Über Andrea Volk

Andrea Volk, Jahrgang 1964, lebt in Köln. Sie ist einem großen Publikum als Kabarettistin und Moderatorin bekannt. Auf den Hengst gekommen ist ihr Krimi-Debüt.

Kapitel 1

Dorndorf im Mai, Sonntagmorgen

Ich drückte mich behaglich in den Strohballen der Scheune vom »Weideland«, genoss das zarte Dämmerlicht und die saftigen Heugerüche und nutzte beides, um den strengen Körpergeruch des polnischen Stallburschen auszublenden. Eigentlich hatte ich nur ein bisschen Stroh für mein Pferd D’Artagnan mopsen wollen, aber nun saß ich hier im Namen der Völkerverständigung. An einem Sonntag um acht Uhr morgens, weil es noch schön kühl war. Und ich gestern Abend um zehn ins Bett gegangen war, aus Müdigkeit, wie ich mir einredete, aber in Wirklichkeit war ich nur einsam.

»Prost«, sagte ich. Die Wodkaflasche kreiste zwischen dem Polen und mir wie ein missgestalteter Amor. Durch das Scheunentor sah ich andere Frühaufsteher aus ihren Autos steigen und zu den Pferdeboxen gehen. Die nette Denise schob still eine volle Schubkarre zum Misthaufen, entleerte sie und lehnte sie aufrecht an die Holzplanken, die den Misthaufen begrenzten. Der letzte Morgentau lag wie ein zarter Schleier über der Szene und verflüchtigte sich im Sonnenlicht.

Das Leben hier in Dorndorf im Umland Kölns hatte deutlich mehr zu bieten als meine einsame Wohnung in der Innenstadt mit einigen noch immer unausgepackten Kisten und dem leeren Bett. Ich zwinkerte dem Polen zu. Er zwinkerte auch, aber vielleicht war er auch nur müde. »Da-Ri-Us!«, hörte ich Bauer Helmut brüllen. »Wo du bist?« Der Pole zuckte hoch, warf einen panischen Blick in Richtung Scheunentor und ließ die Wodkaflasche schnell zwischen zwei Strohballen verschwinden, wo sie sich fröhlich klimpernd einigen leeren Artgenossen zugesellte.

»Darius! Du Füttern! Jetzt schon spät! Acht Uhr!«, rief Bauer Helmut, dessen kleine gedrungene Gestalt mit dem blonden Scheitel über einem allzeit leicht geröteten Gesicht im Scheunentor auftauchte. Bauer Helmuts Gesicht war meistens leicht gerötet, vermutlich, weil es sich abgewöhnt hatte, zwischen zwei Wutanfällen wieder hell zu werden. Lohnte sich nicht. Gerade kam der nächste Anfall, ich sah es am Blitzen seiner blauen Augen. »Sandra!«, rief er zornig und schüttelte eine Mistgabel. »Was machst du denn hier?«

»Och«, sagte ich, das kann man immer mal sagen. »Ich mach gerade Päuschen mit Darius, der muss ja auch mal ausruhen von der ganzen Plackerei. Zäune ziehen, Hof fegen, misten, füttern …«, endete ich etwas lahm. Bei Bauer Helmut begann eine Ader auf der Stirn zu pochen.

»Leg mal ne andere Platte auf!«, brüllte er, allerdings weniger laut als sonst, seine Art der Höflichkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht. »Die sollten längst alle gefüttert sein, die Gäule. – Sag mal, riecht dat hier nach Alkohol? Da-Ri-Us! Du besoffen wieder?« Darius legte den Rückwärtsgang ein und krebste Richtung Futtermaschine, in der der Hafer zu jeder der drei Pferdemahlzeiten am Tag frisch gemahlen wurde, bevor Bauer Helmut, je links und rechts ein Eimerchen an der Hand, die Außenboxen des alten Bauernhofs abmarschierte, um etwa vierzig Pferde mit Kraftfutter zu versorgen. Ich bemühte mich, aufrecht zu sitzen und nüchtern zu wirken.

Bauer Helmut marschierte drohend auf Darius zu.

»Du mich anpusten!«, rief er und hob drohend die Rechte, an deren kleinem Finger ein Verband prangte wie ein zusätzliches Ausrufezeichen. »Nichts getrunken wir haben«, erklärte ich von meinem Strohballen wie Yoda aus Krieg der Sterne. Ein gellender Ruf erlöste uns von der drohenden Inspektion durch die Sturmtruppen in Form eines kleinen wütenden Bauern.

»Kommt mal schnell, der Ferdi liegt in seiner Box und bewegt sich nicht mehr«, plärrte eine Stimme quer über den Hof, die ich als Biggys identifizierte. »Kommt mal schnell, der liegt da so komisch und da ist auch Blut!«

Bauer Helmut reagierte als Erster, mit steigendem Bluthochdruck verfärbte sich sein Gesicht schlagartig in einen ungesunden Rotton, der normalerweise einen Wutanfall ankündigte; er warf die Mistgabel, die er in der Hand hielt, zu Boden und setzte seinen stämmigen Körper mit erstaunlicher Geschwindigkeit in Bewegung. Ich sprang von meinem Strohballen und schwankte ihm hinterher. Im Hof sah ich Achtzigerjahre-Thomas eine mit Pferdeäpfeln hochbeladene Schubkarre vorm Misthaufen abstellen. Wir warfen uns einen erschrockenen Blick zu.

»Die hat sich bestimmt vertan, die Biggy«, keuchte Achtzigerjahre-Thomas, brachte seinen schlaksigen Körper auf den dünnen Beinen jedoch trotzdem erstaunlich schnell in Bewegung. Aus den Augenwinkeln sah ich den schönen Tim rasch seinen Braunen mit dem Halfterstrick am Anbindebalken festmachen, bevor er Bauer Helmut, Achtzigerjahre-Thomas und mir hinterhersprintete. Die stille Denise bog um die Ecke, die grauen Augen schreckgeweitet und schloss sich uns wortlos an. An einem Frühlingstag war sonntags um acht Uhr auf einem Pferdehof schon erstaunlich viel los. Ein blutendes Pferd passte nicht in die ländliche Idylle.

