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Jan Beinßen

 

Die Schäufele-­

Verschwörung

 

Paul Flemmings neunter Fall

 

Kriminalroman

 

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage Oktober 2014)

© 2014 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Dr. Hanna Stegbauer

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung eines Fotos von © Stephan Bär

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-482-6

 

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Danksagung

Der Autor

 

»Angsthasen erleben keine Abenteuer.«

Anonymus

 

 

1

Das Telefon klingelte. Paul, schon mit einem Fuß im Flur, überlegte, ob er drangehen oder den Anruf ignorieren sollte. Denn er war sowieso spät dran. Katinka wartete zu Hause auf ihn. Sie wollten heute Abend ausgehen. Er hätte sein Atelier längst verlassen haben müssen.

Darauf nahm das Telefon keine Rücksicht. Es drängte sich ihm mit penetrantem Ton weiter auf, sodass er nicht anders konnte, als doch noch abzunehmen.

»Ja?«, fragte er kurz angebunden.

Eine Frau meldete sich mit heller Stimme: »Hallo? Spreche ich mit Paul Flemming?«

Wen erwartete sie denn sonst, wenn sie seine Nummer wählte? Paul war versucht, ihr genau diese Frage zu stellen, blieb aber höflich: »Ja, am Apparat. Wer ist dran?«

»Die Vivi.«

Er konnte den Namen nicht gleich unterbringen. »Vivi … – und wie weiter?« Er schielte auf seine Armbanduhr.

»Wir haben uns Auf AEG kennengelernt. Bei der Vernissage vom Ralf.«

Auf AEG? Paul war öfter zu Gast bei Veranstaltungen in den vorwiegend von freischaffenden Künstlern genutzten ehemaligen Werkhallen an der Fürther Straße, hatte aber noch immer keinen blassen Schimmer, mit wem er sprach. Er dachte an die Karten, die an der Kinokasse des Admiral auf Katinka und ihn warteten, und drückte aufs Tempo: »Sorry, Vivi, aber im Moment stehe ich auf dem Schlauch. Was denn für eine Vernissage und von welchem Ralf?«

»Ästhetischer Akt in Schwarz-Weiß. Weißt du nicht mehr? Na ja, ist auch egal. Wir haben eine gemeinsame Freundin: Heike Bach.«

Diesmal klickte es bei Paul. Heike Bach war ihm ein Begriff. Ihre Wege hatten sich immer wieder gekreuzt. Anfangs hatte er sie nicht besonders gemocht und für extrovertiert, aufdringlich und geltungssüchtig gehalten. Bald stellte er aber fest, dass vieles davon nur aufgesetzt war, um ihren weichen Kern und die ihr eigene Wankelmütigkeit zu verbergen. Als er ihr das auf den Kopf zusagte, war das Eis gebrochen und der Weg für eine lose Freundschaft geebnet. Seit seiner Heirat mit Katinka hatte er Heike allerdings aus den Augen verloren.

»Ich bin heute zu Heike gefahren«, redete Vivi weiter. »Also, spontan. Zum Prosecco-Trinken und Ratschen.«

Paul fragte sich, warum er sich das anhören musste und damit den Verfall seiner Kinoreservierung riskierte. »Schön, schön. Ich hoffe, ihr hattet euren Spaß.«

»Eben nicht!«, kam es nervös zurück.

»Warum denn nicht?«

»Weil Heike nicht daheim war, als ich ankam.«

»Wie jetzt?« Paul wusste nicht, worauf dieses wirre Telefonat hinauslaufen sollte.

