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LUST AUF LEBEN

Die neue Generation der Frauen über 60

FOTOS: KONRAD RUFUS MÜLLER TEXTE: BARBARA BRAUDA

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„MAN MUSS VERSUCHEN, SEIN INNERES MAKE-UP ZU FINDEN“

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ELVIRA BACH

geboren 22. Juni 1951 in Neuenhain
Beruf Malerin

ELVIRA BACH wird am 22. Juni 1951 in Neuenhain im Taunus geboren. Von 1972 bis 1979 besucht sie die Hochschule der Künste in Berlin, u.a. mit den „Jungen Wilden“ Rainer Fetting, Salomé, Helmut Middendorf und Stefan Szczesny. 1982 erlebt sie auf der Documenta 7 in Kassel ihren internationalen Durchbruch. Seitdem sind ihre Werke in Galerien, Museen und auf Kunstmessen in der ganzen Welt zu sehen.
Elvira Bach ist heute eine der bekanntesten deutschen Malerinnen. Im Mittelpunkt ihrer Kunst stehen Frauen und alle Themen ihres Lebens, ob als Akt, als Mutter, Geliebte, Hausfrau, als Teil der Welt. Elvira Bach, deren Markenzeichen ihre Turbane sind, ist verheiratet und hat zwei Söhne (Lamine, 28, und Maodo, 20). Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Frau Bach, wie war das, als Sie 60 wurden?
Ich habe eigentlich noch nie wirklich Probleme mit meinem Alter gehabt. Nur mit 40 war ich an einem Punkt, an dem ich nachdenken musste. Ich hatte bis dahin nur den einen Sohn; als mein zweiter Sohn auf die Welt kam, war ich schon 42.

Sie haben sich mit 40 überlegt, noch mal schwanger zu werden?
Ja. Bei meinem Erstgeborenen war ich 35. Ich habe irgendwann Angst bekommen …

… dass er Einzelkind bleiben könnte?
… dass ich ihn verlieren könnte! So bin ich gar nicht, normalerweise. Ich hatte immer alles auf mich zukommen lassen. Nun beschlich mich diese leise Angst.

Wie sehen Sie heute Frauen, die über 60 sind?
Alter bedeutet mir nichts. Ob 20, 35, 60 oder 65 – ich sehe die Gesamtausstrahlung, das Besondere eines Menschen.

Was interessiert Sie genau?
Es ist die Persönlichkeit, die sich im Laufe eines Lebens aufbaut. Ich finde es traurig, wenn sich schon 18-jährige Mädchen operieren lassen. Es ist wichtig, sich damit auseinanderzusetzen, wenn die Nase oder was auch immer nicht so ist, wie sie vermeintlich sein sollte. Daran wächst doch die Persönlichkeit. Man sollte versuchen, sein „inneres Make-up“ zu finden, sich innerlich schön zu machen. Viele achten zu sehr auf Äußerlichkeiten, anstatt an ihrer inneren Schönheit zu feilen, zu arbeiten, sie zu trainieren und ihr Herz und ihren Geist zu bilden. Das macht unabhängig. Persönlichkeit stellt Schönheit in den Schatten.

Warum sind Sie und andere Frauen mit über 60 heute so viel selbstbewusster?
Daran haben meine Kinder einen großen Anteil. Durch sie bleibe ich jung. Sie inspirieren mich, neue Bereiche des Lebens kennenzulernen, neugierig und offen zu bleiben. Doch es ist auch eine Haltung zur Welt: Es ist schön zu leben, in dem Alter.

Wo leben Ihre Kinder?
Ein Sohn wohnt manchmal noch zu Hause, der andere in New York und studiert dort an der Columbia University. Lamine hat mich damals mit seinen Freunden in Clubs mitgenommen. Das war sehr schön. Da wäre ich sonst wahrscheinlich nie hingegangen.

Im Allgemeinen habe ich allerdings kein Problem damit, auch alleine irgendwohin zu gehen. (lacht) Ich habe schon oft alleine an der Bar gestanden! So habe ich anfangs auch meine Frauenfiguren entwickelt, einfach indem ich mich solchen Situationen ausgesetzt habe.

Sind Ihre Frauenfiguren eine Mischung aus Biographischem und dem, was Sie sehen, z. B. dem aktuellen Frauenbild?
Ja. Mir ist es ganz wichtig, das auszudrücken, was ich weiß, was ich erfahren habe, was ich mir erträume, wünsche, aber vor allen Dingen, was ich erlebt habe.

