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   Elke Ottensmann– Ein Auto voller Blumen– Geschichten für zwischendurch– SCM Hänssler
 SCM– Stiftung Christliche Medien

ISBN 978-3-7751-7180-9 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:

© der deutschen Ausgabe 2013

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang, Aachen

Inhalt

Die Sonne scheint schon!

Der Blick aus meinem Küchenfenster

Aufwind

Neulich im Park

Die Ruhe nach dem Sturm

Karl der Lachende

Dunkle Wolken am Horizont

Ein wandelndes Wunder

Die Früchte, die wir ernten

Alte Liebe rostet nicht

Wenn die Wellen hochschlagen

Das Supertalent

Neulich im Wartezimmer

Ein Auto voller Blumen

Das gefällt mir nicht, das will ich nicht!

Es gibt auch noch Menschen

Winterduft

Schatten und Licht

In jedem Namen steckt ein Amen

Einmal Prinzessin sein

Die Wellness-Welle

Kein Tag wie jeder andere

Einmal die Zeit anhalten

Kommst du mit?

Gefrorenes Lächeln

Melodie des Lebens

Die Türen in unserem Leben

In unserem kleinen Café

Hochmut kommt vor dem Fall

Geschmolzene Herzen

Bis dann im Himmel

In den starken Armen des Vaters

Neulich beim Friseur

Omas Nähmaschine

Wechsel-Jahre

Ich hätte mich gefreut …

Der Kettenbrief

Gerechtigkeit geht vor

Temperatursturz

So ein Saftladen

Ohne Pause geht es nicht

Mamas Backbuch

Wenn bei Regen die Sonne scheint

Gesammelte Schätze

Klimawandel

Seelsorge auf dem Gehweg

Das Haus am Rand unserer Stadt

Futter für die Seele

Wetterleuchten im Supermarkt

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel

Der verschwundene Koffer

Entspannung im Zahnarztstuhl

Wenn die Tulpen wieder blühen

Bevor die Sonne untergeht

Die Sonne scheint schon!

Mama, darf ich mal aus dem Fenster schauen?«, ruft unsere kleine Tochter Steffi aufgeregt. Wir haben unsere erste Nacht auf dem Kreuzfahrtschiff verbracht. Während wir schliefen, wurden wir sanft schaukelnd von Genua nach Civitavècchia befördert. Nun liegen wir in unseren Kabinenbetten; das einzige Bullauge in unserer Kabine wird von lichtundurchlässigen Vorhängen verdunkelt.

»Es ist sicher noch sehr früh«, denke ich. »Unser Wecker hat ja noch nicht einmal geklingelt.« Wir haben eine Ausflugstour nach Rom gebucht und müssen uns bereits um 7.15 Uhr in der Club Lounge auf Deck 7 einfinden, von wo aus wir mit unserer Reisegruppe zum Bus geleitet werden. Aber ich weiß ja genau, dass mein Mann den Wecker auf 6.00 Uhr gestellt hat und bin sicher, dass wir noch viel Zeit haben, bevor wir aufstehen müssen.

Als Steffi den Vorhang zur Seite schiebt, wird unsere Kabine in gleißendes, grelles Licht getaucht. »Die Sonne scheint schon!«, verkündet sie daraufhin fröhlich. »Wann geht hier wohl die Sonne auf?«, frage ich mich schlaftrunken, während ich zu meiner Armbanduhr greife. Der Schreck durchfährt meinen gesamten Körper, als ich begreife, dass es tatsächlich bereits 7.05 Uhr ist! Ein unfeines Wort entschlüpft meinem Mund, während mein Mann und ich aus dem Bett springen. Keine Zeit für Frühstück, keine Zeit für gar nichts. Stress pur! Wir greifen nach den nächstbesten Kleidern und sind froh, dass Steffi sich schon ganz allein anzieht, was sie auch sehr geschmackvoll tut. Schnell noch die beiden großen Kinder anrufen, die eine eigene Kabine haben und sich darauf verlassen hatten, dass wir sie rechtzeitig wecken würden. Irgendwie schaffen wir es alle fünf, dass wir um 7.20 Uhr am Treffpunkt sind. Die Gruppe ist noch da; mein Mann rennt los, um am Frühstücksbuffet wenigstens noch etwas Obst für die beinahe zweistündige Busfahrt nach Rom zu besorgen. Ich bin froh, am gestrigen Abend immerhin eine Tasche mit Sonnencreme, Hüten und Pässen sowie etwas Geld gepackt zu haben. Während wir darauf warten, von Bord gehen zu dürfen, trällert Udo Jürgens aus dem Lautsprecher das Lied: »Wir haben alles im Griff auf dem sinkenden Schiff.«