»Ich stehe gerade in ihrer Wohnung. Weil, die Tür war nur angelehnt. Und da dachte ich, ich schau einfach mal rein. Ich habe überall nachgesehen, aber Heike nicht gefunden.«

Paul beschloss, diese fruchtlose Konversation abzubrechen. »’tschuldigung, aber ich habe es echt eilig. Können wir wann anders weiterreden?«

»Ja, schon. Aber ich stecke hier echt in der Klemme.« Sie klang jetzt ein wenig panisch. »Ich dachte, ich bin bei dir richtig. Weil, du hast Auf AEG ja gesagt, dass du nicht nur fotografierst, sondern auch als Detektiv arbeitest.«

»Arbeiten wäre zu viel behauptet. Das ist mehr ein Hobby, wenn man es so nennen will.«

»Jedenfalls könnte das hier etwas für einen Detektiv sein. Denn Heike ist nicht hier. Keine Spur von ihr. Da ist nur dieser Typ.«

»Was für ein Typ?«, fragte Paul zunehmend genervt.

»Ich kenne ihn nicht. Der Kleidung nach ein Bayer. Also Ober- oder Niederbayer. Jedenfalls kein Franke.«

»Woran machst du das fest?«

»Er hat solche Sachen an: Lederhosen und Trachtenjanker«, sagte sie verstört.

»Auch einen Seppelhut mit Gamsbart?« Paul seufzte. »Du brauchst keinen Detektiv. Frag ihn einfach, wo Heike steckt. Er sollte es ja wissen, wenn er in ihrer Wohnung hockt. War’s das? Ich muss jetzt nämlich wirklich los!«

»Ich soll ihn fragen?« Auch Vivi seufzte. »Das geht nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Weil der nicht mehr reden kann.«

Paul zögerte einen Moment. Dann stellte er die naheliegende Frage: »Warum?«

»Mmm«, druckste Vivi herum. »Ich glaube, der Typ ist tot.«

»Was?« Machte sie etwa einen schlechten Scherz? Ihre Stimme hörte sich nicht so an.

Paul war alarmiert. Die Kinoverabredung war in ihrer Relevanz soeben ein ganzes Stück nach hinten gerutscht.

»Wie kommst du da drauf?«, erkundigte er sich behutsam.

»Er liegt so komisch auf dem Sessel. Irgendwie verdreht. Und er atmet nicht mehr. Ich habe ihm gerade auf die Stirn gelangt: ganz kalt.«

»Vivi!«, rief Paul durch den Hörer und redete beschwörend auf sie ein: »Lass seine Stirn in Ruhe und fass auch sonst nichts an!« Er holte tief Luft und befahl: »Leg auf und wähl sofort den Notruf!«

»Für einen Arzt ist es wohl zu spät.«

»Das kannst du nicht beurteilen. Wähl den Notruf und alarmier auch die Polizei!«

Am anderen Ende der Leitung blieb es seltsam still.

»Hast du mich verstanden?«, hakte Paul energisch nach.

»Ja, schon. Aber das mit der Polizei finde ich nicht gut. Ich möchte keinen Ärger. Habe mit der Sache ja nichts zu tun. Deshalb habe ich dich angerufen statt der Bullen. Kannst du nicht mal schnell vorbeischauen? Du weißt doch, wo Heike wohnt.«

»Weiß ich, ja, aber ich halte das für keine gute Idee. Entweder du rufst jetzt beim Notdienst an oder ich übernehme das.«

Vivi schien nicht überzeugt. »Ich glaube, Heike steckt in Schwierigkeiten«, gab sie endlich den Grund für ihr Zaudern preis und appellierte an Paul: »Tu es ihr zuliebe. Schau dir den Toten wenigstens mal an, bevor du die Polizei holst. Du brauchst doch nicht lang bis hierher.«

Paul wog das Für und Wider ab. Wenn der Mann tatsächlich tot war – und Vivis Beschreibung sprach dafür –, kam es auf ein paar Minuten mehr oder weniger nicht an. Er rang sich eine Zusage ab: »Meinetwegen. Aber denk dran, bloß nichts mehr anrühren, sonst kommst du in Teufels Küche!«

Als er das Haus verließ, blies ihm ein kalter Wind entgegen. Typisch April, dachte er. Heute Morgen hatte noch die Sonne geschienen, und jetzt sah es so aus, als würde der Winter zurückkehren. Er zog die Enden seines Kragens zusammen und sprang in seinen Renault. Dabei fiel ihm ein, dass er nicht einmal Vivis Nachnamen kannte, geschweige denn sonst etwas über sie wusste, außer dass sie gelegentlich Vernissagen besuchte.

