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Elmar Tannert

Petra Nacke

 

 

Blaulicht

 

Kriminalroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (2. Auflage 2013)

© 2010 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Felicitas Igel

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung

eines Fotos von photocase

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-318-8

 

Prélude

Eine Stunde hat sie gewartet. Eine geschlagene Stunde, obwohl sie ganz genau wusste, wann er rauskommt. Jeden Dienstag 14 Uhr Bachensemble – das wusste sie doch, hat doch selbst lange genug mitgemacht in Gerlachs Vorzeigeprojekt, in das nur die besten Instrumentalisten und die besten Stimmen der Schule durften. Vollkommen ausgeflippt ist sie, damals in der Siebten, als sie die Aufnahmeprüfung bestanden hatte.

Knapp zehn Minuten braucht man von hier bis zur Schule, mit dem Fahrrad schafft man es noch schneller – und Gerlach ist immer mit seinem albernen Rennrad gefahren – warum stellt sie sich also schon um zehn vor eins hin und wartet – und warum hat sie nicht dieses eine Mal auf die verdammten Dreckspillen verzichten können, die sie von innen auffressen, immer mehr von dem Bisschen, das von ihr übriggeblieben ist, abnagen?

Es ist ihr schwergefallen, wie ein schwarzes Gespenst in der prallen Sonne zu stehen und auf sein Haus zu starren, das konnte man sehen. Sie hat geschwankt und ein paarmal sah es so aus, als würde sie gleich umfallen. Wollte sie das? Wollte sie umfallen – im letzten Augenblick? Oder wollte sie auf Nummer sicher gehen – hat befürchtet, dass er ihr entwischen könnte, weil er ausgerechnet heute doch mal früher losfährt, weil er vielleicht noch was zu korrigieren hat oder dem Klavierstimmer auf die Finger sehen will oder einfach nur einen Eiskaffee trinken? Ja, das sieht ihr ähnlich, sie wollte auf Nummer sicher gehen, deshalb hat sie auch nicht irgendein Messer genommen, sondern dieses teure Sushi-Messer aus der Küchenschublade ihrer Mutter – die hat bestimmt noch nicht einmal gemerkt, dass es fehlt, und jetzt, nach all dem, wird sie es sicher auch nicht mehr benutzen wollen.

 

 

In den Nürnberger Nachrichten haben sie heute wieder mal was von der drohenden Klimakatastrophe geschrieben, davon, dass die Meeresspiegel steigen und Küstenstädte wie Hamburg und Rostock unter sich begraben würden. Heinrich Zintl hat weder Freunde noch Verwandte im Norden und hat auch für die meisten Städte nichts übrig – Hamburg und Rostock sind ihm von daher egal, aber er mag Rügen. Gleich nachdem die Mauer weg war, ist er mit Ruth zum ersten Mal dort gewesen. Sicher, in den ersten Jahren hat es an allen Ecken und Enden noch nach Sozialismus gerochen, aber auch nach frischer Luft, und günstig ist es gewesen. Ruth hat denn auch gleich gemeint, dass man für dieses Geld gerade noch in der Oberpfalz Urlaub machen könne, aber was ist Schwandorf schon im Vergleich zu Rügen! Und nun soll Rügen absaufen, nur weil die Leute nicht mehr auf ihre Umwelt achten können, tonnenweise Hamburger in sich reinstopfen und keine Energiesparlampen kaufen – verdammte Ignoranten, verdammtes CO2!, denkt Heinrich Zintl, und er denkt es noch einmal laut, nachdem er das Fenster geöffnet und eine Ladung der aktuellen Klimabilanz wie eine glühende Faust ins Gesicht geschlagen bekommen hat. Hier in der Nordstadt haben die meisten schon angefangen umzudenken, das merkt man immer wieder beim Fest am Kobergerplatz. Überhaupt kann man in dieser Stadt nur noch hier wohnen, die Nachbarschaft ist ordentlich, kaum Ausländer, keine Dönerbuden und schon gar nicht dieses Gesindel in den ewig schwarzen Klamotten wie in Gostenhof oder vor der Lorenzkirche. Widerlich, wie die da am helllichten Tag mit ihren Bierflaschen rumlungern, mit ihren verlausten Hunden, und Passanten um Kleingeld anschnorren.

Jetzt steht die immer noch da!

Vor einer Stunde war sie auch schon so dagestanden, völlig bewegungslos – na ja, ein bisschen hin und her geschwankt ist sie, wahrscheinlich besoffen, wie das so üblich ist bei denen.

»Jetzt schau dir mal das Mädel da drüben an«, hat er zu Ruth gesagt, »die hat doch wohl einen Schlag! Stellt sich bei der Hitze und mit den schwarzen Klamotten mitten in die Sonne! Sieht doch eh schon aus, als würde sie gleich umkippen.«

»Die nimmt bestimmt Drogen«, hat Ruth gemeint und angeekelt die Nase gerümpft, »jetzt kommen die also auch schon in die Nordstadt.«

Und jetzt steht die immer noch da und glotzt auf die Hauswand gegenüber, als würde darauf irgend so ein Film abgespielt!

Gerade in dem Augenblick, als Heinrich Zintl das Fenster wieder schließen will und dabei überlegt, ob er nun doch wegen der da bei der Polizei anrufen soll, geht eine Art Ruck durch die starre, magere Gestalt auf der anderen Straßenseite, es sieht aus, als hätte jemand einen Schalter umgelegt und Strom würde schlagartig durch Gliedmaßen fließen, Beine bewegen, Füße voreinander setzen und über den glühenden Straßenbelag gehen lassen, eine Hand fest um etwas Langes, Spitzes schließen, das Heinrich Zintl nicht genau erkennen kann, weil sich die Sonne darin spiegelt. Dann sieht er den Mann, der sein Fahrrad gerade aus dem Hauseingang schiebt, sein Gesicht kann er nicht erkennen, der Mann trägt einen Fahrradhelm, aber Zintl weiß, dass es der Gerlach ist, der Studienrat, der beim Kobergerplatz-Fest immer ein paar Kisten Apfelsaft aus eigener Ernte spendiert. Die junge Frau geht genau auf ihn zu, der Lehrer ruft etwas, während sie sich ihm nähert, legt den Kopf leicht auf die Seite wie jemand, der nicht glauben kann, was er sieht, ruft: »Sandra, bist du …«, der Satz wird ihm abgeschnitten, sie sticht einmal zu, zweimal, und dann spritzt auch schon das Blut auf den Gehsteig und bildet einen schillernden roten See, in dem der Mann jetzt kniet, die Hand fest auf seine Kehle gepresst. Nun kommt Heinrich Zintl die eigene Kehle wieder ins Bewusstsein, und er schreit aus seinem Fenster im ersten Stock der Kaulbachstraße wie ein Wahnsinniger, schreit Feuer und Mord, schreit zu Hilfe und immer wieder mein Gott, mein Gott, mein Gott! Und obwohl der Stadtteil noch vor wenigen Augenblicken vollkommen menschenleer unter einer grausam schweigenden Hitzeglocke zu dämmern schien, kommt schlagartig Leben in die Szene, rennen zwei Bauarbeiter mit bloßem Oberkörper die Straße runter und auf die knieende Gestalt zu, packen das schwarze Gerippe von Frau, das mit hängenden Schultern über ihm steht, und schlagen ihr das tropfende Messer aus der Hand, das mit einem hellen Klirren auf den Asphalt fällt. Kurz darauf hört man auch schon die erste Sirene, sieht das erste Blaulicht durch den flirrend weißen Nachmittag einen Weg sich bahnen.