In Gedanken bin ich immer noch bei Steffis Worten: »Die Sonne scheint schon!« Hätte ich das nicht selbst merken müssen? Immerhin war ich vor ihrem erfreuten Ausruf auch schon einmal wach gewesen und hätte selbst einmal den Vorhang beiseiteschieben können. Doch zu sehr hatte ich mich auf den Wecker verlassen, der uns nun kläglich im Stich gelassen hatte. Oder vielleicht wollte ich gar nicht herausfinden, ob die Sonne schon schien, und wollte im wahrsten Sinne des Wortes vor der Realität die Augen verschließen. Dabei ging es mir überhaupt nicht um den Sonnenschein, sondern um die für Urlaub viel zu frühe Morgenstunde. Immerhin hatten wir uns wochenlang danach gesehnt, endlich die warme Sonne zu spüren, uns darauf gefreut, dem kühlen, verregneten Sommer in Deutschland für ein paar Tage zu entfliehen. Der überwiegend graue Himmel während der Ferienzeit war zu Hause bereits vielen Menschen aufs Gemüt geschlagen. Schade eigentlich, dass wir uns doch oft die Stimmung verderben lassen, wenn wir schlechtes Wetter haben. Die Kinder leben uns auch hier vor, wie es anders gehen kann: Da wird keine Regenpfütze ausgelassen, um hineinzuspringen, mit dem Fahrrad durchzufahren oder gar Papierboote darauf schwimmen zu lassen. Man kann ja eigentlich jedem Wetter etwas Positives abgewinnen, doch manchmal ist der Hunger nach Sonne und Wärme einfach größer …

Und noch etwas: Allzu schnell vergessen wir angesichts des grauen Himmels und der Regenwolken, dass die Sonne trotzdem scheint! Sie scheint den ganzen Tag, auch wenn wir sie nicht sehen, als wolle sie uns strahlend zurufen: »Das Schönste kommt noch! Nur Geduld.« Die Sonne steht im wahrsten Sinne des Wortes über den Wolken! Ja, sie scheint selbst dann weiter, wenn sie für uns untergegangen ist. Wir können sie dann mit unserem begrenzten Horizont nur nicht mehr sehen. Doch sie scheint weiter, geht für andere Menschen auf, erhellt ihren Tag und schenkt ihnen neue Wärme. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Solange wir leben.

Der Reiseleiter beendet meine Grübelei, indem er uns freundlich auffordert, uns zum Ausgang zu begeben. Und wir werden einen sonnenreichen Tag in Rom verbringen.

Der Blick aus meinem Küchenfenster

Was sehen Sie, wenn Sie aus Ihrem Küchenfenster (sofern Sie eines haben) blicken? Blicken Sie ins Grüne oder haben Sie vor Ihrer Küche eine Straße und können den Verkehr beobachten? Können Sie bei Ihrem Nachbarn hineinschauen oder sehen Sie vielleicht nur die nächste Hauswand vor sich? Oder haben Sie eine Kellerwohnung, aus der Sie überhaupt nicht viel sehen können? Vielleicht wohnen Sie aber auch weit oben in einem Hochhaus mit Sicht auf die ganze Stadt?

Wenn ich aus meinem Küchenfenster schaue, habe ich jedes Mal das Gefühl, ein Brett vor dem Kopf zu haben, denn ich sehe nichts als eine Holzwand vor mir. Das war nicht immer so. Bevor die Wand errichtet wurde, hatte ich einen wunderschönen Blick auf den Garten unseres Nachbarn. Es war, als blickte ich auf eine Parklandschaft. Selbst das Spülen des Geschirrs war entspannend, denn ich konnte dabei meinen Blick über den wunderschönen Garten schweifen lassen und das satte Grün der Wiese sowie die bunten Farben der Blumenrabatte genießen. Dabei gab es für mich immer Neues zu entdecken, denn auch viele Tiere erfreuten sich an diesem schönen Garten. Zahlreiche Bienen, Hummeln und Schmetterlinge flogen zu den Blumen ein und aus, viele Vögel machten es sich in dem großen Kirschbaum gemütlich und brüteten ihre Eier in den dafür aufgehängten Nistkästen. Gelegentlich schlenderte ein Igel am helllichten Tag vorbei, oder die Katze des Nachbarn sonnte sich auf der Gartenbank und beobachtete dabei gespannt die Vögel im Baum. An dem kleinen Gartenteich quakten Frösche und Libellen schwirrten herum. Sogar ein Entenpärchen verirrte sich ab und zu dorthin und machte Rast auf dem kleinen Gewässer. Der Blick aus meinem Küchenfenster war eine Augenweide und ich sah oft hinaus, egal ob ich abwusch, Gemüse schnippelte oder Kartoffeln schälte. Doch eines Tages setzte unser Nachbar seinen Plan in die Tat um, für sein Wohnmobil eine Garage zu errichten. Immerhin erzählte er mir von seinem Vorhaben, auch dass er die Wände aus Holz und nicht aus Beton machen würde. Ihm war bewusst, dass ich von nun an aus meinem Küchenfenster auf eine Wand schauen würde, nicht aber, was mir damit genommen wurde. Die Garagenwand wurde hoch, schließlich musste ja sein Wohnmobil hineinpassen. Die herrliche Aussicht auf ein kleines Fleckchen Paradies wurde durch eine meterhohe Holzwand verbaut. Heute kann ich nur noch erahnen, was sich hinter dieser Wand wohl gerade abspielt. Leider habe ich keinen Röntgenblick oder eine Brille, die es mir ermöglicht, einfach durch das Holz hindurchzusehen. Ich fühle mich in meiner Sichtweite eingeschränkt und mein Blickfeld stößt schnell auf eine Grenze. Selbst mit der blühendsten Fantasie lässt sich diese Wand nicht wegdenken. Sie ist nun da und ich muss mich damit abfinden und mich daran gewöhnen, bei dem Blick aus meinem Küchenfenster Bretter vor dem Kopf zu haben, die gleichzeitig meine Küche ein wenig dunkler machen.