Unser eiliger kleiner Trupp stürmte an dem alten Bauernhaus vorbei zu den Boxen, in denen die Friesenhengste untergebracht waren. Vier prächtige, etwa siebenhundert Kilogramm schwere, nachtschwarze Tiere mit muskulösen mächtigen Hälsen und dem typischen »Behang« aus langen Haaren an den Fesseln. Prämierte Hengste und Stars von Pferdeshows wie der Dreams of Horses, die dem normalen Zirkusbetrieb den Rang abgelaufen hatten.

Jedes dieser herrlichen Tiere war fünfzigtausend Euro und mehr wert, wie mir die Besitzerin und Trainerin Katharina stolz erzählt hatte. Ich schätzte Katharina auf etwa sechzig Jahre; eine für ihr Alter erstaunlich gutaussehende blonde Frau; sportlich, durchtrainiert und offenbar mit einem ansehnlichen Vermögen gesegnet.

Eine gravierende Verletzung oder gar der Tod des eigenen Pferdes ist für jeden Besitzer ein emotionales Desaster; im Falle eines fünfzigtausend Euro teuren Hengstes wäre ein solches Unglück zugleich eine finanzielle Katastrophe. Wehe dem Schuldigen.

Darum wechselte Bauer Helmut, der vor uns zu den Friesenboxen stürmte, seine Gesichtsfarbe beständig zwischen weiß und rot. Hatte sich das blutende Pferd an einer der rostigen Eisenstangen verletzt, die in Höhe des Gesichtsfeldes seine Box und seine Freiheit begrenzten? Die Boxen waren gerade so groß, dass sich die Hengste einmal um sich selbst drehen konnten.

Der Anblick der friedlichen schwarzen Kolosse, auf engstem Raum eingepfercht, war für mich ohnehin schwer zu ertragen. Ich stolperte über den unregelmäßig asphaltierten Hof und hörte meine Angst als Rauschen des Blutes in meinen Ohren. Wir bogen um die Ecke, die Hengstboxen lagen direkt vor uns. Ich stoppte abrupt. Bauer Helmut zerrte ruckartig an der Verriegelung der alten Boxentür, ohne Rücksicht zu nehmen auf seinen verletzten Finger. Sie öffnete sich stockend und quietschend und gab den Blick auf das Innere der Box frei. Leise hörte ich Biggy schluchzen. Die Fünfundzwanzigjährige hielt ihren kleinen Kopf mit dem wuscheligen Kurzhaarschopf in den Händen verborgen. Bauer Helmut sagte nichts. Der schöne Tim neben mir räusperte sich verstohlen.

Achtzigerjahre-Thomas gab ein unwillkürliches Stöhnen von sich. Die beiden hochgewachsenen Männer konnten über Bauer Helmut hinweggucken. In den vertrauten Duft nach Heu und Pferdemist mischte sich der kupfrige Geruch von Blut. Stumm bildeten wir einen Halbkreis. Erst auf den zweiten Blick erkannte ich die Quelle des Blutgeruchs. Ein klaffender Schnitt, wie ein hässlicher Mund mit schmalen Lippen, an den Rändern war das Fleisch hell. Das aus der Wunde geströmte Blut war geronnen und auf dem nachtdunklen Fell des Friesen kaum auszumachen; schwarzen Tränen gleich hatte das Blut das Stroh benetzt und dunkel gefärbt. Der Tod musste vor Stunden eingetreten sein. Wie in einem letzten Aufbegehren gegen die Enge der Gefangenschaft drückten sich die mächtigen Hufe gegen die Boxenwand. Die Augen waren gebrochen und starrten unter halbgeschlossenen Lidern in Richtung eines kümmerlichen restlichen Heuhaufens. Was hatte das Tier nur so schwer verletzt? Weder klebte an den rostigen Eisenstangen Blut, noch lag ein Messer im Stroh. Ich starrte auf die schwarzen Tränen und den kleinen Haufen Heu.

Vielleicht weil Ferdi nicht mal seine Henkersmahlzeit hatte auffressen können nach einem nicht allzu glücklichen Leben, vielleicht wegen des Verlusts meines Liebhabers und meiner alten Heimat Frankfurt oder wegen der Tatsache, dass Köln außer diesem schlichten Hof noch immer nichts zu bieten hatte für mich und selbst dieses kleine Refugium nun besudelt war, vielleicht waren es auch Bauer Helmuts Worte: »Was für eine Schweinerei – aber am Stall hat’s nicht gelegen! Am Stall hat’s nicht gelegen – hier nix, alles heil!«, aber hauptsächlich wegen der Stille, da, wo Leben sein sollte: Ich brach in Tränen aus, und nichts konnte mich für den Moment beruhigen.

Kapitel 2

Köln, Sonntagabend am selben Tag

Ich ließ mich schwer aufs Sofa fallen und versuchte das Chaos in Hirn und Wohnzimmer auszublenden. Der Spiegel an der Wand reflektierte mein müdes Gesicht unter der dunkelblonden Mähne. Schmal, mit großen Augen und vollen Lippen, in der Mitte eine Adlernase, die wohlmeinende Mitmenschen als markant bezeichneten. Mein Ex-Max hatte es bei einem Mittelmeerausflug anders ausgedrückt: »Vorsicht beim Rückenschwimmen – sonst geben die Hai-Alarm.«

Max.

Nicht noch eine Baustelle für meinen armen Kopf.

Immer noch standen unausgepackte Umzugskartons vor der nackten Wand; viereckige braune Pappbehälter, schmucklos und hässlich wie ein Mahnmal für Dekorations-Idioten. Aber meine ungemütliche neue Wohnung interessierte mich im Moment nicht.