 

*

 

Als die Stadtplaner Ende der Siebziger Jahre den Jakobsplatz neu anlegten, hat sich mit großer Wahrscheinlichkeit keiner von ihnen Gedanken darüber gemacht, dass die runde Form unter bestimmten Bedingungen fatale Ähnlichkeit mit einer Herdplatte bekommen könnte. Wenn die Sonne nur lang genug und möglichst senkrecht darübersteht, heizt sich zunächst das dunkle Pflaster auf, sodass es Hunden, die von ihren Besitzern ausgerechnet hier Gassi geführt werden, schmerzhaft unter den Ballen brennt. Dann folgt die Hitze den Naturgesetzen, steigt nach oben und wabert zwischen Sankt Elisabeth und Sankt Jakob hin und her wie ein in siedendem Öl ausgebackener ökumenischer Pfannkuchen. Unvorsichtigen Tauben, die den Platz nicht weiträumig meiden, werden die Bäuche derart erhitzt, dass sie nur noch hartgekochte Eier legen, und denjenigen Menschen, die nicht das Glück haben, im Dienste des Herrn zu stehen, verdampft es schlicht und einfach das Gehirn. Polizeibeamte stehen nicht im Dienste des Herrn, sondern im Dienste des Innenministeriums, und deshalb hat die Jakobswache auch Außenmauern, die deutlich dünner sind als die von Kirchen, weshalb die pfannkuchengewordene Hitze sich mühelos ihren Weg in Büros bahnen kann, um die dort Arbeitenden in den Wahnsinn zu treiben.

Dies sind in etwa die Gedanken, die Helmut Mattusch durch den Kopf gehen, als er versucht, den richtigen Winkel zwischen sich, dem Tischventilator hinter seinem Rücken und all dem Papier zu finden, das sich in ungewohnt hohen Stapeln auf seinem Schreibtisch türmt. Mattusch ist ein gewissenhafter Mensch, nicht brillant, aber sorgfältig, gut organisiert und zuverlässig. Aus genau diesem Grund ist er auch der Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen geworden, und er schätzt es ganz und gar nicht, wenn ihn etwas wie diese Hitzewelle aus der Balance wirft. Zwei seiner Leute sind wegen massiver Kreislaufprobleme ausgefallen, zwei weitere im Urlaub, weshalb sich die Arbeit momentan auf viel zu wenige Schultern verteilt, und ausgerechnet er ist verantwortlich für die Verteilung dieser Last. Wenn in vier Wochen die Schulferien beginnen und all die Kollegen mit Familie in Urlaub gehen, bricht hier endgültig das Chaos aus, denn das Verbrechen schert sich einen Dreck um Urlaubspläne – die Haare würden Mattusch vor Ärger zu Berge stehen, wenn sie das nicht sowieso schon in einem attraktiven Dunkelgrau von Natur aus täten.

Die frischgebackene Kommissarin, die sich heute bei ihm vorgestellt hat – wie war noch mal ihr Name? – macht einen patenten Eindruck, und ihre Zeugnisse sind hervorragend. Er wird sie mit Kalz zusammenspannen, von dem kann sie allerhand lernen und wer weiß, vielleicht gelingt es der zierlichen Frau mit ihrem Charme ja, dessen Eispanzer zu knacken. Ja Kreuzdonnerwetter, wo ist denn nur der Notizzettel mit ihrem Namen oder wenigstens ihre verflixte Zeugnismappe?!

Es ist entweder dieser winzige innere Temperamentsausbruch oder der schrille Ton des Telefonapparats gewesen, der den Oberkörper von Mattusch auf eine Weise bewegt, die den richtigen Winkel zwischen Papier, Mann und Ventilator zusammenbrechen lässt. Innerhalb von wenigen Sekunden verteilen sich unzählige Blätter auf dem dunkelblauen, extra strapazierfähigen Teppichboden, als hätte man eine Schneekanone darauf abgefeuert, und es ist genau dieser Anblick, der die ansonsten ruhige und freundliche Stimme des Dezernatsleiters ein überaus ruppiges »Mattusch« in den Hörer bellen lässt. Als er auflegt, fällt sein Blick auf einen gelben Notizzettel, den der Luftzug gegen den Monitor seines Computers presst, darauf steht Zoe Kandeloros und darunter eine Handynummer.

 

*

 

Kostas Kandeloros war einer der vielen Griechen, die dem Lockruf des Wirtschaftswunders gefolgt waren. Seine Eltern hatten ihm bittere Vorwürfe gemacht, als er ihnen damals eröffnete, er würde genau wie sein Onkel, seine Tante und seine beiden Cousins nach Deutschland gehen. Seine Mutter hatte angefangen zu weinen, der Vater hatte ihn mit vorwurfsvollem Ton in der zitternden Stimme immer wieder gefragt, ob der Beruf des Fischers etwas sei, wofür man sich schämen müsse, ob er sich zu fein sei zum Netzeflicken, zum Plankenabdichten. Er hatte ihn vor die Tür der Hütte geführt und auf die blassgrüne Hügelkette gedeutet, auf die Pinien, den weißen kleinen Strand, auf dem ein paar Holzboote lagen und in der untergehenden Sonne aussahen wie dösende Walrosse. Sie tranken viel in dieser Nacht, die Nachbarn kamen vorbei, Lieder wurden gesungen, vor allem die Lieder der Insel, ihrer Heimat, Milos. Irgendwann ging die Sonne wieder auf und färbte das Meer erst zartrosa, dann orange, dann tiefblau, und es war dieses tiefe Blau, das Kostas Kandeloros ganz fest in seine Seele einschloss, als er mit der ersten Fähre die Insel seiner Kindheit für immer verließ.