Wer der Redewendung gemäß »ein Brett vor dem Kopf« hat, der ist vorübergehend etwas begriffsstutzig oder hat ein »Blackout«. Die Augen sind einem sozusagen für etwas verschlossen, das normalerweise eigentlich ganz klar und eindeutig ist. Wenn einem tatsächlich die Aussicht auf etwas genommen wird, worauf man sich vielleicht gefreut hat und womit man fest gerechnet hat, macht sich Enttäuschung breit. Dann ist man gefordert, seinen Blick auf etwas anderes zu lenken und eine neue Perspektive zu gewinnen. Meine Aussicht ist nun zwar verbaut, wenn ich aus meinem Küchenfenster schaue, aber ich habe noch andere Fenster, aus denen ich blicken kann. Und wenn es etwas dunkel wird, können wir ein Licht anschalten oder eine Kerze anzünden. Oder wir können versuchen, uns der Sonne zuzuwenden.

In unserem Leben stoßen wir immer wieder auf Grenzen. Grenzen, die von anderen errichtet werden, aber ebenso kommen wir auch immer wieder an unsere eigenen Grenzen: wenn wir unsere Möglichkeiten ausgeschöpft haben oder wenn wir am Rande unserer Kraft sind, gilt es, die Grenzen zu beachten und nicht zu ignorieren. Eine Grenze zwingt uns dazu, zu handeln: indem wir andere Wege einschlagen oder uns helfen lassen. Wer an eine Grenze stößt, muss zunächst einmal langsamer werden und innehalten. Wenn es an dieser Grenze gar nicht weitergeht, müssen die Schritte geändert und in andere Bahnen gelenkt werden. Dies fällt oft schwer, denn neue Wege bringen Veränderungen mit sich, die wir uns vielleicht nicht gewünscht haben. Doch solange wir Leben in uns haben, geht es weiter. Wir sind gut beraten mit den Worten Davids in Psalm 37, Vers 5: »Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird’s wohl machen.«

Gott meint es gut mit uns, wir dürfen auf ihn hoffen. Das ist tröstlich, vor allem dann, wenn wir wieder einmal ein Brett vor dem Kopf haben und den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Unser Lebensweg geht weiter, auch wenn er uns noch so verschlungen erscheint. Wir müssen nicht wissen, wohin er uns führt. Aber wir müssen weitergehen, Schritt um Schritt. Egal, in welcher Situation wir uns gerade befinden, ob uns die Aussicht auf etwas Herrliches genommen wurde, ob uns die Sicht versperrt wurde oder eine Wand vor uns errichtet wurde: Gott wird es wohl machen. Er sieht unseren Weg schon längst vom anderen Ende her.

Hedwig von Redern hat dies vor mehr als hundert Jahren wunderbar beschrieben:

»Weiß ich den Weg auch nicht, du weißt ihn wohl; das macht die Seele still und friedevoll. Ist’s doch umsonst, dass ich mich sorgend müh, dass ängstlich schlägt das Herz, sei’s spät, sei’s früh. Du weißt den Weg ja doch, du weißt die Zeit, dein Plan ist fertig schon und liegt bereit. Ich preise dich für deiner Liebe Macht, ich rühm die Gnade, die mir Heil gebracht. Du weißt, woher der Wind so stürmisch weht, und du gebietest ihm, kommst nie zu spät; drum wart ich still, dein Wort ist ohne Trug. Du weißt den Weg für mich, das ist genug.«1

