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Damaris Kofmehl – Verschollen in der Südsee – SCM Hänssler

SCM | Stiftung Christlicher Medien

Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Dieses Buch basiert auf einer wahren Geschichte. Sie wird aus Filos, Jonathons und Damaris Kofmehls Perspektive erzählt und muss nicht unbedingt die Ansichten oder die Empfindungen von Dritten widerspiegeln. Einige Namen und Details wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes und aus anderen Gründen geändert.

ISBN 978-3-7751-7256-1 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5623-3 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

2. Auflage 2015

© der deutschen Ausgabe 2015
SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scmedien.de · E-Mail: info@scm-verlag.de

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM-Verlag GmbH & Co. KG.

Umschlaggestaltung: gestalterstube, Arne Claußen
Titelbild: shutterstock.com
Kartengrafik: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Satz: Breklumer Print-Service, Breklum

In Erinnerung an meinen Vater, Erwin Kofmehl,
den besten Vater der Welt.
Durch ihn habe ich die Faszination des Meeres entdeckt.
Ohne ihn wäre ich nicht, wer ich bin.

INHALT

Karte Tokelau/Südsee

 1 Die Rettung

 2 Der erste Kontakt

 3 Etueni

 4 Samu

 5 Filo

 6 Wer nicht hören will …

 7 Drei Teenager hauen ab

 8 Freiheit

 9 Neunundzwanzig Kokosnüsse

10 Gangs in Sydney

11 Durst

12 Johnny Knock

13 Hunger

14 Das Gebet

15 Versprechungen

16 Der Sturm

17 Das Schiff

18 Leben und Tod

19 Die Möwe und die Welle

20 Töten und sterben

21 Gefunden

22 Ein Wunder

23 Der verschollene Sohn

24 Der Gottesdienst

Zusatzinformationen

  2014

  Tokelauische Begriffe und Namen

  Orte

Informationen zur Autorin

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Karte Tokelau/Südsee

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DIE RETTUNG

24. November 2010, irgendwo in der Südsee

Das Meer war glatt, der Himmel wolkenlos, die Luft feucht und heiß. Der neuseeländische Thunfischkutter San Nikunau befand sich gut zwei Tagesreisen nordöstlich der Fidschi-Inseln und tuckerte gemütlich durch den Südpazifik. Der erste Maat Tai Fredricsen, Stellvertreter des Kapitäns, ein kräftiger Mann mit krausem, schwarzem Haar, hielt Kurs auf die 1 000 km entfernte Insel Amerikanisch-Samoa, wo sie die gefangenen Thunfische wie üblich entladen sollten. Sie hatten einen großen Fang gemacht. Das Wetter war gut. Tai war zufrieden.

»Tai«, hörte der erste Maat die Stimme von Kapitän Joe Soares übers Funkgerät. »Kursänderung. Wir fahren doch nicht nach Amerikanisch-Samoa.«

Tai war überrascht. »Und wohin fahren wir stattdessen?«

»Die Firma hat sich eben über Funk gemeldet. Sie haben spontan beschlossen, dass wir wegen einiger Reparaturarbeiten nach Neuseeland zurückfahren und den Fang dort entladen sollen.«

»Alles klar, Kapitän.«

Tai drehte das Steuer herum. Das achtzig Meter lange Schiff beschrieb einen weiten 180°-Bogen. Neuseeland lag 3 000 Kilometer südwestlich von ihnen, also entgegengesetzt zu der Richtung, in die sie seit Tagen gefahren waren, und war dreimal so weit entfernt wie ihr ursprüngliches Ziel. Das bedeutete, sie würden noch viele Tage auf hoher See unterwegs sein, bevor sie wieder Land zu Gesicht bekämen. Tai kümmerte das wenig. Er liebte seine Arbeit, auch wenn es Knochenarbeit war und er sich 45 Wochen im Jahr auf dem offenen Meer befand. Einmal hatte ihr Schiff Feuer gefangen und Kapitän Joe Soares, er selbst und die gesamte Mannschaft hatten über Bord springen müssen. Erst nach mehreren Tagen waren sie gerettet worden. Trotz dieser dramatischen Erfahrung hätte sich Tai keinen besseren Job vorstellen können. Das Meer war sein Zuhause. Hier gehörte er hin.

Nun stand der erste Maat pfeifend auf der Schiffsbrücke und blickte hinaus auf den weiten Ozean. Nirgends war auch nur ein Fleckchen Land zu sehen. Es gab nichts als Wasser bis zum Horizont. Die San Nikunau fuhr bereits mehrere Stunden auf ihrem neuen Kurs und die Sonne brannte vom Himmel herab, als Tai um halb fünf Uhr nachmittags plötzlich etwas entdeckte. Erst konnte er sich keinen Reim darauf machen: Mehrere Hundert Meter von ihrem Bug entfernt fiel ihm ein Glitzern auf – wie von Metall. Tai drehte leicht ab, um eine Kollision zu vermeiden. Während sie sich dem unbekannten Objekt näherten, entpuppte es sich als ein Dingi, ein kleines, vier Meter langes Aluminiumboot mit Außenbordmotor. Es schien herrenlos zu sein.

Wahrscheinlich nichts weiter als Treibgut, dachte Tai.

Wie sonst hätte sich ein Dingi in die Weiten des Ozeans verirren können? Ein solches Boot war nicht hochseetauglich. Damit konnte man Ausflüge auf einem See machen oder an der Küste entlangschippern. Aber niemand wagte sich in einer solchen Nussschale aufs offene Meer hinaus. Das Bötchen, dessen oberer Rand gerade mal vierzig Zentimeter aus dem Wasser ragte, würde bei der ersten großen Welle kippen.

Erstaunlich genug, dass es das nicht getan hat, dachte Tai bei sich.

Er behielt das Dingi weiter im Auge, als plötzlich etwas Unglaubliches geschah: Aus dem scheinbar verlassenen Boot hob sich ein spindeldürrer menschlicher Arm und begann zu winken.

