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Michael Shurtleff (1920–2007) war Casting Director am New Yorker Broadway; er arbeitete mit Bob Fosse und Andrew Lloyd Webber zusammen und gründete 1962 seine eigene Casting-Agentur (Casting Consultants). Zu seinen »Entdeckungen« gehören u. a. Barbra Streisand, Gene Hackman, Robert De Niro und Dustin Hoffman.

Michael Shurtleff

Erfolgreich vorsprechen

(Audition)

Mit einer Einleitung von Keith Johnstone
und einem Vorwort von Bob Fosse

Aus dem Amerikanischen
von Petra Schreyer

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Für Onna und Keith

Mein Dank geht an die
beiden außergewöhnlichen Broadway-Produzenten
Stuart Ostrow und David Merrick –
für ihren Glauben an mich und die vielen wunderbaren
Gelegenheiten mit ihnen, die es mir erlaubten,
von ihnen zu lernen
.

Diese Ausgabe folgt der 10. amerikanischen Auflage, die 1978

unter dem Titel Audition bei Walker and Company, New York, erschien.

Achte, durchgesehene Auflage 2019

© by Michael Shurtleff 1978

Published by Arrangement with Michael Shurtleff

© by Alexander Verlag Berlin 1999

Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin

info@alexander-verlag.com | www.alexander-verlag.com

Alle Rechte vorbehalten.

Satz/Layout/Umschlaggestaltung: Antje Wewerka unter Verwendung eines

Fotos von Michael Shurtleff (© Thomas Schlück Agency)

Korrektorat: Sophie Jaede

ISBN 978-3-89581-507-2 (eBook)

INHALT

Keith Johnstone · Theater und Kreativität

Bob Fosse · Vorwort

Prolog

1.Praktische Aspekte des Vorsprechens

2.Die zwölf Wegweiser

Wegweiser Nr. 1: Beziehung

Wegweiser Nr. 2: Wofür kämpfen Sie? Konflikt

Wegweiser Nr. 3: Der »Moment davor«

Wegweiser Nr. 4: Humor

Wegweiser Nr. 5: Gegensätze

Wegweiser Nr. 6: Entdeckungen

Wegweiser Nr. 7: Kommunikation und Konkurrenz

Wegweiser Nr. 8: Bedeutsamkeit

Wegweiser Nr. 9: Die Ereignisse finden

Wegweiser Nr. 10: Der Ort

Wegweiser Nr. 11: Spiele und Rollenspiele

Wegweiser Nr. 12: Geheimnis und Rätsel

3.Beständigkeit

4.Einige Dinge, die ein Schauspieler wissen muss

5.Monolog, Selbstgespräch, Stil

6.Tempo

7.Romantik

8.Musical

9.Komödie

10.Einfachheit

11.Erfahrungen aus einem Leben am Theater

Epilog

Keith Johnstone

THEATER UND KREATIVITÄT

Wenn ich meinen Schülern sage, dass ich dieses Buch für eines der besten zum Thema Theater und Kreativität halte, sehen sie mich erstaunt an, denn sie sind überzeugt, sein Inhalt bewege sich in einem sehr begrenzten Rahmen. Später begreifen sie, dass es davon handelt, wie eine passive Darstellung von einer aktiven abgelöst wird, und dass es seine Leser stimuliert, herausfordert und ihr Leben angenehmer machen kann, auch wenn sie keine Schauspieler, sondern Schriftsteller, Kellner, Vertreter oder Büroangestellte sind.

Michael Shurtleff ist ein New Yorker Casting Director, der Tausende von Schauspielern hat untergehen sehen, in die Tiefe gezogen von Rettungsringen aus Blei. Er weiß, wie dies verhindert werden kann, und kennt viele effektive Techniken, um über Wasser zu bleiben.

Ich habe ihn nie kennengelernt, es ist aber offensichtlich, dass er den echten Wunsch verspürt, alles zu tun, um Leuten zu helfen. Viele Experten ähneln eher jenem sizilianischen Messerkämpfer, der auf seinem Totenlager Tränen vergoss, weil er seinem Lieblingsschüler so wenig beigebracht hatte; dieser Autor hingegen hält mit seinem Wissen nicht hinter dem Berg; er versucht nicht, seine Überlegenheit herauszustreichen oder geheimnisvoll zu sein; bei ihm gibt es nichts von dieser zweifelhaften Theorie von der linken und rechten Gehirnhälfte; er erklärt einfach die Strategien, durch die sich die Sieger von den Verlierern unterscheiden, und er macht den Unterschied an zahlreichen lebendigen und überzeugenden Beispielen deutlich. Er weiß, dass wir den Namen Beckett nie gehört hätten, würden die Figuren Becketts nicht um etwas Positives kämpfen, und er weiß, dass Anthony Hopkins nie den Oscar (für seine Rolle als Hannibal Lecter in Das Schweigen der Lämmer) bekommen hätte, wenn wir nicht das Gefühl hätten, er fühlte sich zu Clarice Starling hingezogen.

Wenn Sie bis hierher gelesen haben und immer noch kein Interesse daran haben, wie man »richtig vorspricht« (vielleicht sind Sie ja kein Schauspieler), schlagen Sie doch gleich das zweite Kapitel mit den zwölf Wegweisern auf (das erste können Sie später lesen); oder Sie lesen den wunderbaren Abschnitt über Die Reifeprüfung (Seite 167)! Hier ein paar Zitate, um Ihnen Appetit zu machen:

»Ich frage Schauspieler, warum Sie solch fade, nüchterne Entscheidungen getroffen haben … sie geben mir zur Antwort, sie hätten nicht übertrieben spielen wollen. … Dabei ist doch beinahe alles, was ich zu sehen bekomme, untertriebenes Spielen.«

»Ein Ausdruck von Gefühl hat keinen Wert, außer er kollidiert mit dem, was die andere Person in der Szene möchte. Kommt die Kollision körperlich zum Ausdruck, umso besser.«

»Das Negative steht immer schon geschrieben … es ist die Aufgabe des Schauspielers, das Positive hineinzubringen.«

»Jede Szene ist eine Liebesszene. … Das heißt nicht, dass es in jeder Szene um Liebe von der Romeo-und-Julia-Art geht; häufig handelt die Szene von dem Fehlen oder dem Entzug von Liebe. Durch die Frage »Wo ist die Liebe?« werden Sie eine Antwort finden, die Sie auf direktere Art emotional in die Szene verwickelt, als wenn Sie diese Frage nicht stellen.

Die Beschreibung einer Figur bedeutet für die meisten Schauspieler, zu sagen, was ihre Figur nicht tun würde.«

Das Buch ist sehr amerikanisch, was es noch interessanter macht, da es Einblicke in die exotische Welt des amerikanischen Theaters erlaubt. Es endet mit einer Reihe persönlicher Anekdoten (darunter einige reichlich bizarre). Ich hoffe, das Buch ist für Sie genauso spannend und anregend, wie es für mich gewesen ist.

