Über Agatha Christie

Agatha Christie begründete den modernen britischen Kriminalroman und avancierte im Laufe ihres Lebens zur bekanntesten Krimiautorin aller Zeiten. Ihre beliebten Helden Hercule Poirot und Miss Marple sind – auch durch die Verfilmungen – einem Millionenpublikum bekannt. 1971 wurde sie in den Adelsstand erhoben. Agatha Christie starb 1976 im Alter von 85 Jahren.

»Elinor Katherine Carlisle, Sie werden angeklagt, am 27. Juli dieses Jahres Mary Gerrard ermordet zu haben. Bekennen Sie sich schuldig oder nicht schuldig?«

Elinor Carlisle stand vollkommen aufrecht, den Kopf hoch erhoben. Es war ein anmutiger, schön modellierter Kopf. Die Augen waren von einem tiefen leuchtenden Blau, das Haar schwarz. Die Brauen waren zu hauchdünnen Linien ausgezupft.

Es trat Stille ein – sehr merkliche Stille.

Sir Edwin Bulmer, den Strafverteidiger, durchfuhr ein Schauder der Angst.

Er dachte:

Mein Gott, gleich bekennt sie sich schuldig … Sie verliert die Nerven …

Elinor Carlisles Lippen öffneten sich. Sie sagte:

»Nicht schuldig.«

Der Strafverteidiger lehnte sich zurück. Er fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn, als ihm bewusst wurde, dass es um ein Haar zur Katastrophe gekommen wäre.

Sir Samuel Attenbury war aufgestanden und hielt das Eröffnungsplädoyer der Anklage.

»Eure Lordschaft, meine Herren Geschworenen: Am 27. Juli um 15.30 Uhr starb Mary Gerrard in Hunterbury, Maidensford …«

Seine Stimme hallte volltönend und wohlklingend durch den Raum. Sie versetzte Elinor allmählich in einen halb

»… ein ungewöhnlich klarer und einfacher Fall …

… Es ist die Aufgabe der Anklagevertretung … Motiv und Gelegenheit aufzuzeigen …

… Nach den uns vorliegenden Beweisen hatte, mit Ausnahme der Angeklagten, niemand ein Motiv, dieses bedauernswerte Mädchen, Mary Gerrard, zu ermorden. Ein junges Mädchen von liebenswürdigem Naturell, von allen gemocht – wie man angenommen hätte –, ohne einen einzigen Feind auf der Welt …«

Mary, Mary Gerrard! Wie fern erschien das alles jetzt. Schon gar nicht mehr wirklich …

»Ich werde Ihre Aufmerksamkeit namentlich auf die folgenden Fragen lenken:

  1. Welche Gelegenheit und welche Mittel hatte die Angeklagte, dem Opfer Gift zu verabreichen?

  2. Welches Motiv hatte sie, diese Tat zu verüben?

Es wird meine Aufgabe sein, Zeugen aufzurufen, die Ihnen dabei helfen können, bezüglich dieser Fragen zur richtigen Schlussfolgerung zu gelangen …

… Was die Vergiftung Mary Gerrards betrifft, werde ich den Nachweis erbringen, dass niemand Gelegenheit hatte, die Tat zu verüben, ausgenommen die Angeklagte …«

Elinor fühlte sich wie in einem dichten Nebel gefangen. Einzelne Wörter trieben zusammenhangslos an sie heran.

»… Sandwiches …

… Fischpaste …

… Leeres Haus …«

Die Wörter drangen durch die dicke Hülle, die Elinors Be

Der Gerichtssaal. Gesichter. Reihen über Reihen von Gesichtern! Ein bestimmtes Gesicht mit einem üppigen schwarzen Schnurrbart und klugen Augen. Den Kopf leicht zur Seite geneigt, der Blick versonnen, beobachtete Hercule Poirot sie unentwegt.

Sie dachte:

Er versucht zu erkennen, warum ich es getan habe … Er versucht, in meinen Kopf hineinzusehen, um zu erkennen, was ich damals dachte – was ich empfand …

Empfand? Ein verschwommener Fleck – ein leichter Schock … Roddys Gesicht – sein liebes, geliebtes Gesicht mit der langen Nase, dem sensiblen Mund … Roddy! Immer nur Roddy – immer schon, so weit sie zurückdenken konnte … seit jenen Zeiten in Hunterbury zwischen den Himbeeren und oben auf dem Speicher und unten am Bach. Roddy – Roddy – Roddy …

Weitere Gesichter! Schwester O’Brien, ihr Mund leicht geöffnet, das frische, sommersprossige Gesicht nach vorn gereckt. Schwester Hopkins mit selbstgefälliger Miene, selbstgefällig und unerbittlich. Peter Lords Gesicht – Peter Lord – so gütig, so vernünftig, so – so tröstlich! Doch jetzt – wie wirkte er jetzt … verloren? Ja – verloren! Bekümmert – über das alles schrecklich bekümmert! Während sie selbst, die Hauptperson, vollkommen unberührt blieb!