Tai sperrte erschrocken den Mund auf. »Ich fass es nicht! Da ist ja doch jemand drin!«

Die Bewegungen des Armes waren langsam und zittrig. Es schien, als müsste die Person ihre letzte Kraft aufbringen, um wenigstens für ein paar Sekunden den Arm hochzustrecken. Tai ließ sofort die Maschinen stoppen und behielt das kleine Bötchen im Blick. Da! Ein menschlicher Kopf tauchte über dem Bootsrand auf. Dann ein zweiter! Dann ein dritter! Es war nicht nur ein Schiffbrüchiger, es waren drei! Und es waren keine Männer – sondern Teenager!

»Ach du meine Güte«, murmelte Tai, während er die drei Jungen in dem dümpelnden Boot in Augenschein nahm. Sie waren komplett nackt, ihre Körper ausgemergelt und mit Verbrennungswunden übersät, ihre Backenknochen traten stark hervor. Unter größter Anstrengung setzten sie sich auf.

»Braucht ihr Hilfe?«, rief ihnen Tai über Lautsprecher zu.

»Ja!«, riefen die drei zurück. »Und ob!«

Die Mannschaft ließ ein Rettungsboot ins Wasser, und Tai machte mit seiner Kamera ein Foto von den Jugendlichen in ihrem kleinen Boot, wie sie ihren Rettern erschöpft, aber voller Hoffnung entgegenblickten – ein herzergreifendes Bild, das schon bald um die ganze Welt gehen sollte.

Die Seeleute holten die Schiffbrüchigen an Bord. Die Teenager mussten auf beiden Seiten gestützt werden. Sie waren so wackelig auf den Beinen wie tattrige Greise. Und genauso sahen sie trotz ihres eindeutig jugendlichen Alters auch aus – wie wandelnde Skelette, die mit ledriger Haut überzogen waren, völlig ausgedörrt und von Kopf bis Fuß übersät mit Ausschlägen und Blasen, die von stärkster Sonnenverbrennung herrührten. Keine Frage, diese drei waren nicht erst seit gestern unterwegs, und so ausgemergelt, wie sie waren, hätten sie bestimmt nicht mehr lange überlebt. Tränen der Dankbarkeit rollten den Jugendlichen über die eingefallenen Wangen, als die Matrosen sie zu Tai brachten, der sie herzlich an Bord begrüßte.

»Danke!«, stammelten sie weinend. »Danke, danke, danke, danke … tausend Dank!«

»Nichts zu danken«, lächelte der erste Maat. »Die Männer werden euch mit allem Nötigen versorgen. Fühlt euch wie zu Hause.«

Die drei nickten voller Rührung. Vorsichtig, als wären sie aus zerbrechlichem Porzellan, führten die Matrosen sie ins Innere des Schiffes. Tai blickte ihnen staunend hinterher. Die Wahrscheinlichkeit, die Jungen in ihrem Dingi inmitten dieser gewaltigen Wasserwüste direkt vor dem Bug zu haben, war so gering wie die Chance, eine verlorene Münze in der Sahara wiederzufinden. Es war ein absolutes Wunder. Eine andere Erklärung gab es nicht dafür.

Unfassbar, dachte Tai. Hätte der Kapitän nicht befohlen, den Kurs zu ändern, wären wir gar nicht hier vorbeigekommen. Und hätte ich die San Nikunau auch nur vierhundert Meter weiter steuerbord oder backbord durchs Meer gelenkt, hätten wir die drei mit hundertprozentiger Sicherheit übersehen. Unfassbar.

Das Dingi wurde an Bord gebracht. Tai nahm es genauer in Augenschein. Der Außenbordmotor schien noch intakt zu sein. Die vordere der beiden Holzbänke sah hingegen aus, als hätte ein Hai ein großes Stück davon herausgebissen. Es gab keine Essensvorräte, kein Trinkwasser, keine Kleider, keinen Erste-Hilfe-Kasten, keine Schwimmwesten und auch keinerlei Anglerwerkzeug zum Fischen. Die einzigen Gegenstände in der Nussschale waren eine grüne Abdeckplane, ein Mayonnaiseglas und eine dreißig Zentimeter lange Machete.

»Was habt ihr drei bloß da draußen auf dem Meer gemacht?«, fragte sich Tai kopfschüttelnd. »Wer seid ihr? Woher kommt ihr? Und wie um alles in der Welt habt ihr ohne Trinkwasser und ohne die Möglichkeit zu fischen überlebt?«

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DER ERSTE KONTAKT

Als ich vielleicht neun Jahre alt war, hörte ich in der Sonntagsschule eine Geschichte, die ich nie wieder vergessen habe. Sie handelte von amerikanischen Fliegern, die 1942 nach einem Flugzeugabsturz in drei Schlauchbooten 21 Tage lang im Pazifik verschollen waren. Am meisten hatte mich damals fasziniert, dass James C. Whittaker und seine Kameraden erlebten, wie Gott sie mit Regenwasser versorgte. Sie beteten, und eine Wolke, die der Wind von ihnen wegtrieb, wechselte plötzlich die Richtung und entlud sich genau über ihnen. Was für ein Wunder! Seither haben mich Geschichten von Schiffbrüchigen nie mehr losgelassen.

Eines Tages, das schwor ich mir, werde ich einen Schiffbrüchigen finden, der dort draußen auf dem Meer ebenfalls Unglaubliches mit Gott erlebt hat, genau wie diese Männer aus dem Zweiten Weltkrieg. Und dann schreibe ich seine Geschichte auf.

Jahre vergingen. Von meiner fantastischen Schiffbruch-Geschichte gab es keine Spur am Horizont. Bis ich eines Sonntagnachmittags im November 2012 planlos im Internet surfte – und auf eine Geschichte stieß, die mir schlicht und einfach den Atem raubte! Es war die unglaubliche Geschichte von drei tot geglaubten Teenagern, die 2010 für 51 Tage im Pazifik verschollen gewesen waren, bevor ein Thunfischboot sie vor den Fidschi-Inseln gefunden hatte. Mein Puls schlug schneller, und ich wusste es. Ich wusste es einfach: Das war die Geschichte, nach der ich jahrelang vergeblich gesucht hatte! Das war sie!

