Retreat 4 

Alamo


von Craig DiLouie  

mit Stephen Knight und Joe McKinney

  

Impressum


Deutsche Erstausgabe
Originaltitel: THE RETREAT: ALAMO
Copyright Gesamtausgabe © 2017 LUZIFER-Verlag
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

  

Cover: Michael Schubert
Übersetzung: Wolfgang Schroeder
Lektorat: Johannes Laumann

  

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2017) lektoriert.

  

ISBN E-Book: 978-3-95835-300-8

  

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kapitel 1


Kichernd, glucksend, gackernd, es gab so viele Arten zu lachen.

Gehässig, jubelnd, wiehernd, kreischend wie ein Baby, jede Art drückte etwas anderes aus.

Die Nuancen der Freude, die Klaviatur des Schmerzes.

Überall in Amerika setzte sich das Gemetzel mit einem misstönenden, künstlichen Lachen fort.

Das Ende war nah.

Kapitel 2


Das verlorene Bataillon wälzte sich durch Geisterstädte und wirbelte dabei eine gigantische Staubwolke auf.

Ausgebrannte Häuser. Gebäude, die von Graffiti verunstaltet wurden. Allgegenwärtiger Abfall.

Verworrene Dioramen voller Schmerz und Folter, geronnenem Blut und Tod. Körperteile, die in einer gewaltigen Spirale auf einem grasbedeckten Feld angeordnet worden waren. Ein Trio aufgespießter Polizisten, die in den Himmel starrten, während ihre Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und ihre Münder in einem letzten, verzweifelten Schrei erstarrt waren. Ein Kind, das an eine Tür genagelt worden war.

Alles Totems, die ein Territorium markierten. Dieses Land war ihr Land.

Das Bataillon erinnerte kaum noch an eine militärische Einheit. Die gigantische Karawane aus Fahrzeugen und Überlebenden, die zu Fuß unterwegs waren, bewegte sich nur noch im Schneckentempo vorwärts. Zahlenmäßig waren die Zivilisten den Soldaten längst überlegen. Das Bataillon war ein zusammengewürfelter Haufen, der sich in den letzten heißen Sommertagen auf Nebenstraßen vorankämpfte. Nur dank der Gnade Gottes waren sie immer noch am Leben.

Sie waren aus Philadelphia geflüchtet und hatten Maryland auf dem Highway 1 erreicht, bevor sie auf dem Weg nach Westen Wilmington und Baltimore im großen Bogen umrundeten. Ihr Ziel war weiterhin Florida, obwohl sie sich nach der langen Zeit fragten, ob das überhaupt noch existierte.

Nachts leuchtete der Horizont im Osten rot auf. Die tief hängenden Wolken glühten wie heiße Kohlen. Gedämpftes Donnern unterbrach die Stille. Panzer. Washington wurde immer noch von der 1st Marine Division gehalten. Um die Stadt zu retten, hatten sie diese zwar zerstören müssen, aber die Marines gaben nicht auf. Sie würden die Hauptstadt so lange halten, bis die Munition aufgebraucht war und danach ihre Bajonette aufstecken.

In drei Tagen sollte das Bataillon die High Point Special Facility auf dem Mount Weather erreichen. Im Emergency Operations Center würden sie ihre Vorräte auffrischen können und Schutz finden. Dort hielt sich momentan die Regierung der Vereinigten Staaten auf und operierte aus ihrem unterirdischen Bunker heraus. Das Bataillon könnte sich ausruhen und neu organisieren. Ihren Familien Schutz bieten. Sich den Überresten der U.S. Army anschließen. Sie waren schon so nah.

High Point. Das Alamo der U.S. Regierung.

Kapitel 3


Ein Wald aus Kreuzen.

Zuerst waren da nur die Strommasten. Masten aus Fichtenkiefer, die sich alle hundert Yards mehr als zehn Yards über den Boden erhoben. An jedem Mast hing an den Handgelenken oder den Füßen ein Mann, eine Frau oder ein Kind, viele ausgeweidet, andere geblendet.

Der Anblick der Toten war schon schrecklich genug, doch einige der Gepfählten lebten sogar noch, infiziert und keuchend vor Gelächter. Als das Bataillon weiterzog, wurde das Gelände neben der Fahrbahn nach und nach von aufwendigen Konstruktionen aus Brettern und Möbeln bedeckt, auf denen man gekreuzigte menschliche Überreste mit Stacheldraht festgezurrt hatte.