Da stand sie, kühl bis ans Herz, in der Anklagebank, des Mordes beschuldigt. Man machte ihr den Prozess.

Etwas regte sich; die schweren Falten von Wolltuch, die ihr Denken umhüllten, hoben sich – wurden zu bloßen Gespinsten. Den Prozess! … Menschen …

Menschen, die vorgebeugt dasaßen, die Lippen leicht ge

»Der Sachverhalt ist ausgesprochen leicht nachzuvollziehen und unstrittig. Ich werde ihn Ihnen mit einfachen Worten darlegen. Von Anfang an …«

Elinor dachte:

Von Anfang an … Was war denn der Anfang? Der Tag, an dem dieser entsetzliche anonyme Brief kam! Damit fing alles an …

I

Ein anonymer Brief!

Elinor Carlisle starrte auf das Blatt in ihrer Hand. So etwas war ihr noch nie untergekommen. Es bereitete ihr ein unangenehmes Gefühl. Schlecht geschrieben, wimmelnd von orthographischen Fehlern, auf billigem rosa Papier.

Das ist zu Ihrer Wahrnung (stand da zu lesen),

Ich nenn keine Namen aber da ist Jemand wo sich bei ihrer Tante einschleimt und Wenn sie nicht aufpassen Sind sie ihre Erbschaft Los. Mädchen sind Sehr Gerissen und Alte Dahmen fallen leicht draufrein wenn Junge sich bei Ihnen einschleimen und Ihnen schön tun Was ich damit sagen will ist Sie sollten besser kommen und Selber sehn was Da abläuft weil es ist nich richtig das Sie und der Junge Herr um ihr Gutes Recht betrogen werden – und Sie ist Sehr Gerissen und die Alte Dahme kann Jeden Moment apkratzen.

Jemand wo es gut mit Ihnen meint

Elinor starrte noch immer, die gezupften Brauen unwillig zusammengezogen, auf das Schreiben, als die Tür aufging. Das Hausmädchen meldete »Mr Welman«, und Roddy trat ein.

Roddy! Wie immer, wenn sie Roddy sah, verspürte sie ein leichtes Schwindelgefühl, ein plötzliches freudiges Herz

Eines war klar: Man musste sehr, sehr darauf achten, dass man einen lässigen, nonchalanten Eindruck machte. Männer mochten es nicht, angeschmachtet und angebetet zu werden. Roddy jedenfalls mochte es nicht.

Sie sagte leichthin:

»Hallo, Roddy!«

Roddy sagte:

»Hallo, Liebling. Du ziehst ja so ein tragisches Gesicht. Ist das eine Rechnung?«

Elinor schüttelte den Kopf.

»Wäre ja möglich gewesen – Mittsommer, du weißt ja, die Zeit, wo die Elfen tanzen und die Gläubiger aus ihren Löchern kriechen!«

Elinor sagte:

»Es ist richtig widerlich. Es ist ein anonymer Brief.«

Roddys Brauen schossen in die Höhe. Sein vornehm kritisches Gesicht erstarrte zur Maske. Degoutiert stieß er hervor:

»Nein!«

Elinor sagte noch einmal:

Sie ging einen Schritt auf ihren Schreibtisch zu.

»Ich sollte ihn vielleicht am besten zerreißen.«

Sie hätte es tun können – tat es auch fast, denn Roddy und anonyme Briefe waren zwei Dinge, die sich äußerst schlecht vertrugen. Sie hätte den Schrieb wegwerfen und schlicht vergessen können. Roddy hätte sie nicht daran gehindert. Seine Vornehmheit war weit stärker ausgeprägt als seine Neugier.

Doch aus einem Impuls heraus entschied sich Elinor anders. Sie sagte:

»Vielleicht wäre es aber besser, wenn du ihn zuerst liest. Und dann verbrennen wir ihn. Er betrifft Tante Laura.«

Roddy hob erneut verblüfft die Augenbrauen.

»Tante Laura?«

Er nahm den Brief, las ihn, verzog angewidert das Gesicht und gab ihn ihr zurück.