Ich las jeden Artikel, den ich darüber finden konnte. Meine Augen klebten förmlich am Bildschirm. Ich sah mir Fernsehberichte von CNN und anderen internationalen Sendern an. Selbst die Nachrichtensprecher bezeichneten die erstaunliche Rettung der drei Teenager als Wunder. Einige zeigten Live-Zuschaltungen zu dem Steuermann Tai Fredricsen, der die Jungen als Erster gesichtet hatte. Sie zeigten auch das Foto, das Tai geschossen hatte, bevor er die Jugendlichen an Bord der San Nikunau holen ließ. Und sie berichteten darüber, dass die drei Jungen von der Südseeinsel Tokelau kamen und in ihrem Aluminiumboot sage und schreibe mehr als 1 000 Kilometer zurückgelegt hatten.

Ach du meine Güte!, dachte ich. Das ist ja eine Distanz wie von der Nordseeküste bis hinunter nach Italien! Und wo liegt eigentlich dieses Tokelau?

Tokelau. Der Name erinnerte mich an Taka-Tuka-Land aus Pippi Langstrumpf. Ich hatte noch nie von der Insel gehört. Ich tippte »Tokelau« in die Suchmaschine ein, und eine runde Weltkarte erschien auf dem Computerbildschirm. Aber nicht die übliche Weltkarte, auf der links Nord- und Südamerika, in der Mitte Europa und Afrika und rechts Asien und Australien abgebildet sind, sondern das Gegenstück dazu, das, was auf der anderen Seite der Erdkugel liegt, nämlich der Pazifische Ozean. Mir war die Größe dieses Ozeans gar nicht bewusst gewesen. Aber zog man mit dem Zirkel einen Kreis um den Pazifik, füllte dieser praktisch den halben Globus aus. Und mitten in diesen unendlichen Wassermassen, leicht schräg unter dem Mittelpunkt des Kreises, auf halbem Weg zwischen Neuseeland und Hawaii, befand sich Tokelau.

Die Insel ist so klein, dass ich sie erst beim Heranzoomen erkennen konnte und selbst dann noch eine Lupe brauchte. Und es ist auch keine einzelne Insel, sondern eine Inselgruppe, bestehend aus drei sogenannten Atollen, ringförmigen Korallenriffen mit einer Lagune in der Mitte. Die Atolle nennen sich Atafu, Nukunonu und Fakaofo. Atafu, von der die drei Schiffbrüchigen stammten, ist das kleinste und nördlichste Atoll. Es ist zerstückelt in gut 40 noch kleinere Inselchen, die eine gut 15 Quadratkilometer große türkisfarbene Lagune in sich einschließen. Die v-förmige Hauptinsel, auf der laut Wikipedia gerade einmal 500 Einwohner leben, besteht aus einem schmalen Streifen Land und ist noch nicht einmal zwei Kilometer lang. Viel Raum zum Leben haben die Inselbewohner also nicht gerade. Das Atoll lässt mich fast ein wenig an Lummerland denken, die Miniinsel aus Michael Endes »Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer« mit ihren zwei Bergen und viereinhalb Einwohnern. Mit dem feinen Unterschied, dass Atafu nicht mal einen Berg hat. Die höchste Erhebung beträgt gerade mal fünf Meter.

Tokelau gilt als eines der entlegensten Länder der Welt, so las ich. Das winzige Inselreich wird seit 1925 von Neuseeland verwaltet. Vorher hatte es zu England gehört. Im Jahre 2007 stimmten die Inselbewohner über ihre Unabhängigkeit ab, doch den Befürwortern fehlten einige wenige Stimmen. Sonst wäre Tokelau das nach dem Vatikan kleinste unabhängige Land der Welt geworden – an der Einwohnerzahl gemessen. Ich fand das alles wahnsinnig faszinierend. Drei verschollene Teenager, die im wahrsten Sinne des Wortes vom Ende der Welt kommen. Je mehr ich über sie und ihre klitzekleine Insel las, desto stärker wurde der Wunsch in mir, diese Teenager aufzuspüren. Ich musste einfach mit ihnen sprechen und ihre fantastische Geschichte zu Papier bringen!

Bloß: Wie tritt man mit jemandem in Kontakt, der auf einem winzigen Korallenriff inmitten des Ozeans hockt? Ob es dort überhaupt eine Verbindung zur Außenwelt gibt? Telefon? Internet? Ich stöberte ein bisschen herum: Ja, gab es. 1994 hatte Tokelau als letzter Staat der Erde eine Telefonleitung erhalten. 2003 folgte das Internet. Die Insel war sogar so fortschrittlich, dass sie sich seit 2012 als erstes Land der Welt zu 100 Prozent mit Solarenergie versorgte. Ich schrieb kurzerhand jede Zeitung an, die einen Artikel über die Teenager veröffentlicht hatte, in der Hoffnung, über die Zeitung an die Journalisten und über die Journalisten an die Jungen heranzukommen. Erfolglos. Ich bekam nicht eine einzige Rückmeldung. Was nun? Wie sollte ich die drei finden? Alles, was ich hatte, waren ihre Namen: Filo1 Filo, Samu Pelesa und Etueni Nasau.

Seltsame Namen, dachte ich, während ich vor dem Computer saß und weiter darüber nachgrübelte, wie ich sie wohl kontaktieren könnte. Und da kam mir plötzlich eine Idee:

Facebook!

Gab es nicht immer wieder Geschichten von Leuten, die sich längst aus den Augen verloren und über Facebook wiedergefunden hatten? Warum sollte ich die drei Jungen von Tokelau nicht auch auf diese Art finden? Natürlich war das nur möglich, wenn sie auch tatsächlich Facebook hatten und in ihrem Profil ihre richtigen Namen verwendeten. Aber einen Versuch war es auf jeden Fall wert. Nach einigem Durchklicken fand ich einen Jungen namens Etueni, der ungefähr so aussah, als könnte er einer der Teenager sein, die ich suchte. Am 25. November 2012 morgens um 8:16 Uhr schrieb ich ihm folgende Nachricht:

Hey, Etueni. Bist du der Etueni, der 2010 mit zwei anderen Jungs für 50 Tage im Pazifik verschollen war?

