der Gastgeberin gelang es tatsächlich, den Eifer der Kinder zunächst einmal zu bremsen und für die nötige Ruhe zum Gebet zu sorgen. Nach dem Dank an den Vater im Himmel, der seine Kinder auf Erden mit allem versorgt, was sie brauchen, gab es dann auch kein Halten mehr. Jetzt endlich durfte sich jeder Junge und jedes Mädchen satt essen, bis nichts mehr in den Magen hineinging. Für die Betreuer, die inzwischen angekommen waren, um ihre Schützlinge abzuholen, galt das übrigens auch, gab es doch für sie aus der Waisenhausküche auch keine Sonderrationen. Und hier durften sie sich ebenso einmal wöchentlich von der vornehmen Hausherrin bedienen lassen.

Die griff, nachdem das fröhliche Vespern beendet war, zu einem Buch. Sofort waren alle Kinder still und bereit, ihrer verehrten Wohltäterin zuzuhören. »Heute lese ich euch zum Abschied eine Fabel vor, die der französische Dichter Jean de La Fontaine vor fast zweihundert Jahren bei dem griechischen Fabeldichter Äsop gefunden und dann in Verse gesetzt hat. Aus dieser Geschichte können und sollen wir alle lernen, dass wir uns fürchten sollen vor Menschen, die sich so hinterlistig und böse verhalten wie der Wolf. Wir sollen uns auch nicht mit ihnen auf einen Streit einlassen. Lieber sollen wir ihnen recht geben und dann davonlaufen, damit es uns am Ende nicht ergeht wie dem kleinen Schaf. Hört gut zu, damit ihr die Moral der Geschichte auch recht versteht.«

Nach dieser Vorrede schaute Madame Dunant noch einmal in die Runde, ob auch wirklich alle Kinder aufmerksam zuhörten. Dann las sie:

Jean de La Fontaine: Der Wolf und das Lamm

Der Stärkere hat immer recht:

wir zeigen’s hier am Tiergeschlecht.

Ein Lamm erlabte sich einmal

am reinen Rinnsal einer Quelle.

Ein magrer Wolf war auch zur Stelle,

getrieben von des Hungers Qual.

Du wagst es, sprach er (denn er suchte Stunk),

zu trüben meinen Morgentrunk?

Natürlich haftest du für diesen Schaden! –

Ach, sprach das Lamm, dass Euer Gnaden

besänftige die grimme Wut

und zu bemerken mir geruht:

ich trinke hier am Bache zwar,

doch unterhalb und offenbar

wohl zwanzig Schritte weit von euch

und trübe folglich nie und nimmer

das Wässerlein um einen Schimmer. –

Und dennoch trübst du’s, schalt der Wolf sogleich;

auch hast du mich verwünscht vor etwa einem Jahr. –

Wie, da ich kaum geboren war?

versetzt’ das Lamm; an Mutters Euter lag ich noch. –

Warst du’s nicht, war’s dein Bruder doch! –

Ich hab gar keinen. –

Dann war’s sonst wer von eurer Sippe,

denn ihr habt alle eine lose Lippe,

ihr, euer Hund, der Hirt auch mit der Hippe.

Man sagt’s. Mein ist die Rache jetzt zur Stund!

Er schleppte das Lamm in den Wald und riss es

und würgt’ es formlos in den Schlund.

(Auch ein ›Verfahren‹, ein gewisses!)1

Anne-Antoinette Dunant legte das Buch aus der Hand, ließ den Text einige Augenblicke wirken und erklärte dann mit wenigen Sätzen noch einmal die Moral der Fabel. Danach lud sie die Kinder und ihre Betreuer ein, in der nächsten Woche wiederzukommen, wünschte ihnen Gottes Beistand und Segen für ihren Heimweg und für die kommenden Tage und entließ die kleinen und großen Gäste. Dabei gab sie jedem Kind und jedem Erwachsenen zum Abschied die Hand und ein freundliches Lächeln mit auf den Weg. Dem neuen Jean-Henry sprach sie ein besonders warmes Lebewohl zu, strich dem Jungen dabei über sein blondes Haar und sagte: »Gott begleite dich und segne dich!«

Ihr Sohn Henri hätte es ihr eigentlich gleichtun und den Besuchern ebenfalls die Hand geben sollen, wie er es sonst immer tat. Aber der Junge blieb auf seinem Platz sitzen und war offensichtlich sehr bekümmert. Es liefen ihm sogar ein paar Tränen über das Gesicht.

