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Titel

Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7321-6 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5694-3
(lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Satz & Medien Wieser, Stolberg

© der deutschen Ausgabe 2016
SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scmedien.de · E-Mail: info@scm-verlag.de

Originally published in English under the title: Miracles from Heaven
Copyright©2015 by Christy Wilson Beam
Hachete Books, Hachete Book Group,
1290 Avenue of the Americas, New York 10104

Die Bibeltexte sind in der Regel folgender Ausgabe entnommen:
Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006
SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
Weiter wurden verwendet:
Matthäus 9,22 (Kap. 9), 1. Mose 1,27 (Kap. 4) und Hebräer 11,1 (Kap. 9) aus:
Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
Hesekiel 31,5 (Kap. 1), Lukas 2,19 (Kap. 2) und 4. Mose 6,24-26 (Kap. 5) aus: Lutherbibel,
revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe in neuer Rechtschreibung,
©1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.
Jeremia 17,8 (Kap. 10), 1. Petrus 4,10 (Kap. 10) aus: Hoffnung für alle®Copyright©1983,
1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des
Herausgebers Fontis - Brunnen Basel.

Übersetzung: Martina Merckel-Braun
Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: Ryan Johnson Photography
Autorenbild: Sunny Mays Photography
Satz: Satz & Medien Wieser, Stolberg

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Dank

Über die Autorin

Anmerkungen

Leseempfehlungen

Vorwort

Seine Werke sind zu wunderbar, als dass ein Mensch sie begreifen könnte. Er vollbringt unzählige Wunder.

Hiob 9,10

Als mein Mann und ich uns niederließen, um eine Familie zu gründen, beteten wir für die ganz normalen Wunder: gesunde Kinder, ein friedliches Zuhause, einen modernen Pick-up-Truck mit guter Klimaanlage und Regen zur richtigen Zeit, der unsere Blumenbeete reichlich bewässern, aber uns nie den wöchentlichen Fußballabend am Freitag verderben sollte. Wir erwarteten nichts Außergewöhnlicheres als faszinierende nordtexanische Sonnenuntergänge, und zusammen alt zu werden war das Himmlischste, was wir uns vorstellen konnten. Unsere Definition vom Paradies war ein kleines Fleckchen Land außerhalb von Burleson, einer Kleinstadt im Süden der geschäftigen Metropolregion Dallas-Fort-Worth-Metroplex in Texas.

Kevin und ich gehen regelmäßig in die Kirche, wir sind beide gläubig. Wir haben regelrechte Segensströme erlebt und können den Satz aus einem alten Gospelsong unterstreichen: »Tropfen der Gnade fallen auf uns herab«, zum Beispiel, wenn ein Baby geboren wird, nachdem die Familie schon jede Hoffnung aufgegeben hat, oder wenn ein Fremder unseren Weg kreuzt und wir sofort spüren, dass uns etwas mit dieser Person verbindet und wir bereits Freunde sind.

Wir haben – rein theoretisch – immer an Wunder geglaubt. »Bei Gott ist nichts unmöglich«, das haben wir unser Leben lang gehört, und alle Jubeljahre einmal erfuhr ich dann auch tatsächlich, dass irgendetwas Außerordentliches geschehen war. Etwas, mit dem niemand gerechnet hatte, etwas, das die Kraft besaß, Angst und Sorgen zu vertreiben.

Aber jetzt, in diesem Moment, halte ich ein echtes Wunder in meinen Händen. Und zwar einen Computerausdruck, den mir die Schwester im Krankenhaus gegeben hat – einen zweiseitigen Bericht über all die Medikamente, die meine Tochter einnahm, als sie das letzte Mal im Boston Children's Hospital gewesen war. Damals hatte sie mir gesagt, dass sie sterben und bei Jesus im Himmel sein wolle, wo es keine Schmerzen gab.

»Vor drei Jahren?«, fragt die Schwester mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Ist das wirklich wahr?«

Ja, es ist wahr. Die Tatsache, dass es unmöglich scheint, ist jetzt nicht mehr wichtig.

»Also, Annabel«, fährt die Schwester fort, »du bist jetzt zwölf, richtig?«

Anna nickt begeistert, sie ist so froh, zwölf zu sein, so froh, in Boston und am Leben zu sein. Die Schwester fordert sie auf, sich kurz auf die Waage zu stellen, und bittet mich, den zweiseitigen Computerausdruck durchzugehen, während sie Annabels Vitalfunktionen überprüft. »Sie müssten das eben gegenlesen, damit ich den Computer auf den neusten Stand bringen kann. Markieren Sie bitte die Medikamente, die sie immer noch einnimmt.«

Ich lasse meine Augen über die Liste schweifen:

Lansoprazol, ein Protonenpumpenhemmer; ein probiotisches Nahrungsergänzungsmittel; Polyethylenglycol, ein Abführmittel; Periactin (Cyproheptadin), ein Antihistamin mit zusätzlichen anticholinergen, antiserotonergen und lokalanästhetischen Wirkstoffen …

Es ist, als würde ich die Operationsnarbe auf Annas Bauch anschauen. Sie ist jetzt nur noch ein blasser Strich, der anzeigt, wo Ärzte sie aufgeschnitten, genäht, wieder aufgeschnitten und erneut genäht haben.