Mein Herz und meine Gedanken waren bei dem toten Ferdi. Weder Katharina noch ihr Mann Fritz oder ihrer beider Freund, den alle nur »den Paten« nannten, weder dessen bockwurstlippige Freundin noch die Ankunft der Polizei, die nach Spuren suchte, hatten Licht in das Dunkel um den Tod des Hengstes gebracht.

Hatte sich tatsächlich einer dieser psychotischen Tierquäler, über deren Grausamkeiten immer wieder in den Zeitungen berichtet wurde, auf den Hof geschlichen und das Pferd abgeschlachtet? Wer sonst hatte ein Interesse daran, das Tier zu töten? Wollte jemand Katharina, Fritz und dem Paten schaden? Oder war einer der liebevollen Pferdehalter vom Hof in Wirklichkeit ein grausamer Ripper? Aber wer? Achtzigerjahre-Thomas? Die nicht ganz so helle Biggy, die das tote Tier gefunden hatte? Der schöne Tim? Nach dem grausigen Fund war ich wie von Sinnen zu D’Artagnan gelaufen, meinem Pferd, das mich mit der üblichen Unbekümmertheit und Verfressenheit begrüßt hatte. Meinem Tier ging es gut. Aber wie lange noch? War der Hof sicher? Oder musste ich diese kleine Wurzel, die ich in Köln getrieben hatte, auch schon wieder kappen?

Ein Rascheln hinter meinen Umzugskartons. Ich fragte mich, ob man es schon als Dekoration durchgehen lassen könnte, dass ich das Katzenklo von First Katzi hinter den Kisten versteckt hatte. Der Katzenkloeingang klapperte. Scharren. Lauteres Scharren. Explosionsartige Geräusche von fliegender Klumpstreu, ein regelrechter Bombenhagel von Klumpstreu. Dann Stille. Dann der Geruch. First Katzi hatte eine sehr gesunde Verdauung, wie eigentlich alle meine Tiere, also die Katze genauso wie die Nymphensittiche aus der Küche, Käpt’n Gelb und Commander Grau, und natürlich meine neuste Errungenschaft, das eigensinnige Pferd D’Artagnan.

Genauer betrachtet, waren mir in meinem fünfunddreißigjährigen Dasein ein Haufen gestörter Kerle zugelaufen und jetzt on top die Bremer Stadtmusikanten. Das Pferd ging, eigensinnig wie es war, als Esel durch, die Katze war die Katze und statt des Hahns hatte ich die zwei gefiederten Blödmänner aus der Küche. Und der vierte Bremer Stadtmusikant war ich: eine Mittdreißigerin, die den anderen hinterherwischte. Wie ich es bei meinem Ex getan hatte. Bei dem Gedanken an Max zuckte mein Herz verräterisch. Frankfurt war weit weg, und – wie es Klaus Wowereit formuliert hätte – das war auch gut so.

Klumpstreuexplosionen und Rumpeln hinter den Umzugskartons verkündeten, dass First Katzi erfolgreich ein großes Geschäft abgeschlossen hatte und sich jetzt sozusagen scharrend selbst applaudierte. Tier müsste man sein und mit den einfachen Dingen im Leben zufrieden. Die Katzenkloklappe knallte auf. Wie ein schwarzer Blitz schoss First Katzi hinter den Umzugskartons vor, raste über das Sofa, trampelte über meine Beine und verschwand in Richtung Küche, vermutlich um nachzusehen, ob die Sittiche zum Abschuss freigegeben oder in der sicheren Bastion ihres Käfigs eingesperrt waren.

Die Nymphen hatte ich in einer dunklen Bude aufgesammelt. First Katzi war die Hinterlassenschaft einer verstorbenen Nachbarin. Angeblich sucht man sich Tiere nicht aus, sondern Tiere suchen ihre Besitzer, respektive gutes Personal. Auf mich traf das jedenfalls zu. Selbst kranke Tauben setzten sich gerne vor meine Haustür, um sich gesund pflegen zu lassen. Wahrscheinlich hatte ich irgendwo ein für das menschliche Auge unsichtbares »Hier wohnt ein Idiot«-Zeichen an der Tür.

 

Meine neuste Errungenschaft, das Esel-Pferd, hatte ich ebenfalls gegen den Einspruch meines Verstandes gekauft. Die ehemalige Besitzerin Biggy hatte dringend Geld gebraucht, und D’Artagnan hatte sich im Laufe der letzten Monate unbemerkt in mein Herz gestohlen. Was nicht schwer war, weil es ohnehin unbenutzt rumlag.

Ich kuschelte mich ins Sofa, drückte mein Kissen im Rücken zurecht und suchte nach der Fernbedienung. Mein Blick fiel auf die zerfledderte Tapete neben der Tür, an der First Katzi ihren letzten Wutanfall über einen missglückten Mordversuch an den Vögeln ausgelassen hatte. Vielleicht könnte ich auch ein bisschen an der Tapete kratzen und mir vorstellen, Max umzubringen. Wir können viel von Tieren lernen.

 

Toll, da saß ich nun. Allein in meiner neuen Heimatstadt Köln. In einer Wohnung, die ein halbes Jahr nach dem Einzug noch unbewohnt wirkte. Und in der zwischen Wohnzimmer und Küche ein Grenzkonflikt israelisch-palästinensischen Ausmaßes tobte, dazwischen ich, sozusagen als Blauhelmsoldat. Ich überprüfte den Inhalt meines Kühlschranks und holte mir ein Kölsch. Immerhin war eins drin. Es gab Tage, da war nichts im Kühlschrank, nur Licht und Senf.

Gedankenverloren strich ich über das kühle Glas und guckte aus dem Küchenfenster. Der Dom war in der Dunkelheit nicht auszumachen, noch viel weniger das Gewerbeamt. Zentrum von Innovation und Kreativität und Stätte meines neuen Wirkens. Ein selbst gewähltes Schicksal: So wie Mönche manchmal ins Exil gehen, hatte ich als Kreative das Gewerbeamt gewählt.