Sind das positive Erfahrungen?
Ich denke, das sieht man auf den Bildern. Ich kann nur positive, starke Frauen malen, weil ich eben auch positiv bin.

1983 haben Sie hier in Berlin Ihren späteren Mann Alioune kennengelernt. Zwei Jahre später kam Ihr erster Sohn Lamine zur Welt. Wie sieht das Familienleben einer Malerin aus?
Ich muss meinen Alltag straff organisieren und kann keine Pause machen, ich kann es einfach nicht. Nach der Geburt habe ich sofort weitergearbeitet, zunächst ein paar Tage zu Hause, dann wieder hier im Atelier. Zum Glück hatte ich Menschen, die auf Lamine aufgepasst haben. Als dann noch Maodo auf die Welt kam, habe ich einen Mann fest angestellt.

Konnten Sie immer von Ihrer Kunst leben?
Ja. Anders geht es nicht. Das ist mir ganz wichtig. Seit 1980 kann ich von meiner Arbeit leben.

Was macht Ihr Mann beruflich?
Er hat in Afrika eine Farm mit Tieren und baut Mais, Erdnüsse und Hirse an.

Er lebt überhaupt nicht in Berlin?
Doch, auch …Er lebt in Berlin und im Senegal. Zeitweise war es sehr schwer, immer wieder Abschied nehmen zu müssen, aber es sorgt auch für eine gewisse Lebendigkeit im Miteinander. Man gewöhnt sich daran, und es wird auch selbstverständlicher Alltag.

Freie Künstlerin ist kein einfacher Beruf.
Nein. Ich habe dadurch aber viele Möglichkeiten gehabt, vieles gesehen, konnte in Afrika arbeiten und malen. Am Anfang, als Lamine noch klein war, konnte ich länger wegbleiben.

Und Sie haben dabei viel gelernt …
Ja! Irgendwo müssen meine Themen ja auch herkommen. Afrika gehört in meine Welt. Dabei war nicht nur alles schön, es war auch ein Kampf, aber das finde ich eben gut.

Malen Sie, wenn Sie im Senegal sind?
Ja. Ich male immer!

Funktioniert eine Beziehung trotz dieser ständigen Trennungen? Sie sind ja schon 30 Jahre verheiratet.
Genau. Alioune ist der Mensch, den ich am besten kenne. Und ich bin eine treue Seele. Es gibt tiefe Verbindungen, die man nicht kappen kann.

Und Ihr Leben hier, in Berlin? Besuchen Sie social events, um im Gespräch zu bleiben?
Ja, es gibt tolle Veranstaltungen in Berlin. Ich bin sehr viel alleine, jeden Tag, wenn auch freiwillig. Und darum gehe ich ab und zu aus, nicht unbedingt, um zu reden, sondern um zu schauen und zu beobachten.

Reden Sie nicht gerne?
Ich rede schon, aber ich muss nicht. Ich habe einiges erlebt und kann jetzt zurückblicken. Wenn ich mit 30 oder 40 gefragt wurde, was ich denn mache, was ich zeigen wolle und warum, konnte ich teilweise überhaupt nichts sagen, weil ich noch mittendrin war. Aber jetzt kann ich es sagen. Das hat mit einem gewissen Alter zu tun. Man ist reifer geworden, auch freier.

Zu beweisen ist ja nichts mehr, Sie haben bereits bewiesen.
Nein, aber ich kann heute Sachen sagen, die konnte ich vorher nicht sagen. Vielleicht, dass ich doch mein Leben gemalt habe. Und immer noch male. Vielleicht.

Malen Sie jeden Tag? Gehen Sie jeden Tag ins Atelier?
Ja, eigentlich schon.

Sieben Tage die Woche?
Nein, aber an fünf Tagen garantiert. So war es immer. Ich habe niemals eine Pause gemacht und habe wenig Urlaub gemacht.

Vielleicht haben Sie eine andere Wahl getroffen.
Genau. Und wenn ich irgendwohin fahre, egal wohin, male ich auch da. Ob ich in der Karibik bin oder in Südfrankreich – ich habe meine Malutensilien dabei.

Skizzenbücher?
Nein, ich male dann richtig …

… mit Töpfen und Pinseln?
Die bekomme ich vor Ort. Überall, wo ich war, wollte und musste ich arbeiten, zum Beispiel für Ausstellungen. Ich kann es mir nicht anders vorstellen (lacht), die Malerei gehört einfach zu mir.