Dunkle Schwärme wütender Fliegen erfüllten die Luft.

Lt. Colonel Harry Lee starrte aus seinem Humvee heraus auf diesen neuen Horror und murmelte: »Colonel Bell meinte, die Klowns wären die nächste Stufe der Evolution.«

»Okay, aber der Kerl war doch vollkommen durchgeknallt, Sir«, antwortete Sergeant Mike Murphy, der am Steuer des Humvees saß.

»Selbst eine kaputte Uhr zeigt zweimal am Tag die richtige Zeit an.«

Eine ganze Stadt war an diesem einsamen Abschnitt der Straße, die nach Bluemont führte, gekreuzigt worden. Der ungeheure Aufwand, den man dafür betrieben haben musste, überstieg Lees Vorstellungsvermögen.

Er fühlte bei dem Anblick nicht einmal Abscheu. Ganz egal, was die Klowns ihm zeigten. Er fühlte überhaupt nichts. Und das war erschreckender als alles andere.

Selbstmorde forderten inzwischen mehr Leben als die Klowns. Selbstmorde und Fahnenflucht. Das Bataillon brauchte dringend eine Pause. Einen Moment, um wieder zur Vernunft zu kommen.

Murphy räusperte sich und meinte dann: »Denken Sie, dass er richtig lag? Damit, dass sie die nächste Stufe sind?«

»Evolution bedeutet doch das Überleben des Stärkeren, oder?«

Der Sergeant antwortete nicht. Lee stellte sich eine Welt vor, in der sie ausgelöscht sein würden. Eine Welt voller Kannibalen. Lachende Wahnsinnige, die in den Ruinen einer Zivilisation herumtobten, die sie selbst zerstört und längst vergessen hatten. Eine Stammesgesellschaft, aufgebaut auf Sadismus.

Kriegsführung als Ritual, bei dem der Gott des Schmerzes verehrt wurde. Das Konzept der Familie als Keimzelle jeder Gesellschaft war verschwunden, Kinder waren die Ergebnisse von Vergewaltigungen, wenn überhaupt noch welche geboren wurden. Die Menschheit würde langsam aussterben.

»Wir sind immer noch stark, Sir«, antwortete Murphy nach einer Weile. Doch er klang nicht wirklich überzeugt davon.

Das Funkgerät übertrug eine endlose Folge von Routinemeldungen und Fragen. Der Humvee vor ihnen stieß fauchend eine Abgaswolke in die heiße Sommerluft aus. Ein großer Soldat stand kerzengerade in der Kuppel, das .50 Maschinengewehr zur Seite gerichtet.

Lee antwortete: »Ich glaube auch, dass wir das sind. Wir müssen uns in Mount Weather nur neu organisieren.«

Sie hatten inzwischen wesentlich mehr Münder zu stopfen. Deswegen mussten sie eine Inventur ihrer Vorräte machen und sich ein neues Verteilungssystem für Essen und Wasser einfallen lassen. Wenn die eine Hälfte der Kriegsführung Feuerkraft war, so bestand die andere aus Logistik. Sie brauchten unbedingt mehr Fahrzeuge und Treibstoff, sonst würden sie auf Dauer mit vier Meilen pro Stunde dahinschleichen. Die Reste der 56. Stryker Brigade, die zusammen mit ihnen aus Philadelphia geflüchtet waren, mussten integriert werden. Eine gewaltige Aufgabe.

Lee seufzte erschöpft. Er hatte seit sechsundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Seine Kopfschmerzen, die in Boston angefangen hatten und sich seitdem zu einem konstanten brennenden Schmerz hinter seinen Augen entwickelten, ließen einfach nicht mehr nach. Selbst alles Advil der Welt konnte ihnen nicht die ätzende Schärfe nehmen.

Lee war müde. Murphy war müde. Sie alle waren vollkommen erschöpft. Besiegt und in den Rückzug getrieben von gewaltigen Armeen aus Kannibalen, die noch vor Monaten durchschnittliche amerikanische Bürger gewesen waren. Vollbärtig und ausgemergelt durch die ständige Rationierung der Lebensmittel. Lee fragte sich, warum sie überhaupt noch weitermarschierten. Ziel ihres Rückzuges war es ursprünglich, nach Florida zu gelangen und sich dort wieder der Armee anzuschließen. Doch dann hatten bahnbrechende Ereignisse stattgefunden, die Major Walker vorausgesehen hatte. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig aus Boston heraus, schlugen sich bis nach Fort Drum durch und entgingen dort nur knapp einem Blutbad. Sie machten sich nach Philadelphia auf, das unter Belagerung stand, und mussten mit ansehen, wie die Stadt durch zivile Jumbojets ausradiert wurde.

