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Michaela Schlagenwerth
Nahaufnahme Sasha Waltz

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Sasha Waltz, geboren 1963 in Karlsruhe, gehört zu den bedeutendsten zeitgenössischen Choreographinnen Europas. Sie gründete 1993 ihre eigene Tanzkompagnie Sasha Waltz & Guests und entwickelte mehr als dreißig international beachtete Choreographien und Opern. Für ihre künstlerische Arbeit erhielt sie zahlreiche Preise, darunter das Bundesverdienstkreuz im Jahr 2011.

Michaela Schlagenwerth studierte Theaterwissenschaft und Germanistik in Berlin. Seit über zehn Jahren arbeitet sie als Tanzkritikerin für die Berliner Zeitung.

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SASHA WALTZ

Gespräche mit Michaela Schlagenwerth

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Alexander Verlag Berlin

Die ersten acht Gespräche fanden zwischen Herbst 2006 und Frühjahr 2007 statt. Diese Ausgabe wurde um drei Gespräche ergänzt, die im Sommer 2011 geführt wurden.
Anmerkung der Redaktion

Zweite erweiterte und aktualisierte Auflage 2012
© by Alexander Verlag Berlin, 2008
Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, 14050 Berlin
www.alexander-verlag.com, info@alexander-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten.
Redaktion und Lektorat: Stella Diedrich, Christin Heinrichs
Dank an Katharina Broich, Anne Wagner und Yoreme Waltz.
Satz und Layout: Antje Wewerka
Umschlaggestaltung: Antje Wewerka (unter Verwendung eines Fotos von André Rival)
ISBN 978-3-89581-418-1 (eBook)

INHALT

Vorwort zur zweiten Auflage

Am Anfang ist der Raum

Aus der Bahn geworfen werden: Die Recherche

Der rote Faden: Der Tanz

Der erweiterte Körper: Die Compagnie

Familienunternehmen Sasha Waltz & Guests –

Ein Gespräch mit Sasha Waltz und Jochen Sandig

Die neue Dimension: Die Jahre an der Schau bühne

Die Oper zum Tanzen bringen (I)

Der Schlaf ist meine Droge

Im Museum: An Gebäuden wird Geschichte ablesbar

Die Oper zum Tanzen bringen (II)

Der neue Aufbruch

Anhang

Werkverzeichnis

Bildnachweis

Biographien

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Zu unserem ersten langen Gespräch trafen wir uns im Herbst 2006. Sasha Waltz saß im gleichen abgeschabten Ledersessel, im gleichen Raum des ehemaligen alten Pfarrhauses in der Sophienstraße in Berlin-Mitte, wie auch jetzt wieder, fünf Jahre später.

Verschrumpelte Luftballons wehten draußen vor dem Fenster in den Bäumen, Restbestände eines Kindergeburtstages. Eine gewisse Müdigkeit war damals zu spüren, gleichzeitig gab es eine Atem- und Rastlosigkeit. Als sei Sasha Waltz sehr viel damit beschäftigt gewesen, die unendlich vielen Anforderungen von Proben, Aufführungen, Tourneen, Familie und ihr Leben unter einen Hut zu bringen.

Sehr viel war passiert, seit sie 1993 mit Twenty to eight ihr erstes abendfüllendes Stück am Theater am Halleschen Ufer herausgebracht und 1999 so ungemein erfolgreich die Schaubühne geentert hatte. Es war ein Sprung aus der freien Szene in die oberste Theaterliga. Und dieser Sprung war so groß, daß Sasha Waltz ihn zwar künstlerisch in all ihren Stücken immer wieder neu bewältigte und sich ständig neu erfand. Doch etwas stimmte nicht.

Vor vier Jahren konnte sich Sasha Waltz mitten in einer Probe plötzlich nicht mehr bewegen. Die Lähmung war körperlicher Ausdruck einer Erschöpfungsdepression. Für ein Jahr hat sich die Choreographin fast vollständig zurückgezogen. Aber jetzt, im Herbst 2011, ist auch das längst schon wieder Geschichte. Sasha Waltz ist angekommen. Noch weiter oben im Theaterolymp und auch bei sich selbst. Sie wirkt entspannt, klar, entschieden. Eine schöne Frau, die ausgefallene Designerkleidung liebt, aber nach wie vor mit ihrem Fahrrad durch die Stadt fährt und auch mal in Jeans ins Theater geht. Der innere und äußere Druck, den man früher ab und an bei ihr verspürte, ist verflogen.