Nachdem sich die Terrasse geleert hatte, wandte sich die Mutter sofort dem Jungen zu, setzte sich neben ihn und nahm ihn in den Arm. »Was ist, mein lieber Henri? Tut dir etwas weh? Bist du nicht zufrieden mit dem Nachmittag?«

Klein Henri schluchzte ein paarmal auf, während er sich von der Mutter die Tränen abwischen ließ. Dann sagte er: »Das war überhaupt keine schöne Geschichte, Mamá! Das war eine schlimme Geschichte! Ich will nicht, dass es so böse Menschen gibt, die sind wie der Wolf. Ich will auch nicht, dass das Lämmchen gefressen wird. Das Lämmchen hat doch dem Wolf gar nichts getan.«

Anne-Antoinette Dunant erschrak ein wenig bei diesen Worten ihres Größten. Was sollte sie ihm antworten? Wie konnte sie den Jungen trösten? »Schau, mein liebes Kind«, begann sie schließlich, »diese Fabel war für dich kleinen Knaben wohl noch ein bisschen schwer. Wenn du einmal groß bist, wirst du besser begreifen, was der griechische Dichter Äsop und auch der französische Dichter La Fontaine uns sagen wollten: So geht es zu unter den Menschen in unserer Welt. Viele sind böse wie Wölfe, und andere sind fromm wie Lämmer. Die Bösen sind zumeist auch die Starken, die sich mächtig aufspielen und dabei die Schwachen unterdrücken und quälen …«

»… wie die Räuber an der Straße nach Jericho, Mamá«, unterbrach der Junge die Erklärung seiner Mutter, schniefte noch einmal und fragte weiter: »Warum sind Menschen eigentlich böse, Mamá?«

»Nun, ich denke«, antwortete die Frau vorsichtig, »weil das, was Gott nach der Sintflut über die Menschen gesagt hat, auch heute noch wahr ist: ›Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf.‹ Für dich sage ich es ein bisschen einfacher: Die Menschen sind böse, weil sie ohne Gott leben und weil sie den Heiland nicht kennen und lieben. Sie haben Herzen aus Stein und können auch ihre Mitmenschen nicht lieben. Sie lesen die Bibel nicht; sie beten nicht zu Gott und Jesus Christus; sie singen keine frommen Lieder; sie gehen nicht in eine Gemeinde, um auf das gute Wort Gottes zu hören …«

Hier unterbrach der Junge seine Mutter wieder: »Nicht wahr, Mamá, wir gehen am Sonntag wieder in den Gottesdienst zu Pfarrer Gaussen? Der kann die biblischen Geschichten fast so spannend erzählen wie du. Und wenn ich in der Sonntagsschule immer gut zuhöre, dann werde ich nicht wie ein Wolf, wenn ich einmal groß bin.«

»So kann es gehen, Junge. Der Herr Jesus möge es geben, dass du ihm dein Herz und dein Leben schenkst, wenn du etwas älter bist. Dann wird er dich auch reich segnen, mein lieber Henri. Dann kannst du gar nicht werden wie ein Wolf«, stimmte die Mutter dem Gedanken des Jungen zu, kam dann aber auf etwas ganz anderes zu sprechen. »Dein müsste übrigens bald kommen. Er wollte vor dem Abend hier sein.«

Bei diesem Hinweis sprang Henri von seinem Platz auf und tanzte eine Runde über die Terrasse. »Juhu, mein Papá kommt nach Hause. Ich freue mich!«

»Und wie ich mich erst freue, mein Junge. Morgen gibt es doch etwas zu feiern, auch wenn dein Papá wahrscheinlich wenig Zeit zum Feiern hat.«

»Was gibt es zu feiern, Mamá?«, wurde Henri neugierig.

»Nun, mein kleiner großer Henri, morgen ist der 20. Juni 1832. Dann sind deine Eltern schon fünf Jahre verheiratet. Komm, Junge, gehen wir ins Haus. Isabelle und deine kleinen Geschwister warten darauf, dass du noch ein wenig mit ihnen spielst; und Claire wartet darauf, dass ich ihr noch ein wenig helfe, die Küche wieder aufzuräumen und dann das Begrüßungsessen für deinen Papá vorzubereiten. Der wird nach der langen Reise von Marseille hierher müde und hungrig sein.«

»Was hat der Papá in Marseille gemacht, Mamá?«, wollte der Junge noch wissen.

»Geschäfte, mein Lieber, Geschäfte, von denen ich nicht viel verstehe, von denen wir aber gut leben können. Unser Gott segnet Papás Geschäfte, und er segnet uns alle mit Wohlstand und Reichtum.«

»Also ist Papá ein guter Mensch und kein Wolf«, stellte Henri fest.

»So muss es sein. So sagt es die Lehre Johann Calvins. Wer ehrbar ist und fleißig in seiner Arbeit und redlich in seinen Geschäften, der wird von Gott gesegnet. Wer sich aber dem Müßiggang hingibt und seine Lebenszeit nutzlos verbringt, der ist ein Sünder und den segnet Gott nicht. Aber das lernst du später zu begreifen, mein Junge. Komm, gehen wir ins Haus. Da wartet Arbeit auf uns beide.«

Der kleine Henri Dunant bekam die Heimkehr seines Vaters dann aber doch nicht mehr mit. Er schlief schon, als der Kaufmann Jean-Jacques Dunant La Monnaie endlich erreicht hatte und seine Anne-Antoinette, die er liebevoll »Nancy« nannte, nach langer Zeit der Abwesenheit wieder einmal in die Arme schließen konnte. Dafür freute der Junge sich umso mehr, als er am Morgen seinem Vater auf den Schoß springen konnte und der auch ihn herzlich in seine großen Arme nahm und ihm von seiner langen Reise erzählte.