Während sie all das durchstanden, fand ein weiteres bahnbrechendes Ereignis statt. Das militärische Funknetz verstummte. Eine Einheit nach der anderen verschwand aus dem Netz. Nur die Marines in Washington waren permanent auf Sendung. Manchmal hörten die Funker kreischendes Gelächter und Schreie von Funkstationen, die noch Tage zuvor funktionierende militärische Einheiten gewesen waren.

Das Amerika, das sie kannten, lag im Sterben.

Selbst die Notfallbunker der Regierung verstummten Stück für Stück. Das Bataillon hatte bereits einen von ihnen passiert, Site R, den Raven Rock Mountain Complex in Philadelphia. Sie nannten es auch das Untergrund-Pentagon. Während High Point das Alamo der Regierung war, stellte Site R das des Militärs dar.

Lee hatte einen Aufklärungstrupp losgeschickt, um den Standort zu überprüfen, während der Konvoi durch Gettysburg rollte. Lieutenant Ellis stellte fest, dass ein gewaltiger Waldbrand den gesamten Berg in Flammen gesetzt hatte. Inzwischen hatten sie auch den Kontakt mit der High Point Special Facility verloren. Trotzdem war diese Einrichtung immer noch ihr Ziel. Ihnen blieb gar keine andere Wahl, als zu hoffen. Doch Lee hatte keine Ahnung, was sie dort erwartete.

Manchmal dachte er, dass sie wohl besser in Boston gestorben wären. Sie hatten zwar bisher überlebt, aber man konnte es kaum Leben nennen.

Mit vor der Brust hängendem Gewehr ging ein Soldat an Lees kriechendem Fahrzeug vorbei und trug dabei ein kleines schlafendes Mädchen auf dem Rücken. Um ihre Familien zu retten, hatten sich die Lightfighter ihren Weg über vierhundert Meilen freigeschossen. Etliche von seinen Männern hatten es nicht bis nach Philadelphia geschafft. Vielen ihrer Familienmitglieder ging es ähnlich. Aber genau so viele wurden wieder vereint. Sie hatten es schließlich doch überlebt, und allein das fühlte sich wie ein Sieg an.

Es fühlte sich an, als ob es trotz allem so etwas wie eine Zukunft für sie geben könnte.

Das Amerika, das Lee kannte, lag vielleicht im Sterben, aber diese Menschen waren noch am Leben, und das war alles, was zählte. Seine Welt war in den letzten Monaten deutlich kleiner geworden. Ihre Mission bestand nicht länger darin, das Land zurückzuerobern, sondern einfach nur zu überleben.

»Wir werden nicht aufgeben«, sagte Lee.

Jemand musste überleben.

Kapitel 4


Die Maryland State Route 180 schnitt sich ihren Weg durch Wälder und Farmland. Von einem Hügel aus beobachtete Corporal Sandra Rawlings durch einen braunen Dunstschleier den Konvoi, der sich vor ihr hinzog. Dutzende Fahrzeuge und Anhänger, hunderte Soldaten, tausende Zivilisten. Von dort oben sah der Rückzug absolut ungeordnet aus.

Überladen mit Verletzten, Kindern und Ausrüstung krochen die Humvees und Lastwagen die Straße entlang. Das Trailblazers Scout Platoon und die Alpha Kompanie, Kapitän Hayes' Hard Chargers, bildeten die Vorhut. Dann folgte der Stab unter Jane, zusammen mit Echo, der Logistikeinheit unter Johnston. Anschließend die Artillerie und die Sanitätseinheit. Charlie unter Sommers. Delta unter Perez.

Durch Kamikaze-Angriffe in Philadelphia dezimiert, bildete Marshs Bravo Kompanie zusammen mit den Resten der 56. Stryker Brigade die Nachhut. Später würden sie integriert werden. Wenn es ein Später geben sollte.