»Ja«, sagte er. »Gehört eindeutig verbrannt! Was es für Leute gibt!«

Elinor sagte:

»Was glaubst du – jemand vom Hauspersonal?«

»Vermutlich.« Er zögerte. »Ich frage mich, wer – wer die Person ist, von der da die Rede ist.«

Nachdenklich entgegnete Elinor:

»Es müsste eigentlich Mary Gerrard sein.«

Stirnrunzelnd kramte Roddy in seinem Gedächtnis.

»Mary Gerrard? Wer ist das?«

»Die Tochter von den Pförtnerleuten. Du musst dich doch von früher her an sie erinnern! Tante Laura hatte schon immer eine Schwäche für die Kleine und hat sie unter ihre Fittiche genommen. Sie hat ihr die Schule bezahlt und noch allerlei Extras – Klavierstunden und Französisch, und was weiß ich noch alles.«

Elinor nickte.

»Ja, du hast sie wahrscheinlich seit diesen Sommerferien, wo Mama und Papa im Ausland waren, nicht mehr gesehen. Du bist natürlich nicht so oft wie ich in Hunterbury gewesen, und zuletzt war sie Au-pair in Deutschland, aber als wir noch Kinder waren, haben wir sie immer gerufen, damit sie mit uns spielte.«

»Wie ist sie denn jetzt so?«, fragte Roddy.

Elinor antwortete:

»Sie sieht mittlerweile sehr nett aus. Gute Umgangsformen und so weiter. Dank ihrer Erziehung würde man sie nie für die Tochter des alten Gerrard halten.«

»Ganz die feine Dame geworden?«

»Ja. Mit dem Resultat, dass sie, wie mir scheint, im Pförtnerhaus ein wenig aneckt. Mrs Gerrard ist vor ein paar Jahren gestorben, und Mary und ihr Vater kommen nicht gut miteinander aus. Er macht sich ständig über ihre Schulbildung und ihre ›feinen Manieren‹ lustig.«

Roddy sagte gereizt:

»Die Leute machen sich einfach keine Vorstellung, welchen Schaden sie anrichten, indem sie jemanden ›zivilisieren‹! Oft genug handelt man damit nicht wohltätig, sondern schlicht grausam!«

Elinor sagte:

»Ich könnte mir vorstellen, dass sie wirklich viel Zeit im Herrenhaus verbringt … Ich weiß auf jeden Fall, dass sie Tante Laura vorliest, seit sie ihren Schlaganfall hatte.«

Roddy fragte:

»Warum kann ihr nicht die Krankenschwester vorlesen?«

Lächelnd sagte Elinor:

Roddy ging ein, zwei Minuten lang rasch und nervös im Zimmer auf und ab. Dann sagte er:

»Weißt du, Elinor, ich glaube, wir sollten hinfahren.«

Elinor zuckte leicht zusammen.

»Wegen dieses …?«

»Nein, nein – absolut nicht. Ach, verdammt, man sollte immer ehrlich sein: Ja! So widerwärtig diese Mitteilung auch sei, könnte sie doch ein Körnchen Wahrheit enthalten. Ich meine, dem alten Mädchen geht es wirklich ziemlich schlecht …«

»Ja, Roddy.«

Er sah sie mit seinem bezaubernden Lächeln an – einem Lächeln, das die Fehlbarkeit der menschlichen Natur anerkannte. Er sagte:

»Und das Geld spielt eine Rolle, Elinor – für dich und für mich.«

Das räumte sie schnell ein.

»Oh, durchaus.«

Er sagte ernst:

»Nicht, dass ich habgierig wäre. Aber schließlich hat Tante Laura selbst immer wieder gesagt, du und ich seien ihre einzigen Angehörigen. Du bist ihre leibliche Nichte, die Tochter ihres Bruders, und ich bin der Neffe ihres Mannes. Sie hat uns von jeher zu verstehen gegeben, dass nach ihrem Tod alles, was sie hat, einem von uns – oder wahrscheinlicher beiden – zufallen würde. Und – und es ist eine ganz schöne Summe, Elinor.«

»Ja«, sagte Elinor nachdenklich. »Höchstwahrscheinlich.«

Elinor seufzte.

»Der arme Papa hatte nie viel Geschäftssinn. In den letzten Wochen vor seinem Tod machte er sich große Sorgen.«

»Ja, deine Tante Laura war diesbezüglich viel gescheiter. Sie heiratete Onkel Henry, und sie kauften Hunterbury, und neulich sagte sie zu mir, sie habe bei ihren Geldanlagen immer ein glückliches Händchen gehabt. Sie habe praktisch nie etwas verloren.«

»Onkel Henry hinterließ ihr doch, als er starb, sein gesamtes Vermögen, nicht?«

Roddy nickte.