Oktober 1999

Bob Fosse

VORWORT

Ich habe noch nie ein Vorwort geschrieben und weiß daher nicht, welche Bedeutung ein Vorwort hat. Ich rief einige meiner gebildeteren Freunde an und fragte sie: Was genau soll ein Vorwort bezwecken? Übereinstimmend meinten sie, ein Vorwort solle auf die eine oder andere Art dem Leser voraussagen, was ihn auf den folgenden Seiten erwartet. Das klang vernünftig, doch hatte ich das Gefühl, es sei nicht alles. Ich habe immer den Verdacht, dass meine Freunde mich in die Irre leiten – mir jedenfalls nur einen Teil dessen erzählen, was ich wissen sollte. Natürlich kann man von seinen besten Freunden nichts anderes erwarten.

Aus diesem Grund las ich die Vorworte einer Reihe von Ratgeberbüchern, sogar die einiger Romane. Ich lernte daraus nicht viel. Ganz im Gegenteil waren die meisten meiner Meinung nach zu lang, zu akademisch; in einigen Fällen schien es mir, als konkurriere der Autor des Vorworts mit dem Autor des Buchs und wollte diesen sozusagen aus dem Feld schreiben. Es war wie ein Ausscheidungskampf im Schreiben über fünf Runden. Der Vorwortschreiber landete mit der Linken ein obskures Verb am Kinn seines Gegners, unmittelbar gefolgt von einem siebensilbigen Adjektiv – eins, das mich umgehend zum nächsten dicken Wörterbuch laufen ließ.

Mit all diesen Verfahren für das Schreiben eines Vorworts wollte ich nichts zu tun haben, und ich zwang mich, selbst darüber nachzudenken (etwas, was ich immer so lange wie möglich hinausschiebe), was ich über Michael Shurtleff und dieses Buch gern sagen würde.

Als Erstes erkläre ich – und man darf mich zitieren –, dass ich dieses Buch für jeden aufstrebenden, auch nur mäßig ehrgeizigen Schauspieler für absolut unentbehrlich halte. Es gibt meines Wissens KEIN Buch, das einem Schauspieler solch erstklassigen, einleuchtenden, sachlichen Rat erteilt. Es wurden weiß Gott sehr viele Bücher über die Schauspielerei und das Theater geschrieben, doch keines von denen, die ich gelesen habe, ist so schnörkellos und praktisch wie dieses – und von so großem Nutzen.

Ich habe viele talentierte Schauspieler gesehen, die eine Rolle nicht erhielten, einfach weil sie schlecht vorsprachen. Nicht nur beim Theater, auch beim Film passiert es nur allzu häufig.

Michael Shurtleff erläutert dem Leser alle denkbaren Konstellationen und Zwickmühlen, mit denen ein Schauspieler rechnen muss. Am wichtigsten aber ist, dass er in verständlichen Worten erklärt, wie der Schauspieler damit umgehen soll. Selbst mit Details wie der passenden Kleidung beschäftigt er sich. Nicht wichtig, sagen Sie? Ach, nein? Lesen Sie weiter!

Obwohl dieses Buch darauf ausgerichtet ist, Schauspielern zu helfen, erfolgreich vorzusprechen (erfolgreich heißt, ein Engagement – eine Rolle – zu erhalten, etwas, was heutzutage extrem schwierig ist. Hat die Schauspielergewerkschaft 80 oder 90 Prozent arbeitslose Mitglieder?), fing ich an, darüber nachzudenken, wie mit ein wenig Fantasie, durch eine kleine Verschiebung im Geist des Lesers dieses Buch auch für Menschen außerhalb des Theaters von Nutzen sein kann. Schließlich ist auch ein Vorstellungsgespräch in einem bürgerlichen Beruf eine Art von Vorsprechen, nicht wahr? Oder eine erste Verabredung. In der heutigen Welt scheint mir alles ein einziges langes Vorsprechen zu sein.

Ich möchte ein paar Worte über den Autor Michael Shurtleff sagen. Ich hoffe, er wird dies nicht lesen, denn ich weiß, dass meine Zuneigung und meine Bewunderung ihn in Verlegenheit bringen würden. Es gibt am Theater niemanden, zu dem ich größeres Vertrauen hätte. Wann immer ich unschlüssig bin über ein Skript, über einen Schauspieler oder irgend etwas anderes, das mit einer Show oder einem Film zu tun hat, weiß ich, dass ich Michael um seine Meinung bitten kann und immer eine ehrliche, vernünftige Anwort erhalten werde. In einem Gewerbe, in dem die meisten äußerst vorsichtig agieren – es könnte ja etwas schiefgehen –, ist dies tatsächlich eine seltene Eigenschaft.

Wahrscheinlich hat er mehr Schauspieler vorsprechen sehen als irgendjemand sonst. Er hat dazu beigetragen – und in vielen Fällen war es allein sein Tun –, mehr unbekannten Schauspielern zum Durchbruch zu verhelfen als irgendjemand, den ich kenne.

Michael Shurtleff engagiert sich mit Leib und Seele. Ich glaube, in den vergangenen fünfzehn Jahren hat er jedes Theaterstück, jedes Musical am Broadway, Off-Broadway, Off-Off-Broadway gesehen – die auf Dachböden, in Studios, in Hinterzimmern von Läden und, davon bin ich überzeugt, sogar die in den Wohnzimmern. Er liebt Schauspieler (was nicht immer leicht ist; Michael macht sich aber tatsächlich etwas aus ihnen). Wie oft habe ich es bei Besetzungssitzungen erlebt, wie er sich nach einem schlechten oder mittelmäßigen Vorsprechen eines bestimmten Schauspielers oder einer Schauspielerin unter Schmerzen windet. Ich sah seinen Gesichtsausdruck (eigentlich nicht wirklich ein Sichwinden; Michael windet sich nicht; doch er hat einen Gesichtsausdruck, der dem sehr nahe kommt und als ein Sichwinden durchgehen könnte) und fragte ihn: »Warum?« Gequält gab er zur Antwort: »Ich weiß nicht, warum dieser Schauspieler es auf diese Weise gemacht hat. Er hat wirklich Talent. Ist ihm nicht klar, dass er sich eben selbst in die Pfanne gehauen hat?« Dann, nach einer Pause: »Könnten Sie ihn nicht noch einmal lesen lassen?« In den meisten Fällen stimmte ich zu – ich verlasse mich wirklich auf seinen Instinkt.

Es besteht kein Zweifel, dass Michaels Qualen echt waren. Ich nehme an, dass es diese Qual und sein tiefer Wunsch, jungen Schauspielern zu helfen, waren, die ihn veranlassten, das vorliegende Buch zu schreiben.

Noch eine Eigenschaft von Michael halte ich für erwähnenswert. Ich jedenfalls fand sie immer ungewöhnlich. Als Casting Director und in seinem unermüdlichen Bestreben, dem Regisseur zu helfen, hielt er stets Ausschau nach dem »ausgefallenen« Schauspieler. Dem Schauspieler, mit dem Sie normalerweise diese Rolle nicht besetzen würden, der aber über irgendeine ganz besondere Eigenschaft verfügt – eine Eigenschaft, die eine gewöhnliche Rolle in eine brillante Rolle verwandeln würde. Natürlich ist es nicht immer einfach, dem Regisseur einen »ausgefallenen« Schauspieler anzudrehen. Regisseure neigen zu stereotypen Besetzungen. Natürlich nicht ich, aber all diese anderen Burschen.