Neurontin (Gabapentin), ein Antikonvulsivum und Analgetikum; Rifaximin, ein semisynthetisches Antibiotikum auf Rifampicinbasis; Augmentan (Amoxicillin und Clavulansäure); Tramadol für mittlere bis starke Schmerzen …

Für einen Moment verschwimmt die Liste vor meinen Augen. Meine Güte, was ihr kleiner Körper schon alles durchgemacht hat.

Hyosciamin, ein Tropanalkaloid und Sekundärmetabolit; Citalopram, ein selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer …

Lächelnd blicke ich zu der Schwester auf. »Sie nimmt keins davon.«

»Sie meinen, keins von diesen hier?«, fragt sie, während sie mit einem Stift auf die erste Spalte der Medikamentenliste deutet.

»Nein, ich meine, keins von all diesen«, entgegne ich und halte die zwei Seiten hoch. »Sie nimmt gar nichts ein.«

»Wow. Okay. Das ist …«

Ein Wunder.

Das sagt sie nicht, aber das ist schon in Ordnung. Die meisten Menschen fühlen sich wohler damit, solche unglaublichen Begebenheiten nicht als Wunder, sondern als Zufall oder Glück zu bezeichnen. Ärzte benutzen oft Begriffe wie Spontanremission oder dergleichen, um das Unerklärliche zu erklären. Ich jedoch habe mich vor einiger Zeit ganz bewusst dafür entschieden, das Wort »Wunder« zu gebrauchen.

Auf meinem teilweise recht verzweigten und verwirrenden Lebensweg habe ich Gottes Wirken nicht immer direkt wahrgenommen, aber jetzt bin ich mir sicher, dass er immer da war. Er war von Anfang an bei uns, auch in den Situationen, in denen unsere Welt scheinbar zu Bruch ging. Und auch jetzt ist er an unserer Seite und begleitet uns in die noch ungewisse Zukunft.

Angesichts all dessen, was er uns geschenkt hat, angesichts all dessen, was geschehen ist, kann ich nicht schweigen. Ich muss Ihnen unbedingt unsere Geschichte erzählen.

Kapitel 1

Darum ist er höher geworden als alle Bäume auf dem Felde und trieb viele Äste und lange Zweige; denn er hatte Wasser genug, sich auszubreiten.

Hesekiel 31,5

Die riesige Schwarzpappel in der eingezäunten Weide hinter unserer Einfahrt war für mich ein Wunder der Natur. Es war einer dieser hoch aufragenden, zerfurchten Bäume, bei denen man unwillkürlich dachte: Nur Gott kann einen Baum erschaffen. Wenn man sich ein wenig Zeit nimmt und an die sengende Hitze, die hungrigen Borkenkäfer, den unerbittlichen Frost und die Sommertornados denkt – die Ausläufer der gefährlichen Golfküsten-Hurrikane, die Mitteltexas regelmäßig heimsuchen –, wird einem bewusst, was dieser Baum schon alles durchgemacht haben muss. Seit hundert oder mehr Jahren hat unser Baum Vögel, Spinnen und Eichhörnchen beherbergt und zugesehen, wie auf den umliegenden Feldern gesät und geerntet wurde. Er stand da wie ein Wachposten, während um ihn herum Straßen durch die alten Eichenwälder gebaut wurden und die hügelige Landschaft mit Häusern besiedelt wurde. Ein allmählich kahl werdender Riese mit spärlich wachsenden, herzförmigen Blättern, der dreißig Meter über dem Boden eine kunstvolle Krone aus trockenen Ästen und Zweigen bildete.

Um den Baum herum ragten hölzerne Wurzelgebilde aus dem Gebüsch hervor, dicke, kräftige Wurzeln verankerten ihn im Boden. Der Umfang des Baumstammes war so enorm, dass ihn eine einzelne Person nie mit den Armen hätte umfassen können, aber gemeinsam schafften wir es. Vor drei Jahren packten wir alle mit an: Kevin, ich und unsere drei Töchter, die 11-jährige Abigail, die 9-jährige Annabel und die 7-jährige Adelynn. Auf diese Weise sind wir immer die kleinen und großen Herausforderungen angegangen, die es in einer Familie zu überwinden gilt: Wenn es etwas gab, das einer von uns nicht alleine schaffen konnte, mussten wir eben einfach alle zusammenhelfen, um das Problem zu lösen.

Auf einer Höhe von ungefähr neun Metern hatte die Schwarzpappel zwei massive Äste, die wie ausgebreitete Arme zur Seite ragten. Der eine Ast formte eine Brücke zu den kleineren Bäumen des schattigen Wäldchens, der andere war in der Nähe des Stammes abgebrochen und lag auf dem Boden. Eine mächtige Sturmböe hatte wahrscheinlich vor langer Zeit ihren Tribut gefordert und den Ast zu Boden gerissen. Der herabfallende Ast hatte die darunterliegenden dünneren Zweige durchbrochen und beim Aufprall tiefe Furchen im Erdboden hinterlassen.