»Ja, tragisch, dass er so früh sterben musste. Und sie hat nie wieder geheiratet. Eine treue Seele. Und sie ist immer sehr gut zu uns gewesen. Mich hat sie so behandelt, als wäre ich ihr leiblicher Neffe. Und wenn ich gelegentlich in der Klemme saß, hat sie mir immer unter die Arme gegriffen; zum Glück ist mir das nicht allzu häufig passiert!«

»Auch mir gegenüber ist sie immer unglaublich großzügig gewesen«, sagte Elinor dankbar.

Roddy nickte.

»Tante Laura ist ein Schatz. Aber weißt du, Elinor, du und ich führen, vielleicht ohne es zu wollen, doch einen recht aufwendigen Lebenswandel, gemessen an unseren tatsächlichen Mitteln!«

Schuldbewusst sagte sie:

Roddy sagte:

»Liebling, du bist aber auch wirklich eine Lilie auf dem Felde! Du arbeitest nicht, und ebenso wenig spinnst du – oder täusche ich mich?«

Elinor fragte:

»Meinst du, ich sollte, Roddy?«

Er schüttelte den Kopf.

»Mir gefällst du gerade so, wie du bist: zart, distanziert und ironisch. Ich fände es entsetzlich, wenn du plötzlich gesetzt würdest. Ich wollte damit nur sagen, dass du, wenn Tante Laura nicht wäre, in irgendeinem staubigen Büro säßest.«

Er fuhr fort:

»Das Gleiche gilt für mich. Einen Job, wenn man so will, habe ich wohl. Meine Tätigkeit bei Lewis & Hume ist nicht allzu anstrengend. Sie kommt mir entgegen. Einen Job zu haben ermöglicht es mir, meine Selbstachtung zu wahren; aber – und das ist ein großes Aber – wenn ich mir keine Sorgen um die Zukunft mache, dann nur wegen meiner außerberuflichen Aussichten – in Gestalt Tante Lauras.«

Elinor sagte:

»Wir klingen wie zwei richtige Schmarotzer!«

»Unsinn! Man hat uns unmissverständlich bedeutet, dass wir eines Tages zu Geld kommen werden – das ist alles. Natürlich beeinflusst dieser Umstand unseren Lebenswandel!«

Elinor sagte nachdenklich:

»Wie genau sie ihr Geld aufzuteilen gedenkt, hat Tante Laura uns ja eigentlich nie gesagt …«

Roddy entgegnete:

Er grinste sie wohlwollend an. Dann sagte er:

»Da trifft es sich gut, dass wir uns lieben. Du liebst mich doch, Elinor, oder?«

»Doch, ja.«

Sie sagte es kühl, fast steif.

»›Doch, ja‹!«, äffte Roddy sie nach. »Du bist einfach umwerfend, Elinor. Diese Art, die du hast – distanziert – unantastbar – la Princesse Lointaine! Ich glaube, es war genau wegen dieser Eigenschaft, dass ich mich in dich verliebt habe.«

Elinor hielt kurz die Luft an. Dann sagte sie:

»Tatsächlich?«

»Ja.« Er runzelte die Stirn. »Manche Frauen sind so – ach, ich weiß auch nicht –, so verflixt besitzergreifend, so – so hündisch und anhänglich, so inkontinent in ihrem ganzen Gefühlsleben! Das fände ich entsetzlich. Bei dir weiß ich nie, woran ich bin – bin mir nie wirklich sicher –, jeden Augenblick könntest du dich auf deine unnachahmlich kühle, unbeteiligte Art umdrehen und sagen, dass du es dir anders überlegt hast – ohne mit der Wimper zu zucken! Du bist ein faszinierendes Geschöpf, Elinor. Du bist wie ein Kunstwerk – so – so – vollendet!«

Er fuhr fort:

»Weißt du, ich glaube, wir werden die vollkommene Ehe führen … Wir lieben uns beide genug, aber nicht allzu sehr.

Elinor schüttelte den Kopf.

»Ich werde dich nicht sattbekommen, Roddy – niemals.«

»Meine Süße!«

Er küsste sie. Dann sagte er:

»Tante Laura kann sich wahrscheinlich ziemlich genau denken, wie es zwischen uns beiden steht, auch wenn wir nicht mehr bei ihr gewesen sind, seit wir die Sache endlich unter uns ausgemacht haben. Das ist doch eigentlich eine gute Ausrede für einen Besuch, meinst du nicht?«

»Doch. Ich dachte neulich …«

Roddy vollendete den Satz für sie:

»… dass wir sie eigentlich hätten öfter besuchen können. Der Gedanke kam mir auch. In der ersten Zeit nach ihrem Schlaganfall sind wir fast jedes zweite Wochenende hingefahren. Und jetzt dürfte es beinah zwei Monate her sein, dass wir zuletzt bei ihr waren.«

Elinor sagte:

»Wir wären sofort gefahren, wenn sie den Wunsch geäußert hätte, uns zu sehen – augenblicklich!«

»Ja, natürlich. Und wir wissen ja, dass sie Schwester O’Brien gern hat und überhaupt gut versorgt ist. Trotzdem, vielleicht sind wir wirklich ein wenig nachlässig gewesen. Ich spreche jetzt nicht vom finanziellen Standpunkt aus – nur rein menschlich betrachtet.«

Elinor nickte.