Die Eltern Henry Dunants, Jean-Jacques und Anne-Antoinette, geborene Colladon, in späteren Jahren (Abb. 1 u. 2)

Das war immer spannend, wenn der Papá die großen Schiffe im Hafen von Marseille beschrieb und von seinen Begegnungen mit Menschen aus aller Welt erzählte. Es war aufregend, wenn er von den Abenteuern sprach, die eine Reise mit der Postkutsche oder einem anderen Reisewagen auf zuweilen sehr schlechten Straßen durch Täler und über Höhen nun einmal mit sich brachte. Da verletzte sich schon mal ein Pferd; da brach gelegentlich ein Rad des Wagens oder gar eine Achse; da waren Wege und Straßen durch reißendes Hochwasser blockiert oder durch umgestürzte Bäume; da gab es dieses und jenes, was die Reise beschwerlich machen konnte. Umso schöner, wenn der Papá nach oft tage- und manchmal auch wochenlanger Reisezeit dann wieder heil und gesund mit seinen Lieben am heimischen Tisch saß.

Leider nahm sich der Vater für solche Momente nur wenig Zeit. Seine Kinder hielt er immer nur für wenige Minuten auf dem Schoß. Anderes war ihm bald wichtiger, als mit ihnen zu schmusen und zu erzählen, und mit ihnen zu spielen, das war so gar nicht seine Sache. Wenn er zu Hause war, gab es in der Familie eher fromme Andachten mit Liedern und Gebeten und biblischen Texten und ihren Auslegungen. Die wurden nicht vernachlässigt. Freilich war das, was der Papá sprach und erklärte, für seinen Ältesten meistens schwer zu begreifen. Was die Mamá erzählte, war für ihn viel einfacher zu verstehen. Sophie-Anne und Daniel, die beiden jüngeren Geschwister, verstanden natürlich noch gar nichts von dem, was der Vater an geistlichen Dingen entfaltete. Wenn die Mamá erzählte von Abraham, Isaak und Jakob, von Josef und dem ägyptischen Pharao, von den Königen Saul und David, von den Propheten Elia und Elisa und von den Erlebnissen Daniels und seiner Freunde, von den Wundern des Heilandes Jesus von Nazareth und von den Missionsreisen des Apostels Paulus, dann war das spannend und interessant. Wenn der Papá aber davon sprach, wie Christen in der Welt zu leben haben nach den Weisungen der Bibel und nach den Lehren von Johann Calvin, damit sie immer genug Geld verdienten, um davon selbst gut zu leben und immer wieder einen bestimmten Teil an arme Menschen weiterzugeben, dann hörte Henri eine Weile zu, fand das aber bald zu schwer und deshalb langweilig. Dann beschäftigte sich der Junge in seinen Gedanken lieber mit den Geschichten, die die Mamá zuletzt erzählt hatte, oder auch mit ganz anderen Dingen.

Menschen in Ketten

An jenem besonderen Morgen, dem fünften Hochzeitstag der Eltern, hatte der kurze Reisebericht des Vaters in dem Sohn die dringende Frage geweckt, wann er denn einmal eine solche Geschäftsreise mitmachen könne.

Das Amen am Ende der gemeinsamen Tischandacht war noch nicht lange gesprochen – die Kinderfrau hatte mit den Kleinen den Raum bald verlassen, und Jungfer Claire hatte sich auch an ihren Arbeitsplatz in der Küche begeben -, als Henri auch schon fragte: »Papá, nimmst du mich bei deiner nächsten Reise mit nach Marseille? Ich will auch einmal eine weite Fahrt mit dem großen Pferdereisewagen machen und die großen Schiffe sehen und Abenteuer erleben.«

Jean-Jacques Dunant hob seinen Ältesten noch einmal auf den Schoß und schloss ihn für ein paar Momente in seine Arme. »Deinen Wunsch kann ich gut verstehen, mein Großer. Aber du bist doch noch ein bisschen zu klein für solche Strapazen. Ich nehme dich mit, sagen wir, wenn du doppelt so alt bist wie jetzt. Dann sind deine Geschwister auch schon älter und können die Reise mitmachen.«

»Und wie alt bin ich dann, Papá?«, wollte der Junge wissen.

»Dann bist du acht und auch ein paar Zentimeter größer als heute«, antwortete der Vater.

»Bis dahin ist Sophie-Anne sieben und Daniel ist fünf«, ergänzte die Mamá. »Dann können wir vielleicht alle zusammen reisen.«

»Das wäre schön«, begeisterte sich Henri. »Ich will auch ganz schnell wachsen, damit ich bald acht werde.«

Die Eltern schauten sich amüsiert an bei dieser besonderen Willensäußerung ihres Jungen. »Wir wollen uns an das halten, was in Jakobus 4,15 steht – wenn Gott uns so führt, wenn es so weit ist, dann werden wir es tun, unser kleiner Henri Gernegroß«, sagte Mutter Dunant und schickte ihren Sohn hinaus zum Spielen. »Isabelle wird mit deinen Geschwistern im Park schon auf dich warten.« Es gab ja auch sicher mit ihrem geliebten Mann noch einiges zu besprechen, ehe der sich in die Stadt aufmachte, um sich seinen Ratsherrenaufgaben zu widmen und sich um die Finanzen eines neuen Armenprojektes zu kümmern.