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„Elvira Bach hat jedes detail inszeniert, mir blieb nur die fotografische umsetzung.“ Konrad Rufus Müller

„MAN MUSS ALLES GLEICH MACHEN, NICHTS VERSCHIEBEN, NICHTS AUFHEBEN FÜR IRGENDWANN …“

Ist es Besessenheit, oder ist es das Thema Ihres Lebens?
Ich weiß es nicht, jedenfalls ist es so und war immer so gewesen. Wenn ich aus dem Atelier gekommen bin, in dem die großen Bilder entstehen, dann habe ich zu Hause weitergemalt, nachts, auf dem Esstisch, wo auch immer, die kleineren Bilder. Wenn es große Formate sind, brauche ich die Intimität des Ateliers. Aber kleine Arbeiten male ich zu Hause.

Machen Sie noch etwas neben der Malerei – gehen Sie ins Theater?
Nein, derzeit leider nicht.

Ins Konzert, ins Kino?
Leider auch nicht!

Haben Sie Freunde, gehen Sie gelegentlich aus?
Ja, auf jeden Fall. Ich habe große Lebensfreude, höre viel Musik, laut, rauche dabei, trinke gerne Wein. Vor allem, seitdem die Kinder vor einem Jahr ausgezogen sind. Bis dahin war ich jeden Abend zu Hause.

Um sich um die Kinder zu kümmern.
Ja, ich war im Atelier und dann zu Hause. Nach 20 Uhr noch irgendwo ins Theater zu gehen oder in ein Konzert, funktionierte leider nicht.
Natürlich bin ich viel gereist, war auf Ausstellungen und Messen. Am Anfang waren die Kinder aber immer mit dabei, wenn ich sie mitnehmen konnte. Es war mir immer wichtig, mich intensiv um meine Kinder zu kümmern. Mein Leben waren die Kinder und das Atelier. Natürlich habe ich Einladungen angenommen, aber dann war die Betreuung immer organisiert. Soll ich Ihnen etwas verraten? Ich bin nicht mal zum Mülleimer gegangen … nicht mal das – ich habe sie keine Minute aus den Augen gelassen. Vielleicht war es zu viel, vielleicht war ich zu alt. Wenn ich jünger gewesen wäre, hätte ich es vielleicht anders gemacht, gelassener. Aber bei mir war es nun einmal so. Und es sind immer Helfer da gewesen. Stefan hat 20 Jahre für mich gearbeitet, fest angestellt im Haushalt, so lange, bis Maodo weggegangen ist. Ich hätte gar nicht arbeiten können, wenn ich nicht gewusst hätte, dass alles in Ordnung ist. Und das ist eben anders als bei Kollegen, die eine Frau zu Hause haben. Ich musste mich um alles kümmern, dafür sorgen, dass alles funktioniert. Das geht auch nur, wenn man das Geld dazu hat ...

… und die Disziplin.
Total, sonst geht es nicht.
Ich habe auch immer gedacht, ich muss alles gleich machen, nichts verschieben, nichts aufheben für irgendwann … Das sind die Bausteine, die zum Leben beitragen: für die Kinder alles machen. Nicht sagen, das geht nicht. Ich meine, wenn es geht, dann muss man es machen. Nie sagen, das mache ich übermorgen oder in drei Jahren. Nein. Jetzt. Heute.

Die Zukunft ist heute.
Ja, genau. Dadurch wird das Leben aufgebaut. Das kann einem keiner mehr nehmen. Das Erleben, das Schöne. So habe ich immer gedacht.

Sogar Ihre Ehe auf zwei Kontinenten haben Sie hinbekommen.
Ja, das haben wir, auch wenn es immer wieder herausfordernd ist. Und genau das ist es, was das Leben spannend, schön und natürlich auch manchmal anstrengend macht. Herausforderungen anzunehmen, zu lernen, sich die Welt und die Menschen zu erobern. Ich hatte das große Glück, mich immer konzentrieren zu können und mich nicht ablenken zu lassen, sondern mich meinem Lebensthema widmen zu können: der Malerei. Ich fühle mich dadurch vom Leben beschenkt und freue mich auf alles, was noch kommt.

