DeVries, Danara Break my Silence

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© Piper Verlag GmbH, München 2020
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2020
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Widmung

Für all jene, die sich durch schwere Zeiten kämpfen und niemals aufgeben.

Kapitel 1

Menschen machen mir Angst. Ich hasse es, mich durch eine große Ansammlung verschwitzter Körper durch die Straßen zu kämpfen. Hasse die unausweichliche Nähe, die mir von der Gesellschaft aufgezwungen wird. Hasse es, mich nicht zurückziehen zu können. Ihre Gedanken machen mir Angst, das, was hinter ihrer Stirn vor sich geht, wenn sie mich sehen. Was sie denken könnten, was sie … tun könnten.

Nachts ist es anders. Normale Menschen befinden sich zuhause, bei ihren Liebsten, liegen in ihren Betten und tun eben … normale Dinge. Erst dann wage ich mich raus. Gehe einkaufen, schlendere durch die Straßen, gehe in den Park. Es mag komisch klingen, aber das ist die Zeit, die ich wirklich genießen kann. Vierundzwanzig-Stunden-Läden sind deshalb für mich ein absoluter Segen. Ich kann meine Einkäufe erledigen und mich wieder zuhause verkriechen, ohne einer Menschenseele zu begegnen – bis auf den Kassierer natürlich, der nicht müde wird, mich fürsorglich immer wieder darauf hinzuweisen, dass ich nachts nicht alleine rausgehen soll. Es könnte etwas passieren.

Ich lächle jedes Mal und spule eine einstudierte Floskel ab. Was soll schon passieren? Ich spüre die beißende Ironie wie Peitschenschläge in meinem Nacken. Es ist ja schon so viel passiert, dass ich mich erst in dieses selbst gewählte Exil begeben habe. Ich hatte vor, mich nicht unterkriegen zu lassen, doch ich habe versagt. Die Menschenmenge bietet mir keinen Schutz mehr, denn dort ist es passiert. Dort wurde ich begrapscht, angefasst und war so sehr zwischen all den feiernden und tanzenden Leibern eingepfercht, dass ich mich den Berührungen nicht entziehen konnte. Den Knall des Feuerwerks in jener Silvesternacht höre ich, wann immer ich die Augen schließe.

Deshalb ist die Nacht zu meinem Freund geworden.

 

Heute Nacht zwingt mich allerdings ein anderes Bedürfnis auf die Straße, das ich nicht mehr länger aufschieben kann. Mittlerweile habe ich nicht einmal mehr ein Paar saubere Socken. Ich muss waschen. Vor Monaten ist meine Waschmaschine kaputtgegangen. Klar, ich hätte mir ein neues Gerät über einen Onlinehändler bestellen können – so wie ich es mit allem tue, was ich zum Leben brauche – aber mein Erspartes ist aufgebraucht und … arbeiten kann ich nicht mehr. Die Wohnung gehört meiner Mutter, die mich finanziell unterstützt. Aber ich wage nicht, ihr die Kosten für eine Waschmaschine aufzubürden. Das Krankengeld reicht gerade so für das Nötigste. Also bleibt nur der Gang in den Waschsalon. Zwei Straßen weiter, kein großes Ding. Doch ich habe die halbe Nacht gebraucht, den Mut aufzubringen, mich überhaupt raus zu wagen. Natürlich ist es nichts anderes, als einkaufen zu gehen, nur mit dem winzigen Unterschied, dass ich mindestens eine Stunde, wenn nicht sogar länger, im Waschsalon verbringen MUSS. Ich kann nicht meinem Vier-Stufen-Plan folgen. Reingehen – Einkaufen – Rausgehen – nach Hause. Einkaufen ist zur Routine geworden, die ich mir über Monate hinweg antrainiert habe. Der Waschsalon ist eine neue Herausforderung, an die ich mich erst langsam herantasten muss. Und das will gut vorbereitet sein. Der gefüllte Wäschekorb steht seit Tagen als ständig präsente Mahnung vor der Wohnungstür. Jedes Mal, wenn ich in den Flur gehe, erblicke ich ihn und er erinnert mich daran, was ich erledigen muss. Und heute ist es so weit. Heute Nacht bringe ich die Kraft auf, zu gehen.

 

Als ich schließlich mit dem Korb unter dem Arm vor dem Laden stehe, kann ich mein Glück kaum fassen. Niemand da. Wirklich. Der Laden ist menschenleer. Ein breites Lächeln formt sich auf meinen Lippen und beschwingt trete ich ein. Ich atme den Geruch frisch gewaschener Kleidung ein, es duftet nach Alpenveilchen und Sommerwiese. Das Kleingeld klimpert in meiner Jackentasche. Hoffentlich habe ich genug zusammenkratzen können. Hastig sehe ich mich um. Der Waschsalon ist nicht sehr groß. Zehn Maschinen auf der linken Seite nehmen die komplette Wand ein, davor eine große Sitzgruppe. Zwei Mehrsitzer stehen sich gegenüber, dazwischen ein niedriges Tischchen, wo eine gute Seele ein paar Zeitschriften, Plastikbecher und ein paar Flaschen Wasser bereitgestellt hat. Sieht einladend aus.

Auf der rechten Seite lacht mich ein wildes Sammelsurium an Plakaten an: Theatervorstellungen, Filmposter, Info-Plakate zum Tag der offenen Tür an der Universität … alles, was sich eben in der Stadt abspielt. Doch diese Veranstaltungen finden alle tagsüber statt und bedeuten große Menschenansammlungen – definitiv nichts für mich.

Ich suche mir die letzte Maschine in der Reihe aus und studiere die Anweisungen, die auf einem Schild über dem Gerät angebracht wurden. Aha, erst die Wäsche in die Maschine füllen, dann das Programm wählen und dann das Geld einwerfen. Die Maschine startet automatisch. Ich runzle die Stirn und überfliege die Anweisungen ein weiteres Mal.

»Und wie kommt das verdammte Pulver in die Maschine?«, murmele ich vor mich hin, kneife die Augen zusammen und konzentriere mich Wort für Wort auf die Anweisungen.

»Ist alles schon drin!«

Mein Herzschlag setzt für einen Moment aus und ich starre auf die Waschanweisungen, warte panisch darauf, dass es wieder gleichmäßig weiter schlägt. Doch das wilde Hämmern eine Sekunde später zerreißt mich förmlich. Mein Puls rast, heiße und kalte Schauer schießen über mein Rückgrat und mein Verstand schreit »FLUCHT!« Doch ich stehe wie angewurzelt da und kann mich nicht bewegen.