Bis zur Reise nach Marseille musste Jean-Henri Dunant dann wirklich noch vier Jahre warten. Bis dahin erlebte er eine schöne Kindheit draußen in La Monnaie, in der Hauptsache betreut von seiner Mutter, an die er sich mehr und mehr anlehnte. Sein Vater war ja auch weiterhin häufig für mehrere Tage oder gar Wochen wegen seiner Geschäfte unterwegs. Und wenn er zu Hause war, war er zumeist viele Stunden des Tages beruflich und wegen seiner zahlreichen Ämter und Ehrenämter in der Stadt beschäftigt. Für seine Lieben auf La Monnaie blieb wenig Zeit. Die waren daran gewöhnt und empfanden das Familienleben dennoch als harmonisch und gut.

1833 und 1834 kamen Marie und Pierre-Louis zur Welt und vergrößerten den Geschwisterkreis. Wie gut, dass es im Haus Isabelle gab und auch Claire. Die jetzt fünffache Mutter hätte die Arbeit in Haus und Familie nicht allein bewältigt, zumal sie nach der Geburt von Pierre-Louis nicht recht auf die Beine kam und immer wieder kränkelte. Wenn sie sich aber gesund und stark fühlte, war sie immer wieder unterwegs in den Gassen und Hinterhöfen von St. Gervais, wo die Armen und Mittellosen der Stadt ihre dürftigen Wohnungen hatten. Dort kümmerte sich Anne-Antoinette Dunant liebevoll vor allem um Frauen und Kinder, die dringend menschliche und geistliche, aber auch materielle und zuweilen medizinische Hilfe benötigten. Sie tat hier einen hingebungsvollen und unschätzbaren Dienst gelebten praktischen Christenglaubens, wie ihn der Apostel Jakobus im ersten Kapitel seines Briefes beschrieben hatte: »Ein reiner und unbefleckter Gottesdienst vor Gott, dem Vater, ist der: die Waisen und Witwen in ihrer Trübsal besuchen und sich selbst von der Welt unbefleckt halten.« Das Letztere machte übrigens kein Problem. Die Dunants hielten sich in der sittenstrengen Calvin-Stadt in der Regel von Geselligkeiten fern, die den Geruch des »Weltlichen« an sich hatten. Ausnahmen gab es nur, wenn das Amt des Ratsherren und Armenpflegers es erforderte.

Manchmal nahm Marie-Antoinette Dunant bei ihren Besuchen ihren Ältesten mit, weil der das »Leben« kennenlernen sollte und weil er das auch selbst unbedingt so wollte. Auch er wollte »Samariter« sein, »Täter des Worts und nicht Hörer allein.« Henri saß dann häufig ganz still dabei, wenn die Mamá sich die Sorgen und Nöte der Menschen geduldig anhörte und mit ihnen redete, um ihnen Trost und Rat zu geben. Er selbst konnte auch nicht genug davon hören, wenn die Mutter den Menschen in der Unterstadt in ihren bescheidenen Behausungen Geschichten aus der Bibel oder Texte aus frommen Andachtsbüchern vorlas und wenn sie ihnen mit schlichten Worten das Evangelium erklärte und mit ihnen betete. Er spielte auch gerne mit den Kindern, die sonst keine Spielgefährten hatten.

Die so ganz andere Atmosphäre des Lebens in der Unterstadt berührte Henri in den Tiefen seines jungen und empfindsamen Gemütes. Es beschäftigte ihn zunehmend, dass es so etwas überhaupt gab: Die einen waren reich und lebten im Überfluss, hatten immer genug zu essen und konnten sich alles kaufen, was sie zum Leben brauchten, die anderen waren arm, mussten sich häufig ihren Lebensunterhalt zusammenbetteln und Kleidung anziehen, die ein anderer nicht einmal mehr im Dunkeln tragen würde. Das war doch alles ungerecht! Da mussten doch die Reichen ihre Hände und ihre Portemonnaies öffnen und helfen! Wenn er einmal groß war und eigenes Geld verdiente, dann wollte er sich auf jeden Fall um solche Leute kümmern, die vor Armut nicht wussten, wie sie ihr Leben fristen sollten. »Euer Überfluss diene ihrem Mangel!« und »Einen fröhlichen Geber hat Gott lieb!« – so hatte Henri es in der Sonntagsschule und im Gottesdienst der Evangelischen Gesellschaft bei Louis Gaussen schon mehrfach gehört. Der Pfarrer brachte schon seinen kleinen Zuhörern bei, dass das für einen guten Christen selbstverständlich sei. Henri hatte auch gelernt, dass der, der kärglich sät, auch kärglich erntet. Das hieß: Wer mit großzügiger Hand den Armen half, den segnete Gott mit ebenso großzügiger Hand. Wer aber knauserte mit seinen Gaben für die Armen, der durfte sich nicht wundern, wenn Gott ihm auch wenig für sein eigenes Leben gab. So stand es im zweiten Brief des Apostels Paulus an die Christen in Korinth. Darauf hatte Pfarrer Gaussen schon mehrfach hingewiesen, und der kleine Henri Dunant hatte sich das gut gemerkt.

