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Hans Peter Schwarz

HELMUT KOHL

EINE POLITISCHE BIOGRAPHIE

Deutsche Verlags-Anstalt

1. Auflage

Copyright © 2012 by Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Reproduktionen: Aigner, Berlin
Gesetzt aus der Minion Pro
ISBN 978-3-641-09463-8

www.dva.de

Für Annemie zum 17. August 2012
in Liebe und Dankbarkeit.

Inhalt

PROLOG

Der Riese

TEIL I

Aufbruch (1930 – 1969)

Eine Stadt ohne Träume: Ludwigshafen am RheinDer PfälzerHerkunftEin KriegskindAnfänge in der Besatzungszeit (1945 – 1948)Studienjahre in Frankfurt und Heidelberg (1950 – 1958)Marsch durch die Institutionen (1953 – 1958)Hannelore RennerUnaufhaltsamer Aufstieg (1958 – 1969)Modernisierer von Rheinland-PfalzDer Kurfürst von Mainz

BETRACHTUNG

Die Generation von 1945 und die Parteien

TEIL II

Der Herausforderer (1969 – 1982)

Auf Bundesebene (1964 – 1973)Im Schatten Rainer Barzels (1970 – 1973)Kohl, Biedenkopf und die MannschaftZweifel an Kohls KanzlerstaturFingerhakeln mit Franz Josef Strauß (1974 – 1976)»Zu kurz gesprungen«: Die Bundestagswahl 1976KreuthAusgebremstAngezählt: Kohls Krisenjahr 1979Warten auf Genscher (1980 – 1982)»Habemus papam – ein Helmut geht, ein Helmut kommt.«

BETRACHTUNG

Nach dem Wirtschaftswunder

TEIL III

Ein mittelmäßiger Bundeskanzler? (1982 – 1989)

Kohls Minister, die Regierungsparteien und die RegierungszentraleGlücklich davongekommen: die Neuwahlen am 6. März 1983Halbe WendeDefensive DeutschlandpolitikStationierung der Pershing IIKohl und Mitterrand finden sichWerben um die »eiserne Lady«Innenpolitische Achterbahnfahrt (1984 – 1986)»Die Karawane zieht weiter« (1987 und 1988)Auf der Baustelle EuropaMitterrands Griff nach der »deutschen Atombombe«Kontroversen um die erste, zweite und dritte Null-LösungAbgehängt? Kohl und das Rätsel Gorbatschow (1985 – 1988)Helmut Kohl und die DDR: Politik des Abwartens

BETRACHTUNG

Die kurzen achtziger Jahre

TEIL IV

Kanzler der Einheit (1989 – 1990)

1989, erstes Quartal: ein Bundeskanzler in großen Nöten1989, zweites Quartal: auf höchster Ebene1989, drittes Quartal: High Noon1989, viertes Quartal: das Zehn-Punkte-ProgrammVom Zehn-Punkte-Programm bis zur Volkskammerwahl am 18. März 1990WiderständeMit Bush gegen GorbatschowPolen»Der glückliche Riese«: von der Volkskammerwahl zur Bundestagswahl

BETRACHTUNG

Der unerwartet siegreiche Kernstaat

TEIL V

Der Architekt des neuen Europa (1991 – 1998)

Weiter so! Helmut Kohl im Januar 1991Golfkrise und GolfkriegDie VereinigungskriseProbleme mit der CDU-OstSchäubleAm Rande der Chaos-Regionen I: Zerfall der SowjetunionAm Rande der Chaos-Regionen II: JugoslawienMaastrichtWer soll zur Europäischen Union gehören?Die Rolle Amerikas im neuen EuropaKoalitionskräche, Rücktritte und neue Gesichter»Die mächtigste Führerpersönlichkeit in Europa«Auferstehung: die Bundestagswahl 1994Regierungsbildung mit Blick auf das Jahr 2000Letztes Zwischenhoch 1995 und 1996: »Auf einmal finden alle Leute Kohl ganz prima«Der Euro-FighterIm SinkflugEndspiel

BETRACHTUNG

Helmut Kohl und das dritte europäische Nachkriegssystem

TEIL VI

Das Ende des Glückskindes

Unerwartetes ComebackDer zweite Sturz: die SpendenaffäreFragen an eine EheGoldener Herbst des PatriarchenDie letzten Jahre

BETRACHTUNG

Am Ende des Tages

NACHWORT UND DANK

ANHANG

Personenregister

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Großer Zapfenstreich, 17. Oktober 1998

ullstein bild – Reuters

PROLOG

Der Riese

Er war schon immer groß in der historischen Inszenierung. So sucht er bei seinem Abgang ein letztes Mal alles zu illuminieren, was er lebenslang anstrebte und, so glaubt er, auch erreichte. Was soll’s da, daß eine satte Mehrheit seiner lieben Deutschen ihn soeben abgewählt hat! Der Große Zapfenstreich des Bonner Wachbataillons beginnt in der Dämmerung des 17. Oktober 1998. Diese martialische Zeremonie kommt nur beim Schein der Fackeln voll zur Wirkung, und an regnerischen Oktobertagen ist es um sechs Uhr abends schon ziemlich dunkel. Dutzende von Fernsehteams stehen bereit, alles in Millionen Wohnstuben zu übertragen: den von Scheinwerfern hell angestrahlten Kaiserdom zu Speyer, die Kompanien der Bundeswehr, die rund zwanzigtausend aus der ganzen Pfalz herbeigeströmten Zuschauer, die Bäume, von denen der Regen tropft, und immer wieder den Riesen im dunklen Mantel hoch auf dem Podium. So will er in Erinnerung bleiben, für alle Zeiten auf die elektronischen Speicher gebannt.

Seit langem dient ihm dieses Monument einer großen Vergangenheit zur Veranschaulichung seines tiefsten Wollens. Während der sechzehn Jahre als Bundeskanzler pflegte er Staatsgäste, die er besonders beeindrucken wollte, hierher zu führen: Mitterrand, Gorbatschow, Boris Jelzin, selbst den Herrscher über China, die kommende Supermacht. Alle waren sie beeindruckt, wenn er sie unter den Klängen der Orgel-Toccata in d-Moll von Johann Sebastian Bach durch das imposante Kirchenschiff und zur größten je im Abendland erbauten Krypta führte, die der gewaltige Salier-Kaiser Konrad II. für sein Geschlecht errichtet hatte.