Aufwind

Die Luft war angenehm mild, dafür dass wir uns auf über 2 000 Metern Höhe befanden. Mein Mann und ich waren am frühen Morgen im Tal losgegangen, um zur Mittagszeit den Gipfel zu erreichen. Dankbar für die Alm, die uns nach dem anstrengenden Marsch nach oben dort erwartete, hatten wir uns mit Ziegenmilch und frischem Bergkäse gestärkt. Nun saßen wir auf der Terrasse und genossen die Aussicht. Das Bergpanorama um uns herum war überwältigend, genauso wie der Blick ins Tal hinunter. Die Sonne schien aus einem strahlend blauen Himmel, an dem ein paar weiße Schäfchenwolken sanft und langsam hinzogen. Ein warmes Lüftchen wehte uns aus dem Tal entgegen. Wir hatten noch etwas Zeit, bevor wir uns wieder an den Abstieg machen wollten und beobachteten einen Adler dabei, wie er hoch über uns seine Kreise zog. Er hatte offensichtlich guten Aufwind, denn schnell schraubte er sich höher und höher, bis wir ihn nur noch als einen kleinen Punkt am Himmel ausmachen konnten. Wir überlegten gerade, wie schön das sein musste, so frei und unbeschwert durch die Lüfte zu segeln, als direkt hinter uns plötzlich ein dumpfer Aufschlag zu hören war. Als wir uns umdrehten, sahen wir einen Drachenflieger, der kurz nach seinem Start ein Stück weiter oben am Hang ziemlich unsanft gelandet war. Die nächste Stunde verbrachten wir damit, ihn bei seinen etwas unbeholfenen Flugversuchen zu beobachten. Immer wieder versuchte er, den richtigen Moment abzupassen, um mit dem warmen Aufwind aus dem Tal abzuheben. Da der Wind öfters unverhofft drehte und plötzlich zum Gegenwind wurde, scheiterten mehrere seiner Versuche. Immer wieder fiel er gleich nach dem Start wie ein Stein nach unten an den Hang, noch bevor er richtig abgehoben hatte. Für uns war das spannend, für ihn sicher nicht ganz ungefährlich. Per Funkgerät war er in Kontakt mit seinen Kameraden, die vor ihm erfolgreich abgehoben hatten und bereits in luftiger Höhe segelten. Doch dann war der richtige Augenblick endlich gekommen: der Mann rannte mit seinem Drachenflieger los, steil den Berg hinunter, um dann gekonnt den Absprung zu wagen und abzuheben, um sich gleich darauf in die für einen Hängegleiter typische Liegeposition zu begeben. Die aufsteigende Thermik nahm ihn mit nach oben. Nun schraubte auch er sich in engen Kreisbahnen immer höher, ähnlich dem Adler, den wir zuvor beobachtet hatten. Schließlich hatte er gut und gerne eine Höhe von 4 000 Metern erreicht und war für das bloße Auge kaum noch zu erkennen.

Für uns, die wir keinerlei Erfahrung mit Drachensegeln haben, erscheint das ein gewagtes Abenteuer zu sein. Wie schnell könnte man dabei auf die Nase fallen oder, noch schlimmer, ganz abstürzen. Wir sind abhängig vom richtigen Wind zur richtigen Zeit und es braucht sicherlich viel Erfahrung und Übung, bevor man sich in diese gewaltigen Höhen schwingen kann, ganz zu schweigen von guten Nerven. Doch ohne Aufwind hätten auch die Vögel ihre Schwierigkeiten damit, sich so hochzumanövrieren, dass sie selbst über den Berggipfeln kreisen können.

Aufwind – wir alle brauchen ihn, auch wenn wir mit unseren Füßen am Boden bleiben. Um nicht stehen zu bleiben, ist es wichtig, dass wir uns immer wieder antreiben lassen oder auch neue Richtungen einschlagen, je nachdem, wohin der Wind sich dreht. Durch Aufwind erhalten wir eine neue Blickrichtung und können die Dinge aus einer anderen Perspektive betrachten. Aufwind in unserem Leben kann aus allen möglichen Richtungen kommen: Manchmal reicht ein Lächeln oder ein ermutigendes Wort, manchmal bedarf es einer stärkeren Brise wie professionelle Hilfe durch Ärzte oder auch Beratern aus den verschiedensten Bereichen. Die Vielfalt hierbei ist beinahe unerschöpflich: Gesundheit, Finanzen, Ernährung, beruflicher Werdegang, Ehe, Erziehung, Seelsorge, um nur einige zu nennen. Frischen Wind in die Segel zu bekommen, gibt uns neuen Schwung im Leben und ermöglicht uns, unser Ziel schneller zu erreichen.

Manchmal müssen wir danach suchen und wie der Drachenflieger den richtigen Moment abwarten. Wenn wir uns dann von dem warmen Aufwind mitnehmen lassen, können wir uns stetig immer weiter nach oben tragen lassen. Dann spüren wir auf einmal Abstand, können vieles ganz anders überblicken und neuen Mut schöpfen. Wir können zwar weder die Windstärke noch seine Richtung beeinflussen, aber wir können lernen, uns nach dem Wind zu richten und ihn zu unserem Vorteil zu nutzen. Richten wir dann unseren Blick nach oben, sehen wir den Himmel und sind ihm ein Stückchen näher gekommen.

Der meteorologische Aufwind ist ein Phänomen und kann sich unverhofft und plötzlich drehen oder abflauen und auf der anderen Seite des Hanges als Abwind wieder nach unten drücken. Wir haben aber noch einen anderen Aufwind in unserem Leben. Einen Wind, der nicht aufhört, uns lau und mild entgegenzuwehen. Es steht uns frei, diese Thermik zu nutzen! Jesaja beschreibt diesen Wind in Kapitel 40, Vers 31: »Aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.«

… Damit auch wir uns wieder wie ein Adler in die Lüfte schwingen können.