»Also hat diese anonyme Schmiererei doch noch etwas Gutes bewirkt! Wir werden hinfahren, um unsere Interessen wahrzunehmen und weil uns das alte Schätzchen am Herzen liegt!«

Er zündete ein Streichholz an, nahm Elinor den Brief aus der Hand und steckte ihn in Brand.

»Wer ihn wohl geschrieben hat?«, sagte er. »Nicht, dass es eine Rolle spielte … Jemand, der ›zu uns hält‹, wie wir als Kinder zu sagen pflegten. Vielleicht hat uns dieser Jemand sogar einen guten Dienst erwiesen. Jim Partingtons Mutter zog an die Riviera, legte sich einen gutaussehenden jungen italienischen Arzt zu, vergaffte sich entsetzlich in ihn und vermachte ihm jeden einzelnen Penny, den sie besaß. Jim und seine Schwestern haben versucht, das Testament anzufechten, aber es hat nicht geklappt.«

Elinor sagte:

»Tante Laura hält große Stücke auf den neuen Arzt, der Dr. Ransomes Praxis übernommen hat – aber so große nun wahrhaft nicht! Wie auch immer, in diesem grässlichen Brief war von einem Mädchen die Rede. Es muss Mary sein.«

Roddy entgegnete:

»Wir fahren hin, und dann sehen wir selbst …«

II

Schwester O’Brien rauschte aus Mrs Welmans Schlafzimmer ins Bad. Über die Schulter sagte sie:

»Ich setz nur eben den Kessel auf. Sie könnten bestimmt ein Tässchen Tee gebrauchen, bevor Sie weiterziehen, Schwester.«

»Also, meine Liebe, eine Tasse Tee kann ich jederzeit gebrauchen. Ich sage immer, es geht nichts über eine schöne Tasse Tee – starken Tee!«

Während sie den Wasserkessel füllte und den Gaskocher anzündete, sagte Schwester O’Brien:

»Ich hab alles in diesem Schrank parat – Teekanne und Tassen und Zucker –, und Edna bringt mir zweimal am Tag frische Milch rauf. Da spart man sich das ständige Geklingel. Und der Kocher ist große Klasse; bringt einen Kessel ruck, zuck zum Kochen!«

Schwester O’Brien war eine große rothaarige Frau um die dreißig mit strahlend weißen Zähnen, einem sommersprossigen Gesicht und einem einnehmenden Lächeln. Ihre gute Laune und ihre Lebensfreude gewannen ihr stets das Herz ihrer Patientinnen. Schwester Hopkins, die Gemeindeschwester, die jeden Morgen kam, um beim Bettenmachen und bei der Toilette der gewichtigen alten Dame zu helfen, war eine gemütlich aussehende Frau mittleren Alters, die Tüchtigkeit ausstrahlte und eine forsche Art besaß.

Jetzt sagte sie beifällig:

»In diesem Haus ist wirklich alles bestens geregelt.«

Die andere nickte.

»Ja, altmodisch zum Teil, keine Zentralheizung, aber jede Menge Kamine, und die Mädchen sind alle sehr hilfsbereit, und Mrs Bishop hat sie stets im Auge.«

Schwester Hopkins sagte:

»Diese Mädchen von heute – da fehlt mir einfach das Verständnis –, wissen nicht, was sie wollen, die meisten jedenfalls, und was richtige Arbeit ist, wissen sie alle nicht!«

»Mary Gerrard ist ein gutes Mädchen«, sagte Schwester O’Brien. »Ich weiß wirklich nicht, was Mrs Welman ohne sie

Schwester Hopkins entgegnete:

»Mary tut mir leid. Ihr alter Vater kränkt sie, wo er nur kann.«

»Nicht ein freundliches Wort bringt der raus, der alte Griesgram!«, sagte Schwester O’Brien. »Da, der Kessel singt. Sobald er kocht, brüh ich den Tee auf.«

Der Tee wurde aufgebrüht und eingeschenkt, heiß und stark. Die zwei Krankenschwestern setzten sich damit in Schwester O’Briens Kammer, gleich neben Mrs Welmans Schlafzimmer.