Ich glaube, ich habe genug gesagt. Ach ja, noch eins: Aufgrund meiner erwähnten Sympathie für Michael möchte ich, dass dieses Buch sich gut verkauft, und weil ich mir über den Zeitgeist-Geschmack im Klaren bin, sollte ich noch das recht drastische erotische Kapitel gegen Ende des Buchs erwähnen. Nur weil Michael Shurtleff immer ehrlich ist, brauche ich es nicht auch zu sein.

1978

PROLOG

I.

Wissen die meisten Menschen eigentlich, dass das Leben eines Schauspielers mühselig ist – die meiste Zeit wenig glanzvoll und voller Enttäuschungen und Ablehnungen und harter Arbeit? Wir, die wir unser ganzes Leben am Theater gearbeitet haben, wissen es so gut, dass wir fälschlicherweise glauben, auch der Rest der Welt wüsste Bescheid. Offensichtlich stimmt das so nicht, denn sonst würde keiner mehr die Sicherheit eines bürgerlichen Berufs verwerfen, um sich der Welt der Schauspielerei zu verschreiben. Es sind viele. Der Traum besteht weiter: der eigene Name in Leuchtschrift, das eigene Gesicht da oben auf einer Riesenleinwand, die Bewunderung des Publikums, Romantik, Glanz und Ruhm.

Die Wahrheit sieht so aus, dass auf jeden Schauspieler, der die Rolle kriegt, fünfzig oder hundert oder zweihundert Schauspieler kommen, die sie nicht kriegen. Ein Schauspieler bemüht sich immerzu um eine Rolle; ein Schauspieler wird immerzu abgelehnt, ohne dass er weiß, warum; sie wollen ihn einfach nicht. Das Leben eines Schauspielers ist nicht beneidenswert. Es besteht zum großen Teil daraus, zu verlieren und abgelehnt zu werden. Für die meisten von uns wäre ein solches Leben unerträglich. Ich werde nie verstehen, wie Schauspieler es aushalten weiterzumachen.

Mehrmals in der Woche, manchmal – wenn es um Werbung geht – mehrmals am Tag muss ein Schauspieler sich um einen Job bewerben. Das heißt, er muss vorsprechen, und das heißt, er muss eine Szene aus einem Skript nehmen, sie durchlesen, aufstehen und eine Darstellung geben. Und dennoch ist ein Schauspieler – auch nach Jahren des Studiums, nach Jahren des Trainings und all seinen Erfahrungen am Gemeindetheater, College-Theater, Repertoiretheater und Regionaltheater, am Off-Off-Broadway und am Off-Broadway, ja sogar am Broadway – durch nichts auf diesen unendlichen, in den meisten Fällen ein Leben lang währenden Prozess des Vorsprechens bei der Bewerbung um eine Rolle vorbereitet.

Denn um zu spielen, ist es notwendig, für die Rolle vorzusprechen – es sei denn, Sie sind ein Star oder ein dicker Freund des Regisseurs. Handelt es sich um ein Musical, gehört zum Vorsprechen auch Singen und unter Umständen Tanzen und dann das Sprechen der Rolle. Handelt es sich um ein Theaterstück, gibt es zwar auch ein Einstellungsgespräch, doch alles hängt vom Vorsprechen der Rolle ab. Das Leben eines Schauspielers besteht aus Vorsprechen – warum gibt es in seiner Ausbildung nichts, was ihn darauf vorbereitet? Was muss er tun, um den Job zu bekommen?

Schauspieler besuchen die Schauspielschule. Schauspieler haben eine Ausbildung, genau wie Musiker oder Tänzer. Es gibt immer ein paar, die sich als »Naturtalente« bezeichnen und ihre Berufung unter keinen Umständen als Handwerk verstanden haben wollen; die meisten Schauspieler aber wissen, dass sie ein Handwerk brauchen und sich eine Technik aneignen müssen. Spielen ist zu einem kleinen Teil Inspiration(einem kleinen, aber sehr erfreulichen Teil), zu einem viel größeren Teil besteht es aus harter Arbeit. Doch alles Training der Welt nützt nichts, wenn es dem Schauspieler beim Vorsprechen nicht gelingt, die Auditoren davon zu überzeugen, dass er die Rolle spielen kann.

Berühmte Schauspieler haben oft behauptet, sie hätten den Job niemals bekommen, hätten sie vorsprechen müssen. Ruth Gordon hat sich mir gegenüber in diesem Sinne geäußert, genau wie Katharine Cornell. Ich glaube nicht, dass das stimmt; es bedeutet nur, dass sie in der glücklichen Lage sind, nicht vorsprechen zu müssen; müssten sie es doch, wären sie professionell und fantasievoll genug, einen Weg zu finden. Hinter ihrer Aussage steckt einfach das Wissen, dass Vorsprechen eine furchteinflößende Angelegenheit ist. Es ist nicht das Gleiche wie das eigentliche Spielen. Es ist eine andere Fähigkeit, die der Schauspieler sich aneignen muss.

Dieses Buch sagt Ihnen, wie man es macht.

II.

Es begann damit, dass ich die Broadway-Produktion von Der Löwe im Winter besetzen sollte. Das war natürlich lange bevor Katharine Hepburn und Peter O’Toole in der Filmversion den Esprit und die Leidenschaft von Jim Goldmans Figuren herausarbeiteten; die New Yorker Schauspieler, die zum Vorsprechen kamen, hatten also kein Vorbild, und sie sprachen, wie sie – unglücklicherweise – stets in »historischen« Stücken sprachen: geradeheraus, ernsthaft, laut. Nach drei Wochen drehte sich der Regisseur, der Engländer Noel Willman, zu mir um und fragte: »Haben amerikanische Schauspieler denn gar keinen Humor?«

Natürlich haben amerikanische Schauspieler Humor!, dachte ich. Jemand muss ihnen nur beibringen, ihren Humor einzusetzen! So fing ich als Lehrer an.

Seit Jahren war ich Casting Director für Broadway-Produktionen (darunter Becket mit Laurence Olivier und Anthony Quinn, Gypsy mit Ethel Merman, Rosenkranz und Güldenstern sind tot, Lili, Pippin, Ein seltsames Paar, Chicago, Bitterer Honig) und Filme (Meine Lieder – meine Träume, Jesus Christ Superstar, 1776, Kanonenboot am Yangtse-Kiang, Ein Schmetterling flog auf, Die Reifeprüfung); zu meiner Arbeit gehörte es, Schauspieler überall dort spielen zu sehen, wo in New York Theater gemacht wird: in Kirchen, Cafés, in Kneipen, Kellern, Dachböden, im kleinen Theater eine Treppe tiefer, im kleinen Theater eine Treppe höher, am ELT (Equity Library Theatre), Off-Broadway, Broadway – an den ungewöhnlichsten Orten. Für gewöhnlich ging ich acht- oder neunmal in der Woche ins Theater; am Wochenende sah ich manchmal bis zu fünf oder sechs Aufführungen am Off-Off-Broadway. Die Leistung eines Schauspielers, die ich dort sah, war in so vielen Fällen nicht das, was ich sah, wenn er zum Vorsprechen für eine Broadway-Produktion oder einen Film kam, dass mir klar wurde: die Schauspieler wussten nicht, was von ihnen bei einem Vorsprechen verlangt wurde. Vor allem, wenn es um Humor ging.

