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Alles gegen uns

 

 

Alles wovon wir in der Kindheit träumten

und auch das

was niemand sich hätte träumen lassen

 

Und auch die Schönheit

die wir zumindest aus dem Augenwinkel erhaschten

aber auch die

an der wir blind vorübergingen

 

Selbst die Liebe

 

Selbst die Liebe wird gegen uns verwendet

der Sarg aus Glas

die Erdbeere die erste in diesem Jahr

die Herbstrose unseres Uneingedenkens

 

Und alles Gestrige das kein Übermorgen kennt

 

Jan Skácel

SIE TRITT AN DIE TÜR und wartet auf den Hund, dem sie einen deutschen Namen gab, Moritz, wie seinen vier Vorgängern auch. Es könnte ihr letztes Hündchen sein. Das hat sie vor ein paar Tagen zu Václav gesagt, ohne groß nachzudenken, und er hat sich wie immer mit einem raschen Trost davongemacht: Sie werde mindestens auf ein Dutzend Hunde kommen, und über neue Namen brauche sie sich ja keine Gedanken zu machen.

Sie versteht seine Eile, mag seine hastigen Aufbrüche, seine kurzatmigen Besuche, denn sie hält den Neffen auch nicht lange aus. Manchmal kommt er mit Ženka, seiner Frau; sie bringen ein Essen mit. Dann sitzen sie schweigend bei Tisch, bis Ženka regelmäßig anfängt zu klagen, über die Arbeit, über Václav, über die Zeit, die besser sein könnte, und sie einen Grund hat, aufzustehen und abzuräumen, die jungen Leute zu verabschieden.

Moritz! ruft sie. Im Grunde wartet sie gar nicht auf den Hund. Er kann sich noch eine Weile herumtreiben. Sie hat es gern, in der Tür zu stehen, über die Straße zu spähen, die Äcker, bis zum dunstigen Wald, Gesicht, Brust und Hände in der Kälte, Rücken und Hintern in der Wärme. Paní Božena Koska, die alte Schlampe, die eine Deutschenliebste gewesen ist, eine Kollaborateurin, die nichts dazugelernt hat, wie die angeblichen Kenner ihrer Geschichte behaupten. Nichts! sagt sie sich oder denen, an die sie eben denkt. Das geht euch auch nichts an.

Es kommt darauf an, wie sie sich in die offene Haustür stellt. Hat sie die Füße weit draußen, kühlt sie rascher aus. Schiebt sie die Fersen hingegen in die Stube, fördert sie einen leisen Genuß. Sie lehnt sich gegen die Wärme, die ihr vom Rücken in den Bauch rieselt. Nimmt die Lust dabei überhand, ruft sie sich zurecht. Noch immer spielt ihr die Phantasie mit, und abgestandene Gefühle setzen sich ihr unter die Haut und treiben das Blut um.

Moritz! Er wird ohnehin nicht auf ihr Geschrei hin kommen. Vor ein paar Jahren hat sie dem vorhergegangenen Moritz gepfiffen, und ein Zahn ist ihr dabei über die Lippen geschossen. Darauf spülte sie ihren Mund mit Kamillentee, und die restlichen Zähne hat sie bis heut behalten. Das war einer der wenigen Erfolge gegen all die Mißhelligkeiten und Gemeinheiten, die sie in den Jahren erfuhr. Dabei hatte sie sich, fand sie, schon an alles gewöhnt. Was allerdings nicht dazu führte, daß sich auch ihre Umgebung, die wenigen Menschen, mit denen sie noch umging, an sie gewöhnten. Im Gegenteil. Sie kam sich in ihrer Gesellschaft immer unmöglicher vor, ganz und gar fremd. Warum, konnte sie sich nicht erklären, obwohl sie, da war sie sich sicher, die Schuld daran trug. Schuld, die sie sich geholt hatte wie eine ansteckende Krankheit, schon vor langer Zeit. Sie konnte sich kaum mehr daran erinnern, wie sie vor dieser Schuld gelebt hatte. Aber vorstellen konnte sie es sich. Das gehörte zu ihren heimlichen Vergnügen.

Moritz! ruft sie. Der Hauch bleibt wie eine Sprechblase vor ihrem Mund stehen. Sie lehnt sich gegen den Türrahmen, da eine Wade unerwartet fest wird vor Schmerz. Vorsichtig verlagert sie ihr Gewicht auf das andere Bein und hofft, der Schmerz werde mit dieser leisen Bewegung wandern. Noch gelingt es ihr, beinahe jeden Schmerz zu unterdrücken. Sie vergißt sich ganz einfach. Sie verliert sich in Gedanken und verliert dabei auch ihren geplagten Leib.

Jetzt sieht sie den Hund wie einen hin und her springenden Floh auf der grauen Linie des Horizonts. Sie muß nicht mehr nach ihm rufen. Mit Blicken läuft sie ihm entgegen. Und sie kennt jede Einzelheit, jede Erhebung, jeden Graben, die unterschiedlich hoch gewachsenen Bäume in der ersten Reihe vor dem Wald. Sie kennt die verrutschten Karos aus Grün und Braun, die sich zu jeder Tageszeit anders ausdrücken, zu jeder Jahreszeit mit einer anderen Farbe auffüllen. Sogar nachts schlägt dieses Muster durch, ein dunkles Geweb in der Schwärze.