Auch Margaret Thatcher war im Frühjahr des denkwürdigen Jahres 1989 einer Führung gewürdigt worden. Er hatte sie zu überzeugen versucht, daß er wirklich kein krachlederner Teutone sei, sondern ein »guter Europäer«, ohne jedoch so recht zu begreifen, daß er ihr gerade deshalb besonders zuwider war. War der Kaiserdom zu Speyer nicht ein grandioses Symbol abendländischer Einheit? Erinnerte dieses im Katastrophenjahr 1689 von den Truppen Ludwigs XIV. teilweise zerstörte Monument nicht zugleich an die Jahrhunderte deutsch-französischer Kriege, die dank Adenauers Europapolitik, aber auch seiner eigenen, nun ein für allemal Vergangenheit sein würden? Überlegungen dieser Art hatte er Charles Powell, dem Privatsekretär der Premierministerin, in der Krypta des Doms zugeraunt. Doch als das der Lady beim Rückflug berichtet wurde, hatte sie nur ihre Pumps abgestreift, die Beine auf den Sitz gelegt und spöttisch bemerkt: »Charles, dieser Mann ist soooo deutsch.«1 Derlei Spott von der euroskeptischen Britin ist der Riese aber hinlänglich gewohnt und pflegt darüber mit sarkastischer Ironie hinwegzugehen.

Jedenfalls gewann der Kaiserdom zu Speyer in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in denen er selbst mit ausladender Kraft regierte, wieder eine politische Symbolik wie zuvor niemals mehr seit den Salier-Kaisern. Ganz natürlich, wenn auch nicht ganz bescheiden nannte er den Dom seine »Hauskirche«, wie das die Majestäten in jenen Jahrhunderten zu tun pflegten, als das Heilige Römische Reich so sichtlich die Zentralmacht Europas gebildet hatte.

Der Riese, der sich hier mit großer Gebärde wie ein scheidender Kaiser verabschiedet, hat bescheiden begonnen. Doch von Anfang an kreisten seine Gedanken und Träume um den Kaiserdom. Die ersten Wanderungen vom heimischen Ludwigshafen zum Speyrer Kaiserdom unternahm er als Kind in Gesellschaft seiner Eltern. Sie waren tüchtige Kleinbürger, nicht mehr, aber auch nicht weniger, gute Katholiken und gute Deutsche, die noch keinen Gegensatz sahen zwischen der Bewunderung für dieses steingewordene Denkmal des Glaubens und dem patriotischen Stolz auf die deutsche Kaiserherrlichkeit. Als dann die Oberrealschule in der Leuschnerstraße wegen der Bombardierungen Ludwighafens geschlossen wird, fährt der junge Riese jeden Mittag mit den Klassenkameraden und den Lehrern per Bahn nach Speyer ins Gymnasium am Dom, wo nun der Unterricht erteilt wird, wenn er nicht wegen der Luftangriffe ausfällt, was häufig geschieht.

Das war im Jahr 1944, als das Dritte Reich vom Zenit seiner Erfolge rasch in den Abgrund taumelte. Schule und Hitlerjugend sind damals noch gehalten, das Werk der Ottonen, der Staufer-Kaiser und des rheinischen Geschlechts der Salier zu preisen. Der Führer, so lautete die Botschaft, ist weiterhin auf dem Weg, in die Fußspuren der deutschen Kaiser zu treten, »denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«.2 Die Salier als ferne Vorläufer des »Tausendjährigen Reiches«, der Kaiserdom zu Speyer als Chiffre imperialer Größe – diese Vorstellung ist ihm nicht unvertraut. Ob auch er selbst daran geglaubt hat, verschließt er tief in seinem Herzen. Er ist eben noch ein Kind, ein Kriegskind aus der Stadt Ludwigshafen, auf die bis Kriegsende bei 124 Luftangriffen 40000 Sprengbomben und 800000 Brandbomben fallen. Später wird er in seinen Memoiren schreiben: Die Angst, »die wir damals empfunden haben«, sei ein »dominierendes Gefühl« seines Lebens geworden.3 Wenn die Feuerwehr der Lage nicht mehr alleine Herr wurde, zog man das Jungvolk hinzu, das dann beim Löschen von Bränden und beim Ausgraben der Verschütteten und der Leichen zu helfen hatte. Angst war dabei nicht das einzige Gefühl, das die Jungen erfaßte. Todesangst und Grauen wechselten mit Aufwallungen von Haß und Patriotismus, verbunden mit der Erfahrung, daß in solchen Lagen vor allem zweierlei alles zu ertragen hilft: das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie und die Kameradschaft der Gleichaltrigen.

Manche der Jüngeren haben sich später über die volkspädagogische Ernsthaftigkeit gewundert, mit der er, nachdem ihm die Herrschaft über sein Land zugefallen war, regelmäßig, ohne das je zu vergessen, die runden Gedenktage an Kriegsbeginn und Kriegsende – 1. September 1939, 8. Mai 1945 – wieder und wieder zu großen Besinnungsereignissen machen wollte. Der Krieg und die propagandistische Verführung durch das NS-Regime bilden eine Urerfahrung seiner Generation. Auch Riesen vergessen die Traumata der jungen Jahre nicht.