Wegen des Staubs, der überall in der Luft hing, husteten die Menschen in der Nachmittagshitze dieser letzten Zuckungen des Sommers. Babys weinten. Ausrüstungsgegenstände schepperten. Fahrzeuge schnauften und kotzten Abgase aus. Ihre Flucht hatte sie fast zweihundert Meilen aus Philly heraus und mitten durch Gettysburg geführt. Sie fühlten sich krank und taub, selbst so harte Kerle wie der große, haarige Sergeant Muldoon, der für einen Krieg wie diesen wie geschaffen schien.

Rawlings erinnerte sich daran, wie sie ihre Truppe, die Bushmasters, das erste Mal getroffen hatte. Davor war sie im Harvard Stadion eine Anführerin gewesen, die Jungs dort waren alle so verstört, dass sie bereits aufgegeben hatten, doch unter ihrem mütterlichen Schutz scharten sie sich wieder zusammen. Diese Kerle von der Zehnten Gebirgsdivision dagegen hatten sie zunächst als Leaf Eater gesehen, als jemand, der nicht zur kämpfenden Truppe gehörte. Sie musste sich beweisen, nicht mit einer einzelnen heroischen Tat, sondern einfach, indem sie ihren Kampfbereich abdeckte und ordentlich schoss. Wenn die Jungs sie jetzt ansahen, dann vergaßen sie oft, dass sie NG, ein Nasty Girl, war.

Als sie neu bei den Bushmasters gewesen war, versuchten die Männer, sie einzuschüchtern und mit ihrem Kasernen-Spielchen zu beeindrucken. Doch sie hatten sich seitdem verändert. Das Arschgrapschen, das Macho-Gehabe, die bescheuerten Witze und die sexistischen Lästereien waren verschwunden. Sie hatten damit begonnen, den verlorenen Jungs vom Harvard Stadion zu ähneln, und das machte ihr Angst. Sie sprachen nicht mehr darüber, wie sehr sie KFC und Bier und ihre PS3 und Footballspiele vermissten, die ganzen Annehmlichkeiten eines Zuhauses. Sie waren jetzt an dem Ort zuhause, den sie Heimatfront nannten und der strotzte vor Blut.

Sie vermissten alles. Sie vermissten ihre Angehörigen und Freunde. Die Welt ergab keinen Sinn mehr. Von ihnen wurde erwartet, dass sie kämpften und starben, damit ihre Angehörigen in Sicherheit waren. Und hier standen sie nun, für den Moment sicher, während so viele Menschen, die sie gekannt hatten, wahrscheinlich tot waren oder sich in irgendeiner staatlichen Verteidigungsanlage verkriechen mussten.

Auch Rawlings hatte diese Schuldgefühle. Sie erinnerte sich daran, wie sie in Boston eingezogen worden war und sich bei den Muleskinnern gemeldet hatte, einer Versorgungseinheit, die zum 164sten Transportation Bataillon der Massachusetts National Guard gehörte. Die Seuche hatte Boston zerrissen. Jeder ging davon aus, dass die Situation ganz schnell wieder unter Kontrolle gebracht werden könnte, sobald die Regierungsstellen erst einmal ihre Köpfe aus den kollektiven Hintern gezogen hätten und das Militär von der Leine lassen würde. Die Armee hielt dem Ansturm tatsächlich eine Weile stand, aber leider auch nicht länger. Jeden Tag klangen die Gewehrschüsse lauter, kamen immer näher. Jeden Tag verschärfte sich die Situation.

Die Armee hatte Bostons Hauptarterien für den Zivilverkehr geschlossen und nutzte sie exklusiv als Fahrspuren für Truppenbewegungen und Versorgungstransporte. Tag und Nacht verteilten die Muleskinner Versorgungsgüter über die gesamte Stadt, die stetig zerfiel. Eines Tages hatte ein Fünftonner auf dem Massachusetts Turnpike in der Nähe des Big Dig einen Motorschaden. Der Konvoi musste abrupt anhalten. Lieutenant Spaulding stellte Wachen auf, während sich die Mechaniker an die Arbeit machten. Die Muleskinner ließen Zigaretten herumgehen und schwitzten in ihren Kampfanzügen. Rawlings steckte sich ein frisches Stück Kaugummi in den Mund und kaute darauf herum, als ob sie es töten wollte.