Plötzlich wächst der Hund, dieser Bastard aus Spitz und Foxl, neben ihr aus dem Boden. Sie hat ihn aus dem Blick verloren und ihn so bald nicht erwartet. Er möchte getätschelt werden. Es fällt ihr schwer, den Rücken zu beugen. Der Hund kennt diesen einen Seufzer und hält ihn vermutlich für einen kosenden Schnalzer. Gleich wird sie, sobald sie verschnauft hat, ihn mit dem Fuß ins Haus schieben, die Tür schließen und sich wieder einsperren. Sie schaut zu Moritz hinunter, er zu ihr auf. Kannst du mir sagen, wieso deine Augen glühen, Hund, du bist doch keine Katz. Worauf er den Kopf senkt und ihrem Fuß zuvorkommt. Das bringt sie nun tatsächlich durcheinander. Was ist in dich gefahren, du Deubel?

Sie macht kein Licht. Der Hund sucht sich in der Dunkelheit seinen Platz, sie den ihren. Ihrer beider Blicke sind an Dämmer und Finsternis gewöhnt, ihre Ohren an die wenigen Geräusche. Wenn das Tier sich bewegt, schmatzt, sich kratzt, im Traum seufzt, bleibt sie ebenso ruhig wie er, wenn sie mit den Füßen scharrt, laut atmet, weil die Beklemmungen zu mächtig werden oder wenn sie von ihrem eigenen Schnarchen mit einem knappen Röcheln aufwacht.

Die Kate, die ihr 1945 als Erbe zufiel und die sie erst vier Jahre unbewohnt am Straßenrand stehenließ oder stehenlassen mußte, weil sie an andern Orten festgehalten wurde, faßt zwei Räume, die Wohnküche und einen Schlafverschlag. Das Klo wurde später angebaut; jahrelang mußte sie ihre Notdurft in einem mehr und mehr verrottenden Bretterhaufen am Rande des Gartens verrichten.

1949 zog sie ein, nachdem bereits ein Bauer aus der Nachbarschaft Anspruch auf das Häuschen erhoben und ihr älterer Bruder, der sonst nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, es doch für sie gehütet hatte. Nicht einmal in ihren ärgsten Wachträumen hätte sie es sich ausmalen können, daß sie hier vierzig Jahre mehr oder weniger eingesperrt leben sollte. Sie haben sie nicht freigelassen, nicht einmal die Nachgeborenen, denen die Geschichte weitererzählt wurde, als hätte sie noch Sinn, als hätte sie noch Leben. Längst gelang es ihr, die sichtbaren und unsichtbaren Wärter zu täuschen. Vermutlich erwarteten sie, daß sie ausdörre, dahinsieche, verblöde. Es hätte auch geschehen können. Sie drückte ihren Rücken, den sie manchmal spürte wie sperriges Holz, manchmal wie fließenden Schmerz, gegen die hohe Lehne des Sessels. Vielleicht haben sie es tatsächlich geschafft, sie aus dem Leben zu stoßen, erst die unter Beneš und danach die Roten. Immerhin ist es ihr besser ergangen als vielen, die erst jubelnd dafür waren und denen danach aus unerfindlichen Gründen der Prozeß gemacht wurde. Auf Dubček hatte sie gesetzt, das ist wahr. Nur ist er schneller von der Bühne verschwunden, als sie sich hat aufrappeln können.

Moritz! ruft sie leise. Sie hört ihn. Er hat geschlafen, streckt sich. Komm, Hunderl. Er weiß, was er zu tun hat. Ohne Eile durchquert er die Küche, setzt sich neben den Sessel, daß ihre Hand ihn streicheln kann, den Kopf, den Nacken. Ihre Hände brauchen etwas Warmes, Lebendiges, sonst wären sie ihr schon längst abgefallen, redet sie sich ein.

Soll ich schlafen gehen? fragt sie den Hund und sich. Sie wäre nicht erstaunt, bekäme sie eine Antwort. Sie steht auf, geht zum Radio, das sich auf einem vom Bruder zurechtgeschnittenen, an der Wand befestigten Brett befindet, schaltet es ein. Wahrscheinlich melden sie uns ein neues Unheil, murmelt sie. Wer möchte das schon versäumen.

Der Hund begleitet sie zum Radio und zurück zum Sessel, ohne aufzuschauen. Diesen Weg kennt er. Nun legt er sich neben den Sessel, auf dem sie wieder Platz nimmt. Noch eine Stunde, sagt sie zu dem Hund. Wenn du willst, kannst du jetzt schon in deinen Korb gehen. Ich halte dich nicht auf. Ihre Hand sucht nach seinem Kopf. Ich nicht, murmelt sie. Er bleibt. Die Stimmen aus dem Radio erreichen sie nicht. Sie reden in einer Sprache, die sie nichts angeht. Seit ihr auffällt, daß sie morgens immer länger schläft, vor Anbruch des Tags in einen todnahen tiefen Schlaf fällt, hält sie sich nachts länger wach. Sie möchte dem Schlaf auf keinen Fall die Gelegenheit geben, ihr das Leben, und sei es noch so erbärmlich, vor dem Tod zu nehmen.

Wenn ihr das Kinn auf die Brust sinkt, der Schlaf sie zu übermannen droht, hebt Moritz den Kopf, drückt gegen ihre Hand, und sie wacht wieder auf. So halten sie sich wach, bis die Stunde, die sie sich auferlegt hat, um ist. Geh schlafen, Moritz. Ich geh es auch.

Sie braucht eine Ewigkeit, bis sie sich ausgezogen, die Kleider auf dem Stuhl neben dem Bett gefaltet hat. Dann lauscht sie eine Weile auf den Hund, vermeidet es, sich selber zu hören, ihr Ächzen, ihren pfeifenden Atem.

Dobrou noc, Moritz. Wir wollen sehen, wer morgen wen weckt.

Wenn sie auf dem Rücken liegt und den Schlaf erwartet, kommt es ihr vor, als sinke die schwer werdende Stirn in den Schädel hinein und zerpresse alle Gedanken.