Zoe war schon viele Male auf Milos, würde es aber niemals als ihre Heimat bezeichnen. Sie ist in Nürnberg geboren, genau wie ihr Vater und ihre Mutter. Sie ist eine sogenannte Griechin der dritten Generation, wobei ihr Griechisch, sehr zum Leidwesen ihrer Eltern und vor allem ihrer Großeltern, mehr als zu wünschen übrig lässt. Aber wo sollte sie es auch anwenden? Etwa im Restaurant ihrer Eltern, in dem sie schon als Kind und dann später während der Semesterferien mitgeholfen hat? Oder in den Psychologievorlesungen an der Uni? – beschreiben Sie die Parallelen und Differenzen in den Theorien von Freud und Fromm zur Genese des Ödipuskomplexes auf Neugriechisch? Auch als sie dann nach sieben Semestern entschied, der Psychologie den Rücken zu kehren, um auf die Polizeiakademie zu gehen, gab es keine Gelegenheit, ihr Griechisch zu pflegen – warum auch, sie ist Deutsche, eine deutsche Beamtin im gehobenen Polizeidienst, daran ändert weder ihr Name noch ihr Äußeres etwas. Und dass sie sich vor zwei Jahren eine Brille gekauft hat, mit der sie nun endgültig aussieht wie die junge Nana Mouskouri, täuscht nicht einmal mehr ihren Opa Kostas über diese unumstößliche Tatsache hinweg.

Als sie der Anruf von Mattusch erreicht, ist sie gerade dabei, ihren Schreibtisch einzuräumen – viel hat sie nicht dabei, aber auf einiges mag sie doch nicht verzichten. Vor allem nicht auf ein kleines, gerahmtes Foto – es zeigt zwei Seegrasstühle auf einer weißgekalkten Veranda vor einem strahlend blauen ägäischen Meer.

»Sie fahren jetzt erst einmal allein«, hatte der Dienststellenleiter gesagt und ergänzt, dass die Spurensicherung schon unterwegs sei und sie zunächst die wenigen Zeugen vernehmen solle, reine Routinearbeit, eine gute Übung für den Einstieg. Als Zoe Kandeloros zwanzig Minuten später den Tatort erreicht und die gewaltige Blutlache hinter der Absperrung sieht, die Menschentraube davor und die beiden halbnackten Männer, einer von ihnen mit einem Gesichtsausdruck wie in Trance, hallen ihr die Worte von Mattusch noch immer im Kopf, aber jetzt klingen sie wie Hohn und treiben ihr den Schweiß auf die Haut, trotzdem geht sie tapfer zu den Kollegen von der Streife und beginnt kurz darauf, sich erste Notizen zu machen. Die beiden Bauarbeiter, erfährt sie von einem der Uniformierten, haben offenbar vom Tathergang selbst nichts mitbekommen, Namen und Anschriften wurden bereits aufgenommen, sehr viel mehr wird auch sie nicht von ihnen erfahren. Interessanter dürfte dieser Heinrich Zintl sein, der am Fenster stand, als die junge Frau, die sich zwischenzeitlich bereits in der Notaufnahme des Nordklinikums befinden müsste, mit dem Messer auf das Opfer losgegangen ist. Die Kollegin von der Spurensicherung mit den außergewöhnlich markanten Gesichtszügen drückt Zoe noch schnell ein Kärtchen in die Hand, bevor sie den Tatort wieder freigibt und in einen schwarzen Kombi steigt. Dann eben erst mal die beiden Bauarbeiter, danach wird sie den Zeugen im ersten Stock befragen.

 

*

 

Der große, kantige Mann mit dem sonnenverbrannten Oberkörper weiß jetzt schon genau, dass er zwei Dinge niemals in seinem Leben wieder vergessen wird: den röchelnden Atem des Mannes, der in einer großen roten Pfütze vor ihm auf der Straße zusammenbricht und die Augen dieser jungen, schwarz gekleideten Frau mit dem totenbleichen Gesicht. Sind eigentlich gar keine Augen, sind so was wie dunkle Krater eines erloschenen Vulkans, in denen je eine hellblaue Iris schwimmt, zwei eiskalte, erstarrte Seen in einer Schneewüste von Gesicht, die dich trotz der drückenden Hitze frösteln machen, selbst wenn du nur einen ganz flüchtigen Blick erhaschst, bevor sich die Lider darüber schließen und dir ein dürrer schwarzer Körper in den Armen zusammensackt.

Als er noch ein Junge war, sah er einmal einen Mauersegler, wohl noch jung und ungeschickt, mit voller Wucht gegen eine Ziegelwand fliegen. Er war hingelaufen, hatte den kleinen Vogelkörper in die Hand genommen, seine Wärme gespürt, die winzigen Krallen auf seiner Handfläche zuckten noch ein paarmal, so als wollten sie dem Tod entkommen. Genau daran muss er jetzt denken, als er die junge Frau, eigentlich noch ein Mädchen, vor sich auf dem Pflaster liegen sieht, seine Hand unter ihrem Kopf – ein Mauersegler, ein kleiner sterbender Mauersegler.

»Kannst die Hand jetzt wegnehmen, Mann!« Wer sagt das? »Hallo, Sie können die Frau jetzt uns überlassen!«

Mike Wagner sieht sich, wie er sich langsam aufrichtet, sieht auch die zwei Sanitäter, die die ohnmächtige Frau vorsichtig auf eine Transportbahre heben, wie zwei orangefarbene Geister kommen sie ihm vor. Andere Geister in Signalfarbe kümmern sich um den Mann, aus dessen Hals eben noch das viele Blut gespritzt ist. An einem schwankenden Gestell hängt ein Plastikbeutel mit einer durchsichtigen Flüssigkeit.

All das sieht er immer noch und weiß, dass er diese Bilder nie wieder aus seinem Kopf wird löschen können. Nie wieder.

»Herr Wagner, können Sie mir sagen, was Sie gesehen haben?«

Die Stimme kommt von schräg unten. Die zierliche Frau reicht ihm gerade einmal bis zum Brustbein und hat den Kopf leicht in den Nacken gelegt, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Sie ist hübsch, trotz der klobigen Brille. Ein südlicher Typ, ihre langen dunklen Haare sind mit einer Klammer locker hochgesteckt, ein paar Strähnen fallen ihr ins Gesicht, einige sind am Schweiß auf ihrer Stirn festgeklebt. Wie hieß diese griechische Sängerin noch einmal, die seine Mutter so gern mochte?

»Herr Wagner, haben Sie etwas gesehen?«

Ja, er hat etwas gesehen, aber wie soll er es beschreiben, was versteht eine Polizistin schon von einer Kindheit auf dem Land, von Mauerseglern und von kleinen hellblauen Seen?

Und so fällt das Protokoll, das Zoe Kandeloros später in die Tastatur des Computers tippen wird, trotz des Augenzeugenberichts von Heinrich Zintl sehr mager aus. Draußen erstickt die Stadt unter einem zähen Fluss von schmutziggrauem, geschmolzenem Wachs, und Zoe sehnt sich plötzlich nach der Heimat ihrer Vorfahren, nach Pinienwäldern, sanften grünen Hügeln und einem kristallblauen Meer.

 

*

 

Schon wieder klingelt das Telefon. Eine dezent gebräunte, sehnige Hand hebt den Hörer ab, ein schmaler Mund nennt einen Namen, den leicht gereizten Unterton erkennt nur ein sehr aufmerksames Ohr.