Der Junge, der noch nicht einmal in die Schule ging, sah bereits deutlich den Weg vor sich, den er einmal gehen wollte: Wohltäter der Armen, Helfer der Notleidenden, Anwalt der Benachteiligten wollte er werden. Dabei wusste er genau, dass er zunächst einmal in der Schule seinen Mann stehen und das lernen musste, was ein Kind seines Standes zu lernen hatte. Dann brauchte er später einen Beruf, in dem er das Geld verdienen konnte, mit dem er seine Hilfspläne umsetzen konnte. Darin war ihm sein Vater als erfolgreicher und angesehener Kaufmann mit Beziehungen in alle möglichen anderen Länder und als ein ehrbarer und geschätzter Bürger seiner Stadt ein natürliches Vorbild. So wollte er, Jean-Henri Dunant, Sohn des Jean-Jacques Dunant und seiner Frau Anne-Antoinette aus dem Geschlecht der ebenso angesehenen Familie Colladon, einmal werden und leben! Nicht nur, weil schon seine aristokratische Herkunft ihn dazu verpflichtete, sondern auch, weil es das von Jesus Christus gegebene Liebesgebot gab – nicht nur aus der Geschichte vom barmherzigen Samariter, die zeitlebens seine liebste biblische Geschichte war – und weil calvinistisch geprägte Christen und Mitglieder der frommen Gesellschaft sich selbstverständlich danach richteten. Wie hatte doch der Reformator bereits gesagt: »Lasst keinen Nächsten frieren, hungern, an Gebrechen leiden. Seid immer Helfer in der Not.« Diese Weisung hatte auch dreihundert Jahre nach Johann Calvin ihre Kraft und Bedeutung nicht verloren.

Erstaunliches ging in dem Geist des jungen Henri Dunant vor. Die Besuche mit seiner Mutter im Armenviertel der Rhone-Stadt und in den zahlreichen Elendswohnungen und die Versammlungen der Evangelischen Gesellschaft des Pfarrers Louis Gaussen legten die Saat dafür in einen vorbereiteten fruchtbaren Boden. Aber bis die Saat aufgehen konnte, dauerte es noch ein paar Jahre, in denen Henri Dunant noch ganz andere Erfahrungen machte, die sein späteres Leben ebenso beeinflussen, ja sogar bestimmen sollten …

Wie vier Jahre zuvor versprochen, so setzte es der Vater um: Jean-Jacques Dunant nahm seinen achtjährigen Sohn mit auf eine Reise nach Marseille und Toulon, die beiden Hafenstädte am Mittelmeer. In Marseille hatte der Kaufmann geschäftlich zu tun; in Toulon wollte er Genfer Männer besuchen, die als Gefangene im dortigen Zuchthaus einsaßen und unter harten Bedingungen ihre Strafen verbüßten. Auch das war »Leben«, das der Sohn durchaus schon kennenlernen konnte und sollte, wobei der davon freilich nicht ahnte, was bei der Reise auf ihn zukam.

Henri genoss es, mit seinem Vater unterwegs zu sein, wenngleich er die geliebte Mamá doch ein wenig vermisste. Er hätte sie gerne dabei gehabt. Aber Mutter Anne-Antoinette hatte wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit und wegen der kleineren Geschwister – die beiden jüngsten, Pierre-Louis und Marie, waren gerade mal zwei Jahre und drei Jahre alt – keine Möglichkeit gesehen, die Reise mitzumachen. Der Vater also mit seinem Ältesten allein unterwegs, das war auch einmal gut so. Die beiden hatten sich ohnehin viel zu wenig.

Zunächst war das eine schöne, angenehme Reise im bequemen Coupé, das von zwei guten Warmblutwallachen gezogen und von Bernard, dem fröhlichen Kutscher der Familie Dunant, gelenkt wurde. Zunächst ging es aus dem Rhone-Tal über die Vorberge Savoyens hinüber ins Tal der Isère und weiter über den 1177 Meter hohen Pass Col de la Croix Haute hinunter ins Tal der Durance. Später ging es dann noch über die Hügel der westlichen Provence, bis die große Stadt Marseille endlich nach einer Woche Reisedauer erreicht war.

Was hatte der junge Henri auf dieser langen Reise nicht alles zu sehen bekommen und erlebt! Und wie hatte er immer wieder gestaunt über das, was der Papá alles wusste über Land und Leute, über Pflanzen und Tiere in diesem Teil Frankreichs! Bei kaum einer Frage, die der Junge ihm gestellt hatte – und das waren unzählige gewesen – hatte er einmal sagen müssen: »Das weiß ich jetzt leider nicht. Wir werden uns heute Abend in der Herberge danach erkundigen.« Was, wenn es gelegentlich doch vorkam, dann auch jeweils geschah, damit Henri zufriedengestellt war und auch alles in sein Reisetagebuch eintragen konnte.