Ich begann damit, den Schauspielern beizubringen, wie sie den Humor in der Rolle, für die sie vorsprachen, aufspüren konnten. Doch da Humor nicht isoliert betrachtet, sondern nur bei der Arbeit an der Figur und der Szene erkundet werden kann, entwickelte ich die zwölf Wegweiser, die dem Schauspieler helfen sollten, sich beim Vorsprechen auf die richtige Weise einzusetzen. Und da sie beim Vorsprechen helfen, helfen sie ihm auch bei den Proben und den Aufführungen – sein Leben lang.

Es gibt für den schöpferischen Akt keine Regeln – es ist die Ausnahme von der Regel, die uns am meisten interessiert –, doch es gibt eine Reihe von klar definierten Fragen, die der vorsprechende Schauspieler sich stellen muss. Die Antworten auf die Fragen, die die Wegweiser aufwerfen, fallen für jeden verschieden aus, denn es gibt keine zwei Menschen, die völlig gleich sind. Wenn wir annehmen, dass Schauspieler noch unterschiedlicher und unangepasster sind als andere – denn warum würden sie sonst Schauspieler sein? –, wird klar, dass die individuellen Antworten einzigartig ausfallen können.

Das macht Schauspielern Angst. Schauspieler, die stolz sein sollten auf ihre Einzigartigkeit, versuchen unaufhörlich, jemand anderes zu sein. Es ist nicht notwendig, dass ein Schauspieler sich selbst mag – Eigenliebe fällt den meisten von uns schwer –, doch Sie müssen lernen, Vertrauen zu haben in das, was Sie sind. Es gibt niemanden, der Ihnen gleicht.

Die Wegweiser sind Fragen, die der Schauspieler stellen soll. Sie sind keine Regeln. Sie sind keine Technik. Sie sind dazu da, den Schauspieler zu seinen Gefühlen zu führen. Es gibt neben seinen eigenen Gefühlen wenig, was der Schauspieler beim Vorsprechen als Quelle verwenden kann.

Jahrelang lehrte ich diese Wegweiser in meinen Kursen über das Vorsprechen. Schauspieler sagen mir, dass die zwölf Wegweiser nicht nur ein strukturiertes und praktisches Verfahren darstellen, das Problem des Vorsprechens in den Griff zu bekommen, sondern für ihr gesamtes Berufsleben von Nutzen sind: eine Synthese des Trainings und der Erfahrungen aus der Lebensarbeit eines Schauspielers. Die Wegweiser verwerfen eine frühere Ausbildung nicht, auch nicht in Teilen; vielmehr geben sie dem Schauspieler ein Instrument an die Hand, mit dessen Hilfe er sein gesamtes Training für die tagtägliche Bewerbungsroutine einsetzen kann. Ein Instrument, das ihm auch bei der Darstellung der Rolle hilft – wenn er sie erst hat.

III.

Mit der Schauspielerei anzufangen ist, als würde man sich für einen Aufenthalt in einer psychiatrischen Anstalt bewerben. Jeder darf sich bewerben, doch nur diejenigen, die beweisen können, dass sie verrückt sind, dürfen hinein. In meiner Schauspielerkartei sind fünfzigtausend Schauspieler registriert. Wenn ich sage, dass fünfhundert von ihnen ihren Lebensunterhalt mit dem Spielen verdienen, greife ich wahrscheinlich noch viel zu hoch. Und selbst bei diesen stammt ein großer Teil ihres Einkommens aus der Werbung, und das sind ja keine »richtigen« Rollen, nicht wahr? Also wird auf Anhieb klar, dass es unter einem rationalen Blickwinkel betrachtet ein Akt des Wahnsinns ist, wenn jemand Schauspieler wird. Warum einen Beruf erlernen, in dem die Chancen, den Lebensunterhalt damit zu verdienen, gegen null gehen?

Der Beruf des Schauspielers ist voll von Widersprüchen. Die meisten werden Schauspieler, um aus sich herauszugehen, von ihrem langweiligen Alltagsselbst wegzukommen und jemand anderes zu werden: jemand, der glanzvoll, romantisch, ungewöhnlich, anders ist. Und auf was läuft es dann hinaus? Dass Sie das eigene Selbst einsetzen. Dass Sie damit arbeiten, was in Ihnen ist: nicht jemand anderes sein, sondern Sie selbst sein in unterschiedlichen Situationen und Zusammenhängen. Nicht vor sich selbst fliehen, sondern das eigene Ich einsetzen – nackt und ausgeliefert –, sei es auf der Bühne oder auf der silberglänzenden Leinwand.

Ich war immer der Meinung, dass es besser ist, die geistige Gesundheit über Bord zu werfen. Geben Sie einfach in aller Gelassenheit zu, dass Sie verrückt sind, oder Sie würden nicht Schauspieler sein wollen. Sie haben herausgefunden, was Spielen eigentlich heißt und wie gering die Chancen sind, und dennoch wollen Sie weitermachen: darin liegt der Beweis für Ihre Verrücktheit. Akzeptieren Sie es. Die meisten Schauspieler machen sich unglücklich, indem sie nach geistiger Gesundheit streben und auf ihrer Normalität beharren; das ist ein großer Fehler. Das Leben eines Schauspielers ist ein wenig leichter zu ertragen, wenn Sie zugeben, dass Sie nicht alle Tassen im Schrank haben.

Doch mit dem Eingeständnis der eigenen Verrücktheit ist man der Härte des vor einem liegenden Weges noch lange nicht entkommen. Die Härte besteht darin, das eigene Selbst beim Spielen einzusetzen, ohne ihm irgendwelche Grenzen zu setzen. Schauspieler sind – und das gehört zu ihren auffälligeren Eigenheiten – süchtig danach, über ihre »Figuren« zu reden. »Ich spiele diese Figur, die im zweiten Akt verrückt wird«, oder: »Meine Figur ist ein hingebungsvoller Gatte und Vater, er würde sich niemals von einer anderen Frau verführen lassen.« Schauspieler verschwenden eine Menge Vorsprech-Zeit, wenn sie über ihre »Figuren« nachdenken, denn das heißt oft nichts anderes, als vor dem geforderten Einsatz ihres Selbst davonzulaufen. Vorsprech-Zeit ist kostbar. Nur ganz wenig davon wird Ihnen zur Verfügung gestellt; bei weitem nicht genug, um sich an die Analyse dieser Figur zu machen. Der Druck ist groß, dass die »Figur« aus dem Inneren des Schauspielers kommen muss – und zwar sofort.

Als Erstes müssen Sie einen Grundsatz Ihrer Darstellungsmethode abändern, um richtig vorsprechen zu lernen: Sie müssen die »Figur« vergessen und sich selbst einsetzen.