Plötzlich tauchte auf einem nahe gelegenen Hügel eine Gruppe von Polizeibeamten hinter einem Maschendrahtzaun auf und sah auf sie herab. Einige der insgesamt vielleicht dreißig Mann trugen Kampfausrüstungen. Sie kamen aus den Mass Pike Towers, einer Siedlung für Menschen mit geringem Einkommen. Ein Polizist hob die Hände über den Kopf und winkte wie wahnsinnig, was Rawlings erstarren ließ. Irgendetwas an ihm war nicht in Ordnung. Während sie die Polizisten genau beobachtete, stiegen diese über den Maschendrahtzaun und kamen ihnen auf dem Highway entgegen, wobei sie über die Schultern zurückschauten.

»Sergeant«, rief Rawlings, »wir bekommen Gesellschaft. Sieht nach Ärger aus.«

Lieutenant Spaulding rannte bereits in ihre Richtung. Sergeant Nance seufzte. »Und da kommt sie auch schon. Wonder Woman eilt zur Rettung. Als ob wir diesen Scheiß brauchen könnten, wir sind jetzt schon hinter dem Zeitplan.«

Rawlings hörte Spaulding fragen: »Was wollt ihr, Jungs?«

»Weihnachten«, antwortete ein Polizist und schnitt sie mit seiner Schrotflinte in zwei Hälften.

Rawlings verschluckte ihren Kaugummi. »Das sind Verrückte!«

»Scheiße!«, fluchte Nance. »Lieutenant! Scheiße! Loonies!«

Die Cops machten sich fröhlich jubelnd über ihre Ausrüstung her. Der Polizist, der den Lieutenant getötet hatte, grinste Rawlings an und zog seinen Finger über den Hals. Sie hob ihr M16 und feuerte drei schnelle Schüsse auf ihn ab, verfehlte ihr Ziel aber und schoss erneut. Der Mann stürzte lachend auf die Knie, Rauch strömte dabei aus seiner Brust.

Das sind doch Cops, dachte sie. Keiner hatte damit gerechnet. Es hätte nicht geschehen dürfen. Aber es war geschehen.

Nance fiel lautlos zu Boden, die Hälfte ihres Gesichtes war verschwunden. In dem einen Moment war sie ein menschliches Wesen, das Befehle brüllte, im nächsten nur noch ein fallender Sack leblosen Fleisches. Überall schrien Menschen. Andere lachten lauthals. Gewehre knallten. Rawlings feuerte auf eine Gestalt, die sie angriff. Aus dem Augenwinkel nahm sie verschwommen eine Bewegung wahr, plötzlich explodierte ihr Mund vor Schmerzen. Sie taumelte, spuckte Blut und Zahnsplitter, als ein Gorilla in einer kugelsicheren Weste mit seinen Schlagstock erneut voll grausamer Freude ausholte und ihren Helm wie einen Gong scheppern ließ.

Sie feuerte reflexartig. Die Kugel durchschlug sein rechtes Auge, hüpfte in seinem Schädel hin und her und schoss auf dessen Rückseite mit einem Großteil des Gehirns wieder heraus. Dann wurde es um sie herum dunkel.

Sie war erst im Harvard Stadion wieder aufgewacht, ihre Freunde tot, ihre Einheit vernichtet. Zwei Wochen später war sie gezwungen gewesen, einen weiteren Freund zu töten, Private Scott Wade. Sechs Wochen später schließlich musste sie mit ansehen, wie ein weiterer guter Mann starb. Jeff Carter.

So viel Schrecken und Tod, doch sie lebte immer noch.

Rawlings hatte sich schon oft gefragt, warum das so war.

Auf der Maryland State Route 180 baumelten Körper von einer toten Stromleitung.

Das Bataillon hatte schon seit Tagen keinen Klown – die Kurzfassung von Killer-Clown, ein Spitzname, den die Lightfighter den lachenden Infizierten gegeben hatten – mehr gesehen. Rawlings wunderte sich, wo sie alle geblieben waren. Die umliegenden Felder waren vollständig verwüstet worden. Eine gewaltige Armee musste hier durchgezogen sein.

Muldoon, der neben ihr marschierte, stupste ihre Schulter leicht an. »Bist du okay?«

Rawlings starrte wortlos zurück. War zurzeit überhaupt irgendjemand okay?

»Du bist okay«, stellte er fest.

Im Gegensatz zum Rest der Bushmaster, die mit gesenktem Kopf und verkrampften Schultern marschierten, wirkte der große Sergeant entspannt. Er hatte die schrecklichen Ereignisse, die sie in Philly erlebt hatten, bereits vor Tagen abgeschüttelt und zu seinem alten, unausstehlich selbstsicheren Ich zurückgefunden. Es ging ihm wirklich gut. Der Sergeant schien bei der ganzen Scheiße in seinem Element zu sein. Ein wahrer Überlebenskünstler.