Schön war es auch gewesen, wenn der Papá abends zum Tagesabschluss und morgens vor dem Aufbruch zur nächsten Reiseetappe in den verschiedenen Gasthäusern Abschnitte aus der Bibel gelesen und danach gebetet hatte. Jean-Henri Dunant war richtig stolz auf seinen Vater. So intensiv wie in diesen Tagen hatte er den Papá noch nie erlebt. Herrlich!

Über eins war der Junge allerdings dann doch ein wenig enttäuscht. Nichts Sensationelles hatte er in sein Tagebuch eintragen können. Nirgendwo auf den Straßen durch die Täler und über die Höhen hatte ihnen irgendwer oder irgendwas den Weg versperrt, keine bösen Straßenräuber, kein Windbruch und kein Hochwasser. Dabei hatte es doch zwei Tage lang ohne Unterbrechung geregnet. Bernard auf seinem Kutschbock und die Pferde an ihrer Deichsel waren ordentlich nass geworden, und die Gebirgsflüsse waren ganz schön voll. An der Kutsche war kein Rad gebrochen oder gar eine Achse, und auch die beiden Wallache hatten treu und unermüdlich das Gefährt gezogen, ohne zu bocken oder sich zu vertreten oder etwas anderes zu tun, wovon der Vater zu Hause schon erzählt hatte. Aber gut, so war es ja auch besser gewesen als anders, und Henri sah wie sein Vater und auch Bernard viel Grund, dem himmlischen Vater für die gute, bewahrte Reise und ebenso gute Versorgung in den verschiedenen Gasthäusern zu danken. Dafür hatten sie ja schließlich zu Hause auch gebetet.

In Marseille wurde es dann für den Jungen in ganz anderer Hinsicht interessant. Bei den meisten Kaufmannsgesprächen konnte er dabei sein, auch wenn er nicht verstand, worum es eigentlich ging. Wenn er nicht dabei sein sollte, dann durfte er sich an zuvor vereinbarten Plätzen am Hafen aufhalten, die großen und kleinen Segler und die mächtigen Dampfschiffe anschauen und dem lebhaften Treiben an Bord und auf den Quais zusehen oder auch mit dem Kutscher durch die Straßen der Stadt streifen. Wenn der Papá abends etwas zu verhandeln hatte, dann musste Henri allerdings im Hotelzimmer bleiben und auch schon ins Bett gehen. Bernard wohnte – wie immer unterwegs – in einem schlichten Zimmer in der Nähe der Pferde.

Drei Tage hielten sich Vater und Sohn Dunant in der Hafenstadt auf. Dann ging es an der Mittelmeerküste entlang weiter nach Toulon, eine Tagereise weit nach Osten.

»Wen willst du hier eigentlich besuchen, Papá?«, fragte Henri, als die Kutsche durch die holprigen Vorortstraßen der Stadt rollte. »Haben wir denn hier Verwandte von den Dunants oder von den Colladons, von denen ich noch nichts weiß?«

»Nein, mein Junge«, antwortete Jean-Jacques Dunant, »wenn wir unter den Leuten, die wir hier besuchen wollen, Verwandte hätten, dann wäre das mehr als schlimm. Wir besuchen Männer aus Genf, die hier im Zuchthaus sitzen. Unter denen gibt es keine Dunants und Colladons. Unsere Verwandten sind alles ehrbare Menschen und aufrechte Christen. Unter denen gibt es niemanden, der an irgendeiner bösen Tat schuldig geworden wäre, und der dafür gar von einem Gericht zu einer Strafe verurteilt worden wäre.«

»Und die Männer, die wir besuchen …?«

»… sind Betrüger und Bankrotteure, Diebe und Räuber, Mörder und Totschläger, die zu vielen Jahren Zuchthaus und zu harter Arbeit verurteilt worden sind.«

»Warum besuchen wir die dann, wenn die so böse sind?«

»Weil Jesus uns geboten hat, auch solche Menschen zu achten und zu besuchen. So steht es im Evangelium. Diese Menschen leben in einem großen Elend, das sie freilich selbst verschuldet haben. Pass auf, mein Junge. Ich lese dir ein paar Verse aus dem Kapitel 25 bei Matthäus vor. In dem Text geht es um das Weltgericht am Ende der Zeiten. Da geht es um Menschen, die mit Schafen und Böcken verglichen werden. Die Schafe stehen zur Rechten des richterlichen Königs, der in dem Text auch ›Menschensohn‹ genannt wird, die Böcke stehen zu seiner Linken.« Jean-Jacques Dunant hatte bei diesen Worten nach seiner Bibel gegriffen, die er immer in seiner Tasche bei sich trug. Jetzt schlug er die genannte Stelle auf und las: »›Dann wird der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben …‹« Der Mann fuhr mit den Fingern am Text entlang, bis er gefunden hatte, was er eigentlich lesen wollte. Dann las er weiter: »›… Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen und ihr seid zu mir gekommen … ‹ – Dann fragen die Gerechten den König, wann das denn gewesen sei, dass sie ihren Herrn im Gefängnis besucht hätten. Sie wüssten ja gar nichts davon. Darauf antwortet der König: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.‹ – Denen auf der anderen Seite, also den Böcken, den Verfluchten, wie diese Gottlosen im Text auch genannt werden, sagt der König: Wahrlich ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.‹«