Impressum


Konzept und Redaktion
Wolfgang Behnken
Ges taltung Anna Moritzen
Lektorat Andreas Feßer
BEHNKEN & PRINZ GmbH & Co. KG
www.behnkenprinz.com

Fotos
Konrad Rufus Müller

Seite 6, Karin Rocholl
Seite 163, Sven Hoffmann Journal
Seite 174, Volker Hinz

Texte
Barbara Brauda

Litho und Bildbearbeitung
Edelweiß-Publish
www.edelweiss-publish.de

ludwig:media
Repro Ludwig Prepress & Multimedia GmbH
www.ludwigmedia.at

Projektkoordination
Dr. Marten Brandt

E-Book-Konvertierung: Datagrafix

Verlag
Edel Books
Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © 2014 Edel Germany GmbH,
Neumühlen 17, 22763 Hamburg
www.edel.com
1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

eISBN 9-783-8419-0286-3

 

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Der Titel unseres Buchs stammt von Petra Roth, der 69-jährigen ehemaligen Frankfurter Oberbürgermeisterin. „Ich habe so viel Lust auf Leben“, rief sie temperamentvoll am Ende unseres Gesprächs. Das war sie, die Quintessenz! Und die frohe Botschaft an alle Töchter, Enkeltöchter, die 30-, 40- und 50-Jährigen: Auch über 60 bleibt das Leben spannend. Und alles ist möglich. Mädels, keine Angst! Alles! Man muss es aber wollen und etwas dafür tun! Und sich nicht auf die faule Haut legen. Ihr seid immer auch Vorbild für die Jüngeren.

Wer es noch nicht bemerkt hat, muss blind sein: Die Frauen über 60 werden immer jünger. Und interessanter. Sie haben nichts mehr von einer älteren Dame. Geburtsdatum und Auftreten passen nach konservativen Vorstellungen nicht mehr zusammen. Man fragt sich oft gar nicht, wie alt diese oder jene Frau wohl sein könnte. Noch nicht mal, ob sie jung ist für ihr Alter. Es ist die Persönlichkeit, die anzieht und überzeugt. Falten? Wahrscheinlich. Na und?

Das ist ziemlich neu. Noch vor einer Generation klang das völlig anders: Der „Spiegel“ veröffentlichte 1984 eine Titelgeschichte über „Die Frau um 40“. „Ich bin unsichtbar geworden“, klagte eine, die ihre Attraktivität eingebüßt hatte. Und der damals trendigste Modedesigner Courrèges lästerte boshaft, jede Frau über 40 sollte sich am besten erschießen. Was für eine Unverschämtheit! Ich war damals 37 und überzeugt davon, dass sich mein Leben anders entwickeln würde. Natürlich behielt ich recht! Die 25 Frauen unseres Buchs sind lebender Beweis dafür, dass sich Entscheidendes verändert hat.

Es war übrigens ganz leicht, Frauen für unser Buchprojekt zu motivieren und über ihr Leben zu sprechen. Sie finden nämlich, es muss endlich gesagt werden: Frauen über 60 sind keine „Omas“. Sie stehen mitten im Leben, sind mitten in der Karriere, wagen gerade einen Neustart oder stecken in spannenden Projekten. Sie haben Ausstrahlung, auch erotische, sehen gut aus, und ihr Selbstbewusstsein ist natürlich. Die porträtierten Frauen stammen aus unterschiedlichen Bereichen und Berufen. Sie erzählen, wahrscheinlich mit dieser Generation zum letzten Mal, noch Geschichten von Flucht und Vertreibung, Geschichten aus grauer Nachkriegszeit, in der Mädchen nach Meinung der Mütt er besser kein Abitur machten, weil das Männer nur abschreckt, aber vor allem Geschichten von Erfolgen und individuellen Zielen, die mit Ehrgeiz und enormem Einsatz erreicht wurden. Auch Schicksalsschläge, Krankheit und Tod werden nicht verschwiegen. Denn 60 Jahre und mehr sind eine lange Zeit, und das Leben hat mehr Phantasie, als wir uns erträumen.

Jutta Gampe vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock liefert eine wissenschaftliche Erklärung für das Phänomen der modernen 60er. Der Mensch altert zwar immer noch ab 40, d.h. ab 40 geht’s bergab. Aber seit den 70er Jahren sinkt die Mortalität, d.h. die Menschen sterben immer später, gewinnen jedoch an Lebensqualität. Sie haben bessere Voraussetzungen durch gesündere Ernährung und medizinischen Fortschritt. Nicht rauchen hilft weiter, maßvolles Essen, Sport ist wichtig. Kosmetik und Mode spielen eine große Rolle und vor allem Bildung. Bildung gilt als die wichtigste Voraussetzung für ein langes Leben. Salopp formuliert: Erkenntnis ist der erste Weg zur Besserung. Das Leben hat sich gedehnt. Gesund und fit können wir auch die spät eren Jahre mehr genießen, mehr leisten und besser nutzen. Insofern sind die Frauen dieses Buchs Produkte der modernen Wissensgesellschaft. Am oberen Ende des Lebens, und da ist man mit über 60 nun mal, ist also noch viel zu holen. Da, wo früher das Ende war, ist heute noch lange nicht Schluss. Jutta Gampe stellt die These der überalterten Gesellschaft auf den Kopf: Da wir so viel länger fit bleiben, erleben wir eben keine Vergreisung der Gesellschaft, sondern eine Verjüngung.