Ich trank einen Schluck Bier und deckte den Vogelkäfig zu, in dem die Nymphen leise und verschlafen zirpten. Eine einsame Wohnung, ein doofer Job, statt Kuschelfaktor zwei Konfliktparteien und ein Pferd, das ich mir eigentlich nicht leisten konnte. Und jetzt trieb möglicherweise ein psychopathischer Ripper auf Hof Weideland sein Unwesen. Und als wäre dieses Möchtegern-neues-Leben nicht schlimm genug, als Gratiszugabe mein Herz, das sich immer noch, dem Hirn zum Trotz, nach Max sehnte.

Ich nahm ein Glas Nutella vom Küchenregal und einen Löffel aus der Schublade. Ein probates Mittel gegen Liebeskummer. Ich versicherte mich, dass Palästinas Heimstatt sicher verschlossen war, klemmte mir das protestierend maunzende Israel unter den Arm und wechselte zurück ins Wohnzimmer. Tatort gucken. Blicke, Streichermusik und dazu zwei gewaltfreie Kommissare. Lieber wäre mir ein Schimanski. Schimanski trat Türen sogar ein, wenn sie offen standen. Würde Schimanski den Pferdekiller zur Strecke bringen? Indem er ganz Dorndorf niederschlug in der Hoffnung, dass der Täter dabei war? Wie viel Schimanski steckte in mir? Ich war doch auch ein Raubein, ein Lonesome Wolf. Ich lutschte an meinem Nutella-Löffel, wie wir Wölfe es gerne tun. Schimanski würde nicht an einen Zufall glauben. Oder einen Ripper. Er würde sich die Typen einzeln vorknöpfen, die auf dem Hof rumgeistern. Fäden entwirren. Motive suchen. Und zum Schluss Türen und Gesichter eintreten.

Mechanisch streichelte ich Katzi, die gemütlich neben mir die Kuscheldecke trampelte. Aus der Küche kam das leise Zirpen der gefiederten Blödmänner. Meine Augen ruhten auf dem Möchtegerntatort, aber mein Hirn sortierte das Puzzle, rückblickend Leben genannt. Kennengelernt hatte ich Bauer Helmut, Pole Darius, Biggy, Achtzigerjahre-Thomas und mein Pferd D’Artagnan im vergangenen November.

Kapitel 3

Hof Weideland im November, ein halbes Jahr zuvor

»Das ist Weizen!«, schrie Bauer Helmut mich an und streckte mir eine kleine getrocknete Garbe Pflanzen entgegen. »Weizen! Von dies’ Jahr Herbst! Nicht Blumen!«, brüllte Bauer Helmut noch, bevor er die Garbe sorgsam in der Ecke der Scheune verstaute, Futtereimer und Schaufel griff, und voller Verachtung über die Blödheit der Städter im Allgemeinen und mir im Besonderen davonmarschierte. Beeindruckt musterte ich seinen wutroten Hinterkopf, der durch das blonde Haar hindurchschimmerte. »Ich hab doch nur einen Witz gemacht«, rief ich ihm lahm hinterher.

Wer konnte denn ahnen, dass man einen Bauern, der stolz seinen Weizen inspiziert, mit der simplen Frage: »Oh Blumen, sind die für mich?« auf die Palme bringen würde. Damals wusste ich noch nicht, dass Bauer Helmut sozusagen auf der Palme wohnte.

Kein Wunder, dass er mich nicht ernst nahm. Ich sah aus wie ein Idiot. In eine alte Regenjacke gehüllt, die Jeans in gelbe Gummistiefel gestopft, ähnelte ich bestenfalls der Persiflage eines Reiters. Oder einer dieser Fünfunddreißigjährigen, die unbedingt wie sechzehn aussehen wollen. Bestenfalls albern.

Ich guckte mich zögernd um. Hof Weideland entsprach nicht wirklich seinem Abbild im Internet, aber im November ist eben alles ein bisschen scheußlicher, meine Depressionen eingeschlossen. Gegenüber der imposanten, baufälligen Scheune, in der Heu- und Strohvorräte lagerten, dampfte ein riesiger Misthaufen, notdürftig von verrottenden Holzplanken gehalten. Die meisten Außenställe, die sich im Halbkreis um Scheune und Misthaufen anordneten, lehnten windschief aneinander. Durch einige notdürftig geflickte Dächer tropfte Regen. Manche Boxen hatten einen Auslauf, genannt ›Paddock‹, in dem Pferde mit hängenden Köpfen dösten oder auf die umgebenden Äcker starrten. Braun und matschig lag die Erde offen da, als würde sie sich nach der Saat im Frühjahr sehnen. Ein Bachlauf durchschnitt die Felder, umsäumt von Bäumen, an deren Ästen sich die letzten Blätter gegen den Wind stemmten.

Hof Weideland schmiegte sich in die Felder Dorndorfs, einem winzigen Dorf im Umland Kölns, mitten im Rheinisch-Bergischen Kreis. In Dorndorf selbst schien die Zeit stehen gruppierten sich geblieben zu sein: Zweifamilienhäuser und alte Katen gruppierten sich im Kreis um eine katholische Kirche, die dörfliche Gemeinschaft war geprägt von tiefer gelegten Golfs, bürgerlichen Schnitzelhäusern, Schützenverein und Feuerwehrfest. Die Kids trugen die Kappen mehrheitlich mit dem Schirm nach hinten gedreht, hießen Dennis, Kevin oder Jacqueline und trafen sich aus Mangel an Alternativen am Hähnchengrill vom REWE-Markt oder an der Bushaltestelle. Die Einwanderer aus Bulgarien, Polen und Rumänien arbeiteten in der umgebenden Landwirtschaft und wurden abends vorschriftsmäßig unsichtbar.