»Dann sind wir aber doch Schafe, Papá, und wir stehen eines Tages zur Rechten des Königs«, stellte Henri fest. »Und der König, das ist doch der Herr Jesus, der nach seiner Auferstehung zu seinem Vater in den Himmel aufgefahren ist und mit ihm auf dem Thron sitzt.«

»So ist es, mein Junge«, bestätigte der Mann. »Und so muss es am Ende der Zeiten auch sein. Die Dunants und die Colladons und alle anderen aufrichtigen und gesegneten Menschen, die von Herzen Christen sind und der Bibel, dem allein wahren Wort Gottes, gehorchen und folgen, die werden zu den Schafen gehören. Dabei ist auch wichtig, dass sie den Lehren unseres Genfer Reformators Johann Calvin folgen, wie er sie vor bald zweihundertachtzig Jahren in seiner ›Institutio religionis christianae‹, in seiner ›Unterweisung in der christlichen Religion‹ aufgeschrieben hat.«

»Werde ich auch dazu gehören, Papá?«, war Henri für den Moment ein wenig ängstlich und unsicher. »Ich weiß nicht, ob ich schon richtig glaube und christlich handle. Ich bin doch erst acht.«

»Das Alter spielt keine Rolle, mein Junge«, beruhigte der Vater seinen Sohn. »Auf das Herz kommt es an. Das muss Jesus gehören. Jesus muss in dir wohnen. Er in dir und du in ihm. So sagt es der Herr Jesus im Johannesevangelium, und so haben wir es vor ein paar Jahren ganz neu und sehr lebendig von den englischen Erweckungspredigern gehört, von John und Charles Wesley und denen, die nach ihnen gekommen sind. Seitdem gibt es in Genf übrigens die Evangelische Gesellschaft mit unserem Pfarrer Louis Gaussen. – Und dann musst du immer Gutes tun und darfst dir in deinem Leben nichts zuschulden kommen lassen. So wirst du ein Gerechter, der beim jüngsten Gericht zur Rechten des Menschensohns steht und dort als ›Gesegneter des Herrn‹ begrüßt und geehrt wird. – Aber jetzt schau hinaus, Junge, wir sind an unserem Ziel. In das Gebäude hinter diesen mächtigen Mauern gehen wir für ein paar Stunden hinein. Bernard sucht uns derweil in der Stadt ein Hotel zum Nachtquartier. Morgen geht es dann wieder auf den Heimweg.«

Jean-Jacques Dunant gab seinem Kutscher Anweisung, nahm dann seinen Sohn an die Hand und ging raschen Schrittes auf das Tor des Zuchthausgebäudes zu. Henri fasste die Hand des Vaters ein wenig fester als sonst. Der spürte natürlich den festeren Druck. »Hast du Angst, dort hineinzugehen?«, fragte er. »Wenn es dir lieber ist, magst du bei Bernard bleiben.«

»Nein, nein, Papá«, widersprach Henri dem Angebot des Vaters, ergänzte aber sofort: »Ich gehe mit hinein, auch wenn ich mich schon ein wenig fürchte. Aber du bist doch bei mir. Dann brauche ich ja keine Angst zu haben.«

»Ich muss dich allerdings für eine Weile einem Wächter überlassen. In die Zellen kann ich dich nicht mitnehmen. Wird das schlimm sein für dich?«

Henri nahm all seinen Mut zusammen. »Ich glaube nicht, Papá«, sagte er fest. »Der Wächter passt ja auf mich auf.«

»Das tut er. Ich kenne ihn. Er heißt wie wir beide mit unserem ersten Namen. Jean ist ein einfacher, ehrlicher Mensch. Er ist ein Christ wie wir; du kannst ihm vertrauen.«

Wenige Minuten später hatten die beiden Dunants das große Tor und die folgenden Türen und Gänge des Zuchthauses von Toulon durchschritten, und der Vater hatte den Sohn dem französischen Wächter Jean übergeben. Der war ein kräftiger Bursche mit entschlossenen, aber doch nicht unfreundlichen Gesichtszügen. Henri fasste Vertrauen zu dem unbekannten Jean in seiner blauen Uniform mit der Kappe auf dem Kopf und dem Gewehr über der Schulter. Er ließ sich bereitwillig von ihm mit hinaufnehmen auf den Rundgang oberhalb des Innenhofs, wo sich bereits ein paar weitere Wachleute befanden, die alle aussahen wie Jean. Sein Vater verschwand derweil in das Innere des finsteren Zuchthauses, um dort seine Besuche zu machen.