Der Typ – oh mein Gott! Es ist ein Typ! – steht neben mir, beugt sich vor und zeigt auf einen ausgeblichenen Satz am unteren Ende der Anweisungen. »Früher stand da mal eine Information dazu, ist aber zu verwaschen. Vermutlich weil immer wieder jemand mit seinen Fingern drüber tatscht.« Lässig schiebt er seinen Kopf in mein Blickfeld und grinst spitzbübisch. Er trägt eine graue Beanie-Mütze über einer Sonnenbrille. Unter der Mütze linsen ein paar blonde Haare hervor. Sein dunkler Bart ist kein richtiger Dreitagebart mehr, eher ein fünf- oder sieben-Tage-Bart. Dazu eine dunkle Sweatjacke und schwarze Jeans. Ein ganz normaler Typ eben. Und ich starre ihn an, als sei er sprichwörtlich vor mir aus dem Boden gewachsen. Was natürlich totaler Schwachsinn ist. Es ist nur so, dass ich seit Wochen kein Wort mit einem »echten« Menschen gewechselt habe. Ich weiß gar nicht mehr, wie meine Stimme klingt. Okay, hin und wieder habe ich mit meiner Mutter telefoniert, aber das zählt nicht. Denn als Gespräch kann man das, was wir im Augenblick unter Kommunikation verstehen, nicht bezeichnen. Ich fauche sie an, dass sie mich in Ruhe lassen soll, und sie weint. Tja. Irgendwann speise ich sie dann mit einer leeren Floskel ab. Ich bräuchte Zeit. Es ist gerade Mal sechs Monate her, noch viel zu früh, um mich aus meinem Schneckenhaus herauszuwagen.

Und dann steht plötzlich dieser Typ vor mir. Im Hochsommer. Mit einer Wollmütze. Und einer Sonnenbrille. Nachts. »Warum trägst du eine Sonnenbrille?«, frage ich und wundere mich ein wenig, dass meine Stimme noch genauso klingt, wie ich sie in Erinnerung habe. Ich hätte erwartet, dass sie nach der langen Zeit, in der ich ihre Benutzung verweigert habe, anders klingt. Viel rauer …

Der Typ starrt mich perplex an. Ich vermute es zumindest, da ich ja nicht hinter diese verdunkelten Brillengläser sehen kann. »Ähm«, erwidert er und greift sich an das Gestell. Er zögert, doch dann gibt er sich einen Ruck und nimmt die Brille ab. Zum Vorschein kommen blitzende, mich eifrig musternde Augen. »Du musst mich bestimmt für einen Perversen halten. Nachts mit Sonnenbrille rumzulaufen«, plappert er munter drauf los.

»Wir haben alle unsere Macken.« Ich zucke mit den Schultern und wende mich wieder meiner Wäsche zu. »Siehst nicht aus wie ein Perverser«, murmele ich abweisend und zähle das Geld ab, mit dem ich den Automaten füllen will.

Er lehnt sich lässig zu mir rüber. »Wie sieht denn ein Perverser aus?«

Meine Augen huschen wie von selbst zu ihm. Er beißt sich auf die Unterlippe und sieht mich abwartend an. Nur schwer kann ich mich von seinem Anblick losreißen. Es ist ja nicht so, dass ich noch nie einen Mann gesehen hätte. Nein, es ist eher so, dass ich nicht gesehen werden will. Also ergebe ich mich in die Vorstellung, wenn ich nicht hinsehe, sieht man mich nicht. Und dann bin ich sicher. Wie bescheuert das ist, weiß ich selbst, doch das ist meine Verteidigungsstrategie. »Nicht so«, entgegne ich einsilbig und wähle ein Programm.

»Aha!«, macht er. Für einen Atemzug hält er tatsächlich den Mund und mustert meine Programmwahl. »Das würde ich nicht tun.« Er greift nach meinem Handgelenk und hält mich gerade noch rechtzeitig davon ab, das Gerät einzuschalten.

»Wieso nicht?«, frage ich harsch und weiche zurück. Ich klinge viel abweisender, als ich eigentlich beabsichtigt habe. Nein, nicht abweisend, ich klinge regelrecht panisch und seine Reaktion zeigt, dass meine Worte genauso ankommen. Hastig lässt er mich los und hebt die Hände.

»Sorry«, entschuldigt er sich. »Wollte dir nicht zu nahetreten. Aber mit dem Programm hätten deine Sachen anschließend deiner Puppe gepasst.«

»Ich habe keine Puppen!«, entgegne ich. »Und jetzt lass mich in Ruhe meine Wäsche waschen.«

Er tritt zur Seite und gibt den Weg zu meiner Maschine frei. »Sorry, ich wollte nur helfen.«

»Du hilfst mir am meisten, wenn du mich einfach in Ruhe lässt.«

Er neigt den Kopf. »Hast du nicht gerne Gesellschaft?«

Ich schüttele den Kopf. »Klaro, oder? Ich gehe um zwei Uhr morgens in einen Waschsalon, weil hier so viel los ist …«

Er lacht leise. »Verständlich.«

»Also kannst du mich bitte in Ruhe lassen?« Ich starre ihn feindselig an und er weicht tatsächlich so lange zurück, bis ich zufrieden nicke. Erst dann studiere ich erneut die Programmwahl, doch aus den kryptischen Zeichen und den wenig hilfreichen Erklärungen werde ich nicht schlau. Genervt stöhne ich auf. Meine alte Maschine hatte genau zwei Einstellungen. Waschen und schleudern. Dann noch die Temperatur und gut ist. Um das vor mir liegende Display vernünftig bedienen zu können, braucht man vermutlich einen Abschluss in Ingenieurwissenschaften.

»Brauchst du vielleicht … Hilfe?«, wagt er einen zaghaften Vorstoß.

Ich seufze laut auf. »Hast du das schon öfter gemacht?«

Er zuckt mit den Schultern. »Hin und wieder …«

»Okay, was soll ich einstellen?«

Er tritt neben mich, gibt sich aber große Mühe, einen deutlichen Sicherheitsabstand einzuhalten. Außerdem sieht er mich so lange fragend an, bis ich ihm gestatte, näher zu kommen. Erst als ich nicke, schenkt er mir eine lächelnde Erwiderung und studiert konzertiert das Display. Lange braucht er nicht, bis er sich für ein Programm entschieden hat. »Geld ist drin?«, fragt er beiläufig.

Ich bejahe kurz angebunden, bevor er den Knopf drückt und die Maschine mit minimaler Verzögerung ihr Werk beginnt. Das Display blinkt und auf der Anzeige erscheint die Laufzeit.

»Zwei Stunden?«, jammere ich gequält.

Er lacht leise. »Hey, ich kann dir Gesellschaft leisten?«

Langsam drehe ich den Kopf und sehe ihn an. »Wenn du willst?«, fügt er auf meinen abweisenden Blick hinzu.

Ich schüttele den Kopf. »Eigentlich wäre es mir lieber, du würdest mich in Ruhe lassen.«

»Du magst wohl keine Menschen?«

Ich verneine erneut und gehe zur Sitzgruppe. Die Zeitschriften dort interessieren mich überhaupt nicht, trotzdem greife ich nach einer und klappe sie in der Mitte auf, um mich konzentriert einem Artikel über die neuen Sommerfarben zu widmen. Stinklangweilig, doch alle Male besser, als mich mit ihm unterhalten zu müssen. Ich hasse diesen Zwang, die Stille mit sinnloser Plauderei zu füllen, nur, weil es sonst zu leise wäre. Nein, die Stille ist paradiesisch, nur das sanfte Rumpeln der Maschine, das gedämpfte Rascheln der Seiten beim Umblättern, das sonore Summen der Neonleuchten. Das ist himmlisch.

Und obwohl er sich ruhig seiner eigenen Wäsche widmet und sich dann möglichst weit von mir niederlässt, schweift mein Blick immer wieder über den Rand der Zeitschrift.