Als ich Vorsprechen unterrichtete, stellte ich fest, dass der Erfolg eines Schauspielers beim Vorsprechen direkt proportional zu seiner Bereitschaft ist, die Analyse der Figur aufzugeben und sich selbst einzusetzen. Sie müssen bedenken: Wochenlange intensive Proben sind notwendig, um eine »Figur« zu formen. Wie können Sie das leisten, wenn Sie das Skript gerade mal über Nacht in den Händen haben oder – wie es an den Broadway-Theatern so oft der Fall ist – wenn Sie nur zehn oder fünfzehn Minuten Zeit haben, sich eine Szene anzusehen, bevor Sie auf die Bühne müssen, um sie vor den Auditoren zu sprechen? In zehn Minuten wollen Sie eine voll entwickelte Figur aus dem Hut zaubern? Niemals!

Lernen Sie, sich selbst einzusetzen.

Missverstehen Sie mich nicht, wenn ich von selbst spreche. Ich meine damit nicht Ihr wirkliches, Ihr Alltagsselbst, denn Theaterstücke handeln nicht vom Alltäglichen, sondern von ungewöhnlichen Situationen, in denen das, was geschieht, außerhalb des Gewohnheitsmäßigen liegt; daraus folgt, dass Ihre Reaktionen auf das, was geschieht, ebenso außerhalb des Gewohnheitsmäßigen liegen. Kein Mensch hat Lust, fünfzehn Dollar zu bezahlen, um das Alltägliche zu sehen – nicht einmal fünf Dollar; das hat er an der Straßenecke, bei sich zu Hause oder im Fernsehen. Was wir bei einem Vorsprechen sehen wollen, ist Ihr wirkliches Ich, wie es auf eine außergewöhnliche Situation in einer außergewöhnlichen und einzigartigen Art und Weise reagiert. Es gibt auf der ganzen Welt nur eine einzige Person, die so ist wie Sie. Wagen Sie es, diese Person wahrheitsgemäß und mit Fantasie einzusetzen.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Schauspieler in vielen Situationen die »Figur« als Begrenzung benutzen. Ich frage: »Warum verliebst du dich nicht in ihn?«, und die Schauspielerin antwortet: »Es ist nicht möglich. Meine Figur würde sich niemals in einen Mann wie ihn verlieben.«

Es geschieht so häufig, dass ich inzwischen überzeugt bin, es handelt sich um eine Tatsache: Die Beschreibung einer Figur bedeutet für die meisten Schauspieler, zu sagen, was ihre Figur nicht tun würde. Sobald ein Schauspieler seine Arbeit einer solchen Beschränkung unterwirft, ist er weniger als er selbst: eingeschlossen in eine Zwangsjacke aus Verneinungen. Wie kann ein Schauspieler ein gutes Vorsprechen geben, wenn er seine Freiheit, zu fühlen, dermaßen einschränkt? Schieben Sie die Beschränkungen, die eine Figurenbeschreibung automatisch mit sich bringt, beiseite; lassen Sie zu, dass alles möglich ist; entscheiden Sie sich für Dinge, die Ihnen eine maximale Möglichkeit bieten, sich einzusetzen. Wenn es eine Möglichkeit gibt – sei sie noch so unwahrscheinlich, sei sie noch so entfernt –, dass Sie die andere Figur in der Szene lieben, sagen Sie Ja zu dieser Möglichkeit. In einer möglichen Liebe steckt mehr Emotion als in der Unmöglichkeit, den anderen zu lieben. Emotion ist das, was ein Schauspieler sucht; warum nicht das wählen, was am meisten bietet?

»Was machen Sie mit der anderen Figur in Ihrer Szene?«, frage ich einen Schauspieler. Er antwortet: »Ich will nicht mit ihr zusammen sein; ich will weg von ihr.« Ich frage ihn: »Warum gehst du dann nicht? Steh einfach auf und geh weg. Diese Freiheit haben wir schließlich alle.« Bei der Hälfte der Vorsprechtermine, die ich erlebe, sehe ich Leute, die wünschten, sie wären nicht hier. Wer will mit Leuten zusammen sein, die wünschten, sie wären nicht hier? Wen interessiert dieser Widerwille? Ich will einen Schauspieler sehen, der Grund hat, hier zu sein, und dessen Beziehung zur anderen Figur in der Szene so geartet ist, dass er einer Begegnung mit ihr nicht ausweicht.

Davon handelt dieses Buch: Einen Grund zu finden, warum Sie dort auf der Bühne stehen sollten; einen Grund dafür, ihre tiefsten Gefühle auszudrücken, sodass sie wahrhaftig und bedeutungsvoll wirken, und all die Möglichkeiten, die in einer Beziehung stecken, zu bejahen. Glücklicherweise funktionieren Menschen nicht nach den Regeln der Vernunft (wäre das der Fall, würde niemand Schauspieler werden). Was Menschen motiviert, sind ihre Träume. Träume von Liebe, von Erfüllung, Träume von Erfolg, von Schönheit und Macht. Das, von dem wir wünschen, dass es geschieht, lässt uns all das tun, was wir tun.

Dieses Buch handelt davon, den Traum in sich zu entdecken und zu lernen, ihn dort oben, mitten auf der Bühne, für jedermann sichtbar zu machen.

Sie müssen, Gott sei Dank, verrückt sein, um das zu wollen.

1.PRAKTISCHE ASPEKTE DES VORSPRECHENS

Als Erstes möchte ich einige praktische Aspekte des Vorsprechens in Augenschein nehmen. Beim Vorsprechen sind zwei physikalische Komponenten wichtig, die Schauspieler gern vergessen: gesehen zu werden und gehört zu werden.

Gesehen zu werden ist ein Problem, denn die amerikanischen Gewerkschaften erlauben nicht mehr als ein Arbeitslicht mit einer einzigen Glühbirne beim Vorsprechen. (Eine richtige Beleuchtung würde Hunderte von Dollars kosten; Schauspieler sollten sich bei den Gewerkschaften der Bühnenarbeiter und Beleuchter beschweren und nicht bei den armen Produzenten.) Alle schöpferisch tätigen Leute, die an einem Vorsprechen beteiligt sind, leiden. Wenn Sie als Schauspieler glauben, es sei hart, auf die dunkle Bühne zu treten, um in einem kleinen, schwach beleuchteten Kreis vorzusprechen, bedenken Sie die Lage, in der sich die bedauernswerten Auditoren befinden: Stundenlang müssen sie dasitzen und angestrengt durch die Dämmerung spähen, um zu erkennen, wie die Schauspieler, die für sie vorsprechen, eigentlich aussehen. Da die Beleuchtung so mickrig ist, ist es wichtig, dass der Schauspieler im Lichtkegel steht – nicht einen Meter links davon oder im Bühnenhintergrund. Deshalb mein Vorschlag, dass der Schauspieler eine der beiden Fragen stellt, die ich bei einem Vorsprechen für legitim halte: »Bin ich im Licht?« Auditoren sind immer bereit, Ihnen genau zu sagen, wo das Licht ist, denn es ist viel leichter, Sie zu sehen, wenn Sie im Licht stehen, als Sie in der Dunkelheit zu suchen. Sie müssen aber die Antwort auch wirklich hören und dann noch einmal checken, ob Sie wirklich im Licht stehen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Hälfte der Schauspieler, denen ich erkläre, wo genau unser funzeliges Licht sich befindet, nicht hört, was ich sage, und sich ins Dunkel stellt statt ins Licht.