Auf eigenartige Weise erinnert in dieser Stunde das Zeremoniell des Großen Zapfenstreichs an diese frühen Anfänge. Die Militärtransporte zum Westwall, die im Deutschen Jungvolk gezeigten Wochenschauen und Filme gehörten damals ebenso zum Alltag wie der im Radio verlesene und in den Zeitungen abgedruckte Wehrmachtbericht. Der Vater, ursprünglich Berufssoldat, hatte im Rang eines Hauptmanns am Polen- und dann am Frankreichfeldzug teilgenommen. Der Bruder Walter hatte sich zu den Fallschirmjägern gemeldet und kam im November 1944 bei einem Tieffliegerangriff ums Leben. Damals hatte sich das Bild vom Krieg und von der Wehrmacht schon längst mit Trauer, Sorge und Hoffnungslosigkeit verbunden. Aber in einem Winkel seines Herzens ist der Riese über die Jahrzehnte hinweg eine Art Soldatenkind geblieben, obwohl er selbst nie gedient hat, somit den »weißen Jahrgängen« angehört. Als allerhöchster Kriegsherr wollte er deshalb später die Bundeswehr nicht wie die Wehrmacht als Kampfmaschine begreifen, sondern als Bürgerarmee, deren Aufgabe die Abschreckung sei. Den vielerorts vorherrschenden Pazifismus betrachtete er hingegen als Fehlentwicklung und erzählte stolz allen, die es wissen oder auch nicht wissen wollten, daß seine Söhne bei der Bundeswehr Soldaten waren und nicht etwa zu den Kriegsdienstverweigerern gehören. Und so läßt er sich jetzt von dem ihm dargebrachten Großen Zapfenstreich tief anrühren: »Es ist eine der außergewöhnlichsten Stunden meines Lebens, die mich tief bewegt«, vermerkt er im Tagebuch.4

Bei Kriegsende ist alles gewissermaßen in ein neues Koordinatensystem gerückt worden: die Wehrmacht, das Deutsche Reich, auch der Speyrer Dom. In den Kaiserdomen, die eben noch als Chiffren einer imperialen Sendung des Großdeutschen Reiches begriffen worden waren, sieht man nun wieder die steingewordenen Zeugnisse des wenigstens im Glauben einigen abendländischen Europa. Aus den westlichen Provinzen des zerbrochenen Reiches wurde die Bundesrepublik, und die desillusionierten Kriegskinder wuchsen zu dem heran, was man später »die Generation der Bundesrepublik« genannt hat – eine Generation, für die jetzt der demokratische Rechtsstaat, der Frieden, die Einigung Europas und der Abscheu vor totalitären Regimes genauso natürlich werden, wie vielen von ihnen zuvor Nationalismus, Machtpolitik und der Glaube an die deutsche Sendung natürlich erschienen waren. Der Riese, der jetzt, am 17. Oktober 1998, an den Kaiserdom zu Speyer zurückgekehrt ist, hat sich immer mehr als Verkörperung dieser Generation der Bundesrepublik verstanden.

Ein halbes Jahrhundert der Kämpfe und des Aufstiegs liegen hinter ihm. Frech, ungestüm, noch nicht ganz ausgegoren, aber voll einzigartiger physischer und psychischer Energie hatte er sich 1946 in die Politik gestürzt und rasch reüssiert. Sein bester Wahlkampf, in dem die geschickten PR-Strategen des Jahres 1976 den 1,93 Meter großen, wuchtigen Pfälzer Ministerpräsidenten als »schwarzen Riesen« ins öffentliche Bewußtsein rückten, ist jetzt ebenso Vergangenheit wie die sechzehn Jahre seiner Kanzlerschaft, in denen ihm die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands geglückt ist und er die Staaten Europas mit der ihm eigenen Mischung aus Umsicht und Ungestüm auf den Weg zu einem europäischen Bundesstaat gestoßen hat. Das Kriegskind aus kleinen Verhältnissen ist zum Staatsmann geworden, der mit den Großen dieser Welt von gleich zu gleich verkehrt. So hält er es nicht für ganz unangemessen, seinen Abschied vor dem Kaiserdom zu nehmen, in dem Konrad II., Heinrich III., Heinrich IV. und Rudolf von Habsburg ihre letzte Ruhe fanden.

Die Anhänger haben die vielen Jahre seiner Kanzlerschaft als lange Phase einer Dominanz des Konzepts der Christlich-Demokratischen Union genossen, die gut deutsch, gut europäisch wie gut atlantisch und gleichzeitig wirtschaftsfreundlich und sozial sein wollte. Sie selbst und erst recht diejenigen, die ihn von vornherein ablehnten, haben aber auch unter dem Riesen gelitten, der ein genauso herrischer Machtmensch ist wie die hier beigesetzten Kaiser: immer fordernd, immer realistisch argumentierend, visionär nur dann, wenn er von Europa spricht, und zugleich nach Art aller Machtmenschen ganz naiv selbstbezogen. Die Politologen sehen in ihm die Inkarnation des Parteipolitikers demokratischer Observanz. Die erbitterten und höhnischen Gegner, von denen es so viele gibt wie Anhänger, haben das Schimpfwort »System Kohl« erfunden, um seine in der Bundesrepublik beispiellos erfolgreiche Kontrolle der eigenen Partei und des Staatsapparats zu charakterisieren.

Noch ahnt er nicht, was künftig an Prüfungen auf ihn wartet. Kein Gedanke daran, daß drei Jahre später im Kaiserdom zu Speyer das Requiem für seine Frau abgehalten werden wird, die, unheilbar schwer erkrankt, den Ausweg in den Freitod gewählt hat. Auch Riesen verschont das Schicksal nicht. Sie gelten ohnehin nicht als Gestalten, die das fröhliche Glücklichsein verkörpern. Wer den Riesen beim Großen Zapfenstreich in Speyer genau betrachtet, sieht eine Gesichtslandschaft, in der Sorgen, Zweifel, Anstrengung und Argwohn tiefe Spuren hinterlassen haben, und keineswegs das friedliche Antlitz eines Menschen, der mit sich und der Welt im reinen ist.

In dieser Stunde des Abschieds und der historischen Selbsterhöhung glaubt er aber wohl, daß das Schlimmste hinter ihm liegt. Doch bereits im kommenden Jahr wird die Parteispendenaffäre über ihn hereinbrechen. Nie zuvor in der neuesten deutschen Geschichte ist eine stolze politische Größe von der Öffentlichkeit so tief gedemütigt worden, wie es ihm widerfahren wird. Von Adenauer ist das Wort überliefert: »Wenn ich nicht mehr Bundeskanzler bin, werden alle Kübel mit schmutzigem Wasser über mir ausgießen.«Tatsächlich ist dies dem ersten Bundeskanzler erspart geblieben, aber nicht dem Riesen, der sich lange als dessen glücklicherer Enkel verstanden hat, dem die Wiedervereinigung gelungen ist und der Europa auf den Weg in Richtung Bundesstaat weit vorangebracht hat. Moralische Selbstzweifel werden ihm während dieser spektakulären Affäre nicht so sehr zu schaffen machen. Parteiführer wissen schließlich, daß einem jeden von ihnen wegen unvermeidlichen Operierens in den Grauzonen der Parteifinanzierung oder jenseits der Grenzen des Gesetzes dieses Schicksal widerfahren kann – »Così fan tutte«. Zutiefst treffen wird ihn aber, daß er damit die CDU, die ihm ein halbes Jahrhundert hindurch politische Heimat und Machtbasis zugleich gewesen ist, an den Rand des Ruins führt, und noch mehr, daß nicht wenige seiner einstigen Gefährten und viele Getreue sich empört von ihm abwenden.