»Kollege Kalz«, sagt Dezernatsleiter Mattusch am anderen Ende, »ich wäre heute Nachmittag auch lieber im Freibad, das können Sie mir glauben.«

»Kein Gedanke an Freibad, Chef.«

Sogar an einem Tag wie heute reagiert Kalz wie jemand, der Abkühlung nicht nötig hat.

»Na schön.« Mattusch markiert die linke obere Ecke des Dienstags, der in seinem aufgeschlagenen Kalendarium vor ihm liegt, mit einem Kugelschreiberstrich und produziert ironische Höflichkeit. »Lieber Kalz, Sie haben mich zwar nicht gefragt, was es gibt, aber ich werd’s Ihnen trotzdem sagen. Wenn Sie sich dazu bitte in mein Büro bemühen wollten? Und zwar sofort. Es ist dringend.«

Eine Minute später steht Kalz vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten und schüttelt einer gewissen Zoe Kandeloros die Hand.

»Kommissarin Kandeloros beginnt heute ihren Dienst hier im K1. Auch Sie werden sie bestimmt herzlich willkommen heißen und zusammen mit den Kollegen dafür sorgen, dass sie sich schnell zurechtfindet und sich wohl bei uns fühlt.«

Ob das die dringende Angelegenheit sei? fragt Kalz.

»Vor zwei Stunden hat eine junge Frau«, Mattusch greift nach einem Stück Papier, »Sandra Kovács heißt sie, mitten auf der Straße einen Lehrer vom Haßler-Gymnasium niedergestochen. Der Mann wurde mit lebensgefährlichen Verletzungen ins Nordklinikum gebracht. Die Kovács erlitt nach der Tat einen Kreislaufzusammenbruch und ist ebenfalls im Nordklinikum.«

»Aber die zwei Tschechen laufen noch frei herum, und es zeichnet sich allmählich ab, dass wir es hier mit einem Bandenkrieg zu tun haben. Das in der Disco am Kohlenhof war keine Schlägerei wegen einem Mädel. Da sollte einer ausgeschaltet werden, der …«

Mattusch schneidet ihm das Wort ab.

»An der Tschechengeschichte arbeiten Sie schließlich nicht allein. Da sind Sie auch mal ein, zwei Tage lang entbehrlich. Länger brauchen Sie vielleicht gar nicht, um gemeinsam mit Ihrer charmanten neuen Assistentin rauszukriegen, was hinter dieser Messerattacke steckt.«

Die zierliche Griechin lächelt zaghaft.

»Frau Kandeloros war schon vor Ort und wird die Zeugenprotokolle fertigstellen. Sie, Kollege Kalz, fahren jetzt zu der Adresse, unter der die Kovács gemeldet ist. Heimerichstraße, gleich hinter dem Klinikum, die Hausnummer steht auf dem Zettel, das ist die Elternhausadresse.«

 

*

 

Dieser Tag hatte schon miserabel begonnen. Gleich nach dem Aufstehen hatte sie sich im Badezimmer einen Nagel abgebrochen, eine halbe Stunde später rief die Kosmetikerin an, um den Termin für heute wegen eines familiären Trauerfalls abzusagen und gegen Mittag war dann auch noch die Klimaanlage zusammengebrochen. Dreimal hatte sie bei der Servicefirma anrufen müssen, um endlich einen halbwegs kompetenten Ansprechpartner an der Strippe zu haben, der ihr allerdings auch nur sagen konnte, dass alle Monteure im Einsatz seien und man frühestens Ende der Woche, wahrscheinlicher aber erst Anfang der kommenden einen Mann vorbeischicken könne. Eine Unverschämtheit sei das, hatte Barbara Kovács in den Hörer gebrüllt, und dass man gute Kunden mit so einem lausigen Service ganz schnell verlieren kann, und auch dass man dem Hersteller der Klimaanlagen beim Dinner im Golf-clubrestaurant gern einmal stecken wird, auf was für Dilettanten im Wartungsbereich er sich da eingelassen hat. Keine Stunde später stand ein vollkommen verschwitzter Monteur im blauen Overall vor der Tür, was Barbara Kovács lediglich mit einem lakonischen »wurde aber auch Zeit« kommentierte.

Natürlich bekam der junge Mann ein fürstliches Trinkgeld, als die Klimaanlage nach zwei Stunden und zwei Fahrten quer durch die glühend heiße Stadt wieder funktionierte, und wahrscheinlich hat er vor Freude über den nagelneuen Fünfzigeuroschein nicht einmal bemerkt, dass er nun zum Kosmos von Barbara und Gerhard Kovács gehört, in dem alles und jeder käuflich ist und nur eine einzige Daseinsberechtigung hat: den Kosmos von Barbara und Gerhard Kovács zu erhalten.

Jetzt, wo die Temperaturen sich langsam wieder auf ein erträgliches Maß reduzieren, will Barbara die Zeit nutzen, bevor ihre jüngere Tochter nach Hause kommt, um sich im Internet über die neuesten Kursentwicklungen an der Börse zu informieren und vielleicht noch den Flug nach Paris und ein Zimmer im Four Seasons zu buchen. Sie hat ihren Laptop gerade hochgefahren, als es an der Tür klingelt. Eine halbe Minute später steht sie einem athletischen Mann mit stahlgrauen Augen gegenüber, dessen offensichtlich maßgeschneiderter Anzug trotz der barbarischen Temperaturen an diesem späten Nachmittag so tadellos sitzt, als käme er frisch aus der Reinigung. Trotzdem strahlt er etwas Beamtiges aus, etwas, das Ärger mit sich bringt und einen Gedanken weckt, der ihr blitzschnell und schneidend ins Bewusstsein schießt.

»Es geht um Sandra. Oder?«, sagt sie deshalb, ohne dass ihr Gegenüber auch nur einen Ton von sich gegeben hätte, und sie sagt es in einem beherrscht unterkühlten Ton, als stünde Kalz ihr mit einem Reisepassantrag im Einwohnermeldeamt gegenüber.

»Kommen Sie herein.«

Sie führt ihn ins Esszimmer, bietet ihm einen Platz an, verschwindet kurz in der Küche und kehrt mit zwei Gläsern Mineralwasser zurück. Teures Glas, Bleikristall, auf dem Wasserspiegel balanciert je eine hauchdünne Zitronenscheibe zwischen klirrenden Eiswürfeln.

»Ist ihr etwas zugestoßen?«

Auch das kommt beinahe gleichgültig, als frage sie Kalz, ob er auf seinen Pass lieber vier bis sechs Wochen warten möchte oder ob er ihn – selbstverständlich gegen Gebühr – schon früher abholen wolle.