(Einer der Gründe, warum Auditoren so ungern Fragen beantworten, die ihnen Schauspieler stellen, liegt darin, dass nur wenige Schauspieler – nach ihrem Verhalten zu urteilen – an der Antwort interessiert zu sein scheinen. Ich nehme an, durch die alles verschlingende Nervosität der Situation ist es für einen Schauspieler sehr schwer, Informationen, die ihm geliefert werden, zu verarbeiten. Mein Vorschlag: Ein exzellenter Ausweg aus der allgemeinen Nervosität besteht darin, das, was zu einem gesagt wird, auch tatsächlich zu hören.)

Vergessen Sie auch nicht, dass sich die Lichtquelle in vielen Fällen direkt über Ihrem Kopf befindet, es demgemäß vielleicht nicht ausreicht, Ihre Füße in den Lichtkreis auf dem Boden zu bringen, damit Ihr Gesicht gesehen wird. Fragen Sie: Können Sie mich sehen? Noch besser: Üben Sie zu Hause mit einem hohen Deckenlicht, und lernen Sie, von dem Lichtkreis auf dem Fußboden ausgehend, einzuschätzen, wo Sie stehen müssen, damit Ihr Gesicht beleuchtet wird.

Sie müssen auch gehört werden. Ich wage zu behaupten, dass 64 Prozent der Schauspieler, die für die Bühne vorsprechen, nicht gehört werden können. Immer wieder fragen mich Regisseure: »Werden wir sie hören können?« Vielleicht liegt es daran, dass wir im Zeitalter des Fernsehens und des Syndroms der »flüsternden Naiven« leben, deren heiseres Wispern sexy sein soll (Was hat Marilyn Monroe den jungen Schauspielerinnen Amerikas bloß angetan!), von den jungen Männern können aber genauso viele nicht gehört werden. Dieser Tatsache müssen Sie besondere Beachtung schenken: Praktisch kein Schauspieler ist zu laut, doch über die Hälfte von ihnen ist zu leise, um bequem gehört zu werden.

Denken Sie daran, dass Sie in Ihrem Wohnzimmer üben! Können Sie das einfach auf die Bühne eines großen Theaters übertragen? Bedenken Sie die Verstärkung, die Sie brauchen. In den Jahren, in denen ich unterrichtete, habe ich etwas Interessantes festgestellt: Bei 98 Prozent der Schauspieler arbeite ich nicht mehr an der Verstärkung, ich kämpfe nicht mehr darum, dass sie lauter sprechen; denn wenn ein Schauspieler wirklich den Wunsch hat, seine Gefühle demjenigen zu vermitteln, der mit ihm auf der Bühne ist, wird er auch gehört werden. Ein Schauspieler, der nicht kommuniziert, wird nicht gehört. Wenn ich daran arbeite, dass ein Schauspieler auch wirklich kommuniziert – stark, eindringlich –, wird er in den meisten Fällen auch gehört.

Und die restlichen zwei Prozent? Meiner Erfahrung nach gibt es einige wenige Menschen, die es vorziehen, nicht gehört zu werden, die auf keinen Fall kommunizieren wollen. Vielleicht bringen ihnen die Proteste ihrer potentiellen Zuhörer mehr Aufmerksamkeit ein, als wenn man sie hören könnte. Denken Sie darüber gut nach, wenn Sie zu den Schauspielern gehören, die nicht gehört werden.

Doch für die 98-Prozent-Mehrheit gilt, dass ein Schauspieler gehört wird, wenn er gehört werden will. Und das hängt von der Tiefe seines Bedürfnisses ab, das, was er denkt und fühlt, der anderen Person auf der Bühne mitzuteilen.

Ich habe gesagt, es gebe zwei legitime Fragen, die ein Schauspieler bei einem Vorsprechen stellen darf. Von der einen habe ich gesprochen: Sie dürfen nicht nur fragen, Sie sollen fragen, ob Sie sich im Licht befinden. Hier ist die zweite:

Wenn Sie gebeten werden, »kalt« zu starten, das heißt, den Text zu lesen, ohne das Skript vorher gesehen zu haben, fragen Sie, ob es möglich sei, dass Sie die Bühne kurz verlassen, um das Skript zu überfliegen. In den meisten Fällen wird man Ihnen gestatten, hinter der Bühne einen Blick darauf zu werfen.

Erwidern die Auditoren jedoch: »Nein, warum lesen Sie es nicht einfach?«, sagen Sie: »Ohne es durchgelesen zu haben?« Damit zwingen Sie sie, offen mit Ja zu antworten. Dann bleibt Ihnen nichts übrig, als sich mit Ihrem beherztesten Lächeln auf unbekanntes, auf keiner Karte verzeichnetes, unwirtliches Terrain zu begeben. Durch Ihre Frage machen Sie allen klar, dass Sie nicht die geringste Ahnung haben; eine Tatsache, der Ihre Zuhörer Beachtung schenken müssen. Hinzu kommt, dass Sie Ihre Bereitschaft ausgedrückt haben, alles zu tun, was man von Ihnen verlangt – auch wenn es tollkühn ist.

Wenn Sie nicht darum bitten, einen Blick auf das Skript werfen zu dürfen, werden die meisten Auditoren Sie einfach da oben stehen lassen und zusehen, wie Sie zappeln. Bitten Sie um Zeit; in 90 Prozent der Fälle werden Sie sie bekommen. Doch wenn Sie die Zeit nicht bekommen, schmollen Sie nicht; seien Sie tapfer.

Wer leitet das Vorsprechen?

Ihr Publikum beim Vorsprechen kann aus einem Menschen bestehen, aus zehn oder aus fünfzehn Leuten. Normalerweise ist der Regisseur anwesend und/oder der Casting Director, denn in den meisten Fällen ist es der Regisseur, dessen Stimme ausschlaggebend ist bei der Entscheidung, mit wem eine Rolle besetzt wird. Auch der Produzent hat in Besetzungsfragen häufig ein Wort mitzureden. In Broadway-Aufführungen ist der Autor des Stückes ein wichtiger Auditor, da er laut Vertrag der Besetzung zustimmen muss. Hinzu kommen im Falle eines Musicals der Musikdirektor, der Choreograf, der Librettist, der Komponist, der Buchautor und ihre jeweiligen Assistenten. Auch der Inspizient wird bei der Besetzung gelegentlich herangezogen. Beim Fernsehen sind die Produzenten der Sender und die Sponsoren zu berücksichtigen – und ein ganzer Schwarm anderer, die ihren Senf zur Rollenbesetzung dazugeben. Doch ob es einer ist, der Ihrem Vorsprechen beiwohnt, oder ob es dreißig sind – Sie geben jedes Mal alles, was Sie haben, gleichgültig, wie oft Sie für dieselbe Rolle vorsprechen.