 

Mindestens eine Stunde sitzen wir uns schweigend gegenüber, jeder in eine Zeitschrift vertieft, und trotzdem nicht allein. Die Stille fühlt sich richtig an und nach einer Weile akzeptiere ich sogar die unfreiwillige Gesellschaft. Ich ertappe mich dabei, wie sogar hin und wieder meine Mundwinkel zucken, wenn ich verstohlen zu ihm hinüber schiele. In genau dem richtigen Moment blinzelt er zurück. Unsere Blicke kreuzen sich für eine Millisekunde, bevor jeder peinlich berührt wegsieht. Ich finde Gefallen an dem Spiel und wiederhole es alle paar Minuten. Den Artikel habe ich längst vergessen. Jedes Mal warte ich darauf, dass er lächelt, denn das sieht … süß aus. Ich mag es, wie seine Augen dabei funkeln. Ich werde sogar mutiger und sehe nicht weg, sobald er mich ertappt. Nein, ich warte, bis ich einen kurzen Blick auf seine Reaktion erhaschen kann.

Und dann lese ich einen Absatz, wiederhole das Spiel, genieße es und lese den Absatz noch einmal.

Viel zu früh piepst meine Maschine und beendet ihren Waschvorgang. Schade. Ich seufze enttäuscht, erhebe mich und wende ihm den Rücken zu, während ich meine noch feuchte Wäsche in den Korb räume.

»Sie haben hier auch Trockner«, meldet er sich aus dem Hintergrund. Überrascht fahre ich zusammen. Doch dieses Mal reagiere ich völlig anders. Mein Herzschlag beschleunigt sich nicht und ich verspüre keinen Fluchtreflex. Ich zucke mit den Schultern und schiebe diese Nicht-Reaktion auf die vergangenen zwei Stunden, in denen wir uns einträchtig gegenübersaßen und »spielten«. Ich lächle. Hastig berühre ich mein Gesicht. Tatsächlich. Wenn man so lange wie ich nicht lächelt, könnte es passieren, dass die Muskeln vergessen, wie es funktioniert. Haben sie nicht und das bringt mich erneut zum Lächeln. Gelöst und ein wenig freudig, dass mein Körper tatsächlich noch weiß, wie es geht. Das gibt mir ein klein wenig Hoffnung, dass mein Zustand nicht ewig anhalten wird.

Eine Sekunde spiele ich mit dem Gedanken, auf seinen Vorschlag einzugehen, aber die Leere in meiner Jackentasche verhagelt mir seinen Vorschlag. Kein Kleingeld mehr da. »Das ist keine so gute Idee«, murmele ich und erhebe mich mit dem Wäschekorb. Er ist schwerer als vorhin, aber das macht nichts. Ich drehe mich um. Etwas verloren stehe ich vor ihm – er ist tatsächlich aufgestanden. Wozu? Um mir zu helfen? Mal ehrlich, einen Korb voll nasser Wäschen kann ich noch tragen. Dazu brauche ich keinen Ritter. Doch so wie er die Hände vorstreckt, scheint er tatsächlich etwas in der Art im Sinn gehabt zu haben. Mein Griff um die Plastikgriffe des Korbes verstärkt sich. Den gebe ich nicht her. Das ist mein Schutzschild.

Er zuckt mit den Schultern und lässt die Hände sinken. Irre ich mich oder wirkt er enttäuscht? Nun gut, für heute habe ich genug von Menschen. Ich nicke ihm kurz zu und will mich zum Gehen wenden, doch da hebt er erneut eine Hand und will mich zurückhalten. Doch bevor er mich berühren kann, fängt er meinen warnenden Blick auf und lässt die Hand sinken. Er seufzt.

»Sorry …«, murmelt er zerknirscht und reibt sich den Nacken. »Ich wollte … na ja, ich fand es nett mit dir.« Er lächelt mich unsicher an.

»Was?«, entgegne ich. »Wir haben doch gar nichts gemacht, wir haben nicht mal geredet.«

Sein Mundwinkel zuckt. »Eben, sehr nett. Sehr ruhig.«

Verwirrt hebe ich eine Augenbraue. »Ich … auch.«

Er nickt. »Ja, also … dann … man sieht sich.«

»Ich weiß nicht.« Mein Blick geht Richtung Ausgang. Vor zwei Stunden noch habe ich dem Ende des Waschgangs entgegengefiebert, doch jetzt fühlt es sich wie ein Abschied an und ich bin … traurig. Keine Ahnung, woher das kommt. Ich weiß nur, dass ich gerne noch etwas bleiben würde. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass das totaler Irrsinn wäre. In der Wohnung bin ich sicher, hier nicht. In zwei, drei Stunden wird es hier nur so von Menschen wimmeln. Die Straßen werden überfüllt sein und der Rückweg wird einem Spießrutenlauf gleichen. Nein, ich muss gehen. »Auf Wiedersehen«, murmele ich und gehe ein paar Schritte Richtung Ausgang.

»Ich bin übrigens Jaxon!«, ruft er mir hinterher und ich bleibe stehen. Sein Name. Ich lasse ihn ein paar Mal über die Zunge gleiten. Namen bedeuten Macht, okay, er hat mir nur seinen Vornamen genannt. Mit seinem vollen Namen hätte ich nach ihm suchen können, hätte herausfinden können, wo er wohnt, wer er ist, ihn auf Facebook suchen können. Nur seinen Vornamen zu wissen war ein Zugeständnis, ohne mir zu viel Macht über ihn zu geben. Das war mehr als fair. Und genau deshalb drehe ich mich noch einmal um.

»Ich bin Enni«, antworte ich, als sei das die einzig mögliche Antwort. Aber natürlich steckt dahinter viel mehr. Ich schenke ihm etwas Wissen über mich. Ein wahnsinniger großer Schritt für jemanden, der praktisch nur als Adresse für den Postboten dient. E. Anderson, die merkwürdige Frau, die im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses wohnt, die niemals rauskommt, die die Nachbarn nicht kennen, die vermutlich bereits seit Monaten tot in der Küche liegt. Und die niemand vermisst. Das bin ich. Doch jetzt bin ich etwas mehr. Jetzt bin ich Enni, die mit Jaxon im Waschsalon war. Und das fühlt sich ungewohnt gut an. Als ob diese Enni nicht mehr alleine ist.

Jaxon nickt. »Enni, war schön, dich kennenzulernen.«

Kapitel 2

Ich genieße die Stille in meiner Wohnung. Doch seit ein paar Tagen ist sie längst nicht mehr so angenehm. Sie fühlt sich tatsächlich leer an. Immer wieder ertappe ich mich dabei, wie ich an die Stunden im Waschsalon zurückdenke. An Jaxon, seine verstohlenen Blicke und daran, wie gut mir das gemeinsame Schweigen mit ihm gefallen hat. Ich hatte mich so gut an meinen neuen Tages- – Nacht? – Ablauf gewöhnt, dass er für mich zur Normalität geworden war. Durch das kurze Gespräch mit dem Typen, der nachts eine Sonnenbrille und eine Mütze in geschlossenen Räumen trägt, ist diese Schein-Normalität ins Wanken geraten.