Die öffentliche Entrüstung wird sich jedoch bald wieder legen. Es gehört nun einmal zu den Vorzügen von Demokratien, daß sie gelegentlich von Entrüstungsstürmen durchlüftet werden, sonst würde der Übermut der jeweils Regierenden ganz unerträglich. Was als wünschenswerte systemische Reinigung begriffen werden mag, zerbricht allerdings zuweilen die Betroffenen oder verwundet sie doch zutiefst. Solche Orkane fallen auch wieder in sich zusammen, doch folgt dann am Ende eines langen tätigen Lebens häufig das, was der pessimistische General de Gaulle, ein Riese auch er, »le naufrage de l’âge« genannt hat – der Schiffbruch des Alters.

Das alles liegt im Dämmerlicht des 17. Oktober 1998 noch im Nebel der Zukunft. Tief bewegt wird er zu seiner Verabschiedung im Tagebuch bemerken: »Es sind unwiederbringliche Momente. Der Platz vor dem Dom in der Abenddämmerung, die Menschen, die Musik, das Zeremoniell: Meine Gefühle lassen sich nicht in Worte fassen.«

Ob dem geschichtsbewußten Riesen in dieser Stunde wohl die Ambivalenz des Ortes dunkel in den Sinn kommt, an dem er sich feierlich verabschiedet? Der Speyrer Kaiserdom ist ein Denkmal der Größe, aber auch eine Grabstätte, hochgetürmte Geste des Ruhms, aber auch der Vergänglichkeit. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation – längst vergangen, die Kaisergräber – seit langem entweiht. Die Denkmalschützer eines antiquarischen Zeitalters haben zwar die Schale wiederhergestellt, doch den bemühten Restauratoren ist lediglich eine Illusionsarchitektur geglückt. Weiß der Riese um die Relativität aller politischen Leistung? Akzeptiert er sie? Fürchtet er sie? Oder genießt er nur ganz einfach das Empfinden, Großes gewollt und erreicht zu haben, was immer auch daraus werden mag? Die Deutschen in der DDR befreit, Deutschland wider alle Erwartung nochmals staatlich vereinigt, die Versöhnung mit den Gegnern im Kalten Krieg geglückt, die Entwicklung hin zu Europa »unumkehrbar« gemacht … Aber ist und bleibt die deutsche Geschichte periodisch nicht doch auch eine Katastrophengeschichte? Und darf man im unaufhaltsamen Geschichtsprozeß so etwas erwarten wie »Unumkehrbarkeit«?

Kein Monument in Deutschland spricht eine so deutliche Sprache von der Vergänglichkeit aller geschichtlichen Leistung wie der Kaiserdom zu Speyer mit seinen erhabenen Grabstätten.

1 Johannes Leithäuser, »Soooo deutsch«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10. 9. 2009, S. 5.

2 Der eigentliche, etwas bescheidenere, aber beim Singen gern bombastisch veränderte Text des martialischen Marschliedes lautete: »Wir werden weiter marschieren/Bis alles in Scherben fällt,/Denn heute hört uns Deutschland/Und morgen die ganze Welt.«

3 Helmut Kohl, Erinnerungen 1930–1982, München 2004, S. 35.

4 Helmut Kohl, Mein Tagebuch 1998–2000, München 2000, S. 26.

TEIL I

Aufbruch (1930 – 1969)

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Landtagswahlkampf in Rheinland-Pfalz mit Bundeskanzler Kiesinger, Zweibrücken, 13. April 1967

Süddeutsche Zeitung Photo: Süddeutsche Zeitung Photo/ddp images/AP

Eine Stadt ohne Träume: Ludwigshafen am Rhein

Kein Bundeskanzler vor und nach ihm ist so tief in einer Industriestadt verwurzelt wie Helmut Kohl. In Ludwigshafen wird er am 3. April 1930 im Städtischen Krankenhaus geboren. Vom Elternhaus in der Hohenzollernstraße 89 ist es nicht weit zum riesigen Areal der BASF, die im Verein mit anderen Werken der Großchemie Ludwigshafen zur Chemiemetropole gemacht hat und aus Dutzenden von Schornsteinen klebrigen Ruß sowie je nach Windlage einen säuerlichen, bitteren Geruch über die Wohnviertel verbreitet. »Fabrikschmutz, den man gezwungen hat, Stadt zu werden«, lästerte 1928 der expressionistische Philosoph Ernst Bloch, der dort in der Wilhelminischen Ära aufs Gymnasium gegangen war: »Hier ist nur die Rampe für Fabriken und was damit zusammenhängt, ist Roheit und Gestank … Selten hatte man die Wirklichkeit und die Ideale des Industriezeitalters so nahe beisammen, den Schmutz und das residenzhaft eingebaute Geld.«5 Industrieller Gigantismus und weltweites Ansehen der Ludwigshafener Industrie müssen fast ein gutes Jahrhundert hindurch mit harter Arbeit, mit staubigen Wohnungen, mit verrußten Straßen und mit geringer Lebensqualität bezahlt werden.

In der sumpfigen Rheinebene gegenüber von Mannheim war Ludwigshafen gewissermaßen aus dem Boden gestampft worden – ein Gemeinwesen ohne Geschichte und ohne Traditionen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts hatten die Pfälzer Kurfürsten in Mannheim auf der Landzunge zwischen Rhein und Neckar eine gewaltige Festung erbaut. Als vorgelagerte Sicherung für die Hauptfestung wurde auf dem gegenüberliegenden Rheinufer ein kleines Sperrfort errichtet – die Rheinschanze. In einer Abfolge von Kriegen – vom Dreißigjährigen Krieg bis zu den Napoleonischen Kriegen, in denen die Pfalz immer wieder verwüstet wurde – war auch dieses schwache Bollwerk immer wieder erobert, zerstört und erneut aufgebaut worden.