 

2

Keine Viertelstunde später traf Paul in der Parkstraße ein. Der Straßenzug selbst hatte nichts Ungewöhnliches an sich: Die Fronten der drei- bis viergeschossigen Mehrfamilienhäuser waren in freundlichen Tönen gestrichen oder trugen den pastellroten Ton fränkischer Sandsteinfassaden. Die grünen Inseln um die Straßenbäume machten im Licht der Straßenbeleuchtung einen sorgsam gepflegten Eindruck. Mülltonnen standen gerade und brav am Gehsteigrand Spalier. Alles wirkte aufgeräumt und wohlgeordnet. Selbst die kopierten Zettel mit dem Aufruf »Beagle entlaufen! Hört auf den Namen Fritzi. Hinweise bitte an Familie Leinenweber!« waren penibel gerade an die Laternenmasten geklebt. Eine Mustersiedlung, dachte Paul.

Heike Bach besaß eine Eigentumswohnung in einer Mehrparteienanlage, die Paul wegen ihrer schlichten Siebzigerjahrearchitektur in Erinnerung geblieben war. Inmitten des alten Baubestandes fiel sie etwas aus dem Rahmen. Zwar hatte es ihn bisher nur einmal hierher verschlagen, weil Heike eines seiner Bilder gekauft und er den großformatigen Abzug bei ihr abgegeben hatte, doch er fand den Wohnblock auf Anhieb wieder.

Zu seiner Verwunderung standen mehrere Einsatzwagen kreuz und quer vor dem Haus und parkten den Gehweg zu. Sie sagten ihm, dass Vivi es sich anders überlegt und die Polizei doch noch verständigt hatte. Kurz dachte er daran, einfach wieder umzukehren und die Sache auf sich beruhen zu lassen. Doch dafür war seine Neugierde mittlerweile zu groß.

Er betrat den Hausflur, ging gleich bis hinauf ins Obergeschoss und näherte sich der weit offen stehenden Tür von Heike Bachs Wohnung. Im Inneren wuselten Uniformierte und einige Männer in Zivil durcheinander. Aber wo war Vivi?

Er trat näher, lehnte sich an den Rahmen und spähte in die Wohnung. Auch aus dieser Perspektive blieb seine Suche nach Vivi erfolglos. Dafür aber entdeckte er jemanden, dem er lieber nicht begegnen wollte. Eilig zog er seinen Kopf zurück. Doch zu spät: Er war bereits entdeckt worden.

»Moment! Wen haben wir denn da?«, knarrte eine markante Stimme.

Kripochef Winfried Schnelleisen erschien in der Tür. Groß, knochig, mit pockennarbigem Gesicht. Schnelleisen fletschte seine gelben Zähne. Für ihn war das offenbar ein Lächeln.

»Habe mich in der Adresse geirrt«, beeilte sich Paul zu erklären und wollte türmen.

»Nicht so husch-husch, Flemming!«, bremste Schnell­eisen ihn aus. »Dies ist ein Tatort. Was haben Sie hier verloren?«

»Ein Tatort?« Paul mimte den Ahnungslosen. »Was ist denn passiert? Doch nicht etwa ein Mord?«

Schnelleisen kniff die Augen zusammen. »Ihre Ehe mit der werten Frau Oberstaatsanwältin Blohm macht Sie nicht unantastbar. Wie ich Sie kenne, ist es keineswegs ein Zufall, dass Sie hier aufkreuzen.«

Paul lehnte sich an den Rauputz der eierschalenfarben gestrichenen Treppenhauswand. »Ich sagte doch, dass ich mich in der Adresse …«

»Gschmarri!«, fuhr der Kripoboss ihm ins Wort und stampfte mit dem rechten Fuß auf, um seine Autorität zu unterstreichen. Dabei fiel Paul auf, dass er weiße Socken zu seinen grauen Hochwasserhosen trug.