»Das kann man so sehen,« Kalz greift nach dem Glas vor sich und trinkt einen großen Schluck, »sie hat heute auf offener Straße einen Mann attackiert. Mit einem Messer. Dieser Mann war ihr ehemaliger Musiklehrer Wolfgang Gerlach.« Kalz schildert der Kovács in kurzen, präzisen Sätzen, was genau sich vor wenigen Stunden abgespielt hat, erwähnt auch, dass sich Täterin und Opfer momentan im Nordklinikum befinden, Gerlach wegen der Stichverletzungen, Sandra wegen eines schweren Kreislaufversagens, eventuell in Zusammenhang mit der Einnahme von Drogen. Während er spricht, beobachtet er Sandras Mutter sehr genau. In ihrem Gesicht zeigt sich nicht die Spur einer Regung.

»Frau Kovács, haben Sie mich verstanden? Ihre Tochter hat heute ihren Lehrer mit mehreren Messerstichen schwer verletzt!«

»Aha.«

Nichts weiter. Die Eiswürfel knacken leise in den Gläsern.

»Wahrscheinlich hat sie mal wieder Geld gebraucht«, konstatiert sie nach einer Weile lapidar und mustert Kalz dabei mit dem gelangweilten Blick einer Lehrerin, die einem unterbelichteten Zögling zum x-ten Mal eine Textaufgabe erklärt. Dann kommt sie plötzlich doch noch in Fahrt. Droht dem Kalz, dass er ernsthafte Schwierigkeiten bekäme, falls in den nächsten Tagen die Zeitungen so was meldeten wie »Unternehmertochter begeht Raubüberfall« mit Fotos und allem Drum und Dran.

Die Kaltschnäuzigkeit der Frau irritiert sogar den unterkühlten Kalz, und für einen Moment kommen ihm seine eigenen Töchter in den Sinn. Sicherlich, welche Eltern kennen nicht das Gefühl, den Nachwuchs gelegentlich an die Wand klatschen zu können, aber diese gnadenlose Härte, die Eiseskälte dieser Mutter ihrer eigenen Tochter gegenüber ist geradezu ekelhaft, und er spürt Übelkeit in sich aufsteigen.

»Frau Kovács, es geht hier nicht um Sie, sondern um Ihre Tochter, ist Ihnen das eigentlich klar?« Warum fühlt er sich in der Nähe dieser Frau an die Dealerszene erinnert und an den Fall, an dem er schon seit Wochen arbeitet, an die vier Drogentoten, an die beiden Tschechen, die höchstwahrscheinlich darin verstrickt sind und die Schleuserbanden, die es immer im Hintergrund gibt, auch wenn sie bisher noch an niemanden aus dieser Liga herangekommen sind? In diesen Kreisen herrscht ein Gesetz über allen anderen: bedingungslose Loyalität. Wer sich nicht an dieses Gesetz hält, wird gnadenlos eliminiert. Man muss einen sehr kühlen Kopf bewahren, wenn man sich auf die Spielregeln dieser Szene einlässt, man muss seine Gefühle unter allen Umständen unter Kontrolle behalten.

»Es war mutmaßlich kein Raubüberfall, und was die Zeitungen schreiben, ist nicht meine Sache«, sagt er deshalb ebenso ruhig wie bestimmt und schaut der blonden Frau mit dem harten Mund fest in die Augen, für einen winzigen Augenblick zucken ihre sorgsam manikürten Nägel über den Stoff ihrer Hose – der Nagel am rechten kleinen Finger ist abgebrochen.

Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, ein blondes Mädchen huscht in den Flur, von dort direkt in die Küche und macht sich am Kühlschrank zu schaffen.

»Leonie«, sagt Frau Kovács. »Unsere jüngere Tochter.« Und zu Leonie, die sich mit einem großen Glas Orangensaft nähert: »Kommissar Kalz.«

»Hauptkommissar.«

»Hauptkommissar Kalz. Er ist wegen Sandra hier.«

Das Mädchen zuckt zusammen, spannt die Schultern.

»Ist ihr was passiert?«

»Nein. Ich erzähl’s dir später. Geh auf dein Zimmer.«

 

*

 

Geh auf dein Zimmer! Geh auf dein Zimmer!

Wie oft hat sie dieses Geh auf dein Zimmer! schon gehört? Es ist der Befehl zum Abtreten, bevor geschieht, was so oft geschieht. Als Sandra noch hier wohnte, hat sie ihn oft gehört. Nachdem Sandra gegangen war, noch viel öfter: Geh auf dein Zimmer, sofort!

Die Zimmer der Mädchen liegen im ersten Stock, die Küche im Parterre. Die Küche ist bis an die Decke gefliest – weiße Fliesen, zwischendrin ein paar blaue Akzente, Bilder von Szenen aus dem holländischen Leben: eine Frau mit Holzschuhen, zwei Kinder mit Eimern voller Fische auf einem kleinen Markt, ein anderes Kinderpaar mit Tulpensträußen auf dem Arm. Putzige Idyllen in Blau und Weiß. Manchmal träumt Leonie sich in diese Welt, hat Holzschuhe an den Füßen, Tulpen auf dem Arm und eine große Schwester an ihrer Seite.

Leonie war noch nie in Holland, aber sie weiß, dass die Fliesen aus Delft stammen sollen. Sie sind nicht wirklich aus Delft, das hat ihr Sandra irgendwann einmal erzählt, aber sie sollen so tun als ob. Also tun sie so als ob. Genauso wie die falschen Brüsseler Spitzen vor den Fenstern, der Terrazzoboden aus Kunststoffgranulat im Eingangsbereich, der in diesem Hause schon immer Entree genannt wurde, und die Bauernschränke, die auf antik gebeizt wurden.

Echt sind allein die Geräusche, die all die Dinge machen. Das Knallen eines Schädels auf Holz, das Reißen einer Gardine, das trockene Platschen, das ein Körper von sich gibt, wenn er auf einen Terrazzoboden geschleudert wird. Und die schönen weißblauen Fliesen verstärken alles, lassen das ganze Haus zu einem dröhnenden Klangkörper werden, tragen das Knallen, das Reißen, das Platschen und vor allem das Geschrei ihrer streitenden, schlagenden Eltern nach oben, dorthin, wo man schlafen möchte und träumen von einer glücklichen Familie in einer hübschen holländischen Stadt.

 

Kalz hat bemerkt, wie das zarte Mädchen mit den weizenblonden feinen Haaren unter dem Befehl ihrer Mutter zusammengezuckt ist, wie sich ihre hellblauen Augen für den Bruchteil einer Sekunde verdunkelten, so als wäre eine Wolke in Zeitraffertempo über einen Bergsee gezogen.

»Bleib bitte noch für einen Moment hier, Leonie«, sagt Kalz. »Ich möchte dir ein paar Fragen stellen.«

Das Mädchen zögert, schaut zunächst ihre Mutter an, dann ihn.