Ich habe Schauspieler erlebt, die sich weigern, für eine Rolle vorzusprechen, für die sie sich bereits mehrmals beworben haben. Ich halte das für dumm. Sie würden nicht wieder gefragt werden, wenn nicht Interesse an Ihnen bestünde. Welchen Unterschied macht es, ob Sie für zwölf verschiedene Rollen vorsprechen oder zwölfmal für die gleiche Rolle? Beide Male handelt es sich um zwölf Chancen, einen Job zu bekommen. Beim dreizehnten Mal bekommen Sie die Rolle vielleicht.

Soll ich fragen, wer die Auditoren sind?

Bitte tun Sie das nicht. Wenn die Auditoren wollten, dass Sie wissen, wer sie sind, würden sie sich vorstellen. Oft wollen sie nicht, dass Sie wissen, wer sie sind; sie ziehen es vor, das Vorsprechen so anonym wie möglich abzuhalten. Manchmal haben sie durchaus nichts dagegen, dass Sie wissen, wer sie sind, aber keine Lust, sich vierzigmal am Tag durch das Ritual des Sichvorstellens zu quälen. So etwas kann sehr ermüdend sein für Leute, die ihre kostbare Zeit lieber darauf verwenden, herauszufinden, wer Sie sind.

Es gibt Schauspielerinnen (Schauspieler seltsamerweise viel weniger), die sich mit breitem, aufgesetztem Lächeln an die Auditoren wenden und fragen: »Für wen spreche ich vor?«, um diese so zu zwingen, sich vorzustellen. Mit solchen Manövern zieht sich die Schauspielerin oft nur den Unwillen der Auditoren zu, da sie sie in eine unangenehme Lage gebracht und ihre wertvolle Zeit und Energie verschwendet hat.

Es ist sowieso besser, wenn Sie nicht wissen, für wen Sie vorsprechen. Diese Information macht Sie nur noch nervöser und irritierter.

Wie finden Sie heraus, was die Auditoren wollen?

Sie können es nicht herausfinden. Sie brauchen es nicht herauszufinden. Reine Zeitverschwendung. Was die Auditoren wollen, ist jemand, der in jeder Rolle sehr interessant ist und großes Talent beweist. Das ist alles, worüber Sie sich Sorgen machen sollten.

Ich glaube, viele Schauspieler, vor allem in New York, verbringen ihr halbes Leben mit dem Versuch, herauszufinden, »was die wollen«. Sie hören irgendein vages Gerücht oder eine bruchstückhafte Information, die sie zu dem Versuch verleiten, in der Rolle »etwas« sein zu wollen statt nur sie selbst. Und dieses Etwas zwingt sie, ihre Haarfarbe zu verändern oder die Nase operieren zu lassen oder ein Bein abzuschneiden oder dreißig Zentimeter hohe Absätze zu tragen oder auf den Knien zu laufen – alles wertlos für das Vorsprechen.

Bedenken Sie, sage ich den Auditoren immer wieder, dass Schauspieler nur aus dem wählen können, was da ist. Die Idee von jemand »einfach Wunderbarem« muss nach und nach in die Wirklichkeit eines lebenden, atmenden menschlichen Schauspielers umgesetzt werden. Und der kann von dem, was den Autoren ursprünglich vorschwebte, weit entfernt sein. Es könnten Sie sein.

Als ich an der Besetzung des Films Die Reifeprüfung arbeitete, beauftragte der Regisseur Mike Nichols mich, einen jungen James Stewart zu finden, groß, Basketballspieler, Eliteuniversität. Sie schickten mich nach Princeton und Yale und Harvard, um einen Laien zu finden. College-Sportler und College-Schauspieler aus dem ganzen Land strömten nach New York, um vorzusprechen. Die Suche dauerte Monate. Und wer bekam die Rolle? Der kleine Dustin Hoffman, der nicht von einer Eliteuniversität kam und nicht Basketball spielte.

Und wie hat Dustin Hoffman die Rolle bekommen? Indem er für eine Rolle in einem Broadway-Musical vorsprach, die er nicht bekam. Als ich für Mike Nichols und den Produzenten Stuart Ostrow das Musical The Apple Tree besetzte, versuchte ich Dustin Hoffman (zu der Zeit ein unbekannter Schauspieler, der in zwei Ronald-Ribman-Stücken am Off-Broadway mitgewirkt hatte) zu überreden, zum Vorsprechen für die Hauptrolle zu kommen (die letztendlich Alan Alda bekam). Dustin sagte zu mir, er habe im Ganzen nur sechs Gesangsstunden gehabt, und ich erwiderte: »Nehmen Sie noch zwei, und kommen Sie zum Vorsprechen.« Wir ließen jeden Tag vorsprechen, und ich schrieb Dustin Hoffman auf meine Liste, doch er erschien nicht (er hatte Angst vor dem Vorsingen). Es wurde zum stehenden Witz: »Kommt denn der berühmte Dustin Hoffman heute?« Nach wochenlangen Überredungsversuchen kam der unbekannte Dustin Hoffman tatsächlich zum Vorsprechen. Er hatte recht gehabt: Er konnte nicht singen. Doch er las die Rolle ganz wunderbar: mit Fantasie, Intelligenz und Humor, und Mike Nichols vergaß es nie. Der Produzent von Die Reifeprüfung erzählte mir später, wie schockiert er war, als er erfuhr, dass Mr. Nichols Dustin für die Rolle des Elitestudenten ausgewählt hatte. Er konnte es nicht glauben. Die Rolle machte Dustin Hoffman zum Star.

Die Moral der Geschichte: 1. Gehen Sie zu jedem Vorsprechen, zu dem man Sie lässt, auch wenn Sie glauben, Sie seien für die Rolle nicht geeignet. 2. Die Person, die sich die Auditoren für die Rolle vorstellen, kann sich in ihr völliges Gegenteil verkehren. Ein begabter und interessanter und engagierter Schauspieler hat größere Chancen, die Rolle zu bekommen, als jemand, der »richtig« ist.

Besetzungsfehler entstehen, weil die Auditoren die Rolle jemandem geben, der ihnen »richtig« erscheint, statt jemandem, der zwar von ihrer Vorstellung abwich, aber talentiert war.

Was erwarten die Auditoren vom Vorsprechen?

Eine Premieren-Leistung. Mehr nicht.

Regisseure und Produzenten leugnen das natürlich. Zu Recht, denn sie sollten nichts anderes tun, als beim Vorsprechen herauszufinden, wer Sie sind und was Sie der Rolle geben können. In einer Bob-Fosse-Produktion zum Beispiel ist die Show, mit der wir auf dem Papier beginnen, niemals die Show, die wir am Ende senden, denn Bob Fosse nutzt die Proben und Probevorstellungen, um die Show genau dem Talent der Leute anzupassen, die in ihr auftreten werden. (Dies ist einer der Gründe, warum es so schwer ist, eine Fosse-Show wieder zu besetzen – der andere liegt darin, dass so wenige Darsteller den hohen Anforderungen im Tanzen entsprechen.)