Sehen Sie, und das beweisen die Frauen in unserem Buch.


Barbara Brauda

 

 

 

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„ICH HABE
SO VIEL LUST
AUF LEBEN“

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Dr. h.c. PETRA ROTH

geboren 9. Mai 1944 in Bremen
Beruf Oberbürgermeisterin a.D.

PETRA ROTH ist eine der erfolgreichsten Politikerinnen Deutschlands. Von 1995 bis 2012 war sie CDU-Oberbürgermeisterin in Frankfurt und dort hochgeschätzt. Bis 2011 amtierte sie mit Unterbrechungen als Präsidentin des Deutschen Städtetags. 2012 war sie auch als Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten im Gespräch.
Petra Roth wird am 9. Mai 1944 in Bremen geboren. Sie bildet sich in Freiburg an der Buchholz-Schule zur Arzthelferin aus. In zweiter Ehe heiratet sie in Frankfurt Erwin Roth und startet als Quereinsteigerin eine spektakuläre Karriere als Politikerin. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl führt sie in seinem legendären Telefonverzeichnis und ermutigt sie zur Kandidatur. Er fördert sie, weil er ihr Rückgrat und ihre Tatkraft achtet: „Die geht auch uff de Gass“… und ran an die Leute. Petra Roth reüssiert und macht aus einer grauen, schmutzigen Stadt mit schlechtem Ruf eine moderne, kulturorientierte Wirtschaftsmetropole mit hoher Lebensqualität.
Petra Roth ist verwitwet, hat zwei Söhne und zwei Enkel und ist mit einem Schweizer liiert. Sie lebt in Frankfurt, sitzt in mehreren Aufsichtsräten, Stiftungen und Gremien.

Gerade wird in der Frankfurter Paulskirche feierlich der renommierte Ludwig-Börne-Preis für Essays und Reportagen verliehen. In diesem Jahr, 2007, geht er an den jüdischen Publizisten Henryk M. Broder, der sich um die Aufarbeitung des deutsch-jüdischen Verhältnisses verdient gemacht hat. In die Laudatio des Jurors Helmut Markwort hinein dringen plötzlich Zwischenrufe. Markwort ignoriert den Störer, aber der gibt nicht auf. Unruhe entsteht. Ordner betreten den überfüllten Saal. In der ersten Reihe sitzt die Oberbürgermeisterin Petra Roth. Nach einer Weile erhebt sie sich, geht ruhig durch den Mittelgang und findet den Zwischenrufer. Sie setzt sich neben ihn, jemand muss ihr Platz machen, und spricht mit ihm. Es wird wieder still. Markwort kann seine Rede beenden. Der Skandal bleibt aus.

Eine Szene, die typisch ist für Petra Roth. Gespür für Situationen und Stimmungen, das sagt man ihr bewundernd nach. Sie erinnert sich genau: „Das war kritisch. Durchaus dramatisch. Frankfurt ist eine linksliberale Stadt, in der die Kontrolle von Polizei oder Sicherheitskräften nicht gern gesehen wird. Es ging darum, den Bürgern das subjektive Sicherheitsgefühl zu geben, aber das objektive Sicherheitsbedürfnis nicht in Erscheinung treten zu lassen. Das heißt, keine Uniform. Vorne sprach einer über die Freiheit des Geistes. Von hinten kamen Zwischenrufe mit wohl antisemitischem Zungenschlag. Ich kannte den Mann nicht. Aber ich kann Menschen führen. Die Sicherheitskräfte sind angewiesen, wenn Unruhe entsteht, zu beobachten und rauszuführen. Ich dachte nur, um Gottes willen! Wenn jetzt zwei, drei Sicherheitskräfte … Und deshalb bin ich hingegangen zu dem Mann, und er hat mir erzählt, was ihn aufregte. Es ging um die Palästina-Israel- Frage. Das war hochpolitisch.“ Wieder mal hatte sie Zivilcourage bewiesen und spontan eine brisante Lage entspannt. „Gewalt. Sehen. Helfen.“ heißt eine Initiative, die sie gegründet hat, um die Menschen im Alltag zu mehr Mut und Engagement zu bewegen.