Hoch oben in dem breiten Stamm des Baumes hatte sich eine zerklüftete Öffnung gebildet, die etwa 1,20 Meter hoch und neunzig Zentimeter breit war. Von unten betrachtet sah sie aus wie eine vom Wetter gegerbte hohle Hand.

Die Bibel berichtet davon, dass Gott einen riesigen Fisch sandte, der die Aufgabe erhielt, Jona zu verschlingen, um ihn aus den stürmischen Fluten zu retten und ans sichere Ufer zu bringen. Ich frage mich, ob Gott nicht auch diesen Baum für eine ganz bestimmte Aufgabe ausersehen hatte, lange bevor irgendeiner von uns geboren wurde. Vielleicht hat Gott ihm liebevoll den Auftrag zugeflüstert: Bereite einen Weg. Und das tat er.

Die Jahrzehnte kamen und gingen, und der Baum bewahrte sein Geheimnis.

Ornament

Im Jahr 2002 – dem Jahr, in dem Annabel geboren wurde – kauften Kevin und ich die etwa 12 Hektar rund um das Pappelwäldchen und bauten ein Haus. Abbie war zu der Zeit ein ausgelassenes, ungestümes Kleinkind und Adelynn ein noch unausgesprochenes Gebet. Ich war in den Balanceakt vertieft, mit dem eine Mutter konfrontiert wird, wenn sie plötzlich nicht mehr nur ein Baby hat, sondern Kinder verschiedenen Alters. Kevin hatte sich gerade dem erfolgreichen Ärzteteam der Alvarado Veterinary Clinic angeschlossen, in der alles von der Kuh bis zum Cockapoo – einer Kreuzung aus Cockerspaniel und Pudel – und einmal sogar ein Känguru behandelt wurde.

Kevin hat ein Herz für jedes Lebewesen, das in seine Klinik kommt, und auch für dessen Besitzer. Manchmal hat er auch schon einen besitzerlosen oder misshandelten Welpen mit nach Hause gebracht: Trinity, Shadow, den flauschigen weißen Cypress, unseren schlauen River, den struppigen Arnold und unseren lieben Jack, einen Zwergpinscher mit dem Herzen eines Bodyguards, der es als seine Aufgabe verstand, Annabel zu beschützen, wenn sie krank war.

Als wir unser neues Haus bezogen, dachte Kevin vor allem an die Lage. Ich dachte stattdessen an den Schulbezirk, die Babysitter und die Kinderarztpraxen. Er zog ein Familienunternehmen in Betracht, mir ging es eher um das Unternehmen Familie. Und genau deshalb sind wir beide so ein gutes Team. Damals hätten wir nie gedacht, dass sich unser Leben im Jahr 2011 größtenteils um Krankenhaus-Notaufnahmen und Spezialisten für seltene Krankheiten drehen würde. Intubationen, Computertomografien, Biopsien und Blutbilder – Dinge, mit denen unsere alternden Großeltern sich abfinden mussten, aber ein Kind? Undenkbar! Kevin und ich hatten uns ein glückliches, sorgenfreies Leben in unserem bildschönen Heim ausgemalt, mit perfekten Kindern, die zwischen den alten Eichen Verstecken spielen, sich wie kleine Äffchen an den kräftigen Ästen der Schwarzpappel entlanghangeln und es sich in einem robust gebauten Baumhaus gemütlich machen würden. Vor allem die große Schwarzpappel lud zu unzähligen Abenteuern ein: Sie war Klettergerüst, Feenschloss und Freiland-Zoo in einem. Abbie kletterte manchmal mit einer Freundin über einen der kleineren benachbarten Bäume auf den weit ausladenden Ast der Schwarzpappel hinauf, und dort saßen sie dann, beobachteten die Welt, ließen ihrer lebhaften Fantasie freien Lauf und kamen einmal sogar mit einem kunstvollen kleinen Vogelnest nach Hause, das bei Wintereinbruch verlassen worden war. Dieser wunderbare Schatz faszinierte Annabel und Adelynn, aber Adelynn war zu klein, um die Schwarzpappel hinaufzuklettern, und Annabel fühlte sich nicht fit genug, um draußen zu spielen.

»Vielleicht hat sie Kopfschmerzen wegen der Medikamente«, sagte ich zu Kevin, »aber wenn wir irgendeins davon absetzen, bekommt sie womöglich Darmprobleme, was denkst du?«

»Ich würde lieber nichts riskieren«, meinte er. »Sie hat ja diese Woche ihre Kontrolluntersuchung in Boston. Wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist, werden sie es feststellen.«

Einige Tage später saßen Anna und ich im Flugzeug. Während die Maschine immer höher aufstieg, wurde die Stadt mit ihrem Straßennetz kleiner und kleiner, und wir konnten beobachten, wie sich der geschäftige Straßenverkehr allmählich in einen wuselnden Ameisenhaufen verwandelte. Die Farmen und Ölfelder, die sich tief unter uns befanden, wirkten wie eine verblichene Patchwork-Decke. Annabel lehnte ihre Stirn gegen die Fensterscheibe und beobachtete, wie alles unter einer Wolkendecke verschwand. Sie schien in Gedanken ganz weit weg zu sein, und ich sah ihren trüben Augen an, dass sie wieder unter den üblichen chronischen Kopfschmerzen litt. Oft genug hatte sie diesen Flug gemacht, um zu wissen, dass sie die Flugbegleiterinnen mit ihrem charmanten, freundlichen Lächeln ohne Schwierigkeiten dazu bewegen konnte, ihr eine zweite Limonade zu bringen. Sie wusste auch, was sie im Kinderkrankenhaus in Boston erwartete: endlose Tests, Blutbilder und Röntgenaufnahmen sowie invasive Untersuchungen, die äußerst aufwendig und lästig waren.