»Also gut«, lenkte Paul ein. »Ich habe einen Anruf erhalten. Angeblich soll in dieser Wohnung ein Toter liegen.«

»Aha!« Schnelleisen baute sich vor ihm auf. »Frau Bach, die Eigentümerin, hat Sie also verständigt. Wa­rum gerade Sie? Und wo ist sie geblieben? Sie ist nämlich nicht mehr hier.«

»Nein, nein.« Paul winkte ab. »Der Anruf kam von jemand anderem, einer Bekannten von Heike Bach und mir.« Er berichtete, was vorgefallen war.

»Die Anruferin nannte sich Vivi, aber Sie kennen ihren Nachnamen nicht?«, fasste Schnelleisen zweifelnd zusammen.

»Genau genommen kenne ich nicht einmal ihren richtigen Vornamen. Denn Vivi ist ja eher ein Spitzname, vielleicht eine Abkürzung für Vivian«, so redete Paul seine eigene Rolle in dieser Angelegenheit klein. »Wer hat Sie denn alarmiert?«

»Ein anonymer Hinweis. Möglicherweise von derselben Frau, die Sie angerufen hat«, antwortete Schnelleisen knapp.

»Na dann …« Paul wandte sich zum Gehen. Je eher das Gespräch mit dem unangenehmen Kommissar beendet war, desto besser für ihn.

»So leicht lasse ich Sie nicht aus, Flemming«, machte dieser seine Hoffnungen zunichte. »Diese Vivi – oder wie auch immer ihr echter Name lautet – hat Sie gewiss nicht zufällig ausgewählt. Es muss einen triftigen Grund dafür geben, warum sie zuerst Sie angerufen hat und nicht gleich die Polizei. Einen Grund, der ganz bestimmt nicht in Ihren bescheidenen detektivischen Qualitäten zu suchen ist.« Er zog die Stirn in Falten, was wohl bedeutete, dass er scharf nachdachte. »Sie kennen Frau Bach, Sie kennen die ominöse Vivi – kannten Sie etwa auch den Toten?«, wollte der Chefermittler dann wissen.

»Keine Ahnung.«

»Wieso nicht? Sie müssen doch wissen, wen Sie kennen!«

»Ich habe ihn bisher ja nicht zu Gesicht bekommen«, gab Paul zu bedenken.

Schnelleisen nickte kurz und heftig. »Guter Einwand.« Er machte den Eingang frei. »Folgen Sie mir. Das Opfer liegt im Wohnzimmer.«

Schnelleisen ging straffen Schrittes voran und führte Paul in den großzügig geschnittenen Wohnbereich der Mansardenwohnung, der von freiliegenden, weiß lackierten Dachbalken dominiert wurde.

Vivi hatte nicht übertrieben: Bei dem Toten handelte es sich um einen Bayern wie aus dem Bilderbuch. Ein gestandenes Mannsbild von vielleicht sechzig Jahren, dessen stramme Waden aus ledernen Kniebundhosen lugten. Auf dem zottigen schwarzen Haar hatte vermutlich der moosgrüne Filzhut gesessen, der nun auf dem Boden neben der Leiche lag. Der Mann, der unnatürlich verrenkt über der Lehne eines Sessels hing, besaß eine kräftige Statur und scharf gezeichnete Züge in einem ins Südländische tendierenden Gesicht. Die Haut war faltig und wettergegerbt.

Seinen Hinterkopf zierte eine blutige Wunde.

»Was sagen Sie? Kennen Sie den Mann?« Schnelleisen ließ Paul kaum Zeit zum Nachdenken.

»Ich glaube nicht«, meinte Paul und ging in die Knie, um das Gesicht des Toten besser sehen zu können.