»Mr Welman und Miss Carlisle kommen zu Besuch«, sagte Schwester O’Brien. »Heute Morgen traf ein Telegramm ein.«

»Das war es also«, sagte Schwester Hopkins. »Ich hatte gleich den Eindruck, dass die alte Dame sich über irgendetwas freute. Ist schon eine Weile her, dass die beiden zuletzt hier waren, nicht?«

»Muss zwei Monate und drüber sein. So ein feiner junger Mann, dieser Mr Welman! Aber sehr von oben herab.«

»Ihr Bild hab ich neulich im Tatler gesehen – mit einer Freundin auf der Rennbahn in Newmarket.«

»Sie ist in der feinen Gesellschaft richtig bekannt, nicht? Und hat immer so wunderschöne Sachen an. Glauben Sie, dass sie auch in Natur gut aussehen würde?«

Schwester Hopkins antwortete:

»Schwer zu sagen, wie diese Mädchen unter ihrer ganzen Schminke wirklich aussehen! Meiner Meinung nach sieht sie nicht annähernd so gut aus wie Mary Gerrard!«

Schwester O’Brien schürzte die Lippen und neigte den Kopf zur Seite.

Schwester Hopkins erklärte oberlehrerinnenhaft:

»Kleider machen Leute.«

»Noch ein Tässchen Tee, Schwester?«

»Danke, Schwester. Da sage ich nicht Nein.«

Die dampfenden Tassen vor sich, rückten die Frauen ein bisschen näher zusammen.

Schwester O’Brien sagte:

»Letzte Nacht ist was Komisches passiert. Um zwei bin ich reingegangen, um die Gute bequemer zu betten, wie ich das immer mache, und da lag sie wach. Aber sie muss was geträumt haben, denn kaum, dass ich ins Zimmer kam, sagte sie: ›Die Fotografie. Ich brauche die Fotografie.‹ Also sagte ich: ›Aber sicher doch, Mrs Welman. Aber möchten Sie nicht lieber bis morgen früh warten?‹ Und sie sagte: ›Nein, ich will sie mir jetzt ansehen!‹ Also sagte ich: ›Na schön, und wo ist diese Fotografie? Meinen Sie die von Mr Roderick?‹ Und sie sagte: ›Roder-ick? Nein. Lewis.‹ Und sie versuchte, sich aufzurichten, und ich bin hin und hab ihr hochgeholfen, und sie holte aus dem Kästchen neben ihrem Bett ihre Schlüssel raus und sagte, ich solle von der Hochkommode die zweite Schublade aufschließen, und tatsächlich war da ein großes Foto in einem Silberrahmen. So ein gutaussehender Mann! Und in der Ecke stand ›Lewis‹ geschrieben. Altmodisch natürlich, muss vor vielen Jahren gemacht worden sein. Ich hab’s ihr gebracht, und sie hat’s genommen und ewig lang angestarrt. Und dazu murmelte sie immerzu: ›Lewis – Lewis.‹ Dann hat sie einen Seufzer getan und es mir zurückgegeben und gesagt, ich solle es wieder wegschließen. Und glauben Sie’s oder lassen Sie’s – wie ich mich wieder umgedreht hab, da schlief sie schon selig wie ein satter Säugling.«

»War das ihr Mann, was glauben Sie?«

Schwester O’Brien antwortete:

»War es nicht! Weil, heute Morgen hab ich Mrs Bishop ganz beiläufig gefragt, wie der verblichene Mr Welman mit Vornamen geheißen hatte, und er hieß Henry, hat sie mir gesagt!«

Die zwei Frauen tauschten vielsagende Blicke. Schwester Hopkins hatte eine lange Nase, und deren unteres Ende erzitterte wohlig. Nachdenklich sagte sie:

»Lewis – Lewis. Merkwürdig. Ich erinnere mich nicht, den Namen hier in der Gegend schon mal gehört zu haben.«

»Das wär aber ja vor vielen Jahren gewesen, meine Liebe«, gab die andere zu bedenken.

»Schon, und natürlich bin ich erst seit ein paar Jahren hier. Trotzdem merkwürdig …«

Schwester O’Brien sagte:

»Ein sehr attraktiver Mann. Hätte gut und gern Kavallerieoffizier sein können!«

Schwester Hopkins trank einen Schluck Tee. Dann sagte sie:

»Das ist äußerst interessant.«

Schwester O’Brien schwärmte:

»Vielleicht waren sie ja ein junges Liebespaar, und ein grausamer Vater riss sie auseinander …«

Schwester Hopkins sagte mit einem tiefen Seufzer:

»Vielleicht ist er im Krieg gefallen …«

Als Schwester Hopkins, wohlig angeregt durch Tee und romantische Mutmaßungen, endlich das Haus verließ, kam Mary Gerrard durch die Tür geflitzt und holte sie ein.