»Es dauert nur einen Tag«, erinnerte ich sie. »Im Handumdrehen sind wir wieder zu Hause und dann, schwuppdiwupp – hierbei schnippte ich mit dem Finger – ist ruck, zuck Weihnachten.«

Bereitwillig ließ sie sich auf andere Gedanken bringen. Sie nickte fröhlich und legte meinen Arm um ihre Schulter. Mein Finger strich dabei über ihr Schlüsselbein, in dessen Nähe ein sogenannter PICC-Line-Katheter verlief, mit dem sie künstlich ernährt werden konnte. Das brauchte Annabel in den schlimmen Zeiten, wenn ihre Krankheit, die pseudoobstruktive Motilitätsstörung, es ihrem kleinen Körper unmöglich machte, Essen und sogar Wasser richtig zu verarbeiten. Einfach erklärt: Bei dieser Erkrankung bewegen sich die Substanzen im Darm nicht richtig von Punkt A nach Punkt B. Dies hängt manchmal mit den Nerven, manchmal mit den Muskeln zusammen. In Annabels speziellem Fall waren die Nerven nicht fähig, synchrone Impulse auszusenden. Die Symptome in einer akuten Phase haben große Ähnlichkeit mit den Symptomen einer Darmobstruktion (dem sogenannten »Darmverschluss«), daher der Ausdruck »pseudoobstruktiv«.

Vier Jahre lang hatten wir uns mit der brutalen Realität, die hinter diesem medizinischen Vokabular liegt, herumgeschlagen. Wir hatten lange und hart gekämpft – zuerst darum, überhaupt diese niederschmetternde Diagnose zu bekommen, und anschließend darum, auf irgendeine Weise Hoffnung und Hilfe für Anna zu finden.

Schließlich waren wir bei Dr. Samuel Nurko gelandet, dem Leiter des Center for Motility and Functional Gastrointestinal Disorders im Boston Children's Hospital, der gleichzeitig außerordentlicher Professor an der medizinischen Fakultät der Harvard University war. Er gilt als einer der weltweit führenden Experten für pseudoobstruktive Motilitätsstörungen, aber Anna und seine anderen Patienten mochten ihn wegen seines breiten Lächelns und seiner farbenfrohen Elmo-Krawatten. Er war unser Rettungsanker, und wir hielten uns verzweifelt an ihm fest, obwohl die Behandlungs- und Reisekosten uns an den Rand des finanziellen Ruins brachten. Die gegenwärtige Reise hatten wir durch den Verkauf von Kevins Pick-up-Truck finanziert, den er erst ein paar Jahre zuvor mit großem Stolz abbezahlt hatte.

Es ist schwierig, einen hohen Lebensstandard aufrechtzuerhalten, wenn man ein Kind mit einer chronischen, lebensbedrohlichen Krankheit hat. Wir hatten verzweifelt nach einem Weg gesucht, um Annas Schmerzen zu lindern und ihr ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen, und nun waren wir froh, Dr. Nurko gefunden zu haben. Er war einer der wenigen Ärzte in den USA, die dazu berechtigt waren, Cisaprid zu verschreiben, ein Medikament, das offiziell vom Markt genommen worden war, weil es möglicherweise Herz- und Leberschäden verursachte. Die regelmäßigen Reisen nach Boston waren deshalb ein notwendiger Bestandteil unseres Balanceaktes zwischen verschiedenen medizinischen Risiken und Hoffnungsschimmern.