Sasha Waltz hat in den vergangenen vier Jahren drei neue Opern inszeniert. Längst ist sie nicht nur die bekannteste Choreographin Deutschlands, sie gehört auch zu den interessantesten und wichtigsten Opernregisseurinnen. Mit ihren spektakulären Bespielungen des von David Chipperfield Architects restaurierten Neuen Museum in Berlin und dem von Zaha Hadid entworfenen Museum MAXXI in Rom hat sie überdies ihre Rauminszenierungen aus den Dialoge-Projekten in eine andere Dimension katapultiert.

Sie könne sich jetzt besser entspannen, sie habe einen Garten und zupfe liebend gern Unkraut, sagt sie in einem unserer drei Gespräche, in denen wir über ihre neuen Opernarbeiten, ihre Museums-Projekte und ihren neuen Aufbruch reden. Ein Aufbruch, den Sasha Waltz selbst gar nicht so empfindet. Denn in ihren Arbeiten, in ihren immer neuen Suchbewegungen, ergibt sich nahtlos das eine aus dem anderen. Aber eine neue Freiheit aus all dem zu schöpfen, was sie in den vergangenen zwanzig Jahren entwickelt hat, die gibt es unbedingt.

Michaela Schlagenwerth
Berlin, 21. Oktober 2011

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Abb. 1: Dialoge ’99/II – Jüdisches Museum, 1999

»Ich denke an den Raum, noch bevor ich an Bewegung denke. Der Raum muß für mich die Essenz des Stückes in sich tragen. Er ist der Ausgangspunkt, der Träger der Atmosphäre.« Sasha Waltz

Sasha Waltz gehört zu den bedeutendsten internationalen Choreo - graphin nen (u. a. Allee der Kosmonauten, Körper, Dido & Aeneas, Matsukaze). Sie hat sich mit ihrer Com pagnie Sasha Waltz & Guests immer neue, größere Räume tanzend erobert, Museen bespielt und sich schließlich der Oper angenähert.

In ausführlichen Gesprächen erkundet die Tanzkritikerin Michaela Schlagen werth die künstlerische Arbeit der Choreographin und ihrer Com pagnie. Die Interviews geben einen persönlichen Einblick in das Familien unter nehmen Sasha Waltz & Guests, in die Arbeitsprozesse, die Heran gehens weisen und Phantasien der Choreographin. Gleich - zeitig entfaltet sich dabei die Geschichte eines beeindruckenden schöpferischen Entwicklungs prozesses.

»Eine als Bildhauerin agierende Erkunderin des Raums. Ihre Schöpfun - gen scheinen immer mehr die Grenzen zwischen Tanz und Skulptur zu verwischen.« Die Welt

Zweite aktualisierte Auflage.


Umschlagfoto © André Rival

Alexander Verlag Berlin
www.alexander-verlag.com

AM ANFANG IST DER RAUM

Räume, so sagt Sasha Waltz, seien für sie die Basis ihrer Arbeit, der Ausgangspunkt, der Anfang. Das gilt für die Bühnenbilder und die jeweiligen Orte, die die Choreographin bespielt – und es gilt schon für den Anfang ihrer choreographischen Laufbahn. Die ersten drei, gleich enorm erfolgreichen Produktionen – zusammengefaßt in der Travelogue-Trilogie – sind Erforschungen von Alltagsräumen. In Twenty to eight, dem 1993 im niederländischen Groningen uraufgeführten ersten Stück der Travelogue-Trilogie, geht es um das sich vorwiegend in der Küche abspielende WG-Leben. Getanzt wird zum Surren von Nähmaschinen, zum Geklapper von Geschirr, zu Tango- und Streicherklängen. Betten klappen auf und zu, und Geschirr und Türen machen sich selbständig. Twenty to eight ist absurd, grotesk, surreal und von einer bezaubernden jugendlichen Unbeschwertheit. Mit ihrem ersten abendfüllenden Stück findet die Choreographin gleich ihren eigenen Ton, den sie auch 1994 in Tears break fast anschlägt. Orte der Handlung sind dieses Mal ein Badezimmer und eine Bar; in All ways six steps (1995) wird auf der Bühne originalgetreu das Pariser Hotelzimmer nachgebaut, in das die Choreographin wegen der uninspirierenden Nüchternheit des angemieteten Trainingsraums die Proben verlegt hatte.