»Ach, Schwester, darf ich Sie ins Dorf begleiten?«

»Aber natürlich dürfen Sie, Mary, meine Liebe.«

Ganz außer Atem sagte Mary Gerrard:

»Ich muss mit Ihnen reden! Mir liegt etwas schwer auf der Seele.«

Die ältere Frau blickte sie wohlwollend an.

Einundzwanzig Jahre jung, war Mary Gerrard ein liebreizendes Geschöpf, das irgendwie den Zauber einer Wildrose ausstrahlte: ein langer zarter Hals, Haar von fahlem Gold, das in weichen Wellen den makellos geformten Kopf umschmiegte, und Augen von einem tiefen strahlenden Blau.

Schwester Hopkins sagte:

»Wo drückt der Schuh?«

»Mich drückt, dass die Zeit vergeht und ich nichts Richtiges anfange!«

Schwester Hopkins sagte trocken:

»Dafür ist noch Zeit genug.«

»Schon, aber es … es lässt mir keine Ruhe! Mrs Welman ist so unglaublich gütig zu mir gewesen, sie hat sich meine Erziehung so viel kosten lassen. Ich habe einfach das Gefühl, dass ich endlich anfangen sollte, für meinen eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Ich müsste irgendeinen Beruf erlernen.«

Schwester Hopkins nickte verständnisvoll.

»Es käme mir sonst wie eine furchtbare Vergeudung vor! Ich hab versucht, Mrs Welman zu erklären, wie ich mich fühle, aber – es ist schwierig, sie scheint mich gar nicht zu ver

Schwester Hopkins wandte ein:

»Vergessen Sie nicht, sie ist eine kranke Frau.«

Mary errötete schuldbewusst.

»Ach, ich weiß es ja. Ich dürfte sie nicht damit behelligen. Aber es liegt mir wirklich auf der Seele! Und Vater ist so – so gemein deswegen zu mir! Stichelt in einem fort, ich würde mich wie eine feine Dame aufführen! Aber ich will ja gar nicht herumsitzen und Däumchen drehen!«

»Das weiß ich doch.«

»Das Problem ist, dass praktisch jede Art von Berufsausbildung kostspielig ist. Ich kann mittlerweile ziemlich gut Deutsch, und ich könnte wohl damit etwas anfangen. Aber am liebsten würde ich, glaube ich, Krankenschwester werden. Es macht mir wirklich Freude, kranke Menschen zu pflegen.«

Schwester Hopkins sagte gänzlich unromantisch:

»Vergessen Sie nicht, dafür muss man stark wie ein Gaul sein!«

»Ich bin stark! Und Krankenpflege macht mir wirklich Freude. Mutters Schwester, die in Neuseeland, war Krankenschwester. Es liegt mir also irgendwie im Blut.«

»Wie wär’s mit Massage?«, schlug Schwester Hopkins vor. »Oder das Norland College? Sie mögen doch Kinder! Und mit Massage lässt sich gutes Geld verdienen.«

Zögernd sagte Mary:

»Die Ausbildung ist teuer, nicht? Ich hatte gehofft – aber natürlich ist das furchtbar unbescheiden von mir, sie hat schon so viel für mich getan …«

»Mrs Welman, meinen Sie? Unsinn. Ich bin der Ansicht, sie ist es Ihnen schuldig. Sie hat Ihnen eine Luxus-Erziehung

»Dazu bin ich nicht gescheit genug.«

Schwester Hopkins sagte:

»Es gibt so ’nen und so ’nen Verstand! Aber wenn Sie meinen Rat hören wollen, Mary – haben Sie noch ein wenig Geduld. Ich meine, wie schon gesagt, dass es Mrs Welmans Pflicht und Schuldigkeit wäre, Ihnen zu einem selbstständigen Leben zu verhelfen. Und ich habe keinen Zweifel, dass sie das auch vorhat. Aber die Sache ist die, dass sie Sie ins Herz geschlossen hat, und sie möchte Sie nicht verlieren.«

»Oh!« Mary holte tief Luft. »Sie glauben wirklich, das ist der Grund?«

»Da habe ich nicht den leisesten Zweifel. Überlegen Sie doch: die arme alte Dame, mehr oder weniger hilflos, einseitig gelähmt, und praktisch nichts und niemand da, der sie zerstreuen könnte. Es bedeutet ihr viel, ein frisches, junges hübsches Ding wie Sie im Haus zu haben. Sie haben eine sehr nette Art, mit ihr umzugehen.«