Kevin kann sich seinen Arztkittel anziehen und das Ganze vom wissenschaftlichen Standpunkt aus betrachten. Ich gehe es eher auf einer persönlicheren Ebene an. Wie könnte es auch anders sein für eine Mutter? Denken Sie nur einmal daran, womit man sich in erster Linie beschäftigt, wenn man sich um ein kleines Kind kümmert: Man macht ein großes Trara darum, was in den Körper des Babys hineindarf, und man passt genau auf, was wieder herauskommt. Das sind die grundlegenden Faktoren für das Wohlergehen unseres Babys. Kommt es zu ernsten Problemen bei der Nahrungsverwertung, dann ist jede mögliche medizinische Hilfe im besten Fall eine etwas unangenehme oder peinliche Angelegenheit, im schlimmsten Fall ein unerträglicher Angriff auf das körperliche und geistige Wohlbefinden der betroffenen Person. Es kommt zu endlosen Qualen. Annabel hatte sich mehr und mehr auf das letzte Ende des Spektrums zubewegt. Diese fürchterliche Krankheit hatte sie fest im Griff, wie ein unbarmherziges, unerbittliches Monster, von dem Kevin und ich sie nicht befreien konnten. Wir mussten mit ansehen, wie unser Kind litt, und diese Machtlosigkeit schnitt uns ins Herz. Trotz all der Schmerzen und Angriffe, der Anstrengungen, in der Schule mitzuhalten, und der Enttäuschung, zurückstehen zu müssen, während ihre Schwestern Erfolg hatten und sich weiterentwickelten, bot Annabel der Krankheit die Stirn und ließ sich nicht unterkriegen. Dass sie dazu in der Lage war, empfand ich stets als eine besondere Gnade Gottes. In den ersten beiden Jahren von Annabels Krankheit, die durch immer neue schlechte Nachrichten und Rückschläge geprägt waren, entwickelten Kevin und ich eine regelrechte Elefantenhaut. Die letzten Testergebnisse nahmen wir wie ein Paar skeptischer Panzerechsen entgegen. Annabel dagegen war neuen Behandlungsmethoden gegenüber aufgeschlossen und ließ sich davon auch durch gescheiterte Versuche nicht abbringen. Stoisch ertrug sie Nadeln, Schläuche und Elektroden und bemühte sich nach Kräften, eine angenehme Patientin zu sein. Sie strahlte Ruhe und Freude aus und zog damit wie ein Magnet Liebe und Fürsorglichkeit auf sich. In dieser Zeit waren wir umgegeben von einem engen Kreis von Freunden und Angehörigen, die uns in vielerlei Weise zur Seite standen: Sie halfen uns im Haushalt, beteten für uns und taten alles Menschenmögliche, um uns in dieser schwierigen Situation zu unterstützen. So waren sie zum Beispiel jederzeit bereit, in Notfällen spontan auf Abbie und Adelynn aufzupassen.

Auf dem Bostoner Flughafen wurden wir von unseren guten Freunden Beth und Steve Harris begrüßt, die uns jedes Mal abholten und nie allein in die Stadt fahren ließen. Kennengelernt hatten wir sie ursprünglich durch die Frau des Pastors, der Kevin und mich getraut hatte. Sie hatte oft für unsere Familie und speziell für Annabels Krankheit gebetet, und als sie gehört hatte, dass wir nach Boston kommen würden, hatte sie gleich ihre Freunde Beth und Steve informiert. Diese beiden ließen uns daraufhin nicht ein einziges Mal am Flughafen ankommen, ohne uns zu begrüßen und zu unserem Hotel zu fahren.

Auf dem Weg zum Kurzzeitparkplatz schloss Beth Annabel in ihre Arme und fragte: »Na, freust du dich schon auf Weihnachten?«

»Dieses Jahr machen wir keine große Sache daraus«, erklärte ich. »Wir feiern nur im engsten Familienkreis.«

Allerdings bedeutete »im engsten Familienkreis« bei uns wahrscheinlich nicht das, was sich die meisten darunter vorstellen. Unsere Familienfeiern sind eher so eine Art Etappenlauf: Die Vorweihnachtszeit verbringen wir mit meinen Eltern (unsere Mädchen nennen sie »Maw Maw« und »Paw Paw«) in Wichita Falls, Heiligabend mit Kevins Eltern (»Gran Jan« und »P Paw«) in Houston und Silvester mit Kevins Großmutter (»Nonny«) in ihrer Wohnung am Meer in Corpus Christi.

»Na, das hört sich doch toll an, was?«, meinte Beth.

»O ja, das ist es auch«, entgegnete Annabel, während sie ihren kleinen Trolley geschickt über die Rolltreppe lenkte. Sie war schon eine richtig erfahrene Reisende.

Ich nahm sie kurz am Ellenbogen und sagte: »Anna, Liebes, bleib kurz stehen und zieh deine Jacke an, bevor wir rausgehen.«

Sie trug ein pinkfarbenes T-Shirt mit einem glitzernden Schmetterling und ein angenähtes kurzärmeliges Jäckchen, das vorne einen Reißverschluss hatte. Das war derzeit ihr Lieblings-Outfit, perfekt für einen sonnigen Dezembertag in Dallas-Fort Worth, kaum geeignet jedoch für das deutlich kältere Boston.

Als sie stehen blieb, um ihren warmen Parka anzuziehen, bemerkte ich, dass ihr Schmetterlings-Shirt während des Fluges scheinbar enger geworden war und sich über ihr geblähtes Bäuchlein spannte. Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich.