Trotz der Zuneigung, die Rawlings für diesen Mann empfand, hasste sie ihn gerade.

»Unser aufrichtiger und unerschrockener Colonel Lee hat uns bis hierher gebracht«, sagte Muldoon laut genug, dass es die gesamte Truppe hören konnte. »Wir werden Mount Weather in Kürze erreichen. Corporal Nutter wird sich an die Eier greifen und der Präsidentin mitteilen, dass er sie nicht gewählt hat.«

Nutter antwortete: »Ist das ein Befehl, Duke?«

»Ramirez wird sich seinen mexikanischen Arsch volllaufen lassen. Donegal wird irgendetwas finden, über das er meckern kann. Alles das werden wir machen. Garza wird sich bestimmt wieder einen Tripper einfangen.«

Garza salutierte. »Hooah, Sergeant.«

»Und Cline wird sich nach der nächsten Schwulenbar umsehen.«

Der Trupp brach in Gelächter aus, wofür sie besorgte Blicke von den Menschen in ihrer Umgebung ernteten.

»Crusher Drei-Eins, hier ist Crusher Drei-Sechs. Over.« Muldoons Funkgerät erwachte zum Leben.

»Ich höre, Drei-Eins. Over.«

»Hört sofort mit dem Lachen auf. Jetzt. Over.«

Nun grinste auch Rawlings. Lachen war zwar gefährlich, aber es fühlte sich so gut an.

Muldoon antwortete: »Soll nur die Moral stärken, Lieutenant.«

»Dafür vernichten Sie die der anderen … Jagt uns allen einen Heiden…«

»Negativer Kontakt, Sechs. Sagen Sie das noch mal. Over.«

»Was zur …? Eine Minute.«

»Zug!«, schrie jemand.

Rawlings erstarrte, als sich eine Welle panischer Rufe unter den Zivilisten ausbreitete. Sie blickte über Bravos behelmte Köpfe und entdeckte einen Zivilisten, der auf einem Wohnmobil stand und durch das Zielfernrohr seines Jagdgewehrs schaute.

»Zug«, wiederholte der Mann. »Da kommt ein Zug auf uns zu!«

Kapitel 5


Lieutenant Chris Ellis kommandierte die Trailblazer, die Aufklärungseinheit des Bataillons. Sie verfügten über sechs gepanzerte Humvees, die mit modernen Überwachungssystemen ausgestattet waren, sowie zwei Schützenpanzer, die sie aus Fort Drum gerettet hatten.

Die Fahrzeuge fuhren als Kolonne dem Konvoi voraus, um die Umgebung besser überwachen zu können, denn Ellis' Männer waren die Augen des Bataillons. Ihre aktuelle Mission umfasste die Erkundung des Geländes, das Aufspüren von Gefahren in Form feindlicher Aktivitäten und improvisierter Sprengfallen, das Entdecken und Dokumentieren von Ausweichrouten sowie die Aufgabe, den Kontakt zu möglichen Verbündeten in der Region herzustellen. Es war eine offensive Aufklärungsmission, und wann immer sie eine lohnenswerte Anzahl von Klowns entdeckten, stießen die Jäger-Killer-Teams der Alpha-Kompanie vor, um diese auszulöschen.

Als Kommandeur der Recon-Einheit hatte Ellis seit Boston fast ununterbrochen Feindkontakt gehabt. Sein ramponierter Humvee trug die Narben von Äxten, Kugeln, Molotowcocktails und Kettensägen. Unzählige Male hatte er kurz davorgestanden, zu sterben. Dass er trotzdem immer noch lebte, schrieb er seinem unverschämten Glück zu. Dem, oder vielleicht Freunden in hohen Positionen. Er hoffte, dass es sich dabei um Gott handelte, nur war das schwer zu glauben. Gott hatte so viele bestraft, war so grausam gewesen, während er ihn verschonte. Was war so Besonderes an ihm?

Nach dem letzten Funkspruch fragte er sich, ob er sein Glück aufgebraucht haben könnte.