1996 erfolgt mit Allee der Kosmonauten eine erste Zäsur. Sasha Waltz wendet sich vom Innenraum zum Außenraum, der Fokus geht weg vom eigenen Szene-Leben, hin zu sozialen Themen, zur Gesellschaft. Für Allee der Kosmonauten interviewt die Choreographin mehrere Familien aus den (Berlin-)Marzahner Plattenbauten. Vor allem an der Beengtheit der Plattenbau-Wohnungen und den sich daraus ergebenden Konflikten entzündet sich ihre Phantasie. Drei Generationen verwickeln sich in die unheimlichen, absurden Schrecknisse des Familienalltags; aus zu großer physischer Nähe erwächst – bei einem gleichzeitig blinden, kollektiven Wissen um einander – eine immer weiter um sich greifende Fremdheit. Wie schon in der Travelogue-Trilogie spielen Allee der Kosmonauten sowie die Folgestücke Zweiland (1997) und Na Zemlje (1998) nicht nur in Räumen: Sie handeln auch von ihnen. Von ihren Geschichten, von den Spuren, die die Menschen im Umgang mit den Gegenständen hinterlassen und die zu etwas Eigenem mutieren – zu etwas, das sich auf eine rätselhaft- verträumte Weise nicht nur der Objekte, sondern auch der mit ihnen umgehenden Menschen bemächtigt.

Allee der Kosmonauten bedeutet nicht nur eine thematische Zäsur, mit dem Stück eröffnet Sasha Waltz 1996 auch ein neues Theater: die Sophiensæle in Berlin-Mitte, ein charmant heruntergekommenes Jahrhundertwende-Hinterhofgebäude, in dem einst die Arbeiterbewegung residierte und in dessen Festsaal Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg Reden gehalten haben. Die Sophiensæle, von Sasha Waltz gemeinsam mit ihrem Manager und Ehemann Jochen Sandig und anderen Berliner Künstlern gegründet, avancieren binnen kurzer Zeit zum bekanntesten Ort der freien Tanz- und Theaterszene Berlins. Für ihr Eröffnungsstück erhält Sasha Waltz ihre erste Einladung zum Berliner Theatertreffen. Die zweite folgt im Jahr 2000, als die Choreographin wieder ein Theater neu eröffnet. Dieses Mal ist es die legendäre, von der Ära Peter Stein geprägte Berliner Schaubühne am Lehniner Platz. Sasha Waltz übernimmt gemeinsam mit dem Regisseur Thomas Ostermeier, dem Dramaturgen Jens Hillje und Jochen Sandig die Leitung. Mit Körper gelingt am Haus der überfällige, zunächst ganz von Sasha Waltz getragene Neubeginn. Spätestens hier wird deutlich, welche Kräfte neue Herausforderungen in der Choreographin freisetzen, aber vor allem: wie Räume Einfluß auf ihre Kunst nehmen, und wie sie mit den Räumen wächst. Auch Körper bringt eine Zäsur, die Arbeiten werden ab jetzt nicht nur größer, sie werden vor allem abstrakter. Das Leichte, Verspielte, das schon nach der Travelogue-Trilogie in den Hintergrund getreten war, entschwindet zumindest für eine Weile ganz. Auch die bis dahin dominierende Erzählweise wird verabschiedet.

Sechs Arbeiten entstehen im Laufe von fünf Jahren an der Schaubühne. Auf Körper folgt S, dann 2002 das den Tod der Mutter verarbeitende Stück noBody, 2003 das gewaltige, eine begehbare Rauminstallation in den Theatersaal setzende insideout, und 2004 das Schubert-Stück Impromptus, Sasha Waltz’ erste intensive Auseinandersetzung mit klassischer Musik. Als 2005 Gezeiten Premiere hat, ist Sasha Waltz bereits aus der Schaubühne ausgezogen, der Traum von einer kollektiven, Tanz und Theater gleichberechtigt miteinander verbindenden Leitung ist geplatzt.

In einem alten Pfarrhaus in der Sophienstraße, gleich gegenüber von den Sophiensælen (denen Waltz und Sandig gemeinsam mit der langjährigen Leiterin Amelie Deuflhard nach wie vor als Gesellschafter vorstehen), bezieht die Compagnie – die sich wieder, wie vor der Schaubühnen-Ära, Sasha Waltz & Guests nennt – eigene Büroräume.