»Glauben heißt nicht wissen«, beharrte Schnelleisen, dem wohl an einer verbindlichen Aussage gelegen war. »Gehört dieser Mann auch zu dem dubiosen Bekanntenkreis von Heike Bach, Vivi und Ihnen?«

»Nein«, stellte Paul nach genauerem Hinsehen klar, wobei er mit der linken Hand an einen harten, kalten Gegenstand stieß, der auf dem Boden lag.

»Sind Sie sicher?«, vergewisserte sich Schnelleisen.

Paul sah nach, was er gefunden hatte: einen kleinen Schlüssel, der verborgen halb unter dem Sessel gelegen hatte. Ohne lange nachzudenken, schloss er seine Finger um den Schlüssel und hob ihn auf.

»Also?«, drängte Schnelleisen. »Ist Ihnen dieser Mann in irgendeiner Weise bekannt?«

»Nein«, wiederholte Paul und richtete sich auf. »Aber ich habe da eben …« Er machte Anstalten, dem Kommissar seinen Fund zu zeigen.

»Wenn Sie das Opfer nicht identifizieren können, sind Sie hier überflüssig«, unterbrach Schnelleisen barsch. »Bitte verlassen Sie den Tatort!«

»Aber ich …«, setzte Paul erneut an, seine Entdeckung zu melden.

Doch Schnelleisen schaltete auf stur und drängte Paul aus der Wohnung. »Sie sollen verschwinden. Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt?«

Paul startete einen letzten halbherzigen Versuch, den ignoranten Ermittler auf den Schlüssel in seiner Hand hinzuweisen, ließ ihn nach der nächsten unflätigen Bemerkung des Kommissars jedoch beleidigt in seiner Hosentasche verschwinden. Ohne weitere Widerworte folgte er Schnelleisens Anweisung und kehrte dem Tatort den Rücken.

Nachdem der Kripochef ihn vor die Tür gesetzt hatte, ging Paul nachdenklich die Treppe hinunter und blieb im ersten Stock stehen. Er tastete nach dem Schlüssel in seiner Tasche und holte ihn heraus. Er musterte ihn im kalten Licht der Korridorlampe.

Ein kleiner Schlüssel mit kurzem Bart, gummiumschlossenem Schaft und eingeprägter Zahl. Offensichtlich gehörte er zu einem Schließfach. Paul überlegte, wo in der Nähe es solche Fächer geben könnte. Dabei fiel ihm auf die Schnelle nur der Hauptbahnhof ein.

Er nahm sich vor, seinen Fund gleich morgen bei Jasmin Stahl zu melden, die zwar ebenfalls zu Schnelleisens Team gehörte, ihrem Boss aber intellektuell und auch sonst weit überlegen war. Vor allem hegte sie nicht den gleichen Groll gegen ihn wie der Hauptkommissar, den Paul mit seinem wiederholten Einmischen in Polizeiangelegenheiten gegen sich aufgebracht hatte.

Paul steckte den Schlüssel zurück in seine Hosentasche und war gerade im Begriff weiterzugehen, als er auf einen Beobachter aufmerksam wurde: Am gegenüberliegenden Ende des Flurs stand eine Tür halb offen, aus der ihn ein Mann im Halbschatten taxierte.

Paul nickte ihm zu und rief: »Ein ganz schöner Trubel, was?«

Mit diesem lockeren Spruch lockte er den Beobachter aus seiner Deckung. Zum Vorschein kam ein mittelalter Herr von unauffälliger Erscheinung: nicht besonders groß, von etwas gedrungener Statur, Allerweltsgesicht, eintönig gekleidet in Beige- und Brauntönen.

»Was ist denn da los?«, erkundigte sich der Mann neugierig und gleichzeitig besorgt.

»In der Wohnung Ihrer Nachbarin hat es einen Unfall gegeben«, antwortete Paul, wobei er verheimlichte, dass es sich allem Anschein nach um eine Gewalttat gehandelt hatte.