»Von hier oben können wir die Gefangenen bei ihrem Rundgang beobachten und überwachen«, erklärte Jean, nahm sein Gewehr von der Schulter und legte den Lauf schussbereit auf die Brüstung, wie es seine Kollegen an ihren Plätzen bereits getan hatten. »Die Gefangenen dieser Freistunde werden gleich dort hinten durch die kleine Türe kommen und dann für eine halbe Stunde hintereinander im Kreis laufen. Sie brauchen Licht, frische Luft und Bewegung. In ihren kleinen, dunklen Zellen und an ihren Arbeitsplätzen haben sie zu wenig davon.«

Der kleine Jean-Henri wollte seinen Betreuer gerade etwas fragen, als sich die einzige Türe öffnete, die aus dem Gebäude in diesen Hof führte. Was sich dort tat, nahm jetzt seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Wie gebannt schaute er hinüber. Als Erste traten zwei uniformierte Wachmänner mit strengen Mienen aus der Tür und stellten sich rechts und links des Ein- und Ausgangs auf. In den Händen hielten sie Gewehre mit aufgesetzten Bajonetten. Dann kamen nacheinander eine große Zahl Sträflinge heraus, Männer in gestreiften Anzügen und mit glatt rasierten Köpfen, finstere Kerle verschiedenen Alters, hünenhaft große und eher schmächtige, hellhäutige und braungebrannte, sogar einige dunkelhäutige. Immer zwei von ihnen waren durch eine kurze Kette miteinander verbunden, einige trugen zusätzlich Ketten an den Füßen, sodass sie nur kleine Schritte machen konnten. Wie viele es waren? Henri hatte nicht gezählt. Jedenfalls waren es schrecklich viele. Als Letzte kamen noch ein paar Wächter durch die Tür. Die trugen keine Gewehre mit sich. Dafür hielten sie Peitschen mit kurzen Stielen und langen Riemen in ihren Händen. Diese Männer stellten sich im Innenraum auf und trieben mit dem Knallen ihrer Karbatschen, mit gelegentlichen gezielten Hieben und mit lauten Rufen die Sträflinge an, sich zu bewegen und ja nicht stehen zu bleiben. Viele von den Gefangenen fluchten und schimpften und riefen lauthals Spottreden gegen ihre Bewacher unten im Hof und oben auf dem Rundgang. Durch die lauten Stimmen, durch das Rasseln der Ketten und das Knallen der Peitschenriemen wurde es im Hof schrecklich laut. Eine schlimme, beängstigende Szene!

Henri verschlug es bei diesem Anblick und dem Lärm die Sprache, und er hielt sich die Ohren zu. Am liebsten hätte er sich wohl auch die Augen zugehalten. Dafür fehlten ihm aber zwei weitere Hände. Wie gebannt schaute er hinunter auf das schreckliche Schauspiel, das sich wenige Meter unterhalb seines Beobachtungspostens abspielte. Seine Frage, die er hatte stellen wollen, war plötzlich völlig unwichtig geworden. Was er hier sah, nahm ihm schier die Luft. Menschen in Ketten, die dicht an dicht auf engem Raum auf einem kleinen Platz, der zwischen den hohen Mauern wie ein Loch wirkte, stumpfsinnig im Viereck zu laufen hatten, die sich verhielten wie Tiere und die behandelt wurden wie Tiere. Der junge Henri Dunant war einfach nur entsetzt, und viele Gedanken jagten sich in seinem jungen Gehirn.

Durften Menschen mit Menschen so umgehen? Durften Menschen andere Menschen so behandeln? Waren Spitzbuben, Gauner, Verbrecher und so schlimme Sünder, wie die Männer in diesem Hof, nicht trotz ihrer bösen Taten immer noch Menschen und damit Geschöpfe Gottes? Hatte er nicht in der Sonntagsschule gelernt, dass Jesus auch die schlimmsten Sünder liebt? War der Heiland nicht gerade für solche Menschen am Kreuz gestorben? Hatte er nicht mit dem Mörder neben ihm am anderen Kreuz noch freundlich gesprochen? Nein, nein, nein, das hier war nicht gut, und das war nicht richtig! So durften Menschen nicht mit Menschen umgehen! Menschen wie Tiere behandeln? Nein, niemals! Niemals!

Henri riss sich von dem Anblick des Elends im Hof los. Der empfindsame Junge geriet in große innere Not. Seine Beine versagten ihm ihren Dienst. Er sank auf den Boden des Rundgangs und verbarg sein Gesicht in seiner Jacke. Nur nichts mehr sehen und nichts mehr hören! Henri begann, bitterlich zu weinen. Heiße Tränen flossen ihm über sein Gesicht und durch die Finger, und sein Körper zitterte vor Schluchzen. Wäre er doch nie mit nach hier gekommen! Wäre er doch nur bei Bernard draußen in der Stadt geblieben! Warum musste sein Vater ihn auch hierher mitnehmen, und warum war er jetzt nicht bei ihm hier oben?