Den ganzen Tag wartete ich wie auf Nadeln, ob der Junge mir antworten würde, und am Abend fand ich folgende Nachricht in meinem Facebook-Posteingang:

Ja. Warum fragst du? Das waren ich und zwei Freunde, und wir waren übrigens nicht 50, sondern 51 Tage verschollen. Ich lebe heute auf Atafu, Tokelau.

Mir wurde ganz heiß, als ich seine Antwort las. Wow! Er war es tatsächlich! Ich hatte ihn gefunden! Er lebte auf der anderen Seite der Weltkugel, unmittelbar an der Datumsgrenze, und er hatte mir zurückgeschrieben! War das zu fassen? Voller Begeisterung schrieb ich ihm, dass ich gern jeden von ihnen interviewen würde, um ihre Erlebnisse in einem Buch festzuhalten, falls sie damit einverstanden wären.

Lebt ihr alle drei noch auf Tokelau?, fragte ich ihn. Hast du noch Kontakt zu den anderen? Wie hat dich dieses Erlebnis verändert? Siehst du das Leben jetzt mit anderen Augen? Glaubst du an Gott?

Ich holte mir eine Tasse Kaffee, und als ich zurückkam, staunte ich nicht schlecht, als bereits eine neue Nachricht von Etueni angekommen war.

Ja, wir hatten harte, aber auch gute Zeiten auf dem Boot, schrieb er. Filo und Samu leben heute in Sydney, Australien. Mit Filo chatte ich ab und zu. Samu kommt wahrscheinlich in den Sommerferien nach Atafu. Sein Cousin sagt, er vermisst das Leben hier. Wenn die anderen beiden einverstanden sind, wäre ich stolz darauf, dir bei diesem Buch zu helfen. Wir sind alle Christen. Wir glauben an Gott.

Jetzt schlug mein Herz noch höher. Nicht nur dass ich den Kontakt zu den Verschollenen hergestellt hatte, sie waren auch noch Christen! Ich war furchtbar neugierig darauf, ihre Erlebnisse zu hören und vor allem zu erfahren, was sie dort auf dem Meer mit Gott erlebt hatten. Denn ich war mir hundertprozentig sicher, dass Gott ihnen auf dem Ozean begegnet war. Es konnte gar nicht anders sein. In meinem Kopf begann ich bereits Pläne zu schmieden. Filo und Samu lebten also in Sydney und Etueni auf Tokelau. Vielleicht könnte ich Filo und Samu in Sydney treffen und danach Etueni auf seinem Atoll.

Ich würde dich gern auf Tokelau besuchen, wenn das möglich ist, schrieb ich Etueni.

Okay. Wann kommst du?, fragte er mich prompt zurück.

Wow, du bist ja schnell, tippte ich in die Tastatur. Ich muss das erst mal durchplanen. Ich hab gelesen, dass es keinen Flughafen in Tokelau gibt. Ist es kompliziert, dahin zu kommen?

Nicht wirklich, antwortete der Teenager. Du nimmst einfach einen Flug nach Samoa. Und dort nimmst du das Schiff nach Tokelau. Es fährt alle zwei Wochen. Aber ich muss dich warnen, die Überfahrt dauert zwei bis drei Tage und ist für Leute, die das nicht kennen, nicht sehr komfortabel.

Kein Problem, schrieb ich. Ich liebe Abenteuer. Gibt es irgendeine Möglichkeit herauszufinden, wann genau das Schiff fährt? An welchem Tag und zu welcher Uhrzeit?

Geh einfach ins »Tokelau Büro« und frag nach dem Zeitplan, erwiderte Etueni.

Ah, okay. Und welchen Flughafen in Samoa muss ich nehmen? Pago Pago?

Nein, das ist Amerikanisch-Samoa. Du musst nach Westsamoa. Der Flughafen heißt Apia. Von dort fährt auch das Schiff.

Alles klar, schrieb ich, dachte kurz nach und schrieb weiter: Wenn das Schiff nur alle zwei Wochen fährt, dann muss ich wohl zwei Wochen auf eurer Insel bleiben, schätze ich. Gibt es dort irgendwelche Hotels?

Nein, keine Hotels, antwortete Etueni. Du kannst ein Familienhaus mieten.

Gut, vielen Dank, schrieb ich zurück. Ich werde dich kontaktieren, sobald ich die Reise geplant habe.

Okay, schrieb der Junge. Das Schiff ist eben gerade von Samoa angekommen mit vielen Passagieren aus Australien und Neuseeland.

Mit dieser Nachricht war meine Unterhaltung mit dem Jungen am anderen Ende der Welt zu Ende. Und ich blieb zurück mit jeder Menge Fragen im Kopf, aber einer wilden Vorfreude auf ein sagenhaftes Abenteuer. So weit war ich für eine Buchrecherche noch nie gereist!

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ETUENI

August 2010, auf Atafu, Tokelau

Wir müssen lernen, entweder als Brüder miteinander zu leben oder als Narren unterzugehen.

Etueni unterstrich das Zitat von Martin Luther King in seinem Schulbuch mit dem Lineal. Eigentlich schrieben die sieben Schüler im Klassenraum gerade einen langen Text über die Entstehung von Atollen von der Wandtafel ab. Doch der Vierzehnjährige war längst damit fertig und langweilte sich.

Wir müssen lernen, entweder als Brüder miteinander zu leben oder als Narren unterzugehen, las der Vierzehnjährige erneut und versuchte zu verstehen, was damit gemeint war. Martin Luther King hatte ihn schon immer fasziniert, auch wenn sie im Geschichtsunterricht noch nie über ihn gesprochen hatten. In der Matauala-Schule auf Atafu wurden andere Prioritäten gesetzt. Die Schüler lernten Mathe, Englisch und die Geschichte Tokelaus. Sie lernten, dass im 19. Jahrhundert sowohl katholische als auch reformierte Missionare das Christentum auf die drei Atolle gebracht hatten. Deswegen war Nukunonu heute katholisch, Atafu reformiert und Fakaofo teils katholisch, teils reformiert. Sie lernten, wann die letzten großen Wirbelstürme über die Inseln gefegt waren und alles verwüstet hatten.