»Wann hast du deine Schwester zuletzt gesehen?«

»Ich weiß nicht … vor drei Jahren … ungefähr. Was ist denn passiert? Fehlt ihr was?«

Sandra hat also schon seit drei Jahren keinen Kontakt mehr mit ihrer Familie! Interessant, aber in Anbetracht dieser Walküre von Mutter absolut nachvollziehbar; allerdings dürfte dieser Umstand die Ermittlungen in diesem Fall nicht gerade erleichtern. Jetzt geht es aber erst einmal darum, dem sowieso schon ängstlichen Mädchen, das vor ihm steht, irgendwie zu sagen, was passiert ist, ohne sie noch mehr zu ängstigen. Die Einzelheiten würde sie sowieso noch früh genug erfahren.

»Nein, ihr fehlt nichts«, lügt er deshalb, »Sandra hat aber ihrem ehemaligen Musiklehrer sehr wehgetan. Kennst du Herrn Gerlach auch?«

»Ja«, Leonie schaut auf den Boden und beißt auf ihrer Unterlippe herum.

»Er unterrichtet auch meine jüngere Tochter – ein hervorragender Pädagoge«, lässt sich nun auch die Kovács wieder zu einem Kommentar herab, selbstverständlich hält sie es nicht für nötig, Kalz dabei anzusehen.

»Stimmt das, Leonie? Ist Herr Gerlach ein guter Lehrer?«

Ein kleines, aber bestimmtes Kopfnicken beantwortet die Frage.

»Hören Sie, was soll diese ganze Fragerei? Meinen Sie, wir würden unsere Tochter in eine zweit- oder drittklassige Schule mit stümperhaftem Personal schicken?«

»Personal« – interessante Bezeichnung für Gymnasiallehrer, denkt Kalz, beschließt aber, die Bemerkung von Barbara Kovács zu ignorieren und lieber weiter bei ihrer Tochter nachzuhaken.

»Leonie, du sagtest, Sandra wohnt schon seit drei Jahren nicht mehr hier?«

Wieder nickt das Mädchen nur mit dem Kopf, umso lauter fährt die Kovács abermals dazwischen.

»Sie kann jederzeit kommen, wenn sie will. Wenn sie nicht kommt, ist das doch wohl ihre Sache, oder?« Ihre Stimme klingt jetzt schneidend kalt und hart wie Splitter von Eiswürfeln in einem Glas aus Bleikristall, unberührbar, unerbittlich, trotzdem registriert Kalz den drohenden Unterton darin, wie ihn auch eine gereizte Hornisse von sich geben könnte oder eine Gottesanbeterin, kurz bevor sie zupackt.

Kalz bleibt äußerlich ungerührt, will sich nicht anstecken lassen von der nervösen Unruhe, die sich immer weiter im Raum ausgebreitet hat, in jeden Winkel gekrochen ist und ein beinahe hörbar knisterndes Energiefeld erzeugt. Er hat gelernt, sich nicht aus dem Tritt bringen zu lassen – einer der vielen Vorteile seines regelmäßigen Lauftrainings.

»Frau Kovács, ich habe Ihre Tochter gefragt. Nicht Sie. Leonie, deine Schwester ist also vor ungefähr drei Jahren hier ausgezogen und solange hast du sie auch nicht mehr gesehen. Sie muss damals aber doch noch in der Schule gewesen sein, oder?«

Die Kleine nickt. Barbara Kovács spießt ihn mit Blicken auf, die unter die Waffenscheinpflicht gehörten.

»Gut, lassen wir die Frage nach dem Grund, warum sie damals weggelaufen ist, erst einmal beiseite und bleiben bei dem, was heute passiert ist. Hast du denn von Sandra gehört in den vergangenen Jahren und vor allem in der letzten Zeit?«

Schweigen. Kopfschütteln.

»Weißt du, wo sie gewohnt hat?«

Kopfschütteln.

»Habt ihr mal telefoniert? Hat sie dir E-Mails geschickt oder vielleicht eine SMS?«

Das Mädchen schaut ängstlich, setzt zu einer Antwort an, bricht wieder ab. Ihre Blicke huschen noch einmal zum Gesicht des Kommissars, dann zu dem ihrer Mutter und heften sich schließlich an die Bodenfliesen. Stummes Kopfschütteln. Ein kaum hörbares »Ich weiß nichts«.

»Sie hat sich eben herumgetrieben«, sagt die Kovács mit unverhohlener Wut in der Stimme, »und hat es nicht für nötig befunden, sich gelegentlich bei ihren Eltern zu melden. Na ja, wer nicht will, der hat bekanntlich schon.«

Kalz bemerkt, dass Leonie heftig schluckt und die Tränen offenbar nur mit Mühe zurückhalten kann.

»Frau Kovács, darf ich Sie bitten, uns allein zu lassen.«

Die Kovács zuckt zusammen, als hätte sie einen Schlag erhalten.

»Wie bitte? Ich lass mich doch nicht von Ihnen in meinem eigenen Haus herumkommandieren. Geben Sie mir mal Name und Durchwahl Ihres Vorgesetzten.«

Kalz fingert eine Karte mit der Dienststellennummer aus seiner Sakkotasche und legt sie seelenruhig auf den Glastisch.

»Noch einmal, Frau Kovács, ich möchte Sie bitten, mich mit Ihrer Tochter allein zu lassen. Es ist nur zu Leonies Bestem, wenn ich ihre Aussage hier in einer vertrauten Umgebung aufnehme. Ich kann sie auch ins Präsidium laden, falls Ihnen das lieber ist.«

Statt einer Antwort greift die Kovács nach dem vergoldeten Etui vor sich, steckt sich eine Zigarette an und bläst Kalz den Rauch demonstrativ ins Gesicht. Sie ist es nicht gewohnt, Befehle zu erhalten, sie erteilt Befehle und die werden befolgt. Dies ist ein Befehl, der unmissverständliche Befehl an diesen überheblichen Staatsdiener, ihr Haus auf der Stelle zu verlassen.

»Wie Sie wollen. Dann lass ich Ihre Tochter als Zeugin ins Präsidium vorladen. Den Termin erfahren Sie noch heute.«

 

Eigentlich war Mattusch auf entspannendes Fußballschauen im Biergarten eingestellt, Spanien gegen Portugal verspricht eine tolle Partie zu werden. Die Spanier sind für ihn sowieso ein ganz heißer Tipp, neben den Spielen der deutschen Mannschaft sind es die präzisen und temperamentvollen Spanier, auf die er sich bei dieser WM am meisten freut. Aber er ahnt den Ärger schon lange, bevor das Telefon läutet, und er weiß, dass er sich verdammt geschickt verhalten muss, wenn Tobisch ihn an der Strippe hat. Er weiß außerdem, dass es nach diesem Anruf mit der Vorfreude auf einen entspannten Feierabend vorbei sein wird, weil ab dem Moment eine Uhr ticken wird, die er selbst durch den Krach der Vuvuzelas würde hören können.