Jaxon ist auf eine seltsame Weise zum Störfaktor dieser Normalität geworden. Was mir am meisten zu schaffen macht, ist die Tatsache, dass mir dieser Störfaktor gefällt. Auf der einen Seite fürchte ich mich davor, ihn noch einmal zu sehen, doch auf der anderen Seite … steht seit gestern wieder ein gefüllter Wäschekorb vor der Wohnungstür. Noch bin ich dabei, Mut für den Gang nach »draußen« zusammenzukratzen, doch der Korb beweist, dass ich es will. Und das früher als nötig. Bei meinem Lebensstil brauche ich nicht viel frische Kleidung. Die Wäsche von letzter Woche reicht mindestens noch ein paar Tage, trotzdem greife ich einen Tag später nach dem Wäschekorb, lasse ein wenig Kleingeld in meiner Jackentasche verschwinden und gehe raus.

Es ist das erste Mal seit einem halben Jahr, dass ich lächelnd, ja, regelrecht beschwingt die Treppen hinunterlaufe. Natürlich ist es Nacht, aber immerhin noch nicht Mitternacht. Ich bin meiner Zeit also weit voraus. Während ich die wenigen Straßen bis zum Waschsalon laufe, setzen sich hartnäckig ein paar Zweifel in meinem Hinterkopf fest. Wer sagt mir denn, dass Jaxon wirklich dort sein wird? Immerhin war ich nicht gerade freundlich und habe ihm immer wieder klargemacht, dass ich eigentlich alleine sein möchte. Meine Schritte verlangsamen sich, bis ich schließlich stehen bleibe. Das hell erleuchtete Schaufenster kann ich bereits sehen. Was, wenn das alles umsonst war und er nicht da ist? Bebend schließe ich die Augen. Rückschläge verkrafte ich im Augenblick nicht gut.

Mehrere Minuten stehe ich so da und beschränke mich aufs Atmen. Indem ich hier rumstehe, finde ich allerdings auch nicht heraus, ob Jaxon da ist oder nicht. Ich brauche nur über die Straße zu gehen. Ist er nicht da, kann ich ja einfach meine Wäsche waschen. Und wenn er da ist? Was dann? Soll ich dann reingehen? Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Aber einen Blick durch das Schaufenster? Das kann ich schaffen. Und dann sehe ich weiter. Klingt machbar.

Ich hole tief Luft, bekämpfe erfolgreich den Fluchtreflex und setze mich in Bewegung. Diese Panik ist anders als die, die mich in einer Menschenmenge befällt. Deshalb kann ich sie niederringen. Würden die Straßen belebt sein und ich müsste mich durch Fußgänger schlängeln, hätte ich den Kampf gegen meine Angst verloren. Doch über die Straße zu gehen und einen Blick ins Innere des Waschsalons zu wagen, kostet mich zwar eine Menge Überwindung, doch ich kann sie aufbringen.

Beflügelt vom Erfolg vergesse ich, was ich eigentlich vorhatte, drücke die Tür mit meinem Rücken auf und … drehe mich um. Der Waschsalon ist leer. Die Gewissheit ist wie ein Schlag ins Gesicht. Die Enttäuschung ist körperlich so stark, dass ich unter ihrer Last zusammensinke. Wie konnte ich auch erwarten, dass eine Gelegenheitsbekanntschaft wie Jaxon hier auf mich wartet. Unser zufälliges Aufeinandertreffen ist Tage her. Er konnte nicht wissen, dass ich mich freuen würde, ihn wiederzusehen. Wie dumm von mir.

Enttäuscht seufze ich auf und setze mich in Bewegung. Der Waschsalon ist leer. Auch kein anderer Besucher hat sich um elf Uhr nachts hier her verirrt. Was soll’s. Dann kann ich genau das tun, was ich vor einer Woche auch vorhatte: In aller Ruhe meine Wäsche waschen und wieder nach Hause gehen.

Ich gehe ganz nach hinten durch zu meiner Waschmaschine. Immerhin hat Jaxon mir erklärt, wie sie funktioniert. Den anderen traue ich nicht. Das ist natürlich lächerlich, trotzdem fühle ich mich ihr irgendwie verbunden. Mit Jaxon verbunden. In Einsamkeit versunken befülle ich die Maschine, stecke das Kleingeld in den Münzsammler und wähle das Programm. Doch bevor ich die Maschine starte, sehe ich mich hoffnungsvoll um. Keiner da, der mich vor der falschen Programmwahl retten könnte. Ich lese noch einmal über die Beschreibungen, passe meine Auswahl an – denn heute habe ich nur T-Shirts dabei, die sollte ich vielleicht nicht mit sechzig Grad waschen – und drücke den Startknopf.

Ich sehe der Maschine einen Augenblick dabei zu, wie sie ihre Arbeit verrichtet, und lasse mich dann erschöpft aufs Sofa fallen. Diesmal greife ich nicht nach einer Zeitschrift. Ist ja niemand da, den ich heimlich beobachten muss, bemerke ich säuerlich. Stattdessen lasse ich mich gemütlich in die Polster sinken, schließe die Augen und höre dem Rumpeln der Maschine zu. Die Geräusche erinnern mich automatisch an die mit Jaxon verbrachten zwei Stunden. Meine Gedanken treiben in seine Richtung. Wohlig seufzend lullen sie mich ein und ich gleite in den Schlaf.

Ich träume ein wildes Chaos aus Sonnenbrillen, Waschmaschinen und Sofas. Die dunklen Gläser schweben über mir, bedrohlich und groß. Doch statt Angst zu haben, greife ich danach und will sie anheben, will sehen, ob hinter den dunklen Gläsern in meinen Träumen auch funkelnde blaue Augen aufblitzen. Ich strecke die Hand danach aus und ertaste stoppelige Haut. Hastig ziehe ich mich wieder zurück und öffne die Augen. Eine riesige Sonnenbrille schwebt über mir, verkehrt herum.

Erschrocken fahre ich hoch und nur Jaxons Reaktion ist es zu verdanken, dass ich mir den Kopf nicht an seinem harten Kinn stoße. Es muss hart sein, so markant wie es geformt ist.

»Spinnst du!«, fauche ich erschrocken und setze mich seitlich hin. Irritiert reibe ich mir übers Gesicht. Jaxon hatte sich von hinten über mich gebeugt. »Warum hast du das gemacht?«

Er schiebt sich die Brille auf die Stirn und mustert mich belustigt. »Du hast deine Hand so niedlich ausgestreckt, dass ich dir etwas zum Anfassen geben wollte.«

»Und da fällt dir nichts Besseres ein, als deine Wange?« Ich klinge schnippisch und leicht angesäuert, doch nur, weil ich mich ertappt fühle. Auch wenn das total idiotisch ist, doch dort, wo seine Stoppeln meine Haut berührt haben, kribbelt es wohlig. Und das verwirrt mich. Schlimmer noch, es macht mir eine Heidenangst. Was passiert hier mit mir? In den letzten Monaten habe ich gelernt, mit den Panikattacken zu leben – ich bin zwar weit davon entfernt, sie zu besiegen und wieder ein normales Leben leben zu können, aber wir – die Panik und ich – haben uns arrangiert. Was Jaxon mit mir macht – unwissentlich, hoffe ich – ist etwas ganz Neues und ich weiß nicht, ob ich damit umgehen kann.