Die wohl meistfotografierte Bürgermeisterin empfängt in ihrem Haus, einem schlichten weißen Kubus, im Stadtteil Niedererlenbach. Sie trägt enganliegende schwarze Hosen, einen kurzen gelben Cardigan mit einem gelben Poloshirt darunter. Die kurzen blonden Locken wirken sportlich und dynamisch. Das Gesicht ist nicht frei von Falten, ihre Ausstrahlung und Präsenz lassen das jedoch vergessen. Ihr Haus ist klar gegliedert, lichtdurchflutet, der Blick geht auf eine kurzgeschorene, wellige Rasenfläche, durch seitliche Hecken geschützt vor zudringlichen Blicken. Bilder ihres verstorbenen Mannes – er war ein begabter Maler – hängen an den Wänden. Sie wurden nie ausgestellt, weil er nicht wollte, dass fremde Leute mit dem Sektglas in der Hand urteilen, „ohne seine Gefühle zu kennen, ohne zu wissen, wie und warum er so gemalt hatte“. Sie hat sich daran gehalten.

Was für eine Karriere hat diese Frau hingelegt und dabei reihenweise Amtsträger überrundet, die nur fassungslos hinter ihr herschauen konnten. Und sie ist frech. Mit ihrem Mann Erwin Roth im Rücken, der sie ermutigt, und den zwei skeptischen Söhnen, damals 19 und 22, die unken: „Oh, Mama, wenn du Oberbürgermeisterin wirst, hängst du alle sechs Jahre am Baum.“ Das war 1993, als sie das erste Mal als Listenführerin der CDU Anlauf auf das Amt nimmt und scheitert. Die Partei hatte sie als Verlegenheitslösung aufgestellt. Petra Roth steckt die Niederlage weg, sie hat längst Geschmack gefunden an der Politik: „Wenn ich mir eine Meinung gebildet habe und von einer Idee überzeugt bin, dann will ich anderen Menschen davon erzählen. Ich will ihr Bewusstsein verändern. Erstaunlicherweise überträgt sich meine Begeisterung.“

Der zweite Versuch klappt. „Ich will Ihren Platz“, teilt die politische Außenseiterin dem überraschten Amtsinhaber Andreas von Schoeler knapp mit. 1995 wird sie als erste Frau Stadtoberhaupt in Frankfurt. Nach fünf Tagen besucht sie Jürgen Dormann, Hoechst-Chef und einer der einflussreichsten Industrieführer seiner Zeit. Er sagt: „Ihre Aufgabe ist ungleich schwerer als meine. Ich treffe von zehn Entscheidungen, die am Tag anstehen, eine. Und wenn sie nicht gut war, wird sie kaschiert von anderen. Sie treffen jeden Tag zehn Entscheidungen, und jeder meint, sie beurteilen zu können, noch dazu in den unterschiedlichsten Feldern.“ Petra Roth war beeindruckt und weiß heute: „Als Oberbürgermeisterin trifft man alle Entscheidungen allein. Man kann sich nicht immer beraten, dazu fehlt die Zeit. Zügige Entscheidungen sind aber manchmal gefordert. Und die Auswirkungen trägt man allein. Ich musste Entscheidungen innerhalb von Minuten treffen und konnte immer nur hoffen, dass sie richtig sind. Denn zu Entscheidungen muss man, musste ich, stehen. Das war ein Grundsatz, den ich mir in den 70er, 80er Jahren gut gemerkt habe, als ich in der Fraktion des legendären Oberbürgermeisters Walter Wallmann saß: Man muss zu seinen Entscheidungen stehen.“ Sie bilanziert: „Ich habe immer gestanden.“ Das macht glaubwürdig.