Staatsanwalt Tobisch ist das, was man einen Hardliner nennt – und er ist stolz darauf. In diesem Falle könnte es aber auch ein Lamm von einem Staatsanwalt sein, er dürfte sich gar nicht anders verhalten. Sandra Kovács hat einen Menschen niedergestochen und ihn lebensgefährlich verletzt, basta. Das ist ein eindeutiger Fall von mindestens gefährlicher, wenn nicht gar schwerer Körperverletzung. Nur dem Umstand, dass sie nach der Tat selbst zusammengebrochen ist, weil ihr Kreislauf versagte, verdankt sie es, nicht sofort in polizeilichen Gewahrsam genommen worden zu sein. Sobald sich ihr Zustand aber nur halbwegs stabilisiert, ist sie ein ganz klarer Fall für die Forensische Klinik im niederbayerischen Mainkofen und damit aus Mattuschs Reichweite. Lediglich die Tatsache, dass sie einen Stoff konsumiert hat, der schon mehrfach tödlich gewirkt hatte, bedeutet in diesem Fall, einen winzigen Joker in der Hand zu halten. Zwar war der betreffende Spezialist im Kliniklabor heute Nachmittag auf Schulung, aber sein Kollege meinte, es könnte sich um PepZero handeln, zumindest legten Geruch und Konsistenz der Substanz diese Vermutung nahe. Und vielleicht würde man heute doch noch ein Ergebnis bekommen.

Mattusch steht vor dem Getränkeautomaten und ertappt sich bei dem Wunsch, am liebsten eine Taste mit der Aufschrift »Held-Bräu« zu drücken. Oder »Hetzelsdorfer«. Wenn es denn eine solche gäbe. Er ertappt sich außerdem bei der Frage, warum er das Gefühl hat, diesem Mädchen helfen zu wollen, ohne zu wissen, ob er überhaupt dazu im Stande ist. Vielleicht, weil ihm Kalz vorhin am Telefon knapp die Familienverhältnisse im Hause Kovács skizziert hat? Vielleicht, weil Mattusch selbst Vater von einem Jungen und zwei Mädchen ist, die ältere in Zoes, die jüngere in Sandras Alter? Vielleicht auch nur, weil er nicht glauben will, dass hier trotz der Faktenlage alles so eindeutig ist, wie es scheint? Apropos Kalz, wo ist der eigentlich? Müsste der nicht schon längst wieder zurück sein? Verfluchte Hitze, wahrscheinlich hat er es am Telefon gesagt, aber Mattusch hat das Gefühl, statt eines Gehirns nur noch klebrigen Dampf im Kopf zu haben, den eine Apfelsaftschorle nur kurzfristig etwas runterkühlt. Von Zoe, die zuerst einen Teil des Papierkrams erledigt hatte und anschließend in die Klinik gefahren war, hatte er erfahren, dass Wolfgang Gerlach wegen des starken Blutverlustes durch die Verletzung der Halsschlagader sowie wegen des Messerstichs in den Brustkorb in ein künstliches Koma versetzt worden und somit nicht vernehmungsfähig war. Ein schöner Schlamassel! Mattusch müsste sich wirklich etwas einfallen lassen, um Zeit zu gewinnen.

Und wie bestellt kommt der Anruf, den er erwartet hat und dem er doch so gern entgangen wäre. Selbst wenn sich seine Schorle jetzt doch noch wie durch ein Wunder in ein Hetzelsdorfer verwandeln würde, allein die Stimme von Tobisch reicht aus, um ihm jegliche Form von Appetit zu verderben. Diese etwas zu dünne, etwas zu hohe Stimme, die klingt, als habe Tobisch permanent ein Monokel im Auge und eine Pinzette in der Hand, um die Welt auf Dinge zu untersuchen, die ihm eventuell nicht passen könnten. Ob er sich an den Fall Klatte erinnern könne, fragt Tobisch denn auch gleich wie ein Oberlehrer unter Kaiser Wilhelm, und dummerweise konnte Mattusch nicht.

»Nein?«

Mattusch glaubt, durchs Telefon zu sehen, wie das Eulengesicht die Augenbrauen hochzieht.

»Im vergangenen Dezember hat in Bremen ein Schüler seine Lehrerin auf offener Straße niedergestochen. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor? Dieser Tat sind schwere Versäumnisse vorausgegangen, sowohl seitens der Schulleitung als auch seitens der Polizei. Vor dem Thema ›Gewalt gegen Lehrer‹ verschließen immer noch zu viele die Augen. Insbesondere dann, wenn es um Täter mit Migrationshintergrund geht. Wo befindet sich denn die Kovács momentan? Ist sie bereits vernommen worden?«

»Sie ist auf der Intensivstation im Nordklinikum.« Mattusch verzichtet darauf zu erklären, dass Sandra keinen Migrationshintergrund hat und wenn, dann einen, der irgendwo in ihrer Ahnenliste zu finden ist. Stattdessen wartet er auf das berühmte Tobisch-Pfeifen, und da kommt es auch schon:

»Piuhhh piuhhh!« Die zwei Töne, von oben nach unten gezogen und durch schmal zusammengepresste Lippen ausgestoßen, stehen für Alarmstufe rot.

»Sie wissen, dass wir dort für nichts garantieren können?!«

»Natürlich. Aus diesem Grund sitzt auch ein Beamter vor der Tür.«

»Piuhhh piuhhh! Wie ist der Zustand von Frau Kovács?«

Das ist genau die Frage, für die der Joker bestimmt ist, nur wie soll er ihn einführen? Nach und nach, langsam darauf zuführen oder doch besser auf den Überraschungseffekt setzen? Mattusch entschließt sich blitzschnell für die zweite Variante:

»Sie ist eine Zeitbombe!«

»Sie ist eine was?«

Mattusch schnappt nach Luft, bevor er antwortet. Die Luft schmeckt nach heißem Straßenpflaster.

»Herr Tobisch, Sie wissen, dass wir bereits vier Todesfälle haben, die alle in Zusammenhang mit einer bestimmten Droge stehen, die irgendwo aus dem Osten kommt und seit einigen Wochen im Großraum in Umlauf ist.«

»PepZero. Ich weiß.«

»Sandra Kovács hatte PepZero im Blut. Da wir nicht wissen, unter welchen Umständen diese Droge tödlich ist, geht der behandelnde Arzt von einer ernstzunehmenden Gefahr für ihr Leben aus und hat sie für nicht transportfähig erklärt.«

George Thorogood and the Destroyers

»Nee – danke! Milan, mach das aus! Was ist denn da grad reingekommen?«

»Lies am besten selber. Da!« Milan deutet mit einem Kugelschreiber auf die offenbar wichtigste Stelle der Botschaft. Kalz liest:

Am Freitag und Samstag wird uns so richtig eingeheizt. Die Sonne scheint, am Freitag durch ein paar Schleierwölkchen, am Samstag durch gar nichts gestört. Maximal 32 bis 33 Grad am Freitag und 34 bis 35 Grad am Samstag. Der Südwind lebt tagsüber etwas auf und wirkt dann wie ein Heißluftgebläse. Sind abends die Temperaturen so weit gesunken, dass der Wind richtig kühlend wirken könnte, ist er meist schon wieder abgeflaut.