Er streicht sich versonnen über die Wange und zuckt mit den Schultern. »Ich bin ein spontaner Mensch, ich denke nicht nach. Mich hat einfach interessiert, wie du dich gibst, wenn du nicht mit deiner Angst kämpfst.«

Das sitzt. Zerknirscht kaue ich auf meiner Unterlippe herum. »Ich hab …«

»… ein Problem«, unterbricht Jaxon mich harsch. »Das merkt man. Du kannst ja nicht einmal auf dem gleichen Sofa sitzen, wie ich. Stimmt’s?« Amüsiert hebt er eine Augenbraue und lässt sich neben mir aufs Sofa fallen.

Recht hat er. Das werde ich allerdings nicht zugeben. Allein schon, um ihm die Stirn zu bieten. Denn das ist es, was ich tue, wenn er in der Nähe ist. Er hat etwas an sich, dass mich reizt und ich kann gar nicht anders, als trotzig zu reagieren. Darüber vergesse ich, dass er so unverschämt in meine Privatsphäre eingedrungen ist. »Natürlich kann ich das!«

Jaxon lächelt. »Immerhin ein Anfang.«

»Anfang wovon?«

»Na ja.« Er legt den Kopf auf seinen Arm und mustert mich. »Du bist hier, springst nicht auf und läufst auch nicht davon. Ein Anfang eben.«

Ich schnaube entrüstet. »Willst du mich etwa therapieren?«

»Vielleicht. Ich will herausfinden, warum so ein hübsches Mädchen wie du nachts in den Waschsalon geht.« Er findet mich hübsch? Himmel. Ich bin nicht hübsch. Ich bin nur ein rothaariger Freak, kaum genug Fleisch auf den Hüften und absolut untrainiert, mit einer Milliarde Sommersprossen im Gesicht und einem leichten Überbiss. Und er findet mich hübsch? Vielleicht sollten wir lieber darüber diskutieren, was mit ihm nicht stimmt.

»Weil meine Waschmaschine kaputt ist«, beantworte ich seine Frage. Bin ja nicht verrückt, mich mit ihm auf so eine Diskussion einzulassen.

»Nachts … «, fügt er nachdrücklich hinzu.

Ich zucke mit den Schultern. »Da sind keine Menschen, die mir auf die Nerven gehen können?«, schlage ich vor.

»Ich bin hier.«

Ja, seufze ich innerlich. Er ist hier. »Warum bist du hier?«

»Wegen dir.«

»Mir? Aber du konntest doch nicht wissen, dass ich wiederkomme. Vielleicht hast du mich beim letzten Mal so verschreckt, sodass ich mir einen anderen Waschsalon suche?«

Jaxon schüttelt den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Du hast gelächelt, also war ich nicht so schlimm. Ich wusste, dass du wiederkommen würdest. Die Frage war nur, wann. Also war ich jede Nacht der vergangenen Woche hier. Mein Gefühl hat mich nicht getäuscht.«

Ein Schauer jagt mir über den Rücken, eine Emotion, mit der ich noch viel weniger umgehen kann als mit seiner Offenbarung. Er war jede Nacht hier … jede Nacht. Und ich hatte mir tatsächlich Sorgen gemacht, dass ich ihn vielleicht nie wiedersehen würde. »Warum wolltest du mich wiedersehen? Um mich zu analysieren?«

»Nein, ich will dich weder therapieren noch analysieren. Ich bin hier, weil ich dich sehen wollte.«

»Aber warum?«

Jaxon zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich mochte das Schweigen.«

»Ich auch«, entschlüpft es mir wie von selbst.

Jaxon lächelt. »Dann ist ja gut.«

 

Zwei Tage später bin ich wieder im Waschsalon. Jaxon wartet bereits auf mich. Beim Verabschieden hatten wir uns direkt verabredet, denn es kommt mir unfair vor, dass er jede Nacht hier auf mich wartet, wo er doch sicherlich etwas anderes zu tun hat.

»Musst du nicht arbeiten oder so?«, frage ich, als meine Maschine läuft und er dabei ist, seine Wäsche in die Trommel daneben zu stopfen, hauptsächlich schwarze T-Shirts und dunkle Hosen. Ich weise ihn nicht daraufhin, dass man Hosen und T-Shirts nicht zusammenwaschen sollte. Hat mir meine Mutter erklärt, als ich ihr gestern dann doch gebeichtet habe, dass meine Maschine kaputt ist. Schnell habe ich hinterhergeschoben, dass ich bereits zweimal in einem Waschsalon war. Daraufhin schwieg sie einen Moment betreten. Doch die darauffolgenden Worte machten mich sprachlos. »Ich bin sehr stolz auf dich, Enni.« Und dann erzählte sie mir planlos alles, was ihr so durch den Kopf ging. Übers Waschen. Ich ließ mich von ihrer Stimme einlullen und fühlte zum ersten Mal keinen Vorwurf in ihren Worten.

Jaxon will ich jetzt auch nicht belehren. Ich will einfach nur hier sein und die nächsten Stunden … genießen.

»Tu ich doch«, erwidert er, während er die Maschine startet.

»Inwiefern? Nachts bist du hier und tagsüber auf Arbeit? Irgendwann musst du doch mal schlafen.«

Jaxon lächelt zweideutig. »Ich arbeite jetzt.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Musst du auch nicht. Meine Arbeit ist eher psychischer Natur. Ich war in den letzten Wochen etwas blockiert. Im Augenblick besteht meine Arbeit darin, auf andere Gedanken zu kommen. Und du bist perfekt. Deine Probleme lenken mich von meinen ab.«

Ich schnaube entrüstet. »Na toll. Ich bin also … was bin ich für dich? Zeitvertreib?«

Jaxon schüttelt den Kopf. »Du lenkst mich ab, das ist gut. Ich habe etwas mitgebracht«, murmelt er und verschwindet in der hintersten Ecke des Waschsalons. Der Laden ist schlauchförmig angelegt, im hinteren Bereich befinden sich zwei abzweigende Türen. Auf einer prangt ein Privat-Schild. Ich nehme an, sie ist sogar abgeschlossen. Die andere Tür führt in ein WC. Hinter dieser Tür verschwindet Jaxon und taucht kurze Zeit später mit einer Gitarre auf. Verwundert sehe ich auf das Instrument. Er muss sie versteckt haben, als er in den letzten Tagen auf mich gewartet hat.

»Was ist denn das?«, frage ich verdutzt und deute auf die Gitarre, als er sich neben mir niederlässt. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, dass er immer das Sofa wählt, auf dem ich bereits sitze, statt sich mir gegenüber niederzulassen. Ja, ich bemerke es nicht einmal mehr.

Jaxon grinst. »Eine Gitarre«, antwortet er vielsagend und zupft an den Saiten.