„ICH KANN NOCH EINEN SCHLAG MEHR, NOCH EINE SCHAUFEL DRAUFLEGEN.“

Petra Roth hat eine glückliche Kindheit. Sie wird Arzthelferin und zieht mit 20 Jahren in die Main-Metropole Frankfurt. Nach einer kurzen verunglückten Ehe heiratet sie 1970 Erwin Roth, den Leiter der Hörfunktechnik beim Hessischen Rundfunk, ihre „große Liebe“. Er ist 23 Jahre älter als sie und stirbt 1994. Ein schmerzhafter Einschnitt. „Mein Mann“, so Petra Roth, „war ein Mensch, der mich völlig verstanden hat, ohne darüber zu sprechen. Er fehlt mir sehr. Das weiß ich in der vollen Bedeutung heute noch mehr als damals. Ich bin bestimmt nicht einfach, aber er konnte damit umgehen. Als ich mit der Politik anfing, haben die Kollegen meines Mannes im Hessischen Rundfunk gesagt: ‚... dass du deiner Frau das erlaubst!‘ Da hat er gesagt:, Jetzt ist aber Schluss, die Petra soll machen, was sie möchte!‘ Er stand voll und ganz hinter der Politik, die ich gemacht habe. Seine Sorge war nur, ich könnte verletzt werden. ,Du bist zu empfindlich für die Politik‘ meinte er. Aber ich bin durchgekommen. Es ist gutgegangen. Er hat mir auch klargemacht, was in mir steckt, was ich kann. Und wenn sie im Tennisclub ironisch ‚Herr Bürgermeister‘ zu ihm sagten, konterte er gelassen, ‚Nein, nein, diesen Titel habe ich nicht.‘ Er sagte auch schon ganz früh: ,Petra muss man an einer ganz langen Leine führen, aber sie will geführt werden.‘ Das vermisse ich jetzt.“ Schon in den allerersten Anfängen der Karriere ermuntert sie Erwin Roth. Sie hat das Plakat eines CDU-Mannes gesehen, der zu einer Versammlung lädt. ‚Du, da gehe ich mal hin und hör mir das an‘, sagt sie zu ihrem Mann, ich bin doch so neugierig, ich war und bin noch heute konstruktiv neugierig.

Petra Roth auf ihrer ersten CDU-Veranstaltung in Frankfurt: eiskalter Winter, nette Kneipe, Bullerofen. Um halb acht sitzt sie in der ersten Reihe. Kein Mensch da. Acht Uhr Beginn. Dann kommt ein Herr zu ihr und fragt vorsichtig, was sie denn hier wolle. Er kenne sie ja gar nicht. Zuhören. Das ist ja schön. Die CDU hat gerade viele Mitglieder verloren. „Und dann bin ich, mein Mann lachte, am nächsten Montagabend zum Stammtisch gegangen. Da hat man Leute kennengelernt und zugehört und wurde schnell in irgendwelche Ämter gehievt. Wo kann man das lernen, habe ich gefragt, und bin dann konsequent zur Adenauer-Stiftung und der Friedrich-Ebert-Stiftung, zu den Bildungsinstitutionen der Gewerkschaften und Kirchen gegangen und habe dort richtig Politik in Seminaren mit Abschlüssen gelernt. Kinderbetreuung gab es inklusive, also konnte ich meine beiden Jungs mitnehmen. Heute kann ich das zurückgeben, wenn ich zum Beispiel für die Konrad-Adenauer-Stiftung als Referentin in deutschen und ausländischen Metropolen über Ziele und Inhalte der Politik rede.“

Mit 32 und zwei kleinen Kindern wird sie Stadtverordnete, und dann gibt es Einladungen zu Podiumsdiskussionen. Da müsse man nicht hin. Da habe ich mich gemeldet und gefragt, ist das verboten? „Ich fand nämlich, man muss eine Meinung oder auch eine Gegenmeinung öffentlich machen! Das war die Gelegenheit dazu. Als mir von den Feministinnen männlicher Politikstil vorgeworfen wurde, habe ich gesagt, ich erlebe doch auch nur Männer in den entscheidenden Funktionen. Das müssen wir ändern. Ich wusste, wie wichtig weibliche Emanzipation für eine stärkere Aufstellung von Frauen in zukünftigen Mandaten ist. Sehen Sie, ich bin hier, ich bin eine Frau. Ich war überall die erste Frau.“

Für Petra Roth geht es politisch weiter nach oben. „Ich habe mich immer getragen gefühlt und mich nie geängstigt. Ich habe zu Menschen Vertrauen, ich gehe auf alle zu.“ Nach ihrer Wahl zur Oberbürgermeisterin mokiert sich die Presse über ihre ersten Maßnahmen und spottet: Petra Roth räumt auf. Sie lässt die Straßenränder säubern und Graffitis entfernen. Ist das wirklich lächerlich? „Man muss im Kleinen anfangen, um Großes zu erreichen“, ist ihre feste Überzeugung. Und es hat funktioniert. „Was du alles wegschaffen kannst, sagte schon meine Mutter. Und es stimmt, ich habe immer das Gefühl gehabt, ich kann noch einen Schlag mehr, noch eine Schaufel drauflegen. Ich habe so viele Ideen, und ich habe so viel Lust auf Leben. Es fällt mir auch nichts schwer. Ich denke nie, das musst du noch machen, sondern, was machen wir danach.“