»Unfall?« Der Mann wagte sich noch ein Stück weiter aus seiner Wohnung. »Was ist passiert? Muss Frau Bach etwa ins Krankenhaus?«

»Es gab einen Toten«, ließ Paul sich entlocken und schielte auf das Klingelschild neben der Wohnungstür. »Herr Prechtl?«

»Ja, Bernhard Prechtl«, stellte der Nachbar sich vor und blinzelte nervös. »Ein Toter, sagen Sie? Aber das ist ja schrecklich. Ganz schrecklich! Wer ist es denn?«

»Das weiß man bislang nicht. Er trug keine Papiere bei sich. Vielleicht ein Freund von Frau Bach. Möglich, dass Sie ihn identifizieren können«, meinte Paul.

»Ich?« Prechtl ging sofort wieder einen Schritt zurück und suchte Schutz hinter dem Türrahmen. »Das glaube ich kaum. Frau Bach hatte häufig Besuch. Da habe ich nicht mehr weiter drauf geachtet.«

»Was denn für Besuch? Männer? Frauen? Beides?«

»Meistens Herrenbesuch«, sagte Prechtl. Dann legte sich ein seltsamer Zug über sein Gesicht, und er erkundigte sich mit aufkeimendem Misstrauen: »Weshalb wollen Sie das wissen? Gehören Sie auch zur Polizei?«

»Nein, nein.« Paul winkte ab. »Es interessiert mich nur, weil Heike Bach eine Bekannte von mir ist. Sie wissen nicht zufällig, wo sie sich gerade aufhält?«

Prechtl schien sich zu beruhigen. »Nein«, antwortete er merklich gelassener. »Ich weiß nicht einmal, was sie beruflich macht.«

Ich auch nicht, musste sich Paul eingestehen und erfuhr:

»Eine Weile hat sie als Maklerin gearbeitet. Es kann sein, dass sie das noch immer tut. Auf jeden Fall hat sie sehr unregelmäßige Arbeitszeiten.«

»Sie haben wohl nicht sonderlich viel Kontakt zu ihr, Herr Prechtl?«

»Nicht mehr und nicht weniger als zu jedem anderen hier im Haus. Wenn Sie mehr wissen wollen, können Sie ja drüben bei Frau Mayer klingeln, obwohl sie die Türglocke meistens nicht hört, denn sie ist fast taub. Versuchen Sie es besser gleich unten bei den Schramms.«

»Schon recht, Herr Prechtl. Aber ich möchte die Leute hier nicht mit meiner Neugier belästigen. Schon gar nicht am Abend. Danke für Ihre Auskünfte.«

»Gern.« Prechtl schob langsam die Tür zu. »Auf Wiedersehen.«

»Wiedersehen«, sagte Paul und war sich sicher, dass Prechtl und gewiss auch die anderen Nachbarn viel mehr über Heike Bachs Lebensweise und vielleicht auch über den toten Gast wussten, als er soeben gehört hatte. Fragte sich nur, ob die Polizei sie zum Reden bringen würde.

Kaum zurück im Wagen, nahm er sein Handy zur Hand, um Katinka anzurufen. Dabei fiel sein Blick in den Rückspiegel, den er beim Einsteigen versehentlich nach unten gedreht hatte. Im gnadenlosen Kunstlicht der Autoleuchte fielen ihm die unzähligen Fältchen um seine Augen auf, die daheim vom leicht getönten Badezimmerspiegel schmeichelhafterweise unterschlagen wurden. Auch meinte er, dass die grauen Haare stark im Vormarsch waren. Das Alter forderte seinen Tribut. Trost fand Paul in dem Gedanken, dass Hollywood-Frauenschwarm George Clooney, mit dem er noch immer oft verglichen wurde, auch nicht mehr so aussah wie vor zwanzig Jahren.

»OLG Nürnberg, Büro des Oberstaatsanwalts, Sie sprechen mit Frau Luksch«, meldete sich Katinkas Assistentin, die mal wieder Überstunden machte.