»Spielst du?«

Er zuckt mit den Schultern. »Ein wenig, manchmal. Um auf andere Gedanken zu kommen. Ich dachte, ich fülle die Stille mal mit etwas anderem als mit Schweigen. Zum Beispiel mit meinem grässlichen Geklimper.«

Ich muss unwillkürlich lächeln. »Ach komm, so schlecht kannst du doch gar nicht sein, wenn du extra deine Gitarre mitbringst.«

»Du hast mich noch nicht spielen gehört.«

Ich lehne mich zurück und sehe ihn erwartungsvoll an. »Na dann lass mal hören.«

 

Unsere dritte gemeinsame Nacht war wundervoll. Jaxon hat gespielt und ich habe ihm zugehört. Immer wieder hat er die Melodie verändert und ich ertappe mich dabei, wie ich darüber sinniere, ob er vielleicht doch etwas im Musikbereich macht. Okay, er sagt zwar, er würde nur hin und wieder spielen. Doch das, was er als »Geklimper« bezeichnet, ist atemberaubend schön. Zu Beginn dachte ich noch, ich kenne den Song einfach nicht, aber je mehr er spielt und die Melodie anpasst, sie verändert, neue Passagen hinzufügt, desto sicherer bin ich mir, dass ich den Song gar nicht kennen kann … weil er gerade entsteht. Dieser Gedanke jagt mir einen wohligen Schauer über den Rücken.

»Sag mal«, murmele ich, als er eine Pause macht, und strecke mich wie eine Katze, die zu lange in der Sonne gelegen hat. Jaxon sieht auf und hebt fragend eine Augenbraue. Sein Blick ist verschleiert, so als würde er aus einer Trance erwachen und seine Umgebung gerade erst wieder wahrnehmen. »Komponierst du gerade?«

Statt einer Antwort setzt sich in seinem Mundwinkel ein Lächeln fest. Das war ja klar. »Ich dachte, du hast gar nichts mit Musik zu tun?«

Jaxon zuckt mit den Schultern. »Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte nur, dass ich hin und wieder spiele. Du hast die Frage falsch gestellt.«

Das bringt mich zum Lachen. »Also bist du doch Musiker?«

Sein Lächeln wird hintergründig, scharfsinnig blitzen seine Augen. »Nein, ich würde gerne, aber dazu reichen meine Fähigkeiten nicht aus. Hör zu, Enni, ich erzähle dir, was ich mache, wenn du mir erzählst, weshalb man dich nachts hier trifft. Du könntest genauso gut tagsüber herkommen. Aber da sind dir ja zu viele Menschen. Also fürchtest du dich vor Menschen. Wieso?«

Meine Züge verhärten sich. »Tu das nicht …«, murmele ich erstickt und weiche seinem Blick aus. Jaxon will ein Spiel spielen. Aber ich kann nicht einfach so mit ihm Fragen und Antworten austauschen. Das würde bedeuten, dass ich über das sprechen müsste, was passiert ist, und das kann ich wirklich nicht. Jedes Mal, wenn ich an die eine Nacht denke, die mein Leben für immer verändert hat, gerate ich in Panik. Meine Stimme zu erheben, den Schmerz herauszuschreien, funktioniert nicht. Weil meine Stimme damals auch nicht gereicht hat. Niemand hat mich gehört, niemand hat mir geholfen.

Normalerweise ist meine Wohnung der Rückzugsort, aber ich bin nicht zu Hause. Daher bleibt meinem Gehirn nur, auf Durchzug zu schalten, um sich nicht mit der Vergangenheit auseinandersetzen zu müssen. Im Selbstschutzmodus legt es einfach ein Störrauschen über Jaxons Stimme und lässt meinen Blick in die Ferne schweifen. »Enni!«, höre ich Jaxon irgendwann. Seine Stimme klingt verzweifelt, so als ob er meinen Namen bereits mehrfach gerufen hätte. Ich fühle mein Herz heftig gegen meinen Brustkorb schlagen, mein Puls rast und dort, wo er mich hält, graben sich seine Daumen schmerzhaft in mein Fleisch. »Enni!« Langsam hebe ich das Kinn und sehe in seine Augen. Panik flackert in seinem Blick. »Was ist mit dir los?«

Meine Hände zittern und ich greife hastig nach seinem Hemd. Der dunkle Karostoff fühlt sich rau an, und doch gut. So angenehm, dass ich am liebsten meine Nase darin vergraben würde. Der Duft des Waschmittels muss dort intensiver sein und wird die Erinnerung an die entspannten Stunden im Waschsalon zurückbringen. »Enni?« Jaxons Stimme wird ruhiger, fragend, aber doch zurückhaltend, mit einem Hauch Sorge. Ich sehe ihn an und versuche mich an einem beruhigenden Lächeln, während sich mein Puls langsam normalisiert.

»Es ist etwas passiert, oder? Etwas, dass dich … verändert hat?« Ich kann ihm seine Fragen nicht verübeln, schließlich hatte ich gerade so etwas wie eine Panikattacke. Ich warte darauf, dass die Angst zurückkehrt, doch Jaxons fester Griff hält mich. Die Angst lauert nach wie vor in meinem Hinterkopf, aber seine Nähe hält sie davon ab, mich fortzureißen. Dankbar sehe ich ihn an und nicke. Zumindest eine winzige Form der Antwort.

»Können wir …?«, krächze ich eine verzweifelte Bitte, nicht weiter in mich zu dringen, nicht weiter nach Antworten zu bohren, auch wenn er noch so neugierig ist.

Jaxon schließt kurz die Augen und nickt. »Kein Frage-Antwort-Spiel. Okay. Du darfst mir Fragen stellen und ich verzichte auf eine Revanche, okay?«

»Ist das nicht unfair?«

»Nein, für mich ist es okay. Also frag, ehe ich einen Rückzieher mache.« Er lächelt herausfordernd, doch nicht mehr ganz so wie vor ein paar Minuten. Mir zuliebe übt er sich in Zurückhaltung, was wiederum mich dazu verleitet, seine Gutmütigkeit nicht auszunutzen.

»Warum komponierst du nicht zu Hause?« Eine Frage, die mir harmlos genug erscheint, um nicht sein Geheimnis zu ergründen. Er hat eines, das fühle ich. Warum sonst sollte er nachts herkommen? Dass er mich sehen will, ist nur eine Ausrede. Zumindest unser erstes Aufeinandertreffen war reiner Zufall. Warum genau er nachts und nicht am Tag seine Wäsche wäscht, das ist die Frage, die mich interessiert. Warum er immer noch diese lächerliche Wollmütze trägt. Und die Sonnenbrille. Das schreit förmlich danach, dass er nicht erkannt werden will. Und deshalb frage ich nicht danach. Ich respektiere sein Geheimnis, genauso wie er meines respektiert.

Jaxon lächelt vorsichtig. »Ich könnte erwischt werden … und die Atmosphäre inspiriert mich.«

Ich erinnere mich an die sanften Klänge, die mich in den Schlaf gewiegt haben und ich entspanne mich weiter. »Ein Waschsalon inspiriert dich?«, necke ich ihn, weil ich einfach nicht anders kann.

Statt einer Antwort sieht mich Jaxon lange und eindringlich an, so lange, bis mir ein wohliger Schauer über den Rücken läuft. »Nein«, erwidert er schließlich doch. »Nur die Gesellschaft.«

Das zaubert mir wie von Geisterhand ein schüchternes Lächeln auf die Lippen. Hitze steigt in meine Wangen und ich erröte. Verdammt! Ich bin doch kein Teenager, der auf so ein triviales Kompliment Hitzewallungen bekommt! »Spinner«, murmele ich und versuche, die Bedeutsamkeit seiner Bemerkung ins Lächerliche zu ziehen. Es ist mir peinlich! Hastig sehe ich auf, weil ich mich urplötzlich schäme. Ich sollte sein Kompliment genießen. Doch Jaxon stört es nicht, er betrachtet mich voller Zufriedenheit, streichelt meine Hand – wann hat er sich die denn genommen? – und genießt.