Wetterochs.

»Ist das nicht ein Wahnsinn?« japst Milan. »Ich tauch ja jetzt schon alle zwei Stunden mein T-Shirt in kaltes Wasser, und in spätestens einer Viertelstunde ist es am Körper wieder trocken.«

»Wer, zum Teufel, ist der Wetterochs?«

»Den kennst nicht? Mann, der ist Kult! Der verschickt jeden Tag 'ne Wettermail für Nürnberg und Umgebung. Mit exorbitanter Trefferquote!«

»Ja. Schön.« Kalz versucht, seinen Krawattenknoten ein wenig zu lockern. »Und sonst hast du nix auf Lager?«

»Klar doch, Manni.« Milan knufft ihn freundschaftlich in die Rippen, was Kalz mit einem verkniffenen Lächeln quittiert – wobei man das leichte Kräuseln der schmalen Lippen nur mit viel gutem Willen als Lächeln interpretieren kann. »Wir sind da einem anonymen Hinweis auf einen Russlanddeutschen nachgegangen, der in der Holzschuherstraße mit Autos handelt. Viktor Staufert heißt der Mann. Den hab ich mir in der letzten Zeit etwas näher angesehen. Da wurde mir dann auch ziemlich schnell klar, dass der unmöglich allein von seinem Kfz-Handel leben kann, so, wie er den betreibt. Dann hab ich in dem Viertel meine Ohren gespitzt und mir ein paar Nächte um dieselben geschlagen, und dabei ist mir ein paarmal ein dunkelgrauer BMW Kombi mit tschechischem Kennzeichen aufgefallen. Mal vor der Werkstatt, mal irgendwo um die Ecke. Natürlich hab ich mich mit der Simaková in Pilsen kurzgeschlossen. Und siehe da! Wem gehört der Wagen? Einem gewissen Miroslav Janda, seines Zeichens – sagen wir mal – Geschäftspartner von einem Geschäftspartner vom Kníže und der Pilsener Polizei gut bekannt.«

»Kníže?«

»Hab ich die Simaková schon vor einiger Zeit mal gefragt – wer ist Kníže? Die Antwort auf gut Deutsch: der Fürst. Der Fürst von Pilsen. Und wer sich beim Kníže unbeliebt macht, der braucht sich keinen Sarg und keine Urne vorbestellen, denn von dem bleibt im Normalfall nix mehr übrig. Das heißt, wenn sie den Fürsten jemals vor Gericht bringen, könnte das ein Prozess mit äußerst spärlichen Zeugenaussagen werden.«

»Und was ist jetzt mit diesem Viktor?«

»Der ist heute Abend noch fällig. Und für morgen bist du eingeladen, ihn dir in deiner Sache einmal vorzuknöpfen. Na? Ist das was?«

Milan strahlt, als würde er Kalz einen selbstgebastelten Sampler mit seinen persönlichen Greatest Hits aus fünfzig Jahren Rockgeschichte überreichen.

 

*

 

Als Zoe Kandeloros am frühen Abend ihr Fahrrad über das warme Pflaster der Ludwigstraße in Richtung Plärrer schiebt, vorbei an all den Stühlen und Sesseln, die auf dem Bürgersteig vor den Wirtschaften stehen, vorbei an den vielen Flachbettmonitoren, die vor den Hausfassaden aufgebaut worden sind – »geh weiter, Madla, du bist fei net aus Glas!« – vorbei an dem Kondomgeschäft, der Kentucky Fried Chicken-Filiale, dem Asiaimbiss, dem Shishacafé und dem Dönerrestaurant, kommt sie sich vor, als würde sie die Welt um sich herum wie durch einen Nebel wahrnehmen oder durch eine Scheibe aus getöntem Glas. In der Stadt herrscht Ausnahmezustand – König Fußball regiert die Welt und umgibt sich mit einem Mantel aus Geräuschen, die entfernt an einen ausschwärmenden Hornissenstock erinnern. Es hupt, es trötet, es schreit, es klatscht und pfeift, und auf den Fernsehbildschirmen laufen winzige Asiaten hinter einem Ball her, der ihnen von der gegnerischen Mannschaft immer wieder abgenommen wird. Aus einem Chor von Lautsprechern verkündet ein Moderator, dass es immer noch null zu null im Spiel Japan gegen Paraguay stehe und man sich wohl so langsam auf das erste Elfmeterschießen dieser Weltmeisterschaft einstellen könne. Es kommen ihr nur wenige Menschen entgegen, die meisten sitzen gebannt vor den Mattscheiben.

Was weiß man von ihnen, von dem, was in ihren Köpfen, in ihren Seelen geschieht, wenn sie nicht gerade vom kollektiven Fußballfieber erfasst sind? Welche Geschichten tragen sie mit sich herum, wie viele gute und wie viele schlechte Erinnerungen? Zoe weiß, dass sie die Blutlache auf dem Pflaster der Kaulbachstraße nicht so schnell wieder vergessen wird, genauso wenig wie das Gesicht des Bauarbeiters und den vollkommen verstörten, aufgelösten Ausdruck darin – es hatte ausgesehen, als wäre in ihm etwas zusammengestürzt, ein Gerüst, auf dessen Stabilität er sich sein Leben lang verlassen hatte.

Sie ist auf dem Weg in ihre »Mädels-WG« in der Bauerngasse. Sie hätte auch bei ihren Eltern wohnen können, aber sie wollte Unabhängigkeit. Über die Freundin einer Freundin hatte sie von dem Zimmer erfahren und war noch am selben Tag zu den beiden Frauen in der geräumigen Altbauwohnung gefahren. Die Prozedur, der sie sich unterziehen musste, war zwar ein wenig seltsam – sie hatte sich unwillkürlich an die Aufnahmebefragung zur Polizeiakademie vor einigen Jahren erinnert gefühlt – aber sie hatte das hübsche Zimmer bekommen, offenbar war sie ihren beiden Mitbewohnerinnen sympathisch, und diese Sympathie beruht durchaus auf Gegenseitigkeit.

Vor dem Marktkauf kollidiert Zoe beinahe mit einem
Rennradfahrer, der aus Richtung des ehemaligen Kali-Kinos kommt, in dem jetzt schon seit Jahren ein Puppentheater residiert. Er entschuldigt sich nicht, knurrt nur irgendwas von wegen Kanakenbraut, fährt an ihr vorbei über die Straße und entschwindet ins Innere der Altstadt, dorthin, woher sie gerade gekommen ist. Sie schaut ihm noch nach, als er schon lange nicht mehr zu sehen ist.

Wir hängen doch alle irgendwie an Fäden, denkt sie, genau wie all die Puppen im alten Kali, und so wenig wie sie wissen wir, wer uns eigentlich in Händen hält und lenkt.