Über eine eigene Spielstätte verfügt Sasha Waltz jetzt nicht mehr. Aber sie hat längst neues Terrain erobert. 2005, im Abschiedsjahr von der Schaubühne, entsteht Dido & Aeneas, ihre erste, im Grand Théâtre de Luxembourg uraufgeführte, ungemein erfolgreiche Operninszenierung. Und einige Kilometer Luftlinie vom neuen Compagnie-Büro entfernt wird zu diesem Zeitpunkt bereits an einer neuen Heimstatt gebaut: dem Radialsystem. Das Radialsystem V, von Jochen Sandig und dem Manager der Akademie für Alte Musik Folkert Uhde gegründet, versteht sich als Produktions- und Aufführungsort für Tanz und Musik sowie für Experimente, die an der Schnittstelle unterschiedlicher Künste arbeiten. Das Gebäude, ein altes Pumpwerk, hat der Architekt Gerhard Spangenberg mit einer filigranen Glashülle umschlossen. Direkt an der Spree gelegen, verbindet der 2500 Quadratmeter große Bau auf geniale Weise alte und neue Architektur. Zwei Säle gibt es, in der ehemaligen Maschinenhalle und im Kesselhaus, zahlreiche Proben- und Büroräume sowie eine 400 Quadratmeter große, überdachte Terrasse, von der man auf die dahinfließende Spree hinunterschaut und die Sasha Waltz gleich zu ihrer neuen Sommer-Probenresidenz kürt.

Das Radialsystem V ist fester Probenort für Sasha Waltz & Guests und für die Akademie für Alte Musik. Im September 2006 wird der neue Ort von Sasha Waltz mit einem Dialoge 06 – Radiale Systeme benannten Projekt eröffnet. Über hundert Künstler sind beteiligt. Im gesamten Gebäude wird getanzt, musiziert und gesungen, nicht nur in den Theatersälen, auch im Keller, in den Fluren und auf den Dächern. Musik von Purcell, Telemann und Vivaldi weht durch Hallen und Treppenhäuser, dazu Percussions von Xenakis und alte Choräle, und Tänzer lehnen stumm und regungslos an Glasscheiben, liegen auf Dächern, gleiten über den Boden.

Dialoge 06 – Radiale Systeme ist eine gewaltige Raumerforschung, und es ist die Vorarbeit zu einer neuen Oper: Medea, die im April 2007, wie zuvor schon Dido & Aeneas, in Luxemburg uraufgeführt wird. Im Oktober 2007 folgt mit Hector Berlioz’ Roméo et Juliette das dritte Opernprojekt, das Sasha Waltz dieses Mal nicht für ihr eigenes Ensemble, sondern für das der Pariser Oper inszeniert.

Als Sasha Waltz 2005 die Schaubühne verließ und ihre Compagnie den Status einer unabhängigen GmbH annahm, gab es zunächst die Sorge, dies könnte mit einem Verlust an Arbeitsspielräumen einhergehen. Tatsächlich ist das Gegenteil eingetreten, die Choreographin hat sich weiter ausgedehnt – räumlich und künstlerisch. Neben dem Radialsystem werden ihre Stücke im Haus der Berliner Festspiele, an der Schaubühne und an anderen Orten der Stadt, beispielsweise in Museen, gezeigt. Auch für ihre Opernarbeiten gibt es in Berlin einen kontinuierlichen Partner – die Staatsoper (im Schiller Theater). Und sowohl ihre Tanzstücke als auch die selbst produzierten großen Operninszenierungen gehen weltweit auf Tournee.

Michaela Schlagenwerth: Sasha Waltz, welche Rolle spielt der Raum in Ihrer Arbeit?

Sasha Waltz: Ich denke an den Raum, noch bevor ich an Bewegung denke. Der Raum muß für mich die Essenz des Stückes in sich tragen. Er ist der Ausgangspunkt, der Träger der Atmosphäre.

Räume erzählen Ihnen etwas?

Räume erzählen immer etwas, und ob sie alt oder neu sind, ist dabei eigentlich egal. Räume bündeln Kräfte, je nachdem wie die Proportionen ausgerichtet sind. Mit solchen Fragen hat sich etwa die sakrale Architektur schon immer beschäftigt. Wie Räume Harmonie oder auch das Gegenteil davon herstellen können, das hat etwas sehr Körperliches, das spricht zu uns.