In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts entdeckten gewiefte Unternehmer die Vorteile des Platzes. Das bereits zum Handelszentrum aufgeblühte, nunmehr ins Zeitalter der Industrialisierung eintretende Mannheim gehörte zum Großherzogtum Baden. Die linksrheinische Pfalz aber gehörte zu Bayern, dies übrigens bis zum Jahr 1940. Somit lag es nahe, auf dem bayerischen Ufer einen Freihafen zu erbauen, der dem badischen Mannheim Konkurrenz machte, und auf dem billigen Gelände Fabriken zu errichten, anfangs meist mit Mannheimer Kapital. 1843 ließ sich der ansonsten nicht besonders industriefreundliche Bayernkönig Ludwig I. zu der Entschließung bewegen, die Festung aufzuheben, die Gemarkung um die bisherige Rheinschanze wirtschaftlich nutzen zu lassen und dem rudimentären Hafen seinen allerhöchsten Namen zu geben. Die komplizierten Planungen zogen sich aber in die Länge. Erst unter Ludwigs Nachfolger Maximilian II. erfolgte Ende 1852 die offizielle Gemeindegründung. 1859 wurde Ludwigshafen in den Rang einer Stadt erhoben. 1867/68 kam zur Gunst der Lage noch die Gunst der verkehrstechnischen Anbindung durch den Bau einer Brücke für den Eisenbahn- und Straßenverkehr zwischen Mannheim und Ludwigshafen. Seitdem der Sieg über Frankreich 1870/71 mit der Annexion von Elsaß-Lothringen die linksrheinischen Territorien des Deutschen Reiches vergrößerte und zugleich Investitionen sicherer machte, waren beste Voraussetzungen für ein rasches Wachstum gegeben.

Als die Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also mit Beginn des Industriezeitalters, rasch anwuchs, wurde offenbar, daß sich Ludwigshafen von Städten wie Köln, Nürnberg oder München, Hamburg und Berlin merklich unterschied. Schon wenige Jahre nach der Gründung diagnostiziert ein Beobachter »das echt amerikanische Bild der Stadt Ludwigshafen«, die »mit einer im Innern Deutschlands unerhörten Schnelligkeit binnen zehn Jahren aus dem Boden gewachsen ist«.6 Das Stichwort »amerikanisch« wird auch von späteren Autoren gern aufgegriffen. »Amerikanisch«, das hieß: rapides, mehr oder weniger chaotisches Wachstum dank günstiger Verkehrslage und massiver Industrialisierung. Eine Stadt mitten in der Pampa, würde man heute sagen (»rings um Ludwigshafen die dunstige Ebene mit Sumpflöchern und Wassertümpeln«, hatte der bereits erwähnte Nestbeschmutzer Ernst Bloch geschrieben).

»Amerikanisch« hieß auch: Zusammenströmen von meist jungen, zupackenden Menschen aus allen Himmelsrichtungen, also von Pfälzern, Badenern, Bayern, Hessen, die im Schmelztiegel der rauchgeschwärzten, übelriechenden Industriestadt zu einer Gemeinschaft zusammenwachsen, einen zähen, lebenstüchtigen Pragmatismus des Industrieproletariats und der arbeitsamen kleinen Leute entwickeln, dazu kräftiges Heimatgefühl in ihrer der Gemütlichkeit völlig entbehrenden Stadt, aber auch Härte und Durchsetzungsvermögen. Obschon hier die Einwohnerschaft von überallher zusammenströmt, bleiben die Pfälzer stets tonangebend, das heißt: Auch in Ludwigshafen pulsiert ein lautstarker Geselligkeitstrieb, desgleichen eine schwer zu bändigende rebellische Neigung, aber auch barocke Lebensfreude, wie man sie den Pfälzern generell nachsagt. An Amerika erinnert aber auch das einfallsreiche, der Sentimentalität gleichfalls entbehrende Unternehmertum jener Jahrzehnte zwischen der Achtundvierziger Revolution und dem Ersten Weltkrieg. Familien wie den Engelhorns, den Clemms, den Giulinis oder den Grünzweigs gelingt hier eine einzigartige Verbindung von Erfindergeist, anwendungsbezogener Chemie und kapitalistischer Produktionsweise. Einzelne dieser Gründerfamilien halten sich bis in die Jahrzehnte, in denen auch in den Direktionsetagen von Ludwigshafen »das Regime der Manager« etabliert ist. Noch zu Zeiten Helmut Kohls vertritt der CDU-Bundestagsabgeordnete Udo Giulini zwei Legislaturperioden hindurch, gefördert von Kohl, die Interessen der Großchemie im Deutschen Bundestag.

Industriegeschichtlich gesehen, stellt »das pfälzische Chicago« eine einmalige deutsche Pionierleistung dar. Die 1866 von dem Mannheimer Erfinder Friedrich Engelhorn gegründete »Badische Anilin- und Sodafabrik«, im Volksmund »die Anilin«, mit dem Akronym BASF genannt, gilt schon in den Jahrzehnten des Kaiserreichs weltweit als besonders vorbildliches Chemieunternehmen. Rauch, Schmutz, Abgase und Abwässer, für deren Aufnahme sich der Rhein so hervorragend eignet, werden in Kauf genommen. Auch gegenüber den Arbeitern und Angestellten wird im 19. und frühen 20. Jahrhundert erst einmal Kapitalismus pur praktiziert, immerhin in der Wilhelminischen Ära bei der BASF schon etwas humanisiert durch die Erkenntnis, daß man durch den Bau von Werkswohnungen, durch freiwillige Sozialleistungen oder durch Förderung von Sportvereinen wenigstens bei Teilen der Belegschaft ein Minimum an Zufriedenheit schaffen sollte. Doch die Hauptlast der Daseinssicherung entfällt wie überall in Deutschland auf den Staat und die Kommunen, und so wird es auch bleiben.