Am Auto angekommen, begrüßten wir auch Steve mit herzlichen Umarmungen. Er fragte uns, wie lange wir in Boston sein würden und ob wir Zeit für ein gemeinsames Abendessen hätten. Steve und Beth waren die perfekte Gesellschaft für uns, weil sie Annabels beschränkte Auswahl an möglichen Speisen sehr genau kannten, sofern das Kind überhaupt feste Nahrung zu sich nehmen konnte. »Dieses Mal sind wir nur über Nacht hier«, sagte ich, »Routine-Check-up, Blutbild und ein EKG, um sicherzugehen, dass die Medikamente ihr Herz nicht belasten. Alles Schlag auf Schlag.« Ich machte eine flüchtige Handbewegung. »Kaum sind wir da, sind wir auch schon wieder weg.«

Ich ließ keinen Raum für andere Möglichkeiten. Dieses Mal nicht, weil wir uns an unseren Plan halten und bald wieder bei Kevin und den Mädchen sein wollten, die zu Hause auf uns warteten. Und außerdem – du meine Güte, es war Weihnachten!

Aber wir hatten die Rechnung ohne Annabels kleines »Monster« gemacht.

Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass sie stationär aufgenommen werden musste. »Was wir da sehen, gefällt uns nicht«, wurde mir gesagt. »Wir müssen ihren Verdauungstrakt untersuchen. Sie ist sehr blass, und ihr Bauch ist aufgebläht. Die ständigen Kopfschmerzen sind ein weiteres alarmierendes Problem.«

»Ich verstehe, dass Sie weitere Untersuchungen durchführen müssen«, wandte ich vorsichtig ein, »aber sie war in den letzten zwei Jahren so oft im Krankenhaus. Sie ist ziemlich hart im Nehmen, aber das würde sie jetzt absolut fertigmachen. Und letzte Woche war sie ganz normal, ganz sie selbst, na ja, das was für sie eben normal ist, meine ich. Es ging ihr richtig gut, vergleichsweise. Sie hatte chronische Schmerzen, aber sie hat gegessen und getrunken und ihr Verdauungssystem hat einigermaßen gut funktioniert. Wir sind nur zur Routinekontrolle hier ins Krankenhaus gekommen. Bitte behandeln Sie das akute Problem, tun Sie etwas gegen die Schmerzen und lassen Sie sie dann gehen. Wir können dann zur weiteren Behandlung zu Dr. Siddiqui in Austin gehen. Er wurde schließlich von Dr. Nurko ausgebildet und die zwei arbeiten sehr eng zusammen. Außerdem haben wir ganz in der Nähe unseren engagierten Kinderarzt, Dr. Moses. Er kümmert sich um Anna, seit sie ein Baby ist.«

Ich gab mir die größte Mühe, mein Anliegen nicht in einem allzu bettelnden Tonfall vorzubringen, aber genau das tat ich – ich bettelte. Ich bettelte diesen Arzt an, ich bettelte Gott an, und ich hätte sogar den Weihnachtsmann in der Ecke angebettelt, wenn das irgendwas gebracht hätte.

»Sie wird eingewiesen«, berichtete ich Kevin später am Telefon. Ich hörte ein tiefes Seufzen am anderen Ende der Leitung. Er wusste genauso gut wie ich und Annabel, was jetzt kommen würde. Zuerst hieß es für sie NPO – non per os –, was bedeutete, dass sie nichts essen und trinken durfte. Sie würden ihr Infusionen geben, um sie mit Flüssigkeit zu versorgen und ihrem Darmtrakt eine Pause zu gönnen. Und dann würde man eine Magen-Darm-Spiegelung vornehmen, um sicherzugehen, dass sie nicht auf eine erneute gefährliche Pseudoobstruktion zusteuerte.

»Wie hoch ist ihr Schmerzpegel?«, fragte Kevin.

»Sie sagt, sechs oder sieben, aber du weißt ja, wie tapfer sie ist. Sie untertreibt doch immer.«

»Und wie geht es ihr so?«

»Nicht gut«, sagte ich, »ich habe sie noch nie so gesehen, Kevin. Sie starrt den Fernseher an, steht nicht auf, um aus dem Fenster zu gucken, und geht auch nicht in den Aufenthaltsraum. Sie redet mit niemandem …«

»Mama«, wimmerte Annabel leise, »kann ich ein Wärmekissen für meinen Bauch haben?«

»Natürlich, mein Schatz.« Ich gab ihr mein Handy. »Hier, sprich ein bisschen mit Papa, während ich zum Schwesternzimmer laufe und dir eins hole. Das geht schneller, als wenn wir eine Schwester rufen.«

Als ich ein paar Minuten später mit dem Wärmekissen zurückkam, hatte Kevin Annabel ein bisschen zum Lachen gebracht. Sie klang für ihre Verhältnisse immer noch sehr matt, aber mein Herz machte einen Satz, als ich ihr leises Kichern hörte. Ich legte die Wärmepackung auf ihr Bäuchlein, und sie gab mir mein Handy zurück.

»Ich glaube, ich lasse dich jetzt besser schlafen«, sagte ich zu Kevin. »Du musst ja morgen wieder so früh raus.«

»Kopf hoch, Liebling. Das wird schon wieder«, meinte er, aber ich wusste, dass er ebenso wenig daran glaubte wie ich.