Doch von dem, was in der Zwischenzeit in der restlichen Welt geschehen war, hatten die Schüler auf Tokelau herzlich wenig Ahnung. Etueni war so ziemlich der Einzige, der sich für so etwas überhaupt interessierte (und wahrscheinlich auch der Einzige, der jemals den Abschnitt über Martin Luther King im Schulbuch gelesen hatte). Das lag wohl daran, dass er im Gegensatz zu den meisten anderen nicht immer auf Atafu gelebt hatte. Er war in Neuseeland geboren, verbrachte seine frühe Kindheit auf Atafu, ging später auf Amerikanisch-Samoa zur Schule und kam erst 2008 als Zwölfjähriger wieder zurück auf die Insel. Etueni war mittelgroß und sehr schlank. Er war ein vorbildlicher Schüler und wollte später einmal Chirurg werden.

Eine eklig feuchte Papierkugel traf ihn im Nacken und riss ihn aus seiner Gedankenwelt. Reflexartig klatschte sich Etueni an den Hals und hörte hinter sich ein Kichern. Er drehte sich um. Seine Mitschüler Samu und Filo, die nebeneinander in der hinteren Bankreihe saßen, grinsten spitzbübisch.

»Lasst das!«, ermahnte sie Etueni.

»Was denn?«, fragte Filo mit Unschuldsmiene.

»Ja, was denn?«, sagte Samu und versteckte das Plastikröhrchen, mit dem er das matschige Papierkügelchen auf Etueni geschossen hatte, unter der Schulbank.

»Ruhe!«, mischte sich jetzt der Lehrer von der Tafel aus ein. Er trug Gummischlappen, Nike-Shorts, ein buntes Hawaiihemd und einen selbst gebastelten Hut aus Blättern, die mit grünen Halmen umwickelt waren.

»Filo, könntest du uns erklären, warum der Boden auf Tokelau nicht aus Erde, sondern zu 100 Prozent aus Korallen besteht?«

»Äh …« Filo kratzte sich an der Wange. Der Fünfzehnjährige war sehr groß für sein Alter und hatte einen athletischen Körper vom vielen Rugby-Spielen. Wie alle Tokelauer hatte er braune Haut und schwarzes, leicht gekraustes Haar. Sein Haar war kurz geschnitten mit Ausnahme eines einzelnen geflochtenen Zöpfchens, das ihm bis zur Schulter reichte. Wie alle anderen Schüler in dem Klassenraum trug er ein hellblaues Schuluniformhemd, einen knielangen Wickelrock aus dunkelblauem Baumwollstoff (einen sogenannten Lavalava) sowie Flipflops. Filos Beteiligung am Unterricht beschränkte sich hauptsächlich darauf, dass er zusammen mit seinem gleichaltrigen Cousin und besten Kumpel Samu Streiche ausheckte oder sich mit dem Kugelschreiber maorische Kunstwerke auf den Arm malte.

»Nun?«, fragte der Lehrer und zog die Augenbrauen hoch. Er gab Filo eine letzte Chance, bevor er Etueni das Wort übergab, der kerzengerade auf seinem Platz saß und die Hand streckte.

»Unser Boden besteht aus Korallen, weil Atafu ein Atoll ist«, erklärte Etueni.

»Richtig. Und was genau ist ein Atoll?«

»Ein Korallenriff«, sagte Etueni. »Es entsteht, wenn sich um einen Vulkan ein Riff aus Korallen bildet. Wenn der Vulkan im Laufe von Jahrtausenden darunter absinkt, bleibt ein Ring aus vielen kleinen Inselchen, sogenannten Motus, zurück. In seiner Mitte, dort wo einst die Vulkanspitze aus dem Meer ragte, entsteht ein Kratersee. Das wäre dann unsere Lagune.«

»Korrekt«, lobte ihn der Lehrer.

»Streber«, murmelte Filo, worauf der Lehrer auf ihn zuschritt und ihm kurzerhand mit der flachen Hand einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf versetzte.

»Irgendein Beitrag von allgemeinem Interesse, Filo?«

Filo rieb sich den Hinterkopf. »Ja«, sagte er. »Was nützt es eigentlich, zu wissen, woraus unser Boden besteht, wo wir sowieso eines Tages im Meer versinken werden?«

Ein Gemurmel ging durch die Klasse, und der Lehrer sah ihn etwas irritiert an.

»Ist doch so, oder?«, fuhr Filo fort und reckte mutig die Schultern. »Ich meine, ich versteh ja nicht viel von Klimaerwärmung und so. Aber der Meeresspiegel soll ja stetig ansteigen. Und wo unsere Atolle gerade mal ein paar Meter aus dem Wasser ragen, gibt das uns wohl höchstens noch ein paar Jahrzehnte. Vielleicht sollten wir uns Kiemen wachsen lassen.«

Er grinste, und Samu und er klatschten sich ab, eine Geste, die ihnen durchaus eine Ohrfeige hätte eintragen können. Doch der Lehrer mit seinem schicken Blätterhut war zu sehr damit beschäftigt, eine passende Antwort auf Filos Weltuntergangstheorie zu finden.

»Das ist blanker Unsinn«, sagte er. »Der Meeresspiegel steigt zwar pro Jahr um mehrere Millimeter an, aber deswegen besteht noch lange kein Grund zur Sorge. In der Bibel steht jedenfalls nichts von einer neuen Flut. Tokelau wird ganz bestimmt nicht untergehen.«

»Darauf würd ich nicht wetten«, meinte Filo. »Ich vertraue niemandem. Genau wie Tupac. Yeah!« Er bewegte seine Hände mit gespreizten Fingern und zusammengelegten Mittel- und Ringfingern von oben nach unten durch die Luft, wie Rapper es zu tun pflegen, und nickte lässig in die Runde. Alle sahen ihn mit großen Augen an, in stiller Ehrfurcht vor seinem Mut zur Provokation.