Dort, mitten in Dorndorf, wohnte auch Bauer Helmut mit seiner Familie, in einem angepasst schmucken Haus. Ein holpriger, nur teilweise geteerter Weg führte aus Dorndorf hinaus auf die Äcker und Felder. Und dort, mitten im Grünen, etwa einen Kilometer entfernt von Bauer Helmuts Haus, lag Hof Weideland.

Nur mittels Durchfragen hatte ich den Hof überhaupt gefunden.

Ich blickte mich weiter um. Ein großer Außenreitplatz mit sandigem Boden, durch Holzpfosten abgetrennt. Der Eingang aktuell durch eine Strippe gesperrt, vermutlich wegen der großen Pfützen, die den Reitplatz in ein sandiges Schwimmbad verwandelt hatten. Am anderen Ende des Hofs zwei Longierplätze und eine kreisrunde Anlage von etwa dreißig Meter Durchmesser. Ich lief zögernd an der Scheune entlang und begutachtete die Führmaschine, in der Pferde durch Gitter voneinander getrennt im Schritttempo liefen. Ein großes Problem bei der Boxenhaltung von Pferden ist der Bewegungsmangel; die Führanlage ermöglichte es, zehn Pferde gleichzeitig laufen zu lassen – wenn auch nur im Kreis. Eins der Tiere berührte ein Gitter, es knallte, und das Pferd sprang erschrocken vorwärts, bevor es zurück in einen gemächlichen Schritt fiel. Auf den Gittern war Strom.

Ich bog um die Ecke. Noch mehr Boxen, in vier davon riesige schwarze Kolosse. Die Boxen waren gerade mal längs und breit so groß wie die Tiere selbst. Trotzdem wirkten sie entspannt und knabberten Heu. Große Augen mit dichten langen Wimpern, die mich genauso neugierig musterten wie ich sie. Leises Schnauben. Über allem der vertraute, warme erdige Pferdegeruch.

 

Eine kleine Reithalle. Ich spähte vorsichtig über die Bande. Eine Reiterin, Mitte zwanzig schätzte ich, auf einem braunen Pferd und ein großer schlaksiger Kerl um die vierzig, dunkelbraune Haare, auf einem großen Schimmel. Die beiden schauten kaum auf, nickten nur freundlich zu mir herüber. Die Szene hatte etwas Friedliches. Das Schnauben, der gedämpfte Klang der Hufe auf dem dicken Sandboden. Die Konzentration der Reiter auf ihre Tiere. Ich spürte, wie ich mich entspannte, vielleicht das erste Mal seit Wochen. Oder sogar Monaten, wenn man die Zeit mit Max mitrechnete.

Hier in der Halle konnte man also reiten, wenn Regen und Winter den Außenplatz unbrauchbar machten. Als er auf meiner Höhe war, hielt der braunhaarige Mann mit den dünnen Beinen den Schimmel an. Ich war froh, dass die hohe Bande mein Outfit inklusive Gummistiefeln versteckte.

»Hallöchen«, sagte er mit sonorer freundlicher Stimme, einer Stimme, die ein wenig zu sonor war, um nicht aufgesetzt zu wirken.

»Alles Klärchen?«, fragte der Mann. »Ich bin Thomas Kobnisch, bist du neu hier?« »Äh, ja, vielleicht«, sagte ich. »Ich hab früher mal geritten und na, hab eine Annonce vom, wie heißt das hier, Hof Weideland, gesehen. Und da stand, dass jemand eine Reitbeteiligung für sein Pferd sucht und da …«, schloss ich lahm. Ganz offensichtlich hatte ich beim Umzug aus Frankfurt vergessen, meine Rhetorik einzupacken. Thomas lachte, herzlich und sonor, und tätschelte seinem Schimmel den Hals.

»Alles coolywooly«, sagte er, »da kommst du genau richtig – guck mal, die Biggy, dahinten, die trabt mit dem D’Artagnan, die sucht jemanden, der … ach du je, Vorsicht Biggy!«

Das Pferd hatte offenbar etwas ganz Furchtbares in der Ecke gesehen, etwas, das menschlichen Augen allerdings verborgen blieb, jedenfalls machte es mitten im Trab eine Vollbremsung, brach dann in einer sauberen Neunzig-Grad-Wendung in hektischem Galopp unter der Reiterin weg und verwandelte sich binnen Sekunden von einem friedlich dahin trottenden Braunen in eine haarige Furie, die wild buckelnd quer durch die Halle schoss. Biggy kämpfte zwei, drei Bocksprünge lang um ihr Gleichgewicht, bevor sie seitlich vom Pferd rutschte, mit einem vernehmlichen Plumps auf dem Boden aufprallte und auf dem weichen Hallenboden ausrollte.

»Biggy! Alles Klärchen?«, rief Thomas, den ich in dem Moment heimlich ›Achtzigerjahre-Thomas‹ taufte. »Diese Scheißkrücke!«, brüllte die mädchenhaft wirkende Biggy, stand auf und rieb sich Beine und Po. Das Pferd war stehen geblieben und musterte sie aus sicherer Entfernung mit hängendem Zügel und entspanntem Gesicht. Ein hübscher Brauner mit schmalem Kopf, der auf Vollblutanteile schließen ließ, klugen dunklen Augen, schwarzer Mähne und schwarzem Schweif.

»Guck mal«, sagte Achtzigerjahre-Thomas, strich sich über das braune Haar und deutete auf das Pferd, »das ist dein neues Pflegepferd.«

»Oh«, sagte ich und musterte misstrauisch das hübsche Tier, »der ist aber süß. Wie heißt der – ›Jekyll und Hyde‹?«

Achtzigerjahre-Thomas lachte sein volles, sonores Lachen. »Nein, D’Artagnan, und er ist normal ganz lieb.«

Diese Sorte Sprüche kannte ich von der Hundewiese. Noch wenn sich der Rottweiler in dein Bein verbissen hat, behaupten die Besitzer, »der will ja nur spielen!«.