»Ich liebe dich, Christy.«

»Ich dich auch.«

»Und sag Anna auch, dass ich sie lieb habe. Ich hab's ihr schon gesagt, aber … na ja, sag es ihr einfach noch mal.«

»Das mache ich, und sag du Abbie und Adelynn, dass ich sie schrecklich vermisse.«

»Sie vermissen dich auch.«

»Sag ihnen, dass sie sich die Zähne putzen sollen. Und sag Abbie noch, sie soll ihre Nase nicht in ihr Buch stecken, sondern dir helfen, das Abendessen zu machen.«

»Das hab ich schon alles im Griff, mach dir keine Gedanken.«

Wir sagten einander noch einmal, dass wir uns lieb hatten. Vielleicht auch mehr als einmal. Dann schaltete ich mein Handy aus, dimmte das Licht herunter, zog die Schuhe aus und legte mich neben Annabel aufs Bett. Ich kuschelte mich von hinten an sie und hielt ihren kleinen, warmen Körper fest an meinen Bauch gedrückt, als ob ich ihr dadurch Zuflucht und Schutz bieten könnte.

»Die Flure hier sind mit Millionen blinkender Weihnachtskerzen geschmückt«, sagte ich, während ich ihr das Haar aus der Stirn strich.

»Wenn du dich ein bisschen ausgeruht hast, gehen wir mal gucken.«

»Mir ist nicht danach zumute.« Sie klang traurig und teilnahmslos.

»Ach, komm schon. Wie wird dann die Stube glänzen von der großen Lichterzahl … Die haben so viele Flure hier, da können wir uns tagelang amüsieren!«

»Nein, danke.«

»Komm, wir gucken mal, ob die hier den Disney Channel haben? Vielleicht läuft ja diese Sendung mit Selena Gomez. Oder ich könnte dir was vorlesen, bis du einschläfst. Soll ich?«

»Nein.«

»Annabel … mein Liebes …«

Ich hörte, wie ihr der Atem stockte, und zum ersten Mal während ihres langen, mühevollen Weges wurde sie von einem tiefen, trostlosen Schluchzen überwältigt. Wellen bitterer Tränen rollten über sie hinweg und begruben sie in einem Meer von Traurigkeit. Mein Herz weinte mit ihr, aber ich drängte meine Tränen zurück. Ich bemühte mich, stark zu sein und ihr Halt zu geben. Ich erinnerte sie daran, dass sie zwischen ihren Schluchzern Luft holen musste, und drückte ihr Küsse auf den Scheitel. Mit der Hand strich ich behutsam über das Wärmekissen, das ihren harten, aufgedunsenen Bauch bedeckte. Ich presste meine Kiefer aufeinander und schickte ein stilles, leidenschaftliches Gebet zum Himmel: Bitte, Herr, bitte lass mich diese Schmerzen ertragen. Nimm sie ihr weg, Herr. Ich tue alles, was du willst, wenn du nur mir ihre Schmerzen gibst. O Gott, du hast Hagar und ihr Baby in der Wüste mit Wasser versorgt. Ich flehe dich an, hab Erbarmen mit ihr …

Annabel weinte noch lange weiter. Immer wieder unterbrachen verzweifelte Fragen ihr herzzerreißendes Schluchzen: »Warum bin ich so? Warum kann ich nicht so sein wie meine Schwestern? Wieso geht es mir nicht besser, obwohl so viele Menschen, die fest an Gott glauben, immer und immer wieder für mich beten?« Ich konnte ihr keine Antworten darauf geben, ich stellte mir selbst ja genau dieselben Fragen!

Schließlich beruhigte sich ihr Schluchzen und ging in ein erschöpftes, unregelmäßiges Atmen über. Es war, als ließe sie alles, was heute passiert war, los. Ihr ganzer Körper war schlaff und fiebrig. Die lebensfrohe Energie, die Annabel eigentlich zu der macht, die sie ist, schien mit jedem stillen Seufzen weniger zu werden. Ich lag wach und lauschte dem leisen Piepsen des Infusionsgerätes neben dem Bett und den gedämpften Geräuschen von der Schwesternstation, die sich ein Stück den Gang hinunter befand. Ich dachte, Annabel sei eingeschlafen.

»Mama … ich würde am liebsten sterben und im Himmel bei Jesus sein, wo es keine Schmerzen gibt.«

Ein kalter Schock durchfuhr mich.

»Annabel …« Ich suchte verzweifelt nach der richtigen Antwort. »Wenn du … in den Himmel kämst, dann wärst du nicht mehr bei Papa und mir. Das würde ein großes Loch in meinem Herzen hinterlassen, und ich wäre schrecklich traurig.«

»Nein, Mama«, sagte sie, ohne einen Augenblick zu zögern, »du würdest dich umbringen und mit mir kommen.«

»Anna …« Ich fand keine Worte mehr.

Sie hatte es so nüchtern, so selbstverständlich und ohne die geringste Unsicherheit gesagt – solch eine bittere Aussage von einem so munteren, lebensfrohen Mädchen. Ich war wie gelähmt vor Schmerz, als ich begriff, dass sie darüber nachgedacht hatte. Sie hatte das Problem ganz nüchtern analysiert und für sich eine Antwort gefunden.

Als Annabel schließlich eingeschlafen war, schlich ich mich aus dem Zimmer und rief Kevin an.