Filo war das pure Gegenteil eines Musterschülers. Er war ein Rebell, einer, der nichts als Flausen im Kopf hatte. Das war auch der Grund, warum der Fünfzehnjährige überhaupt auf Atafu war. Bis vor drei Jahren hatte er bei seiner Mutter in Sydney, Australien, gelebt, genauer gesagt in Mount Druitt, einem der ärmsten Vororte Sydneys. Doch als seine Noten immer schlechter wurden und er sich vermehrt auf der Straße herumtrieb, schickte seine Mutter ihn zu seinem von ihr getrennt lebenden Vater nach Tokelau. Er war sozusagen strafversetzt. Sie hoffte, das einfache Inselleben unter Kokospalmen würde ihm guttun und ihn wieder auf den rechten Pfad zurückbringen. Aber der Plan ging nicht auf. Filo brachte seine Aufmüpfigkeit einfach mit ins Paradies und steckte schon bald seinen Cousin Samu damit an.

Samu und Filo hätten unterschiedlicher nicht sein können. Filo wurde oft als Palagi, als Ausländer, und von seinen Schulkameraden als »Möchtegern-Gangster« bezeichnet. Samu – sein richtiger Name war Samuel, aber alle nannten ihn Samu – war das absolute Gegenteil davon: Er hatte Tokelau noch nie in seinem Leben verlassen und wusste nichts von der Welt außerhalb des ein paar Hundert Meter langen Korallenriffs, das sein Zuhause war. Bis zu Filos Ankunft war er eigentlich ein ganz anständiger Junge gewesen. Er lebte bei seinem Onkel Mele. Seine Familie war vor ein paar Jahren nach Sydney gezogen, doch Samu war auf Atafu geblieben, um sich um die Großmutter zu kümmern, die im selben Haus wie Onkel Mele wohnte. Es war tokelauische Tradition, dass jeweils ein Kind für die ältesten Familienmitglieder zuständig war. Und Samu übernahm diese Aufgabe gern.

Er war stämmig und hatte kräftige Arme und schwielige Hände vom vielen Fischen. Der Fünfzehnjährige war ein gemütlicher Bursche und redete nicht viel. Er benutzte oft seine Augenbrauen zum Sprechen. Hochgezogene Augenbrauen konnten eine ganze Menge bedeuten: Erstaunen, Zweifel, Zustimmung oder Misstrauen. Mit einem einzigen Zucken seiner Augenbrauen hatte er sich sein erstes Mädchen geangelt. Ihr Name war Koro, und die beiden waren seit einem Monat zusammen. Samu war ein leidenschaftlicher Fischer und ein ebenso leidenschaftlicher Rugby-Spieler. Er träumte davon, professioneller Rugby-Spieler zu werden. Das war auch Filos Traum, und deswegen verstanden sich die beiden Fünfzehnjährigen – obwohl Welten zwischen ihnen lagen – auf Anhieb prächtig.

Insgeheim bewunderte Etueni Filo und Samu. Sie waren cool, sportlich, begehrt bei den Mädchen und scherten sich nicht um irgendwelche Vorschriften. Nicht dass ihr schlechtes Benehmen keine Konsequenzen gehabt hätte. Sie waren deswegen auf der ganzen Insel unbeliebt und steckten dafür reichlich Prügel ein. Aber sie trauten sich wirklich was. Und manchmal wünschte sich Etueni, er hätte genauso viele Muskeln und genauso viel Courage wie sie. Vielleicht würden ihn dann nicht mehr alle als einen Streber bezeichnen.

Am Nachmittag nach der Schule fand ein Dorfausflug zu den Motus statt. Die Motus, die gut 40 flachen Inselchen um die Lagune herum, waren gerecht unter den Dorfbewohnern aufgeteilt. Immer freitags fuhren alle auf ihre Inseln zum Picknicken und Kokosnussernten. Da es eine gemeinschaftliche Aktivität war, funktionierte die soziale Kontrolle gut, und es war gewährleistet, dass keiner dem anderen die Kokosnüsse klaute. Deswegen war es auch verboten, an anderen Tagen außer eben freitags zu den Motus hinüberzufahren.

Etueni lenkte das Aluminiumdingi seines Vaters durch die türkisfarbene Lagune. Mit an Bord waren sein Vater mit Strohhut auf dem Kopf, seine pausbäckige Mutter, die an einer Kokosnussschale herumkaute, und seine beiden Schwestern Tase und Caitlin, die lachend die Füße über den Bootsrand baumeln ließen. Die Fahrt dauerte eine knappe halbe Stunde.

Sie erreichten die kleine Insel gleichzeitig mit zwei anderen Booten. Eine Horde Kinder sprang kreischend ins seichte Wasser. Etuenis Mutter machte ein Feuer am Strand. Zwei Frauen setzten sich in den Sand und begannen, aus Zweigen, die ihnen ihre Männer mit der Machete schnitten, Körbe zu flechten. Sie kicherten und erzählten sich gegenseitig den neusten Dorfklatsch. Tase und Caitlin gingen Kokosnusskrabben fangen, und Etueni half den Männern beim Kokosnusssammeln.

Im Palmenklettern hatte er Übung. Er flocht eine Schlaufe aus Palmfasern, setzte seine Füße hinein, klemmte den Stamm zwischen seine Fußsohlen und hangelte sich hüpfend wie ein Frosch in die Höhe. Die Machete hielt er mit dem Mund fest, da er die Arme zum Klettern brauchte. Flink wie ein Affe erklomm er die elf Meter hohe Palme und schlug mit der Machete vier schwere Kokosnüsse ab. Sie waren grün und groß wie Rugby-Bälle und wogen jede ein bis zwei Kilos. Die eigentliche Kokosnuss befand sich im Innern der Frucht und musste erst mit der Machete herausgesäbelt werden. Das Fruchtfleisch wurde gegessen oder an die Schweine verfüttert, die sich jede Familie im Garten hielt.