Platoon Sergeant Mike Simpson warf dem Funkgerät einen Blick zu. »Hat er gerade gemeldet, dass er einen Zug entdeckt hat, der direkt auf uns zukommt?«

Ellis griff nach dem Mikrofon. »Eyes Vier, Eyes Sechs hier. Wiederholen. Over.«

»Sechs, da nähert sich ein Pendlerzug schnell aus Osten. Over.«

Die Vorhut hatte vor einer Meile Eisenbahnschienen überquert. Der Konvoi befand sich gerade mitten darauf. Und der Zug kam ihnen auf einem Kollisionskurs entgegengeschossen.

»Verstanden, Vier. Beobachten Sie weiter. Over.« Er gab die Information an die Alpha-Kompanie und das Hauptquartier weiter und wandte sich dann wieder Simpson zu. »Wir sollten uns das lieber ansehen.«

»Verstanden, Sir.«

Er hoffte, dass ihnen die Leute im Zug freundlich gesonnen waren. Gott, lass sie Verbündete sein. Sie brauchten endlich mal wieder eine echte Chance. Etwas Gutes. Irgendetwas. Der Humvee scherte aus der Formation aus und fuhr quer über ein verwüstetes Sojafeld eine Meile in östliche Richtung, wo sie auf ein weiteres Recon-Fahrzeug trafen, das im Leerlauf im Matsch stand.

Ellis schaute zum Fahrzeugdach. »Tucker?«

»Ich habe es im Visier«, antwortete der Scout aus der Kuppel. »Oh, Jesus!«

»Mach Platz«, befahl Ellis. »Ich komme hoch.«

Tucker ließ sich in den Sitz fallen, bleich und erschüttert. Ellis stand in der Kuppel und packte die Griffe des LRAS3, eines Überwachungssichtgerätes, das auch auf große Entfernungen Wärmebilder, GPS-Laser-Entfernungsmessungen und Video-Cam-Aufnahmen ermöglichte.

Jesus Christ, tatsächlich.

Ein Amtrak-Zug näherte sich aus Richtung Washington, zwar noch acht Meilen entfernt, aber er raste mit hoher Geschwindigkeit auf sie zu. Ein Teppich aus sich windenden Körpern war an die Lokomotive gekettet worden, einige lebten noch und schrien, andere waren nur verstümmelte Hüllen. Eine grauenerregende Reihe von grinsenden Köpfen baumelte an Seilen, drehte und wand sich im Wind wie die Haare von Medusa.

Als der Zug in eine sanfte Kurve fuhr, sah Ellis Hunderte Arme, die aus den Fenstern gestreckt wurden. Sie schlugen mit Baseballschlägern, Hämmern und Macheten auf die Außenseite des Zuges ein. Lachende Wahnsinnige hatten jeden Platz in den Waggons übernommen. Die Zugpfeife schrillte ununterbrochen in der Ferne.

»Der Zug ist feindlich«, rief er nach unten zu Simpson. »Weitergeben. Ich komme runter!«

Er ließ sich in den Humvee fallen und setzte sich wieder neben den Platoon Sergeant, der die Information gerade meldete. Es war nicht mehr genug Zeit, um einen Gefechtsvorposten einzurichten. Wer auch immer reagieren könnte, würde springen müssen. In etwa fünf Minuten würde der Zug in den Konvoi rasen.

Dann würde er kreischend zum Stehen kommen und Hunderte, wenn nicht sogar Tausende lachender Wahnsinniger ausspucken.

»Haben Sie das gesehen, Sir?«, fragte Tucker. »Jesus Christ.«

Ellis nahm Simpson das Funkgerät aus der Hand. »Eyes, antworten, Eyes sechs hier. Ein feindlicher Personenzug nähert sich in acht Meilen Entfernung. Greift an und feuert aus allen Rohren. Wer will, als Dauerfeuer. Verstanden?«

Der Zug pfiff wieder, inzwischen lauter.

»Wilco, Sechs, over,« meldeten sich die Bradley-Schützenpanzer.

»Macht das Arschloch mit Panzerabwehrraketen fertig«, knurrte Simpson.

»Ich komme hoch«, Ellis kletterte wieder in die Kuppel zurück. Hinter ihnen hatte der Konvoi gestoppt und nahm die Herringbone-Formation ein. Soldaten hasteten auf ihre Positionen. Er erwartete, indirektes Feuer von den Granatwerfern zu hören, bis ihm einfiel, dass die Mörser-Einheit ihre Munition beim Rückzug aus Philadelphia verbraucht hatte.