»Der will ja nur spielen«, rief Biggy in dem Moment und humpelte zu ihrem Pferd, an dessen Zügel sie dann aber doch heftig riss und ihm mit der Gerte eins überzog, sodass D’Artagnan den Kopf hochriss und erschrocken nach hinten ruckte.

»Mistgaul, verdammter!«, rief sie. »Bestrafen muss man ihn dann schon, er muss ja wissen, dass er was falsch gemacht hat.«

Ja, dachte ich, aber nicht erst zehn Minuten später. Da weiß er nämlich nicht mehr warum.

Biggy musterte mich beziehungsweise das bisschen, was von mir zu sehen war, also ein halsloser Kopf über dem Hallentor.

»Bist du die Sandra? Wegen der Annonce im Internet? Suche Reitbeteiligung? Cool.« Ich nickte heftig. Da nur mein Kopf zu sehen war, blieb mir ja jeder andere körpersprachliche Ausdruck verwehrt. »Ja, hi, ich heiße Sandra Grünert und bin neu in Köln. Und ich hab mal geritten, früher«, setzte ich hinzu und nickte noch mehr. Aus Biggys Warte sah ich vermutlich aus wie ein Luftballon mit aufgemaltem Gesicht im Wind.

Biggy grinste freundlich zurück. »Willste dich mal draufsetzen? Das ist er nämlich«, sie ruckte noch mal am Zügel, »der Darti. Normal ist der ganz lieb.«

Ein Sammelsurium unsortierter Ausflüchte, die mein erschrockenes Gehirn völlig unaufgefordert produzierte, lag mir auf der Zunge. Von »Nein, ich bin doch nicht Sandra Grünert, mein Name ist Samantha Fox und ich habe eine Persönlichkeitsspaltung«, über »Entschuldigung, kennen Sie den kürzesten Weg nach Köln, da hab ich mich doch glatt verfahren«, zu »Oh, meine Pferdeallergie meldet sich, auf Wiedersehen!«.

Meinem Hirn zum Trotz schob ich vorsichtig das Hallentor auf und präsentierte mich in meiner ganzen gelben Gummistiefelpracht. Das Pferd guckte mindestens genauso misstrauisch wie ich, oder vielleicht hatte es auch einfach nur Geschmack.

Tapfer stiefelte ich auf D’Artagnan zu und streichelte vorsichtig seinen muskulösen Hals. Dieses seidige Fell.

»Hi, ich bin die Biggy«, begrüßte mich die junge Frau und streckte mir ihre Hand entgegen, »steig ruhig auf, ich halt den fest, da passiert jetzt nichts. Da in der Ecke hat’s nur vorhin so komisch geraschelt, Tauben vielleicht. Oder Ratten. Der bockt sonst nie.«

Ich steckte einen Fuß in den Steigbügel und zog mich vorsichtig hoch, bemüht, in den Sattel zu gleiten und nicht zu plumpsen. Biggy ließ die Zügel los. Und das Wunder geschah. Ich verspürte augenblicklich Ruhe und Gelassenheit. Die gedämpften Tritte der Hufe auf dem weichen Hallenboden. Die Stille, nur unterbrochen von leisem Schnauben. Der Geruch nach Lederzeug und Pferd. Das Wiegen auf dem Pferderücken, irgendwie tröstlich und urvertraut. Darti entspannte sich unter mir, offenbar, weil er spürte, dass ich mich entspannte. Zum ersten Mal seit Wochen hörte mein Herz auf zu schmerzen, Frankfurt, und alles was dort geschehen war, wurde undeutlich und klein.

Ich spürte den uralten Pakt: Wir geben den Tieren Nahrung und Liebe, und sie geben unserer Seele Frieden.

»Genau, und danach brechen wir den Pakt und essen sie auf«, murmelte der kleine Teufel in mir, der nie etwas Gutes einfach mal stehen lassen kann. Ich schnalzte leise, um ihn zu vertreiben und das Pferd zum Trab zu ermutigen.

»Na, alles Klärchen?«, fragte Achtzigerjahre-Thomas, und ich begann, ihn vor lauter Friedlichkeit attraktiv zu finden.

»Merkwürdig, wie entspannt der unter dir läuft«, sagte Thomas. »Ich glaube, ihr passt gut zusammen«, fügte er hinzu und lachte sonor. Ein bisschen wie der Weihnachtsmann. Was für ein netter Kerl, dachte ich, offensichtlich hormonell überfordert. Jetzt fand ich also schon den Weihnachtsmann attraktiv.

»Tür frei bitte!«, erscholl es von der Eingangstür. Noch ein Mann. Maskuline Züge, blond, gutaussehend. Wie mein Ex-Arsch, nur ohne dessen Chichi und Hang zu Markenklamotten, um sein schwaches Ego zu übertünchen. Dafür aber mit einem stolzen braunen Pferd. Ich hielt den Atem an und versuchte, die gelben Gummistiefel unter dem Pferdebauch zu verstecken, was aus anatomischen Gründen misslang.

»Hi, Tim!«, rief Biggy und dann zu mir rüber. »Galoppier doch mal an!«

Ich dachte an den kleinen Stunt, den ich gerade gesehen hatte sowie die Tatsache, dass ich mindestens zehn Jahre nicht mehr geritten war und zwei potenzielle Liebeskandidaten die Reithalle bevölkerten. No risk, no fun. Ich galoppierte an. Darti schnaubte und lief fleißig einige Runden. Ganze Bahn. Zirkel, der sozusagen die Bahn in zwei Kreise halbierte. Ich parierte wieder durch. An der Bande hing ein großer fleckiger Wandspiegel, um Sitz und Haltung korrigieren zu können. Ich sah auf dem Pferd aus wie ein geschmackloser Rucksack, den ein gewissenloser Verkäufer dem Tier angedreht hatte. Der Anblick war vertraut. Das Gefühl auch. Jeder Knochen im Leib tat mir weh, aber ich war glücklich, das Pferd war toll, Biggy einfach super, Bauer Helmut ein Ausbund an Charme und der Weihnachtsmann ein Sexgott.