Neulich im Park

Ein milder Herbstwind bewegte die Zweige und Äste der Bäume im Park. Leise raschelten die noch hängenden bunten Blätter oder segelten sanft auf die Erde. Die Nachmittagssonne wärmte mit erstaunlicher Kraft die Luft und brachte die bunten Herbstblätter zum Leuchten. Der Park zeigte sich an diesem sonnigen Herbsttag noch einmal von seiner schönsten Seite. In den Beeten blühten Dahlien, Astern, Chrysanthemen und Rosen in leuchtenden Farbtönen. Auf dem kleinen See schwammen Enten und auch ein paar Schwäne zogen ihre Kreise. Am Ufer hatten Kinder ihre Freude daran, die Tiere mit Brotstückchen zu füttern. Sie merkten nicht, dass sie dabei von einem freundlichen alten Herrn beobachtet wurden, der auf einer Parkbank saß. Während er den Kindern zuschaute, wanderten seine Gedanken zurück in seine eigene Kindheit, wie er selbst als kleiner Junge an genau demselben See die Enten gefüttert hatte. Er lächelte bei der Vorstellung, dass sich manche Dinge wohl nie änderten.

Jäh wurde er plötzlich aus seinen Gedanken gerissen und in Sekundenschnelle in die Gegenwart zurückgeholt, denn in diesem Augenblick ließ sich ein großer, hagerer Junge neben ihm auf die Bank plumpsen. Der alte Mann musterte den Jungen von der Seite und schätzte ihn auf höchstens 15 Jahre. Bei genauerem Hinsehen fielen ihm zwei herunterhängende Kabel auf, die ihren Anfang in Form von zwei Stöpseln in beiden Ohren des Jungen nahmen und schließlich in einem kleinen grauen Gerät endeten. Da nun auch der Jugendliche zu ihm herüberblickte, tippte der alte Mann kurz mit der Hand an seinen Hut und grüßte ihn mit den Worten: »Guten Tag, junger Mann.« Dieser grüßte zurück: »Hi«, und fuhr damit fort, mit seinen Beinen rhythmisch einen Takt zu klopfen.

Der alte Mann war nun neugierig geworden und begann ein Gespräch: »Was hast du denn da für einen Apparat in der Hand? Hörst du damit Musik?« Der Junge nahm die Stöpsel aus den Ohren und fragte: »Was haben Sie gesagt?« Der Mann wiederholte geduldig seine Frage und erfuhr von dem Jungen: »Das ist ein iPod. Und ja, ich höre damit Musik.« Er wollte sich gerade die Stöpsel wieder in seine Ohren stecken, als aus seiner Hosentasche ein lautes Lachen erklang. Mit großen Augen sah der alte Mann dem Jungen dabei zu, wie er einen weiteren kleinen Apparat hervorholte. »Das ist bestimmt ein Handy«, dachte der Mann für sich, denn er hatte sich erst kürzlich von seinem Sohn davon überzeugen lassen, sich ein eigenes Handy anzuschaffen. Für den Notfall, wie er sich selbst gut zuredete, denn ganz eingesehen hatte er die Notwendigkeit dieser Anschaffung nicht. Doch nun konnte er nicht umhin, seinem jungen Banknachbarn bei dessen Telefongespräch zuzuhören. Mit wachsender Verwunderung versuchte er, sich einen Reim aus dem Kauderwelsch zu machen: »Ich sitze gerade im Park und chille.« – »Nee, wie cool is’n das? Klar komme ich am Samstag auf die Party.« – »Ach der Henrik, der ist doch ein Assi, noch dazu ein Mof. Mit dem will doch niemand abhängen. So einen Tafelglotzer finde ich vollpanne.« – »Ja, die Laura hängt doch nur mit den anderen Emos zusammen, das sind so richtige Partybremsen.« – »Der Test heute Morgen war voll daneben. Nicht mal eine Gehirnprothese durfte man benutzen! Ist doch klar, dass dieser Nerd als Erster fertig war. So ein Hirni. Abschreiben hat er mich mal wieder nicht lassen.« – »Ja, heute Abend können wir noch zusammen zocken und uns die neue Minecraft-Version runtersaugen. Meine Mutter wird zwar wie immer stressen, aber sie ist nun mal ein Motzkeks.« – »Mann, das ist ja oberaffengeil! Wie lollig! Bringst du die CD morgen mit in die Schule?« – »Okay, bis heute Abend dann beim Skypen! Bleib cool!«

Mit diesen Worten beendete der Junge sein Telefongespräch. Es war das merkwürdigste Gespräch, das der alte Mann jemals gehört hatte. Verblüfft sah er dem Jungen dabei zu, wie dieser sein Handy wieder in die Hosentasche steckte.