Zwei Humvees rasten brüllend vorbei, Schützen bemannten ihre Mk19 Maschinengranatwerfer. Ein weiteres Fahrzeug fuhr parallel zu den Schienen, um den ankommenden Zug flankieren zu können und ihn mit dem auf seiner Kuppel montierten .50 Maschinengewehr zu bestreichen. Die Alpha-Jungs machten sich für ihren Einsatz bereit.

Ellis wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem LRAS3 zu. Der Zug füllte inzwischen den Sucher aus. Er sah jedes entsetzliche Detail der sich windenden Körper, die an die Lokomotive gekettet waren, ihre Münder in unendlichem Schrecken aufgerissen, aber zu weit entfernt, um gehört zu werden.

Der Zug schrie für sie.

Er wandte sich angeekelt ab, doch einige Dinge, das wusste er, konnte man nicht ungesehen machen.

Der erste Bradley-Schützenpanzer rumpelte vorbei, kaute das Feld durch und spuckte Schlamm aus, bevor er schlingernd zum Stehen kam. Der stabilisierte Turm schwenkte, um seine 25-mm-Maschinenkanone und die Batterie rohrstartender TOW-Geschosse auszurichten.

Das Bataillon hatte rasant reagiert. Trotz allem waren sie weit davon entfernt, eingeschüchtert zu sein. Sie hatten Disziplin, Training, Mut und eine unglaubliche Feuerkraft.

Die Klowns, nun, sie hatten die Unausweichlichkeit auf ihrer Seite.

Der Zug kreischte, als er mit seiner makabren Krone aus sich windenden Köpfen näherkam.

Dann explodierte er.

Drei Waggons zerfielen in einem blendenden Blitz, der eine enorme Rauchwolke, Schutt und Körper hoch in die Luft schleuderte. Die Reihe der Waggons hinter dem Aufprall wurde gestaucht, zerfetzt, in einer noch größeren Staubwolke von den Schienen katapultiert.

Ellis sah sich um. Niemand hatte gefeuert. Was war passiert?

»Haben wir sie erwischt, Sir?«, fragte Tucker.

Ellis war sich nicht sicher.

Zwei Luftwaffenjets schossen donnernd über seinen Kopf hinweg. A-10A Thunderbolts.

Das Bataillon jubelte. Sie hatten den Klowns gezeigt, wo der Hammer hängt.

»Wir haben Luftunterstützung«, stellte Ellis fest. »Die Kavallerie hat gerade ein paar Maverick-Raketen auf die Klowns fallen lassen und sie in die Luft gesprengt.«

»Fuck, ja!« Tucker ließ mit einem Schrei etwas Dampf ab. »Ja!«

Die Lokomotive näherte sich aber weiterhin, umrahmt von einer dicken, wabernden Wolke aus schwarzem Rauch. Die Jets hämmerten mit ihren Gatling-Maschinengewehren auf sie ein. Ihre Projektile stanzten ein Muster aus rauchenden Löchern in die Maschine und schickten sie in einem Geysir aus Dreck krängend von den Schienen. Teile der großen Lokomotive schlugen ächzend auf und donnerten sich überschlagend über den Boden. Die Jets hatten wieder gewendet und rasten aus südlicher Richtung über die Wrackteile, überzogen sie in voller Länge mit einem tödlichen Regen aus Metall.

Der Lieutenant konnte nicht viel durch den Staubschleier erkennen, der im Norden alles bedeckte. Dann stolperte eine einzelne, wild aussehende Gestalt ins Blickfeld, ihr Rücken wölbte sich in einem Lachanfall und sie ruderte mit dem sprudelnden Stumpf, der von ihrem Arm übrig geblieben war. Plötzlich brach sie zusammen und lag still.

Die Crazies lachten, wenn sie Schmerz zufügten. Sie lachten aber genauso heftig, wenn sie ihn selbst erleiden mussten.

Ellis fühlte sich bei diesem Anblick angeekelt und ermutigt zugleich.

Humvees und Fahrzeuge der Stryker Brigade fuhren an ihm vorbei, um das zu beenden, was die Air-Force-Jungs begonnen hatten. Die Jets kippten ihre Flügel in einem freundlichen Salut, als sie außer Sicht rasten.

Ellis war nicht allein. Er hatte immer noch Freunde in hohen Positionen.

Kapitel 6


Abenddämmerung. Ein weiterer spektakulärer Sonnenuntergang dank tausender Tonnen Staub und Rauch in der Atmosphäre.