»Wenn du meinst.«

Kapitel 3

Drei Tage später habe ich keine Schmutzwäsche mehr. Geschweige denn Kleingeld. Ich finde es geradezu lächerlich, in den Waschsalon zu gehen, ohne einen gefüllten Korb, der mir den passenden Vorwand liefert. Allerdings kann ich nur dort Jaxon wiedersehen. Er wird da sein. Wir haben uns immer und immer wieder verabredet und schließlich wurde daraus ein Ritual. Er spielt, ich döse. Geredet haben wir kaum, weil Jaxon die meiste Zeit mit seiner Gitarre beschäftigt war. Das stört mich nicht. Reden will ich nicht, denn das würde unweigerlich dazu führen, dass das Trauma der Silvesternacht erneut Besitz von mir ergreift. Immer dann, wenn Jaxon mich ansieht, sehe ich die Fragen in seinen Augen. Deshalb habe ich mich auch von allen Menschen in meinem Umfeld zurückgezogen. Ihre mitleidigen Blicke ertrage ich einfach nicht mehr. Jaxons Nähe akzeptiere ich nur deshalb, weil er mir das Gefühl gibt, nicht reden zu müssen. Ich kann ihm zuhören … ihm und seinem – wie er es nennt – lächerlichen Geklimper. Und alles ist gut.

Vor dem Schaufenster merke ich, wie lächerlich ich mir vorkomme – ohne Wäschekorb. Ich will mich schon auf dem Absatz umdrehen und wieder gehen, doch da entdeckt er mich und winkt mir fröhlich lächelnd zu. Erwischt.

»Ich habe keine Schmutzwäsche mehr«, gebe ich zu. »Und auch kein Kleingeld mehr.«

Jaxon stopft gerade eine Jeans in die Trommel. »Das macht doch nichts. Wir können uns trotzdem hier treffen. Niemanden stört es, weil niemand hier ist. Oder hast du in den letzten Tagen andere Menschen gesehen?«

Ich schüttele den Kopf. Nachts um zwei gehen nur die Gestörten in einen Waschsalon. Das trifft vielleicht auf mich zu, nicht auf Jaxon. »Aber wenn dir das unangenehm ist«, fährt er ungerührt fort, »können wir uns vielleicht bei dir oder mir treffen?«

Unwillkürlich versteife ich mich. Jaxons Vorschlag ist eigentlich nur die logische Konsequenz. Hat man keine Dreckwäsche, kann man sich den Besuch in einem Waschsalon sparen. Allein der Gedanke, mit Jaxon in meiner Wohnung allein zu sein, lässt mich panisch zurückweichen. Obwohl ich ihn sehr mag, bin ich noch nicht bereit, meinen Rückzugsort mit ihm zu teilen … oder in seine Wohnung zu gehen. Unmöglich, das kann ich nicht. Eine fiese Stimme in meinem Kopf erinnert mich hämisch daran, dass ich seit unzähligen Nächten mit ihm hier im Waschsalon alleine war. Doch das ist etwas vollkommen anderes …

Mit einiger Verspätung bemerkt er die Bedeutung seiner unbedachten Worte. »Sorry, natürlich willst du nicht allein mit mir sein. Ich bin schließlich ein Perverser.«

Dass er eine Bemerkung aufgreift, die bei unserem ersten Treffen gefallen ist, bringt mich so sehr zum Lachen, dass ich meine Angst vergesse. »Wir haben noch nicht geklärt, wie ein Perverser aussieht!«

Jaxon schließt die Maschine, füttert sie mit Kleingeld und startet das Programm. »Na dann schieß mal los. Wie sieht für dich ein Perverser aus?«

Unwillkürlich erscheint das Bild eines der Angreifer aus der Silvesternacht vor meinem inneren Auge. Doch die Heiterkeit steckt mir noch in den Knochen, sodass das Bild ohne Panik erscheint. Lässig beschreibe ich ihn. »Dunkle, irre Augen, schwarzer Bart. Auf jeden Fall dunkles Haar, definitiv. Nicht so strohblond wie deine Strähnchen!« Ich grinse gelöst. Dass ich damit alle Männer dieses Aussehens unter Generalverdacht stelle, fällt mir erst mit einiger Verspätung auf.

Jaxon schiebt seine Mütze etwas nach oben und deutlich mehr Haare werden sichtbar. Die Beanie ist viel zu groß und hängt ihm bis in den Nacken. »Das ist doch kein Stroh!«, beschwert er sich mit gespielter Entrüstung.

»Mehr als die paar Strähnen, die unter diesem hässlichen Ding hervorgucken, habe ich ja noch nicht gesehen. Wieso trägst du eigentlich diese Mütze? Ist dir das nicht zu warm?«

Jaxon seufzt. »Viel zu warm. Aber …«

»Was aber?« In der Zwischenzeit haben wir auf dem Sofa Platz genommen. Meine Hand schnellt nach vorne. Ausgelöst durch das Lachen lugt die alte Enni hervor – das vorwitzige Ding, das ich vor der Silvesternacht war. Mit einem Ruck ziehe ich ihm die Wollmütze vom Kopf – und starre ihn geschockt an.

Blondes Haar fällt ihm in weichen Wellen bis auf die Schulter. Es hat keineswegs Ähnlichkeit mit Stroh. Es sieht so weich aus, dass ich gar nicht anders kann, als die Hand danach auszustrecken. Strähne für Strähne fällt ihm auf die Schulter. »Bist du irre?«, flüstert er heißer, doch er blitzt mich amüsiert an, während er sich eine Strähne hinters Ohr schiebt.

»Natürlich«, murmele ich und greife nach der Strähne, die ihm erneut über die Schultern fällt, als ob sie gegen seine Anordnung aufbegehrt. Locker wickle ich mir das Haar um den Finger. Sie fühlt sich unglaublich weich an. »Wieso versteckst du das denn?«

»Zu auffällig«, murmelt er und beobachtet meinen Finger. Befürchtet er etwa, dass ich ihn daran zu mir ziehen würde? Keine Sorge, ich habe nicht vor, ihn zu küssen … im Leben nicht. Ich wollte nur wissen, wie sich diese eine Strähne anfühlt.

»Auffällig?« Ich hebe den Kopf und suche seinen Blick. Die blonden Wellen umrahmen sein Gesicht und lassen ihn deutlich jünger wirken. Ich weiß nicht einmal, wie alt er wirklich ist. Vielleicht dreißig? Keine Ahnung. So, wie er jetzt vor mir sitzt, gäbe er das perfekte Christkind ab. Natürlich sind seine Wellen nicht ganz so kraus, eher natürlich sanft. Ich muss mir das Lachen verkneifen, doch Jaxon entgeht es nicht.

»Was?«, mustert er mich fragend.

»Ich dachte gerade, dass du ein wirklich hübsches Christkind abgeben würdest.«

Jaxon schmunzelt. »Noch ein Wort und ich lege dich übers Knie! Genau deshalb verstecke ich es. Nicht das irgend so ein Christkind-Scout mich entdeckt und ich in ein paar Monaten im Nachthemd auf Weihnachtsmärkten trällern muss!«

Ich lasse die Strähne los und halte mir prustend den Bauch. »Du bist so ein Idiot!«

Jaxons Mundwinkel zucken, er betrachtet mich zufrieden, ohne in mein Lachen einzustimmen. »Das steht dir gut«, murmelt er leise.