»Sag mal, redet ihr jungen Leute immer so?« Jetzt war es der Junge, der den Mann verblüfft anschaute: »Was meinen Sie denn? Ist doch ganz normal, so zu reden!« Der alte Mann schmunzelte. »Ich glaube, dann brauche ich bald jemanden, der für mich dolmetscht! Hilfst du mir, dass ich heute etwas dazulerne? Was ist denn ein Mof, ein Emo und eine Partybremse? Und was ist eine Gehirnprothese und ein Tafelglotzer? Was macht man, wenn man chillt, zockt und skypt?« Der Junge verdrehte zwar erst einmal die Augen, doch gleichzeitig freute er sich über das Interesse des alten Mannes und dass er ihn darum gebeten hatte, ihm etwas zu erklären. Das hatte schon lange niemand mehr getan! Ja, er hatte ihn genau genommen um Hilfe gebeten. Dem Jungen wurde es merkwürdig warm ums Herz wie schon lange nicht mehr. Da saß jemand neben ihm auf der Parkbank und hatte einfach nur Zeit! Ohne es zu wollen, platzte es aus ihm heraus: »Ist cool, dass Sie sich dafür interessieren. Die meisten Leute haben wenig Verständnis für unsere Aussprüche oder machen sich noch lustig über uns.« Sein Banknachbar schmunzelte: »Nun, das wiederholt sich wohl in jeder Generation. Die jungen Leute haben neue Ideen und verändern die Welt. Und das ist auch gut so. Wir Alten haben unser Leben gelebt und sollten euch Jungen manchmal mehr zuhören, um euch besser zu verstehen.«

Eifrig begann der Jugendliche nun damit, dem alten Mann die Begriffe zu erklären. »Also, ein Mof ist ein Mensch ohne Freund. Klar, oder? Ein Emo ist ein emotionaler Mensch und eine Partybremse ist jemand, der nicht mitfeiert. Eine Gehirnprothese ist ein Taschenrechner und ein Tafelglotzer dasselbe wie ein Streber. Chillen tut man, wenn man sich ausruht; zocken und skypen macht man am Computer.« Etwas erschöpft, aber auch stolz schaute der Junge den alten Mann an. Dieser hatte seinen Ausführungen aufmerksam zugehört und lächelte nun. »Als ich so alt war wie du, gab es diesen Park auch schon; damals schwammen auch Enten auf dem See, die wir Kinder fütterten. Doch von Handy, iPod, Fernseher, DVD und Computer wussten wir noch lange nichts, auch nicht, dass manche von uns Mofs oder Emos waren.«

Mit großen Augen sah der Junge den alten Mann an und fragte ihn: »Was hat man denn damals in seiner Freizeit bloß gemacht, so ganz ohne elektronische Geräte? Nee, da würde ich ja eingehen!« Der alte Mann antwortete schmunzelnd: »Nun, wir Kinder haben uns draußen getroffen, wann immer es möglich war. Wir haben Spiele gespielt oder sind stundenlang durch den Wald gezogen, haben dabei so manches Baumhaus gebaut oder die eine oder andere Höhle erforscht. Und die meisten von uns mussten selbstverständlich zu Hause helfen, viele in der Landwirtschaft der Eltern oder auch beim Betreuen der kleinen Geschwister. Oder wir haben von unseren Vätern und Großvätern gelernt, wie man schöne Gegenstände aus Holz herstellt: Pfeifen schnitzen, Spielsachen oder kleine Möbel bauen.« – »Cool. Dazu hat bei mir zu Hause niemand Zeit. Oma und Opa wohnen weit weg und immer sind meine Eltern mit irgendwas gestresst und ich störe oft nur. Dann bleibe ich lieber in meinem Zimmer und sitze am Computer. Richtig Zeit zum Reden gibt es eh kaum.«

»Mein Junge, das meinen wir oft nur. Wir alle haben genau die Zeit, die wir wirklich brauchen. Aber leider verbringen wir die uns gegebene Zeit viel zu oft mit Dingen, die nicht so wichtig sind. Und das, was wirklich wichtig wäre, wird achtlos beiseitegeschoben. Miteinander reden, einander zuhören und sich gegenseitig Mut zusprechen, wäre sinnvoller, als den Abend vor dem Fernseher oder dem Computer zu verbringen.« – »Schon, aber abends sind meine Eltern zu müde, um lange mit mir zu reden und ziehen sich lieber selbst einen Film rein.«

Der alte Mann schaute den Jungen verständnisvoll an. »Probier’s doch einfach mal aus. Mach du den ersten Schritt und erzähle deinen Eltern einfach, wie dein Tag war. Sie werden sicher erst einmal überrascht sein. Aber ganz bestimmt freuen sie sich, wenn du ihnen zeigst, dass auch du Interesse an ihnen hast. Frag sie auch, wie ihr Tag war. Du wirst sehen, das ist gar nicht so schwer.« Der Junge empfand so etwas wie Hoffnung. »Ja, das könnte sein. Ich find’s cool, dass Sie so auf einer Bank herumsitzen, einfach nur so.« – »Vielleicht sollte man das öfters machen, nicht erst, wenn man schon alt ist wie ich. So ganz ohne iPod, Handy oder Laptop«, meinte der alte Mann und schmunzelte. – »Ja, vielleicht haben Sie recht«, gab der Junge nachdenklich zur Antwort.