Bei der fünften Palme, die Etueni erkletterte, blieb er einen Moment in der Hocke unter der Blätterkrone sitzen, umklammerte den Stamm und schaute über die Lagune hinweg. Von hier oben hatte er einen herrlichen Ausblick. Das Dorf auf der anderen Seite der Lagune war kaum noch auszumachen. Zwischen den vielen mit Palmen bewachsenen Inselchen war ein dunkelblauer Streifen zu erkennen: der Ozean. Darüber wölbte sich ein stahlblauer Himmel mit einigen zerpflückten weißen Wolken. Unter sich am Strand sah Etueni, wie die Kinder Fangen spielten und Muscheln sammelten. Ein kleiner Junge hatte sich aus einem hohlen Pflanzenstängel eine Trompete gebastelt, marschierte am Ufer entlang und blies dabei wie ein Welteroberer in sein Horn. Eine Frau stand im flachen Wasser und stocherte mit einem Stock zwischen den Korallen herum. Sie hebelte einen Tintenfisch aus einem Loch, hob ihn hoch und biss ihm direkt zwischen die Augen, eine bei den Eingeborenen erfolgreiche Methode, Tintenfische zu töten. Dann warf sie sich das Tier an einem seiner Fangarme über die Schulter.

Tase und Caitlin kamen unterdessen mit einem Korb voller tellergroßer Kokosnusskrabben aus dem Busch zurück. Etuenis Mutter legte ein paar der Schalentiere zum Anrösten ins Feuer. Etuenis Vater saß im Schatten einer Palme und schnitzte an einer Holzdose für seine Angelhaken, wobei er seine nach oben gedrehte Fußsohle als Werkbank verwendete. Zwei junge Männer füllten ihr Aluminiumboot mit Kokosnüssen. Danach winkte Etuenis Mutter alle zu sich, um sie von den Krabben kosten zu lassen.

Etueni beobachtete das gemütliche Beisammensein der Männer, Frauen und Kinder von seinem Hochsitz aus und erinnerte sich an das Zitat, das er am Morgen im Schulbuch unterstrichen hatte.

Genau davon hat er gesprochen, dachte er, während er mit ein paar kräftigen Hieben eine Kokosnuss abschlug. Wir sollen einander helfen und füreinander da sein. Nur so funktioniert das Zusammenleben.

Zufrieden mit seiner tiefschürfenden Erkenntnis kletterte der Junge vom Baum hinunter und rannte über den Strand zum Feuer.

März 2013, in Deutschland

Mein Plan stand fest: Ich würde zuerst nach Sydney, Australien, fliegen, um Filo und Samu zu treffen, und dann würde ich weiter nach Tokelau reisen. Ich reservierte mir sechs Wochen im Sommer für meine Reise und schrieb Etueni, ob es in Ordnung wäre, ihn im August zu besuchen. Aber er schrieb mir nicht mehr zurück. Ich wartete Tage, Wochen … keine Antwort. Langsam wurde ich nervös. Wollte er mir nicht mehr schreiben? Oder hatte er einfach keine Zeit? Das Dumme dabei war: Meine Reise nach Tokelau stand und fiel mit diesem Jungen. Er war mein einziger Kontakt auf dem Korallenriff und der Einzige, der mir all die wichtigen Informationen geben konnte, die ich im Internet nirgends fand.

Ich fand zwar Informationen, aber keine, die über oberflächliche Daten und Fakten hinausgingen. Tokelau war nicht nur einer der abgeschiedensten und isoliertesten Orte der Welt, es hieß außerdem, die Inselgruppe wäre schwerer zu erreichen als die Antarktis. Es gab keine Hinweise für Touristen, weil es schlicht keine Touristen gibt, die nach Tokelau reisen. Nur ich war so verrückt, dies tun zu wollen.

Ich wusste von Etueni, dass das Schiff nach Tokelau alle zwei Wochen von Westsamoa vom Hafen von Apia auslief. Aber wann genau? Ich wollte es nicht riskieren, das Schiff zu verpassen, nur, weil ich einen Tag zu spät in Apia landete. Dann müsste ich nämlich zwei Wochen auf das nächste Schiff warten, und mein ganzer Zeitplan käme durcheinander. Möglicherweise verpasste ich dann meinen Rückflug nach Sydney und damit den Rückflug nach Deutschland. Nach langem Suchen stieß ich auf einen offiziellen Schiffsfahrplan, auf dem sämtliche Fahrten nach Tokelau über den Zeitraum von sechs Monaten vorgemerkt waren. Darunter stand klein und unscheinbar geschrieben: Die Abfahrtszeiten können sich jederzeit kurzfristig ändern.

Na toll, dachte ich.

Die Zeitverschiebung zu Samoa betrug elf Stunden, also wartete ich bis 22 Uhr, damit es in Apia 9 Uhr morgens war, und rief im »Tokelau Apia Liaison Office« an, dem Büro, das für den Schiffsfahrplan, die Ticketbuchung und alles andere rund um eine Reise zwischen Samoa und Tokelau zuständig war. Nach mindestens fünf Anrufen, bei denen keiner begriff, was ich eigentlich wollte, hatte ich endlich eine Frau namens Paula am Apparat, die etwas gesprächiger war. Ich nutzte die Chance und bombardierte sie mit tausend Fragen.

»Gibt es irgendeine Möglichkeit, mit Sicherheit zu sagen, wann das Schiff wirklich fährt?«, fragte ich sie. »Wird der Fahrplan häufig geändert?«

»Das ist schwer zu sagen«, antwortete sie. »Die MV Tokelau ist kein Passagier-, sondern ein Frachtschiff. Sie versorgt Fakaofo, Nukunonu und Atafu mit Lebensmitteln. Aber manchmal wird sie auch für Krankentransporte eingesetzt, wodurch sich der Zeitplan natürlich verschiebt. Oder sie kommt zum Einsatz, wenn jemand in Seenot gerät. Manchmal wird eine Fahrt auch gestrichen und später nachgeholt. Dafür kann es hundert verschiedene Gründe geben. Schlechtes Wetter, Reparaturarbeiten … Mit Sicherheit wissen wir immer erst am Abend zuvor, ob die MV Tokelau in See sticht oder nicht.«

Das war nicht gerade das, was ich hören wollte. Es sah ganz so aus, als bräuchte ich einen sehr flexiblen Reiseplan.