Die Großchemie wächst und wächst, auch als sich 1914 die europäischen Staaten in die »Urkatastrophe« des Weltkriegs stürzen. Ludwigshafen wird jetzt zu einem Zentrum der deutschen Rüstungsindustrie. Im benachbarten Oppau wird im Frühjahr 1915 die erste Großanlage zur Herstellung von Salpetersäure aus Ammoniak errichtet, dem Grundstoff zur Sprengstoffherstellung. Ohne das berühmte »Haber-Bosch-Verfahren« wäre die Munitionsproduktion des Kaiserreichs schon im Jahr 1915 zusammengebrochen. 1917 werden in Ludwigshafen und Oppau bereits rund 90 Prozent der gesamten Ausgangsmaterialien und Zwischenprodukte für die Pulver- und Sprengstoffindustrie produziert,7 dazu jede Menge giftiges Chlorgas, das seit 1915 gleichfalls an den Fronten zum Einsatz kommt. Schon damals erlebt das kriegswichtige Ludwigshafen übrigens die ersten alliierten Bombenangriffe. Der Zweite Weltkrieg führt dann nochmals zu einer enormen Investition in die Produktion von Rüstungsgütern. Daraus folgt, daß die Stadt zum Ziel noch viel verheerenderer Luftangriffe und nach dem Zusammenbruch von Demontagen und der Expropriationspolitik der Sieger wird. Aber die Giganten der Großchemie überstehen das chaotische Auf und Ab des 20. Jahrhunderts. Im Frieden ist der Hunger der Industriegesellschaft nach Düngemitteln, Treibstoff, Acetylenprodukten und vielen anderen Stoffen ebenso unstillbar wie im Krieg der Hunger nach Sprengstoff, Flugbenzin und synthetischem Kautschuk.

Bereits in den fünfziger Jahren wachsen die großen Werke wieder aus den Ruinen empor. Das größte von ihnen ist weiterhin die BASF, die nach Zerschlagung des IG-Farben-Konzerns wieder den ursprünglichen Namen annimmt. Wie sich dieses durch Bombardierungen, Demontagen, Wegnahme der Patente und Sequestrierung schwer getroffene Unternehmen binnen Jahren erneut auf den Weltmärkten durchsetzt, bildet den Ludwigshafener Beitrag zur Saga des Wirtschaftswunders der fünfziger Jahre. Von dem großen Hermann Josef Abs, damals allmächtiger Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank und zugleich Aufsichtsratsvorsitzender der BASF, wird die Anekdote erzählt, er habe auf die Frage nach dem Eigentümer des Konzerns zur Antwort gegeben, man möge doch einmal die Buchstaben des Akronyms ein wenig anders gruppieren.

Der Wiederaufstieg des Unternehmens erhält bald optischen Ausdruck: Von 1955 bis 1957 wächst das konsequent funktionale BASF-Hochhaus empor, das den Namen des Firmengründers Friedrich Engelhorn erhält. Damit besitzt die Chemiemetropole Ludwigshafen, in der sich keine ehrwürdigen Dome finden, ihr angemessenes Wahrzeichen, das auch noch markant herausragt, als die Stadt von weiteren Hochhäusern übersät wird.

Dank der Exporterfolge der im Stadtgebiet angesiedelten Unternehmen gehört Ludwigshafen nach kurzer Zeit zu den wohlhabendsten deutschen Kommunen und spielt in der Liga von Hamburg, Köln, Düsseldorf, Frankfurt und München. 1970, als sich die Stadtväter großmütig entschließen, dem von der Linken als Ikone verehrten utopischen Spätmarxisten Ernst Bloch die Ehrenbürgerschaft zu verleihen, ist das von diesem einstmals so bitter kritisierte Ludwigshafen nicht mehr wiederzuerkennen. Der Kapitalismus triumphiert zwar wie eh und je, doch reformistische Sozialdemokraten und Gewerkschafter, engagierte CDU-Politiker, auch fortschrittliche Konzernchefs und Unternehmer haben – ausgestattet mit üppigen Gewerbesteuereinnahmen – die Chemiemetropole inzwischen zu einer lebenswerten Großstadt gemacht, verkehrsgerecht, konsequent von Grünflächen durchzogen und mit mehr als nur einem Hauch von Kultur.

Ludwigshafen, eine Stadt ohne Träume, in der die Großchemie alles beherrscht, wo es hart und ungemütlich zugeht – das ist die Welt des jungen Helmut Kohl. Friesenheim, das Dorf, in dem seine Großeltern mütterlicherseits sich angesiedelt haben und wo er selbst aufwächst, ist schon 1892 von dem gefräßigen Ludwigshafen eingemeindet worden. Das Werksgelände der BASF hat sich wie ein Riegel zwischen das Dorf und den Rhein geschoben und wächst breiter und breiter nach Norden hin. Kohl entstammt zwar einem Beamtenhaushalt, aber er kann der überall präsenten Großchemie nicht entgehen, und er will es auch gar nicht.

Ein Blick auf Kohls frühe Jahre zeigt exemplarisch, wie die Arbeitswelt von Ludwigshafen damals beschaffen war. Während seines Studiums arbeitet der kräftige Bursche in den Semesterferien insgesamt zehn Monate lang, mit Gummistiefeln und Gummischürze bekleidet, in der Steinschleiferei der BASF, wo er in der schmutzigen Brühe aus Wasser und Steinstaub im Akkord Sandsteinklötze zur Auskleidung von Tiefbauschächten zurechtschleift. »Malochen« nennt man das im Ruhrgebiet. Doch die BASF zahlt die höchsten Löhne, fünf Mark pro Stunde waren es, prahlt er später, und von nun an weiß er, wie sich die sogenannte bürgerliche Gesellschaft aus Sicht der Arbeiter darstellt: »Dreieinhalb Jahre als Werkstudent waren vielleicht die Grundlage für meine spätere Laufbahn.«8

Nach dem Ende des Studiums folgt ein Zwischenspiel als Direktionsassistent bei der Eisengießerei Willi Mock, auch das ein Ludwigshafener Betrieb mit damals rund 250 Arbeitern und Angestellten. Das klingt vornehm, ist es aber nicht. Daß es in einer Eisengießerei genauso grob zugeht wie zuvor in der Steinschleiferei, versteht sich von selbst. Ein sogenannter Direktionsassistent kann sich nur mit ständigem Gebrüll behaupten. Die Ludwigshafener Arbeitswelt ist nichts für zarte Gemüter.