Sie haben vor kurzem die neuen Räumlichkeiten im Radialsystem bezogen. Wie geht es Ihnen hier?

Auf der einen Seite gibt es diesen Neubau aus Beton und Glas, ein wenig wie die Schaubühne, klar und streng, und auf der anderen Seite das Jahrhundertwende-Backsteingebäude aus der gleichen Epoche wie die Sophiensæle, dieser Kontrast gefällt mir sehr gut. Es ist weder zu kalt-modern, noch zu verspielt oder retroromantisch und rückwärtsgewandt. Das Besondere ist für mich aber, hier am Wasser zu sein. Man spürt das Klima, man sieht, auch wenn man drinnen ist, ob es windstill ist, oder ob es ganz viel Bewegung auf dem Wasser gibt. Man erlebt das Licht sehr stark, den Wechsel von Tag zu Nacht, man ist so nah am Himmel. Ich merke hier, wie sich jede Veränderung des Wetters auf meine Arbeit niederschlägt, kurz vor einem Gewitter zum Beispiel kann ich unglaublich gut arbeiten. Die gesamten Gegebenheiten hier nehmen Einfluß auf meine Arbeit.

Auf welche Weise?

Bei den Proben zu Medea habe ich praktisch nur entlang des Flusses gearbeitet. Im Probenraum der Schaubühne habe ich oft gewechselt und mal frontal, mal quer gearbeitet. Aber hier habe ich den Fluß im Rücken und nutze den Raum in seiner vollen Länge. Ich wußte zunächst gar nicht, wie ich das dann auf die Bühne übertragen werde. Es hatte etwas von einem Panoramablick mit sehr breitem Format, und davon ist ja auch in der Bühnenfassung viel geblieben. Das ist bei mir immer so, ich arbeite in einem Raum und passe diesem Raum alles an. Dieser Raum hier prägt mir bestimmte Blickrichtungen auf und das beeinflußt, weil ich dadurch andere Linien sehe, andere Spannungsräume, andere Bewegungen.

Andere Linien, andere Spannungsräume? Was meinen Sie damit?

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Abb. 2: Dialoge 06 – Radiale Systeme, 2006

Wir erschaffen die Begrenzungen des Raums unter anderem mit unseren Körpern und genau damit arbeite ich. Ich schaffe mir oft Limitierungen, an denen ich die Choreographie baue. Ich lege mir Flächen und Achsen in den Raum, ich gebe mir selbst einen Rahmen, und innerhalb dessen entsteht ein neues Universum. In einem bestimmten Raum kann man nur so und so weit gehen, dann gibt es plötzlich neue Gesetzmäßigkeiten, die man meist nicht sofort versteht. Man muß erst entdecken, welche das genau sind.

Arbeiten Sie immer so, mit selbstgesetzten Raum-Grenzen?

Fast immer, aber es gibt auch Ausnahmen. Medea etwa habe ich in den leeren Raum hineinchoreographiert. Aber ins Nichts zu arbeiten ist viel schwieriger, weil alles wahr sein kann. Wenn du dich begrenzt, hast du andere Wegweiser, auf die du dich immer wieder beziehen kannst. Letztlich geht es immer um Stimmigkeit, du kannst nicht alles in einen Raum setzen, man merkt das beim Kreieren, ob etwas an der richtigen Stelle ist. Manchmal braucht es nur eine Verschiebung um zwei Meter nach links, und das ganze Gleichgewicht verändert sich. Man arbeitet im Raum immer mit Proportionen, und man forscht dabei einer verborgenen Logik nach. Bei der Architektur ist die ganz konkret gegeben, da gibt es die Statik, im Tanz kann man mehr simulieren. Aber wenn man es ernsthaft betreibt, geht das auch im Tanz nicht mehr, dann muß man den Gesetzen des Raums und der Körperkräfte folgen, dann entschlüsseln sich die Raumwege darüber. Man kann das manchmal auch bewußt durchkreuzen, aber oft muß man die Elemente mitnehmen und integrieren.

Sie sind in einem Haus aufgewachsen, das Ihre Eltern gemeinsam entworfen haben. Rührt Ihre Faszination für Räume auch daher?

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Abb. 3: Sasha Waltz mit 5 Jahren