Ein rotes Gesicht mit blondem Scheitel tauchte über der Bande auf. Bauer Helmut.

»Hallo Helmut«, rief Biggy, während Tim und Thomas nur rübernickten.

»Willste nicht mal deine Weide abäppeln!«, meckerte der Charmebolzen aus tief herabhängenden Mundwinkeln, auf die Angela Merkel noch neidisch gewesen wäre.

»Saison ist rum! November! Weide zu, und du hast noch die Scheiße vom Sommer auf deiner Wiese!«

Sein Blick fiel auf mich. Ich zog die Mundwinkel hoch. Er zog seine noch weiter runter. Ein schwieliger Finger deutete auf mich.

»Die da kannste gleich mitnehmen, weiß die auch gleich, was zu tun ist. Blumen. Weizen. Pah.«

Wir trabten weiter. Reiter Tim auf seinem Braunen kam mir entgegengaloppiert. »Mach mal Platz da«, rief er, »linke Hand hat Vorfahrt!«

Ach ja, schwach erinnerte ich mich an die Vorfahrtsregeln beim Reiten in der Halle. Wer mit der rechten Seite an der Wand entlangritt, was man »Linkerhand« nannte, hatte Vorfahrt. Tim riss am Zügel und wich mir in letzter Sekunde aus.

»Zum Träumen ist die Halle ein bisschen klein«, sagte er, aber nicht unfreundlich. Ich beschloss, ihm das als maskulines Verhalten anzurechnen, stieg ab und stiefelte mit D’Artagnan am Zügel steif hinter Biggy her, die die Halle mit einem »Tür frei bitte« verließ.

»Auf Wiesegehn«, rief Achtzigerjahre-Thomas mir hinterher, und ich bekam das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht. Dieser leicht angeranzte Hof hatte offenbar einiges an warmen Gefühlen und lustigen Typen zu bieten. Und dieses tolle Pferd. In diesem Moment im grauen November ahnte ich weder, dass Pferde zu Hinterlist fähig sind, noch dass ich ein halbes Jahr später zu Schimanski mutieren müsste oder etwas von der Gefahr, in die mich das bringen würde.

Draußen trafen wir auf Bauer Helmut, der eine abgebrochene Zaunlatte mit Hammer und Nagel reparierte.

»Hören Sie-Du«, wandte ich mich gutgelaunt an den Hofbesitzer, »ich weiß schon, dass Sie mir vorhin keinen Strauß Blumen entgegengehalten haben, sondern Weizen«, sagte ich.

»Willst du mir ein Gespräch aufzwingen?«, fragte Bauer Helmut.

»Ich bring eben Darti aufs Paddock, dann gehen wir die Weide abäppeln«, rief meine neue Freundin Biggy, sattelte ab und begleitete Darti auf eine Koppel, auf der mehrere Pferde im Schlamm stehend vor sich hin dösten. Ich lehnte mich an den Anbindebalken, der neben der Eingangstür zur Halle hing und an dem Reiter ihre Pferde putzen und satteln.

»Ich habe nämlich früher geritten, hatte sogar über Jahre ein Pflegepferd«, informierte ich den Bauern.

»So«, sagte Bauer Helmut und ließ seinen Blick ein wenig zu lange auf meinen gelben Gummistiefeln ruhen.

»Die Reitklamotten hab ich dann mal verkauft«, sagte ich.

»Nimm dir mal ’ne Schubkarre«, sagte Bauer Helmut, »die stehen am Misthaufen. Ich hab noch was zu tun heute.«

Ich ging zum Misthaufen. Harte Nuss, dieser Bauer. Die Schubkarren standen dort vermutlich seit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich nahm das Exemplar »Roosevelt« mit dem wenigsten Rost, leider aber auch der wenigsten Luft im Reifen. Beim Fahren quietschte und ächzte der Gummireifen. Das ganze Ding wurde nur von gutem Willen zusammengehalten. Tapfer und aufrecht gesellte ich mich zu Bauer Helmut, ohne einen Ton zu sagen. Den verweichlichten Städter würde ich nicht geben.

Biggy erschien, ausgerüstet mit Apple-Boy und Schieber, einer Art Handfeger und Schippe in groß, mit denen man Pferdemist aufsammelt, um ihn dann in die Schubkarre zu kippen. Ich war mir allerdings nicht sicher, ob Roosevelt überhaupt noch einen Haufen Pferdemist aushalten würde.

»So, dann mal auf zur Wiese!«, rief ich fanfarengleich in den kühlen Novembertag und schob die eiernde Schubkarre vor mir her. Ein leichtes Ziehen in meinen Beinen kündete vom nahenden Muskelkater. Beim Reiten aktiviert man Muskeln, die normalerweise ihr Dasein verschlafen.

»Das heißt Weide nicht Wiese«, korrigierte mich Bauer Helmut.

Der verwinkelte Hof hielt immer neue Überraschungen bereit. Wir bogen hinter der letzten Außenbox ab, vor mir erstreckte sich eingezäunt in Pflöcke mit weißen Strippen der eigentliche Reichtum des Hofs. Ein braungrünes Areal von etwa zwölf Weiden, die längs angeordnet jede um die vierhundert Quadratmeter groß waren. Das Gras war überall kurz über der Narbe abgefressen, an vielen Stellen drängte sich der nackte braune Boden durch das Grün. Hufe hatten die Grasnarbe verletzt und mancherorts umgepflügt. Rechts vom Weg standen einige Landmaschinen. Ein Trecker mit einem merkwürdigen, fast dreißig Meter breiten Aufbau erregte meine Aufmerksamkeit.

»Was ist das denn?«, fragte ich, noch immer grundlos bemüht, Bauer Helmuts Sympathie zu erringen, vielleicht wegen des warmen Gefühls in mir, vielleicht, weil ich so knorrige Typen mag.