Wie im Fluge war den beiden die Zeit vergangen. Eine Stunde später standen sie auf und gingen beide ihrer Wege. Beide ihren eigenen Gedanken nachhängend, beide ein klein wenig verändert.

Die Ruhe nach dem Sturm

Leise vor mich hinsummend schob ich den Staubsauger durch unsere Wohnung. Die Kinder waren in der Schule und würden erst in ein paar Stunden nach Hause kommen. Der Morgen hatte mit einem wunderschönen Sonnenaufgang begonnen, die Sonne am strahlend blauen Himmel hatte die Frühlingsluft bereits erwärmt. Vom Wohnzimmer aus sah ich direkt in den Garten hinaus, wo die ersten zartgrünen Blättchen an den Büschen und Bäumen sichtbar wurden und die Narzissen und Tulpen dicke Knospen zeigten.

Gut gelaunt machte ich mich daran, den Fußboden zu wischen. Die Kaffeemaschine brodelte und zischte, und ein herrlicher Kaffeeduft erfüllte die Wohnung. Ich nahm mir vor, gleich ein Päuschen zu machen und mich mit einer Tasse Kaffee gemütlich aufs Sofa zu setzen. Doch plötzlich wurde meine Ruhe durch ein stürmisches Klingeln an der Haustür abrupt unterbrochen. Normalerweise würde unser Hund nun auch Sturm bellen, und ich wunderte mich kurz, dass er weder zu hören noch zu sehen war. Ich beeilte mich, die Tür zu öffnen und sah zuerst unsere Dalmatiner-Dame, die mit gesenktem Kopf hereintrottete. Sie war wieder einmal ausgerissen und wusste genau, dass sie das nicht sollte. Hinter ihr stand wutschnaubend und mit zornrotem Gesicht unser Nachbar, Herr Gassenmeier. Er hielt es gar nicht erst für nötig, mich zu begrüßen. Stattdessen legte er gleich mit seiner Schimpforgie los: »Können Sie nicht besser auf Ihren Hund aufpassen? Wieso lassen Sie ihn überhaupt allein herumlaufen? Ausgerechnet in meinem Garten musste er sein Geschäft verrichten! Wenn das noch einmal vorkommt, gehe ich zur Polizei und zeige Sie an!«

Herr Gassenmeier wohnte eine Straße weiter. Beinahe lächerlich war es, wie er da vor mir stand – an diesem Vormittag, der schöner nicht hätte sein können. Die Sonne schien warm, der Himmel war strahlend blau, die Vögel zwitscherten fröhlich ihre Liedchen, und vor mir tobte der Nachbar, weil unsere Hündin seinen Vorgarten mit einem Häufchen versehen hatte. Sie hatte offensichtlich die Gelegenheit zu einem kleinen Spaziergang genutzt, als die Haustür kurz aufgestanden hatte, weil der Postbote bei uns geklingelt hatte. Daraufhin musste sie schnurstracks in den Garten von Herrn Gassenmeier gerannt sein, um anschließend gleich wieder nach Hause zu laufen, dicht gefolgt von besagtem Nachbarn. Und nun stand er vor mir, vor lauter Aufregung hatte er beinahe genauso viele Flecken im Gesicht wie unser Dalmatiner. Bevor ich etwas erwidern konnte, war Herr Gassenmeier auch schon wieder davongestampft. Ich machte erst einmal die Haustür zu und begann zu überlegen. Eigentlich kam mir seine Reaktion völlig übertrieben vor. Doch so wollte ich die Situation nicht stehen lassen. Das war schon irgendwie eigenartig. Seit Tagen nämlich beschäftigte mich der Bibelvers: »Eine linde Antwort stillt den Zorn« (Sprüche Salomos, Kapitel 15, Vers 1). Gerade am Sonntag zuvor hatte unser Pfarrer sogar darüber gepredigt. Nun hatte ich ganz unverhofft die Gelegenheit, diese Lebensweisheit der Bibel praktisch anzuwenden. Doch im ersten Moment war ich zutiefst verletzt und wütend darüber, wie ich gerade behandelt worden war. Mein erster Gedanke war, diesem Nachbarn ordentlich die Meinung zu sagen. Was bildete er sich überhaupt ein, so mit mir zu reden? Wie konnte er das nur wagen? Noch dazu mit einer Frau? Nein, nach einer »linden« Antwort war mir wirklich nicht zumute. Doch ich wollte es zumindest probieren, allen Emotionen zum Trotz. Entschlossen und mit einem Stoßgebet auf den Lippen ging ich los, in der Hand ein Schäufelchen und einen Plastikbeutel, um den »Stein des Anstoßes« aus dem Garten des Nachbarn zu entfernen.

Eigentlich kannte ich Herrn Gassenmeier nicht wirklich und hatte deshalb keine Ahnung, mit wem ich es da eigentlich zu tun hatte. Doch das war ja auch nicht so wichtig. Ich wusste nun, was ich zu tun hatte und klingelte an seiner Haustür. Bevor er nun irgendetwas sagen konnte, entschuldigte ich mich bei ihm und bat ihn um Verzeihung. Ich versprach ihm, dafür zu sorgen, dass unser Hund nicht mehr in seinen Garten machen würde – und selbstverständlich würde ich die verschmutzte Stelle gleich säubern.