Mary sagte leise:

»Wenn Sie das wirklich meinen – das ist mir schon eine Erleichterung … Die liebe Mrs Welman, ich hab sie so sehr, so sehr lieb! Sie ist immer unglaublich gut zu mir gewesen. Ich würde absolut alles für sie tun!«

Schwester Hopkins entgegnete trocken:

»Dann können Sie nichts Besseres tun, als zu bleiben, wo Sie sind, und aufzuhören, sich verrückt zu machen! Lange wird es ohnehin nicht mehr dauern.«

Mary sagte:

»Sie meinen …?«

Ihre Augen blickten groß und erschrocken.

»Sie hat sich wunderbar erholt, aber es wird nicht lang so bleiben. Ein zweiter Schlaganfall wird kommen, dann ein dritter. Ich kenn das nur zu gut. Fassen Sie sich in Geduld, meine Liebe. Wenn Sie etwas Freude und Zerstreuung in die letzten Tage der alten Dame bringen, tun Sie schon ein wirklich gutes Werk. Alles andere wird sich zu seiner Zeit schon finden.«

»Sie sind sehr lieb.«

Schwester Hopkins sagte:

»Da kommt Ihr Vater aus dem Pförtnerhaus – und nicht auf einen gemütlichen Plausch, wenn ich nicht irre!«

Sie erreichten gerade das große schmiedeeiserne Tor. Ein älterer Mann humpelte mühsam, mit krummem Rücken, die zwei Stufen des Pförtnerhäuschens hinunter.

Schwester Hopkins rief vergnügt:

»Guten Morgen, Mr Gerrard.«

Ephraim Gerrard knurrte bloß.

»Herrliches Wetter«, sagte Schwester Hopkins.

Der alte Gerrard sagte böse:

»Für Sie vielleicht. Für mich ganz und gar nicht. Mein Hexenschuss gibt keine Ruhe.«

Schwester Hopkins entgegnete unbeirrt vergnügt:

»Der kam vermutlich von der Nässe letzte Woche. Bei diesem heißen, trockenen Wetter sind Sie bestimmt bald wieder auf dem Damm.«

Ihre professionell muntere Art schien dem Alten zu missfallen.

Er sagte unfreundlich:

»Krankenschwestern – Krankenschwestern, ihr seid doch alle gleich! Je dreckiger es anderen geht, umso lustiger seids ihr. Euch sind doch alle egal! Und jetzt redet die Mary davon,

Mary sagte scharf:

»Krankenhausschwester zu sein wäre mir gut genug!«

»Ja, und noch lieber würdest du gar nix tun, hab ich recht? Und immer nur dumm rumstaksen mit deinem feinen Getue und Geziere und deinen Manieren wie die Lady von Tutnix. Faulenzen, das ist dein Berufsziel, mein Mädchen!«

Mary protestierte, die Augen voller Tränen:

»Das ist nicht wahr, Vater! Du hast kein Recht, das zu sagen!«

Schwester Hopkins fuhr in burschikosem, betont humoristischem Ton dazwischen:

»Na, na, da ist wohl jemand heute mit zwei falschen Füßen aufgestanden, was? Das ist jetzt aber wirklich nicht Ihr Ernst, Gerrard. Mary ist ein gutes Mädchen und Ihnen eine gute Tochter.«

Gerrard bedachte seine Tochter mit einem Blick, der fast als übelwollend zu bezeichnen war.

»Das ist nicht meine Tochter – jetzt nicht mehr, mit ihrem Französisch und ihrer Geschichte und ihrer piekfeinen Sprache. Pah!«

Er drehte sich um und verschwand wieder im Häuschen.

Die Augen noch immer voller Tränen, sagte Mary:

»Sie sehen doch selbst, Schwester, nicht wahr, wie schwierig es ist? Er ist so uneinsichtig. Er hat mich nie richtig gern gehabt, nicht einmal, als ich ein kleines Kind war. Mama musste mich ständig in Schutz nehmen.«

Schwester Hopkins sagte gütig:

Und wie sie dastand und der eilends entschwindenden Gestalt nachsah, dachte Mary Gerrard mutlos, dass man im Grunde immer allein war und einem niemand wirklich helfen konnte. Trotz all ihrer Freundlichkeit war Schwester Hopkins vollauf damit zufrieden, eine kleine Auswahl von Plattitüden hervorzuholen und einem als der Weisheit letzter Schluss zu präsentieren.

Niedergeschlagen dachte Mary:

Was soll ich bloß tun?