Ich halte inne und sehe ihn fragend an.

»Das Lachen«, fügt er hinzu. »Seit wir uns treffen, habe ich das Gefühl, dass du häufiger lachst.«

Ich zucke mit den Schultern. »Das liegt nur an der Gesellschaft. Du bist so ein Idiot, dass ich gar nicht anders kann.«

»Gern geschehen.«

 

Bevor wir den Waschsalon verlassen, versteckt Jax seine Haare wieder fein säuberlich unter der Wollmütze. Zu allem Überfluss setzt er sich auch noch die Sonnenbrille auf und wirft mir ein völlig sinnfreies Grinsen zu.

»Es ist vier Uhr morgens. Kein Mensch ist auf den Straßen«, entgegne ich.

»Irrtum«, widerspricht er und deutet auf die Müllabfuhr. »Sie sind unterwegs und die Sonne geht auch bereits wieder auf. Genug Möglichkeiten …«

»Manchmal glaube ich, dass nicht ich diejenige bin, die einen gehörigen Dachschaden hat. Du bist genauso irre.«

Jaxon grinst blöde. »Ich habe nie etwas anderes behauptet. Darf ich dich nach Hause bringen?«, wirft er völlig unerwartet ein.

Meine Brust zieht sich schmerzlich zusammen und ich trete hastig den Rückzug an. Mental. Seitdem ich ihm die grässliche Mütze vom Kopf gezogen habe, ist etwas zwischen uns passiert. Ich habe ein kleines Stück seines Rätsels gelöst und das hat mich auf merkwürdige Weise mit ihm verbunden. Doch diese unbedeutende Frage drängt mich zurück. Es ist nur Jaxon, versuche ich mich zu beruhigen. Ich kenne ihn, er ist nett, er mag mich und ich mag ihn. Warum also nicht? Aber etwas hält mich mit aller Macht zurück.

Jaxon wartet geduldig. Vielleicht sieht er den inneren Kampf, den sein Vorschlag gegen meine Panik führt. Nach einer gefühlten Ewigkeit seufzt er und nickt traurig. Ich habe zu lange gezögert.

»Na vielleicht irgendwann. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich dich nach Hause bringen dürfte.«

»Jaxon …«, entgegne ich leicht tadelnd, als ob er doch wissen müsste, dass ich nicht so einfach nachgeben kann. Er nickt verstehend.

»Die Straßen sind grässlich gefährlich«, fügt er mit einem Augenzwinkern hinzu. Doch das nimmt seinen Worten nicht die Schärfe. Wenn er wüsste, wie gefährlich. Aber es sind nicht die Straßen, es sind die Menschen, die mich zu diesem Nervenbündel gemacht haben, dass vor allem davonläuft und nur mit allergrößter Anstrengung rausgehen kann. Ich sage nichts und will mich schon zum Gehen wenden, als er plötzlich nach mir greift. Seine Hand umschließt meinen Arm und ich starre in Erwartung der nächsten Panikattacke auf seine Finger. Doch es passiert nichts. Stattdessen drehe ich mich zu ihm um und sehe ihn erwartungsvoll an.

»Kannst du mich vielleicht nach Hause bringen?«, fragt er. Seine Augen funkeln in der aufgehenden Sonne. »Die Straßen sind doch so gefährlich.«

Vollkommen durcheinander sehe ich ihn an. Er will mir doch nicht etwa weismachen, dass ein Mann von seiner Statur sich fürchten würde, alleine nach Hause zu gehen. Das Blitzen in seinen Augen ist Antwort genug. Er will mich erneut aus der Reserve locken. Ehe ich den Gedanken zu Ende geführt habe, verschießt mein Mund eine spitze Bemerkung. »Hast du etwa Angst?«

Jaxons Mundwinkel zucken amüsiert. »Schreckliche Angst«, imitiert er mich. »Bringst du mich nach Hause?« Er wackelt kokett mit den Augenbrauen. Laut lachend pruste ich los.

»Was denn? Fürchtet sich die Prinzessin etwa?«

Jaxons Miene gefriert. »Prinzessin?«

Ich grinse und deute auf seine Mütze. »Eindeutig Prinzessinnen-Style.« Mein Haar ist kurz und rostrot, etwas länger als sonst, denn Friseure sind nachts nicht aufzutreiben. Also muss ich sie so tragen, wie sie wachsen. Obwohl mich die paar Zentimeter, die sie seit meinem letzten Friseurbesuch im Winter letzten Jahres zugelegt haben, schon wieder stören. Ich mag mein Haar kurz, so kurz, dass sie zurückspringen, wenn ich mit den Fingern hindurch gleite. Jaxons Haar würde definitiv nicht zurückspringen, durch seine Wellen könnte ich stundenlang kämmen. Ich wüsste gerne, wie sich das anfühlt.

»Ich bin keine Prinzessin und du kein Flynn Ryder!«, gibt er angefressen zurück.

»Pah! Rapunzel. Ich wusste, dass ich dich schon mal gesehen habe! Du bist Rapunzel und deshalb trägst du Mütze und Brille. Du versteckst dich vor der bösen Hexe!«

Jaxon verzieht das Gesicht. »Du bist ein grässliches Biest.« Er wendet sich zum Gehen, den Wäschekorb mit seinen gereinigten Hosen vor sich hertragend. »Kommst du jetzt oder brauchst du einen Kniefall von mir?«

Eilig laufe ich ihm hinterher. Ich weiß überhaupt nicht, warum ich das tue, aber ihn so verärgert von dannen ziehen zu lassen, behagt mir nicht. Also gewähre ich ihm den Wunsch. »Nein, nein! Ich begleite die holde Dame zu ihrem Turm!«, entgegne ich lachend und schließe zu ihm auf.

Jaxon verdreht die Augen. »Ist auch nicht weit.«

Nervös sehe ich mich um. Allmählich wird es hell, sodass neben der Müllabfuhr die ersten Frühaufsteher aus ihren Betten kriechen und auf die Straße gehen. Jogger, die vor der Arbeit noch schnell eine Runde drehen wollen, Hundebesitzer, deren Fellknäuel auf Gassi gehen am Morgen besteht, Arbeiter, die zur Frühschicht müssen, Verkäufer, die die Auslagen neu bestücken müssen. Unzählige Berufsgruppen, die bald aufstehen und mir zwangsläufig begegnen werden.

»Zwei Straßen, dann bist du mich los.«

Jaxon hat recht, innerhalb von zehn Minuten haben wir sein Apartment erreicht. Er bleibt vor einem Hochhaus stehen. Beeindruckt sehe ich die Fassade hinauf. »Da wohnst du?«

Jaxon zuckt mit den Schultern und wirft einen Blick in das Gebäude. Der Pförtner hat ihn bereits entdeckt und kommt mit einem Schlüsselbund zur Eingangstür. Jaxons nächtliche Ausflüge sind nicht unbemerkt geblieben. »Ja.« Er hebt eine Hand und winkt dem grauhaarigen Mann zu. »Willst du mit raufkommen?«