Was die Auditoren von einem Vorsprechen ohne Einschränkung erfahren müssen, ist, wer Sie sind und was Sie können. Ein Schauspieler kann bei einem Vorsprechen die gleiche Freiheit im Gebrauch seiner selbst erreichen, die er in einer Vorstellung hat. Es hängt davon ab, ob er weiß, wie er sich selbst optimal einsetzt, wie er seine Fantasie anwendet, von seiner Bereitschaft, Risiken einzugehen.

Es ist gleichgültig, was die Auditoren zu wollen vorgeben; Ihre Aufgabe als Schauspieler ist es, ihnen zu zeigen, wer Sie sind und wie gut Sie sich in die Rolle einfühlen können.

Warum spiele ich gut, wenn ich in einem Stück mitwirke, aber schlecht, wenn ich vorspreche?

Sie können beim Vorsprechen genau das leisten, was Sie in einer Aufführung leisten. Es hängt davon ab, wie fähig Sie sind im Gebrauch Ihrer selbst, und davon, die richtigen Fragen zu stellen. Ich habe in meiner Arbeit etwas Interessantes festgestellt: Wenn ich die Fragen stelle, finden Schauspieler für gewöhnlich die richtigen Antworten. Das heißt nichts anderes, als dass der Schauspieler lernen muss, sich selbst die richtigen Fragen zu stellen.

Die zwölf »Wegweiser« in den folgenden Kapiteln verhelfen Ihnen zu den richtigen Fragen. Sind die Antworten auf diese Fragen präsent, wenn Sie die Rolle lesen, erleben Sie ein gutes Vorsprechen.

Der Hauptgrund, warum ich begonnen habe, Schauspielern das Vorsprechen beizubringen, liegt darin, dass ich in meiner Arbeit als Casting Director oft erlebe, wie ein Schauspieler, den ich in einem Off-Broadway oder Off-Off-Broadway-Stück, in einem Kirchen- oder Kellertheater oder am ELT sehe und zum Vorsprechen für ein Broadway-Stück oder einen Film einlade, plötzlich das Talent, das er bei seinem Auftritt zeigte, verloren zu haben scheint. Mir wurde klar, dass viele Schauspieler nicht wissen, wie man vorspricht; denn sie konnten beim Vorsprechen nicht das leisten, was sie in der Aufführung leisteten.

Warum nennen Sie das Vorsprechen einen Krieg zwischen den Schauspielern und den Auditoren?

Schauspieler fühlen sich, als würden sie sich aufs Schlachtfeld begeben, wenn sie zum Vorsprechen gehen müssen. Offenbar sehen sie die Auditoren als »den Feind«. Wenn es sich um einen Krieg handelt, sollten Sie sich klarmachen, dass die Auditoren alle Macht auf ihrer Seite haben. Ein Schauspieler kann den Krieg nicht durch Feindseligkeit gewinnen, sondern nur indem er den Feind umwirbt. Kämpft er gegen den Feind, wird er die Schlacht verlieren.

Vielleicht fragen Sie sich, warum ein Schauspieler beim Vorsprechen Feindseligkeit zeigt. Wahrscheinlich liegt es gar nicht in seiner Absicht, doch seine Nervosität, seine Unsicherheit, das Gefühl, im Rampenlicht zu stehen und beurteilt und höchstwahrscheinlich abgelehnt zu werden – all dies zusammengenommen vermittelt ihm den Eindruck, die Auditoren hätten es auf ihn abgesehen. Die Spannungen erzeugen das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden; daraus entsteht Feindseligkeit – und dann braucht es bloß einen Auslöser, dass es zum Ausbruch kommt. Den meisten Regisseuren und Produzenten, mit denen ich gearbeitet habe, liegt es fern, grob oder verletzend zu sein, aber manchmal sind die Spannungen auch auf ihrer Seite des Grabens so groß, dass sie ein bisschen kurz angebunden sind. Ein Schauspieler sollte sich daran erinnern, dass Regisseure und Produzenten Angst haben vor Schauspielern: Das leuchtet ein, da ihre berufliche Existenz von Schauspielern abhängt. Mit so vielen Ängsten auf beiden Seiten ist mit einem gelegentlichen Ausbruch von Feindseligkeit zu rechnen – immer zum Nachteil des Schauspielers. Ich gebe allen Schauspielern den Rat: Halten Sie Ihre Feindseligkeit unter Kontrolle. Ich habe erlebt, wie Schauspieler gute, für ihre Karriere wichtige Rollen verloren, weil sie es fälschlicherweise für angebracht hielten, sich feindselig oder aufgebracht zu zeigen. Es verschafft Ihnen vielleicht vorübergehende Erleichterung in einer Situation, in der Sie sich – vielleicht zu Recht – ungerecht behandelt fühlen, doch das ist es nicht wert. Sie verlieren.

Als ich eine Broadway-Komödie für einen der erfolgreichsten Regisseure des Broadways, Joshua Logan [1908 – 1988, A. d. Red.], besetzte, der auch einer der nettesten Regisseure der Welt ist, suchten wir für die männliche Hauptrolle, das Gegenüber unseres weiblichen Stars, einen Schauspieler. Nach wochenlangem Vorsprechen hatten wir mehrere Kandidaten in der engeren Wahl – einige bekannte, einige vergleichsweise neue Namen –, doch es war ein völlig unbekannter Schauspieler, der ganz oben auf unserer Liste stand. Josh wollte dem Neuling jede erdenkliche Chance geben und arrangierte es so, dass unser Kandidat am letzten Tag (Vorsprechen vor dem Produzenten und dem weiblichen Star), nach zwei Dritteln der Zeit an die Reihe kam: spät genug, dass unsere Diva andere, weniger beeindruckende Bewerber zum Vergleichen hatte, aber nicht so spät, dass sie müde sein und vom Vorsprechen die Nase voll haben würde. Dieser letzte Tag ist immer sehr anstrengend, da das ganze Projekt davon abhängt. Die Luft knistert vor Nervosität und Anspannung.

Wir wollen unseren unbekannten Schauspieler, den Josh und ich für eine aufregende Neuentdeckung hielten, Kandidat A nennen. Für Kandidat A könnte die Hauptrolle als Gegenüber eines bekannten Stars einen Riesenschritt in seiner Karriere bedeuten – wenn er gut sein würde, wenn das Stück erfolgreich sein würde und all die anderen Wenns, aus denen das Showbusiness besteht. Zufällig erhielt unser Kandidat A am gleichen Tag die Aufforderung, für einen Werbespot vorzusprechen. Er kam zu früh zu uns und erklärte dem Inspizienten sein Problem; der schob ihn netterweise auf die Bühne, damit er als Erster las. Der Regisseur war gerade in ein Gespräch mit dem Star vertieft – es ging darum, wie die männliche Hauptrolle ihrer Ansicht besetzt werden sollte –, als er aufblickte und seinen Kandidaten auf der Bühne sah. »Oh, nein, nein, nein«, rief er, »das ist ein schrecklicher Irrtum! Könnte Kandidat A bitte in der Kulisse warten?« Da die anderen Bewerber sich hinter der Bühne drängten, konnte niemand Kandidat A erklären, warum er gebeten wurde, später wiederzukommen. Er ging, um das Vorsprechen für den Werbespot hinter sich zu und