»Sprühtraktor. Traktor mit Tank«, brüllte Bauer Helmut. »Siebenundzwanzig Meter breit.«

Wir stapften zu dem Sprühtraktor, Roosevelt quietschte im Takt.

»Was meinste, wie viel so’n Tank fasst?«, fragte Bauer Helmut und guckte harmlos. Ich überlegte. »Neunhundert Liter«, sagte ich ins Blaue hinein.

Bauer Helmut blieb abrupt stehen und fuchtelte mit den Pranken.

»Tank fasst viertausend Liter! Viertausend! VIER-TAUSEND!«, schrie er mich an. »Was meinste, was der kost’? Was meinste, was der kost’?«

Er strich sich voller Vorfreude über das glatt rasierte Kinn. Seine blauen Äuglein unter der blonden Vierzigerjahre-Frisur blitzten.

»Zwanzigtausend?«, fragte ich. »Zwanzig? Zwanzig… ?! --- Vierzigtausend Euro!«, schrie Bauer Helmut und wurde wieder eine Nuance dunkelroter. »Vierzigtausend!« Wir begutachteten den Sprühtraktor andächtig, wie im Louvre Leute vor Gemälden stehen.

»Hammer«, sagte ich Schleimbolzen, »ein Sprühtraktor.«

»Teil ich mir mit Bauer vom Nachbarhof. Quasi Genossenschaft«, knurrte Bauer Helmut und sah mich misstrauisch an.

»Nun«, sagte ich, um Interesse zu heucheln und mich in seiner Wahrnehmung als Experte zu manifestieren, »Tanks. Damit düngt man doch im Frühjahr die Rapsfelder? Und Raps baut man an, damit Stickstoff in den Boden kommt.«

Ich war ein bisschen stolz auf mein Fachwissen. Bauer Helmut traf schier der Schlag. »Raps!? Raps?! – Klee! Klee bringt Stickstoff in den Boden! Auch Senf! Aber doch nicht Raps!«, schrie dieser Rumpelstilzchen-Bauer.

»Senf, ja! Oder Kalk! Aber doch nicht Raps!«

Er ging kopfschüttelnd in Richtung Weide.

»Aber Kalk«, rief ich und schob mit der quietschenden eiernden Schubkarre hinterher, so rasch sich die Gummistiefel aus dem schmatzenden Schlamm lösten, »Kalk ist doch giftig! Das weiß man doch! Die haben damals in Osteuropa wegen der Vogelgrippe ihre Hühner in eine Grube geworfen und ungelöschten Kalk drüber, da haben die noch gelebt! Da haben die die mit getötet, diese Bestien in Menschengestalt!«, rief ich.

»Ungelöschter Kalk, das ist was anderes«, sagte Bauer Helmut, »Schweinerei. Scheißländer eben«, fügte er hinzu. »Aber normal, Kalk macht nichts. Kalktablette ist doch auch nicht giftig. Raps. Pff.«

Wir glitschten gemeinsam weiter den Weg entlang der Weiden, ich, die Schubkarre, Biggy und der Bauer. Der fast platte Reifen ächzte mal rechts, mal links aus der Spur.

»Hier – da hinten«, sagte Bauer Helmut und machte eine Geste mit seiner schwieligen Rechten, die den Horizont umspannte von Dorndorf bis ungefähr Afrika, »hier alles meine Felder. Weizen. Hafer. Gerste. Dafür Sprühtraktor.«

»Tja«, sagte ich, bemüht, die Schubkarre auf Kurs zu halten, »viel Arbeit, die Düngerei. Alle Felder, was?« Ich bemühte mich, Verben wegzulassen. Verben. Das Stigma der Städter.

»Mal Dünger, mal Unkraut-Ex«, sagte der Bauer und blieb an einer besonders vollgeschissenen Wiese stehen.

»Mit denselben Tanks?«, fragte ich. »Und wo spült man die dann aus?«

»Mal hier, mal da«, wich Bauer Helmut aus, musterte mich kurz und schien zu dem Schluss zu kommen, dass ich zwar nett und bemüht, aber eben ein Vollidiot war, denn er tätschelte mir wie einer Zweijährigen über den Arm.

»So – Weide abäppeln.«

Sprach’s, drehte sich um und ging.

Die nächste schlammige Stunde verbrachten Biggy und ich damit, die Wiese von den Pferdeäpfeln eines Sommers zu befreien, die volle Schubkarre, die mehr und mehr in sich zusammensank, mit ihrem wackeligen Rad über den Schlammpfad am Sprühtraktor und an der Reithalle vorbei zum Misthaufen und wieder zurück zu schieben und uns nebenbei über die finanziellen und zeitlichen Konditionen meiner neuen Reitbeteiligung an diesem niedlichen, störrischen Zeitgenossen namens D’Artagnan zu einigen. Misstrauisch beäugt von Bauer Helmut, den ich mal mit Futtereimer und Schäufelchen über den Hof gehen, mal einen offenbar polnischen Knecht namens Darius anschreien, mal hoch auf seinem Traktor die Sprühanlage ab- und einen Anhänger ankoppeln sah.

Hier gab es noch Herr und Knecht, wenige Worte und große Gefühle, die Welt schien politisch unkorrekt, aber überraschend klar. Ich fühlte, dass meine Seele genau das brauchte, nach dem Chaos, das ich gerade hinter mir gelassen hatte.

»Na, alles in Unordnung?«, rief Achtzigerjahre-Thomas von der Nachbarweide, offenbar auch damit beschäftigt, Mist zu kratzen. Ich nickte und kippte eine letzte Fuhre Mist in die rostige Karre. Mit jedem bisschen Scheiße, das ich hier wegräumte, schien ich innerlich sauberer zu werden von Max’ Hinterlassenschaften. Biggy lächelte mich an.

»Ich hab das ja kaum gefunden«, sagte ich, »ist ja ziemlich in der Pampa hier, der Hof Weideland – aber jetzt bin ich froh.«