»Körperlich geht es ihr nicht schlechter als früher schon manchmal«, sagte ich ihm, »aber ihre seelische Verfassung ist so erbärmlich, dass ich wirklich Angst um sie habe.«

Wenn ich jetzt im Rückblick daran denke, wundere ich mich, warum mich ihr Wunsch – ihr Gebet –, zu Gott zu gehen, damals so völlig aus heiterem Himmel traf. Annabel ist eine Realistin, die von ganzem Herzen an Jesus glaubt. War es nicht verständlich, dass sie sich danach sehnte, diesen langen, mühevollen Kampf hinter sich zu haben? Ich war diejenige gewesen, die ihr von Gott, Jesus und dem wunderbaren Himmel erzählt hatte. Ich wusste, dass es ihr dort gut gehen würde, dass sie dort frei von Schmerzen und für immer glücklich mit ihrem Retter vereint sein würde. Aber ich wollte sie mit jeder Faser meines selbstsüchtigen Herzens bei mir behalten. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, dass sie durchhielt.

Bitte, Gott, lass das nicht zu. Herr Jesus, gibt ihr die Kraft durchzuhalten!

Die nächsten paar Tage kamen Physiotherapeuten, um sie aus dem Bett zu holen, und ein Kinderpsychologe, der sie ermutigte, über ihre Gefühle zu sprechen. Nach der NPO-Phase, wo sie nichts essen und trinken durfte, hatten die Ärzte zu ihrer Zufriedenheit festgestellt, dass kein Darmverschluss vorlag und ihr Verdauungstrakt dazu angeregt werden konnte, seine Tätigkeit wieder aufzunehmen. Die Schwestern und ich baten Annabel, doch etwas zu essen und zu trinken, aber sie weigerte sich strikt und wollte weiterhin nur mithilfe der Infusionen Nährstoffe und Flüssigkeit aufnehmen.

Sie war dazu imstande, sich zu bewegen, zu essen, zu trinken, zu spielen, und sie hätte aus dem Bett aufstehen können. Aber sie entschied sich dagegen. Normalerweise mochte sie es, wenn Beth, die herzlich, schick und witzig war, vorbeikam und ihr Gesellschaft leistete, damit ich schnell mal zum Duschen ins Hotel fahren konnte. Jetzt wollte Anna nur im Bett liegen und schlafen, und ich sollte an ihrer Seite bleiben, während sie schlief.

»Weißt du, wie viele Menschen heute für dich beten?«, fragte ich sie jeden Morgen. »Jede Menge. Maw Maw und ihr ganzer Kindergottesdienst in Wichita Falls beten für dich. Paw Paw und all die anderen Gemeindeältesten beten für dich. Und auch Gran Jan und P Paw und Nonny und all unsere Freunde und Verwandten.«

Ich strich ihr sanft über den Kopf, während ich ihr all die Menschen aufzählte, die sie liebevoll im Gebet trugen, und hoffte, dass sie spürte, wie diese Gebete sie wie eine schützende Festung umgaben.

Dr. Nurko hatte wegen eines familiären Notfalls die Stadt verlassen müssen; so saß ich nun nicht wie gewohnt mit ihm, unserem Lieblingsarzt, dem wir vertrauten, in dem Durcheinander des Krankenhaus-Spielzimmers, sondern am Kopf eines Konferenztisches, mir gegenüber das gesamte Ärzteteam. Tabellen und Scans, die Annas langen Behandlungsweg beschrieben, lagen vor uns auf dem Tisch. Das war das erste Mal, dass ihr Mut und ihre Stimmung derart nachgelassen hatten, und nun war ihre seelische Verfassung ebenso erbärmlich und erschreckend wie die chronische Fehlfunktion in ihrem Verdauungstrakt.

»Wir machen uns große Sorgen«, sagte einer der Ärzte. Die anderen bestätigten dies.

Ich sehnte mich danach, Kevin an meiner Seite zu haben, der mir mit seiner unerschütterlichen Haltung ein großer Trost gewesen wäre. Von Anfang an war ich die Löwenmutter gewesen, die unermüdlich für ihr Junges kämpfte. Ich hatte kein Problem damit, mich Annas wegen mit anderen herumzuschlagen und endlose Diskussionen zu führen. Aber Kevin kannte immer genau die richtigen Fragen. Er kannte die Sprache, die Ärzte untereinander benutzen, und er hatte das Fachwissen, das sie dazu brachte, auf Augenhöhe mit ihm zu sprechen. Mich nannten sie »Mama« und schenkten mir ein verständnisvolles Lächeln. Kevin nannten sie »Doktor« und gaben ihm Antworten.

Die Ärzte schlugen verschiedene Behandlungsstrategien vor, darunter auch die Möglichkeit, ihre Cisaprid-Dosis zu verringern und ihr zusätzlich ein Antidepressivum zu geben. Aber bevor wir irgendetwas Neues ausprobieren konnten, passierte das Beste, was wir uns vorstellen konnten.

Am Morgen nachdem Kevin und ich unser Telefongespräch beendet hatten, stellte er sich ans untere Ende der Treppe und rief