Danach lernt Kohl die Ludwigshafener Chemie gleichsam auf den höheren Etagen kennen. Während der gesamten sechziger Jahre verdient er ein anständiges Gehalt beim Landesverband der chemischen Industrie von Rheinland-Pfalz, kurz »Chemieverband« genannt, muß aber gewissermaßen zwei Jobs zugleich gerecht werden. Da ist zum einen die tagtägliche Verbandstätigkeit, wo er mit Fragen der Wirtschafts-, Finanz-, Zoll-, Steuer- und Umweltpolitik befaßt ist, zum anderen, in der Freizeit, die ausufernde politische Aktivität. Selbstverständlich wissen die Bosse, daß sie hier einen jungen Mann beschäftigen, der vielleicht politisch seinen Weg machen wird und somit von Nutzen sein kann. Aber im Ludwigshafen der frühen sechziger Jahre gibt es noch keine Sinekuren. Man erwartet, daß er sich einsetzt.

Im Jahr 1960, als er beim Chemieverband anheuert, steigt er gerade in die Kommunalpolitik ein und wirft sich dort sofort mit aller Kraft ins Zeug. Neun Jahre hindurch, bis er zum rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten gewählt wird, ist er hier der unumschränkte, noch vergleichsweise junge, bemerkenswert grob zulangende, stets zum heftigen Streit aufgelegte Vorsitzende der CDU-Stadtratsfraktion, die sich allerdings zu seinem großen Verdruß gegenüber den allmächtigen »Sozen« andauernd in der Position der strukturellen Minderheit befindet.

Von Mitte der sechziger Jahre an wächst Helmut Kohl spürbar aus Ludwigshafen heraus, nimmt die Aufgaben im Chemieverband und im Stadtrat aber immer noch mit Organisationsgeschick und einer physischen Robustheit wahr, die schon damals manchen erstaunt. Die Herren auf den höchsten Etagen des Chemieverbands sind sich nun darüber im klaren, daß dieser junge Mann politisch auf dem Weg ganz nach oben in Rheinland-Pfalz ist. Seine Tätigkeitsfelder werden dementsprechend verändert. Nun ist in erster Linie seine aktuelle und politische Nützlichkeit gefragt. Es wäre nicht zutreffend, ihn in dieser Phase als Lobbyisten zu bezeichnen. Dafür ist er bereits zu eigenständig. Der Chemieverband betreibt durch ihn nicht Landschaftspflege, sondern beschäftigt ihn eher als vielversprechenden Landschaftsgärtner, der seinerseits hochgestellte Manager der Chemieindustrie in sein Netzwerk eingliedert. Nun kann er sein Tätigkeitsfeld mit Billigung einsichtsvoller Chefs zusehends in den Mainzer Landtag verlagern und seine Arbeitszeit selbst einteilen. 1969, als er Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz wird, gibt er beide Positionen in seiner Vaterstadt auf, die Arbeit beim Chemieverband und den Posten als Boß der CDU-Stadtratsfraktion.

Tatsache ist jedenfalls: Helmut Kohl ist in den ersten vierzig Jahren seines Lebens Tag und Nacht auf den verschiedensten Feldern in Ludwigshafen aktiv: als Schüler und junger Parteiaktivist, als Werkstudent, als Wahlkampfleiter, von 1959 an als Landtagsabgeordneter für seine Heimatstadt, zudem während der ganzen sechziger Jahre als Fraktionsvorsitzender im Stadtrat und beim Chemieverband. Er ist somit ein Produkt dieser unsentimentalen Industriestadt, die er kennt wie seine Hosentasche, in deren Rhythmus er lebt, in der er alles über die Bedingungen der zeitgenössischen Industriegesellschaft gelernt hat, von den sehr unterschiedlichen Mentalitäten ihrer Milieus bis zu ihren Defiziten und Chancen. Im Gesichtsfeld der überregionalen Öffentlichkeit taucht er allerdings erst als Ministerpräsident von Mainz auf.

Mit Mainz verbinden sich in der damaligen Bundesrepublik die unterschiedlichsten Assoziationen: der Mainzer Karneval (»Mainz wie es singt und lacht«) oder auch die Feierabendwelt des Fernsehzeitalters bei den Mainzelmännchen auf dem Lerchenberg. Kohl selbst gibt jetzt im berühmten Weinkeller der Mainzer Staatskanzlei den burschikosen Ministerpräsidenten, der oberflächliche Besucher eher an die Pfälzer Weinstraße denken läßt und daran, wie einstmals ein Volkskundler schrieb, »daß man in diesem gesegneten Land seinen Magen … nicht umsonst hat«.9 Doch sie täuschen sich, denn das ist nur ein Teil der Wahrheit. Wer es künftig mit Helmut Kohl zu tun bekommt, sollte tunlichst nie vergessen, daß er hier einen harten Brocken vor sich hat, der aus der ungemütlichen Industriestadt Ludwigshafen kommt, wo einem nichts geschenkt wird und wo man genauso zäh arbeiten gelernt hat wie im Schwäbischen.

Kohls Verbindung zum heimischen Ludwigshafen reißt nicht ab, als er zunächst nach Mainz geht, dann nach Bonn und ganz am Ende seiner politischen Wirksamkeit nach Berlin. Er behält seinen Wohnsitz in Ludwigshafen, wo er sich Ende der sechziger Jahre in dem etwas besseren Stadtteil Oggersheim, Marbacher Straße 11, ein geräumiges Haus gebaut hat. Auch Oggersheim ist Ludwigshafen, denn es wohnen dort nicht nur gut Betuchte, sondern ebenso Tausende von Arbeitern. In diesem Stadtteil dominieren die Sozialdemokraten, die hier in den frühen siebziger Jahren zum großen Verdruß Kohls und seiner CDU eine »Integrierte Gesamtschule« einrichten.10 Keine heile Welt, in Oggersheim genauso wenig wie im Ortsteil Friesenheim oder in der Gartenstadt, wo Kohl zuvor gewohnt hat, wohl aber eine Welt, in der er sich offensichtlich zu Hause fühlt und in der er immer wieder Kraft tankt!