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„Auf der Suche nach dem besonderen Detail zwischen Haarspitzen und Fußsohlen entschied sich Petra Roth für den elegant geschwungenen Nasenrücken.“ Konrad Rufus Müller

Zweimal, 2001 und 2007, wird die starke Frau mit steigenden Prozentzahlen wiedergewählt. Dann darf sie wegen der Altersgrenze nicht mehr antreten. Mitte 2012, ein Jahr vor Ablauf der Amtszeit, macht sie Schluss, um ihrem Nachfolger genug Zeit für den Wahlkampf zu verschaffen. Wiedergewählt worden zu sein, das war für Petra Roth immer das Ziel ihrer Karriere. „Die Petra“ ist längst auch durch ihr Engagement für Kunst und Kultur beliebt. Der 2006 verstorbene Dichter und Satiriker Robert Gernhardt widmete ihr in schönstem Frankfurterisch seine „unsortierten Gedanken eines Frankfurter Bürgers“ und sprach vielen aus der Seele:

„Präschtisch, wie se widder aussieht,
Escht gut, wie se präsediert,
Trefflisch, wie se Frankfurt steuert,
Riesisch, wie se es erneuert,
Astrein, wie se’s kommendiert!“

Ihr Verständnis und ihr Einsatz für die schönen Künste in Museen, für die Bühnen und die Oper verschaffen ihr Achtung und Zuneigung. Der weltberühmte Choreograph William Forsythe, Chef der Forsythe Company, formulierte sein Bedauern über das Ende einer Ära in einem schlichten Satz: „I will miss Petra.“ Der Kulturcampus Frankfurt gilt überregional als Modellprojekt der Stadtentwicklung für das 21. Jahrhundert: Im Wohnquartier werden neue Formen des Zusammenlebens erprobt, im Kulturquartier begegnen sich Musiker, Tänzer und Schauspieler aus vielen Institutionen. Das neue Quartier wird zu hundert Prozent nachhaltig und energieeffizient erstellt.

Und nun? Ist da eine Lücke? „Es ist ja nicht vorbei“, Petra Roth wiegelt ab. „Das Mandat war eine politische Aktivität auf Zeit. Das wusste ich. Es war wunderschön. Und jetzt gebe ich mein Netzwerk weiter an andere Institutionen. Und auch da gibt es Zustimmung, die mich freut. Ich bin mittendrin!“ In der Stiftung Schloss Ettersburg, die sich mit der Gestaltung des demographischen Wandels beschäftigt und Strategien für eine schrumpfende Bevölkerung entwickelt, oder als Consultant der Tel Aviv University, wo es um die Förderung der akademischen und kulturellen Beziehungen der Partnerstädte Tel Aviv und Frankfurt geht.

„Ich wünsche mir demütig, dass mir die Kräfte und die geistige Fitness bleiben, mich weiter einzubringen.“ Allerdings ohne körperliches Training: „Die Ärzte sagen, wer so viel mit dem Kopf zu bewältigen hat, betreibt Gehirnjogging.“ War der 60. Geburtstag ein wichtiges Datum? „Ich habe mit 60 nicht an das Alter gedacht. Es gab ein Riesenfest mit tausend Leuten im Römer. Vielleicht sollte ich mich mal mit meinem 70. befassen, mir Gedanken darüber machen, dass ich 70 Jahre gelebt habe, aber es stellt sich noch kein Gefühl des ‚Altseins‘ ein. Wenn liebe Freunde, die so fünf, sechs Jahre älter sind als ich, sagen, na, jetzt gehst du doch mal wieder auf den Tennisplatz oder fängst an, Golf zu spielen, frage ich mich, wie ich das in meinem neuen Terminkalender unterbringen soll.“

Setzt sich in ihren neuen schwarzen Sportwagen, lässt das Cabriodach herunter und braust winkend davon zur Aufsichtsratssitzung eines großen Unternehmens. Und heute Abend kommt für vier Tage ihr Freund aus der Schweiz.

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„WENN ES KUNST IST, WIRD MUSIK IM TANZ VISUELL. SONST WÄRE ES SPORT“

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Prof. BIRGIT KEIL

geboren 22. September 1944 in Kowarschen
Beruf Ballerina, Tanzpädagogin und Ballettdirektorin

BIRGIT KEIL