Die Verwandlung, die sich innerhalb von Sekunden in ihm vollzog, war beeindruckend. Ich konnte förmlich zusehen, wie sich seine verbitterten Gesichtszüge glätteten und meine Worte direkt in sein Herz trafen. Das hatte ich so noch nie erlebt. Er blieb zunächst sprachlos, und ich machte mich daran, besagtes Häufchen zu entfernen. Als ich gerade gehen wollte, kam er mir hinterhergelaufen und bat nun seinerseits mich um Entschuldigung: »Sie müssen entschuldigen, ich war wohl etwas gestresst und habe überreagiert. Normalerweise bin ich nicht so unfreundlich.«

Eine linde Antwort stillt den Zorn. Ich wurde erfüllt von Staunen und Dankbarkeit über die Weisheit dieser Worte. Hätte ich meinem eigenen Impuls nachgegeben und so reagiert, wie mir eigentlich zumute war, hätte es nur noch mehr Ärger oder Streit gegeben. So ließ ich jedoch einen nachdenklichen und leicht beschämten Nachbarn zurück und war dankbar für diese Wendung, die die Ruhe nach dem Sturm wiederherstellte.

Karl der Lachende

Kann es sein, dass jemand lachen kann, obwohl es eigentlich gar nichts zum Lachen gibt? Jemand, der trotzdem lacht, obwohl seine äußeren Lebensumstände bei anderen Menschen große Unzufriedenheit und tiefen Frust hervorrufen würden? Einen solchen Menschen habe ich vor vielen Jahren kennengelernt. Dieser Mensch hieß Karl.

Kurz nach dem Mauerfall fuhren mein Mann und ich im alten VW-Käfer meiner Oma nach Ostdeutschland. Dort hatten wir Verwandte, die wir so gut wie nicht kannten; nur aus Erzählungen meiner Eltern und von Briefen, die wir uns während der DDR-Zeit geschrieben hatten. Doch nun war der Weg frei, und wir konnten Tante Gisela endlich einmal besuchen.

Als mein Mann und ich nun im Januar 1990 zu Tante Gisela kamen, bot sich uns so kurz nach dem Mauerfall ein tristes Bild. Die Stadt war geprägt von großen Schwefelwerken, die aus hohen Schornsteinen ihren schmutzigen Rauch jahrzehntelang auf die ganze Umgebung verteilt hatten. Der Geruch des Schwefels lag drückend in der Luft, sogar aus den Schächten am Straßenrand stieg der stinkende gelbliche Schwefeldampf heraus.

Die Straßen waren mit Schlaglöchern übersät, sodass eine Autofahrt eher einer Holperfahrt gleichkam. Die Häuser hatten alle dieselbe Farbe, nämlich ein schmutziges Einheitsgrau, und waren alle renovierungsbedürftig. Wir fühlten uns um Jahrzehnte zurückversetzt, als wir mit unserem Käfer durch die Straßen fuhren und schließlich vor dem schweren alten Holztor standen, das auf den Hof von Tante Gisela führte.

Tante Gisela war etwa 70 Jahre alt, doch sie sah wesentlich älter aus. Ihr Leben lang hatte sie hart gearbeitet und bewirtschaftete immer noch den alten Bauernhof, auf dem sie seit ihrer Kindheit lebte. Ihr Leben war entbehrungsreich gewesen; sie war es gewohnt, mit dem Allernötigsten auszukommen und damit zufrieden zu sein. Sie hatte nie geheiratet und irgendwann ihren Onkel Karl bei sich aufgenommen, nachdem dessen Frau gestorben war. Platz hatte sie genug in ihrem großen alten Haus.

Wir wurden herzlich von ihr empfangen und gleich in die gute Stube geführt, wo im Kamin ein Feuer wohlige Wärme verbreitete und die Holzscheite gemütlich knisterten. Der Wohnzimmertisch war zur Kaffeetafel umfunktioniert worden und Tante Gisela hatte ihr bestes Geschirr aus dem Schrank geholt, das sie sonst nur an Festtagen benutzte. Gleich mehrere Kuchen hatte sie gebacken und während sie den Kaffee einschenkte, forderte sie uns auf, beherzt zuzugreifen und es uns schmecken zu lassen. Als wir gerade das erste Stück Kuchen aufgegessen hatten und Tante Gisela eifrig jedem von uns ein zweites Stück auf den Teller legte, ging die Tür auf und ein alter Mann kam leicht schlurfend ins Wohnzimmer. Er hatte einen dicken, roten, selbst gestrickten Wollpullover und eine alte verwaschene Latzhose an. Auf dem Kopf trug er eine Seemannskappe, seine Füße steckten in ausgetretenen Filzpantoffeln. Tante Gisela stellte ihn uns vor: »Das ist Onkel Karl.« Und zu ihm gewandt sagte sie: »Na, Onkel Karl, hast du die Hühner schon gefüttert oder soll