Seine Mitarbeiter in Bonn wissen zu berichten, daß er jeden Freitag pünktlich um 16.30 Uhr seinen Wagen besteigt oder als Bundeskanzler den Hubschrauber, um nach Ludwigshafen zu enteilen.11 Natürlich hört die Politik dann nicht auf: Besprechungen, Telefonate, kürzere Fahrten zu Parteiveranstaltungen. Aber man weiß auch, daß er dort einen vom Mainzer und Bonner Betrieb weit entfernten Kreis alter Freunde trifft sowie Männer und Frauen der Ludwigshafener Parteibasis. Sie berichten ihm am Samstagmorgen im Schwimmbad, in der Sauna oder wo auch immer völlig ungeschminkt, was man in der Industriestadt Ludwigshafen tatsächlich von den Künsten der Bonner Politik hält, was Verdruß bereitet, worüber man sich aufregt und wo der Parteivorsitzende und Bundeskanzler eigentlich Remedur schaffen sollte. Am Montagmorgen warten seine Mitarbeiter schon darauf, daß er sie mit Erkundigungen oder Aufträgen herumhetzt, weil ihm der oder jener dies oder jenes gesteckt hat, was dem großen Mann einleuchtet.

In Ludwigshafen hat Helmut Kohl nicht nur seinen Wohnsitz, wo er ins Familienleben eintaucht, wohin er des öfteren Parteifreunde zitiert und wo er gelegentlich auch Staatsgäste empfängt. Die Stadt ist auch weiterhin seine kommunalpolitische Heimat. Als er 1973 Bundesparteivorsitzender der CDU wird und auch als er 1976 als Kanzlerkandidat erstmals bundesweit ausgreift, bleibt er kommunalpolitisch in Ludwigshafen verwurzelt. Seitdem er an der Spitze der Landesliste von Rheinland-Pfalz in den Deutschen Bundestag gelangt ist, versucht er unablässig, der SPD den Wahlkreis Ludwigshafen abzujagen. Viermal scheitert er dabei, erst 1990 erringt er als »Kanzler der Einheit« auch das Direktmandat. 1994 kann er es verteidigen. Doch 1998 verliert er nicht nur die Bundestagswahl, sondern auch das Direktmandat für Ludwigshafen.

Wenn nötig, macht er pointiert darauf aufmerksam, wo sich seine politische Basis befindet. Als beispielsweise Heiner Geißler Ende 1993 in der CDU/CSU-Fraktion wieder einmal an das linke Gewissen der CDU appelliert, kanzelt er ihn ab: »Ich wohne nicht irgendwo, ich wohne unter ganz normalen Industriearbeitern.«12 Nach dem definitiven Ende seiner Karriere bleibt er nicht in Berlin. Er kehrt nach Ludwigshafen zurück, in die Marbacher Straße 11, und verbringt hier seinen Lebensabend, umsorgt von Frau Maike und besucht von treuen Jugendfreunden.

Selbstverständlich unterliegt jedermann in unseren Tagen den unterschiedlichsten Einflüssen. Das gilt ganz besonders für einen Spitzenpolitiker wie Helmut Kohl. Doch wenn einer wie er die ersten vierzig Jahre seines Lebens in seiner Geburtsstadt tätig ist, danach für weitere vierzig Jahre und mehr seinen Wohnsitz dort beibehält und das breitgefächerte politische Netzwerk weiter pflegt, muß die Prägekraft dieser Umgebung hoch veranschlagt werden. Von den Bundeskanzlern sind nur Konrad Adenauer und Helmut Schmidt genauso »ortsfest« geblieben. So wie Kohl mit Leib und Seele ein Ludwigshafener ist, war Adenauer zeitlebens ein »kölsche Jung«, und Helmut Schmidt ist unverwechselbar ein Hamburger. Köln und Hamburg sind jedoch keine reinen Industriestädte. Sie haben viel Industrie, sind aber zugleich ausgeprägte Handelsstädte, Bankenzentren, neuerdings auch Medienzentren, und sie besitzen eine Stadtkultur, die jahrhunderteweit zurückreicht. Ludwigshafen hingegen ist primär Industriestadt, somit auch eine Arbeiterstadt, von ganz eigenem Profil und recht spezifischer Prägekraft. Diese lebenslange Verwurzelung unterscheidet Kohl von allen CDU- und SPD-Kanzlern vor und nach ihm. Bezüglich der CDU-Kanzler erübrigt sich jede Beweisführung, und bei den SPD-Kanzlern weisen der Lübecker Willy Brandt oder Gerhard Schröder, der aus einem Dorf kommt, das keiner kennt, nicht die lebenslange Einbettung in eine Arbeiterstadt auf, ungeachtet ihrer Herkunft aus dem Arbeitermilieu. Wer somit bezüglich Helmut Kohls allein auf die Herkunft aus der Pfalz achtet, verkennt die Tatsache, daß es eine besonders markante Ecke der Pfalz ist, in der er sich zu Hause fühlt und die ihn zu einem harten Burschen machte.

5 Stefan Mörz/Klaus Jürgen Becker (Hrsg.), Geschichte der Stadt Ludwigshafen am Rhein, Bd. 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, Ludwigshafen a. Rh. 2003, S. 681.

6 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Pfälzer. Ein rheinisches Volksbild. Vollständige Neuausgabe nach der Erstausgabe von 1857. Mit einem Nachwort von Jasper von Altenbockum, Ludwigshafen a. Rh. 2007, S. 283.

7 Stefan Mörz/Klaus Jürgen Becker, Geschichte der Stadt Ludwigshafen, a.a.O., Bd. 1, S. 856.

8 »Wild und gefährlich«, in: Der Spiegel, 49/1995 (4. 12. 1995), S. 32.

9 Wilhelm Heinrich Riehl, Die Pfälzer, a.a.O., S. 227.

10 Stefan Mörz/Klaus Jürgen Becker (Hrsg.), Geschichte der Stadt Ludwigshafen am Rhein, Bd. 2: Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis zur Gegenwart, Ludwigshafen a. Rh. 2003, S. 912f.

11 Eduard Ackermann, Mit feinem Gehör. Vierzig Jahre in der Bonner Politik, Bergisch Gladbach 1994, S. 125.

12 CDU/CSU-Fraktion, 12. Wahlperiode, Protokoll der Fraktionssitzung vom 7. 12. 1993. ACDP, VIII-012 123/3.