»Und wie lange dauert die Überfahrt?«

»Zwei bis drei Tage«, gab mir Paula Auskunft. »Bis nach Fakaofo sind es 26 Stunden, weitere drei Stunden bis nach Nukunonu und nochmal sechs Stunden zum nördlichsten Atoll Atafu.«

»Wie teuer ist das Ticket?«

»286 neuseeländische Dollar.«

»Und wo kaufe ich es?«

»Wenn Sie in Apia sind, schauen Sie einfach in unserem Büro vorbei. Sie müssen außerdem ein Visum beantragen.«

»Ein Visum?« Davon hörte ich zum ersten Mal. »Ich brauche ein Visum für Tokelau?«

»Richtig. Ich schicke Ihnen das Formular per E-Mail zu. Füllen Sie es aus und senden Sie es an mich zurück. Die Taupulega, der Ältestenrat von Tokelau, wird dann darüber entscheiden, ob Ihr Aufenthalt in Tokelau genehmigt wird oder nicht.«

»Okay«, sagte ich und gab ihr meine E-Mail-Adresse durch. Der Ältestenrat von Tokelau. Ich musste schmunzeln und stellte mir ein paar alte polynesische Männer mit Baströckchen und Muschelketten um den Hals vor, die unter einer Palme saßen und eifrig darüber diskutierten, warum eine Frau vom anderen der Ende der Welt ausgerechnet auf ihre Insel kommen wollte.

Paula schickte mir das Visumantragsformular, und ich öffnete das Dokument. Die Überschrift lautete: »Regierung von Tokelau, Einwanderungsgesetz von 1991, Antrag auf einen Besuch, dauerhaftes Wohnen oder Arbeit auf Tokelau.« Nach den üblichen Fragen zu meiner Person und dem Grund meines gewünschten Aufenthaltes musste ich bestätigen, dass ich die Bräuche von Tokelau respektieren würde und dass ich, falls ich mich illegal auf Tokelau befände, die Insel auf meine eigenen Kosten mit dem nächsten Schiff wieder verlassen würde.

Ich füllte alles gewissenhaft aus und sandte den Visumantrag zusammen mit meiner Passkopie zurück an Paula. Jetzt hieß es abwarten. Ich machte mir keine Gedanken, ob ich das Visum bekäme oder nicht. Wahrscheinlich war mein Antrag sowieso der einzige überhaupt, und gegen einen einzigen Touristen pro Jahr war wohl nichts einzuwenden. Meine Sorge galt viel mehr meiner Unterbringung auf der Insel. Hotels gab es ja laut Etueni nicht. Ich solle mir ein Familienhaus mieten, hatte er gesagt. Aber wie? Wieder schrieb ich den Jungen an. Aber die Funkstille hielt an.

Na gut, dachte ich. Dann probier ich’s eben anders.

Ich klickte mich durch Etuenis Familie und schickte kurzerhand einer seiner Schwestern eine Nachricht. Ihr Name war Tase. Ich erzählte ihr von meinen Plänen und fragte sie, ob sie mir weiterhelfen könne.

Du bist doch Etuenis Schwester, ja? Etueni antwortet mir nicht mehr. Ich plane, im August nach Atafu zu kommen. Ist er dann auch da? Außerdem suche ich eine Unterkunft auf der Insel. Hast du eine Idee, wo ich schlafen könnte?

Einen Tag später erhielt ich ihre Antwort.

Ja, ich bin Etuenis Schwester, und ja, er wird im August auf Atafu sein. Er ist nur gerade sehr beschäftigt. Aber ich rede mit ihm, damit er sich bei dir meldet. Ich freue mich, wenn ich dir helfen kann. Ich hab allerdings keine Ahnung, wo du übernachten könntest. Du solltest das aber unbedingt vorher organisieren.

Und wie organisier ich das?, fragte ich sie zurück. Ich hab keine Ahnung, wie das läuft bei euch. Und Hotels gibt es ja nicht. Vielleicht nehm ich einfach ein Zelt mit und übernachte am Strand.

Letzteres hatte ich mehr aus Spaß hinzugefügt, doch Tase antwortete mir:

Ich rede mit ein paar Leuten und frag sie, ob du ihr Haus mieten kannst. Ich wünschte, mein Haus wäre schon fertig. Dann könnte ich meine Eltern fragen und wir könnten dich wie einen Gast bei uns empfangen. Aber leider geht das eben nicht. Vielleicht nimmst du tatsächlich besser ein Zelt mit, nur für alle Fälle. Oh, und am besten bringst du auch noch ein Kanu mit, damit du in der Lagune herumpaddeln kannst.

Ein Kanu?! Ich lachte laut, als ich ihren Vorschlag las. Und das Witzige daran war, dass sie es durchaus ernst meinte mit dem Kanu und auch mit dem Zelt. Wobei der Gedanke, in einem Zelt am Strand zu übernachten, gar nicht mal so abwegig war. Immerhin war Atafu eine Südseeinsel und die Temperatur das ganze Jahr hindurch um die 30 Grad. Konnte es überhaupt einen schöneren Ort zum Zelten geben als unter Kokospalmen an einem unberührten weißen Korallenstrand mit Blick auf das weite Meer? Ich hatte Fotos von Tokelaus Stränden gesehen. Sie waren märchenhaft schön.

Vielleicht sollte ich wirklich ein Zelt einpacken. Warum eigentlich nicht? Zwei Wochen im Paradies (oder länger, falls das Schiff nicht mehr kam). Nur ich, der Strand und die Weite des Ozeans. Ich schloss die Augen und hörte bereits das Meeresrauschen und das Rascheln der Palmen über meinem Kopf. Ich spürte den warmen Wind im Gesicht und den Korallensand zwischen meinen Zehen. O ja! Ich wäre blöd, würde ich mein Lager nicht am Strand aufschlagen. Kein Zweifel: Das würde der romantischste Urlaub meines Lebens!