»Flemming. Könnte ich bitte meine Frau sprechen?«

»Das ist gut, dass Sie anrufen. Frau Blohm bat mich, Ihnen auszurichten, dass sie ihre Verabredung nicht einhalten kann und es nicht pünktlich ins Kino schafft.«

Umso besser, dachte Paul. Dann brauchte er kein schlechtes Gewissen zu haben.

»Kann ich sie trotzdem kurz sprechen?«, bat er.

»Frau Blohm ist gerade sehr beschäftigt. Sie hat mich angewiesen, keine Gespräche durchzustellen. Darf ich etwas ausrichten?«

Paul wusste, dass Katinka von der Zuverlässigkeit ihrer rechten Hand schwärmte. Aber in Pauls Augen übertrieb es Frau Luksch, weshalb er mit ihr latent auf Kriegsfuß stand. »Stellen Sie mich bitte trotzdem kurz zu ihr durch. Wird nicht lange dauern«, forderte er sie höflich auf.

»Ich sagte doch: Frau Blohm möchte nicht gestört werden.«

Nun ist aber gut!, ärgerte sich Paul. »Hören Sie, Frau Luksch: Ich muss meine Frau sprechen. Und wenn Sie mich nicht sofort verbinden, rufe ich auf ihrem iPhone an.«

»Das wird Ihnen nicht weiterhelfen«, sagte die Assistentin ohne jede Aufregung.

»Warum?«

»Weil das iPhone neben mir liegt. Sie würden also wieder bei mir landen.«

»Zum Kuckuck, geben Sie mir endlich meine Frau!«, schnauzte Paul ins Telefon.

»Ich werde ihr ausrichten, dass Sie angerufen haben, Herr Flemming. Auf Wiederhören und einen angenehmen Abend«, sagte Frau Luksch und legte auf.

Paul sah seine geröteten Wangen im Rückspiegel und erkannte, dass seine Wut die Zahl der Falten abermals hatte anwachsen lassen. Er verpasste dem Spiegel einen Klaps.

Was sollte er tun? Nach kurzer Überlegung beschloss er, es nun doch direkt bei Jasmin Stahl zu versuchen. Bei der Kommissarin könnte er das bisschen, was er über Heike Bach wusste, abladen und den Schlüssel gleich mit dazu. Er probierte es unter ihrer Dienstnummer und hatte trotz der fortgeschrittenen Stunde Glück:

»Ja, Paul, wo brennt’s?«, erklang ihre frische, energiegeladene Stimme.

»Noch nirgends. Aber das könnte sich bald ändern«, deutete Paul an. »Ich bin da nämlich in etwas hineingeraten.«

»Mach’s kurz, ich bin auf dem Sprung zum Volleyballtraining«, bat ihn Jasmin. »Und bitte sag mir nicht, dass du wieder in einem Mordfall mitmischst.«

»Doch. Und dein Boss hat es auch schon mitbekommen.« Paul redete gar nicht erst um den heißen Brei herum. »Es lief nämlich so, dass ich einen Anruf bekommen habe und daraufhin zu der Wohnung von Heike Bach, einer Bekannten, gefahren bin und –«

Weiter kam er nicht, denn Jasmin fiel ihm ins Wort: »Stopp! Ich will kein weiteres Wort darüber hören. Schnelleisen ist vor Ort und hat ein Team dabei, das sich der Sache annimmt. Wenn du sachdienliche Hinweise geben willst, gib sie ihm.«

»Das habe ich schon, aber …«

»Kein Aber, Paul. Ich habe es satt, ständig für dich die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Gib deine Aussage bei Schnelleisen zu Protokoll und fertig. Halt mich diesmal bitte raus.«

Mit einer solchen Abfuhr hatte Paul nicht gerechnet. »Ich habe ja versucht, ein vernünftiges Gespräch mit Schnelleisen zu führen«, erklärte er, »doch das war nicht möglich. Du kennst ihn und weißt, dass er mich nicht ausstehen kann.«

»Dann überleg mal, woran das liegen könnte.«

»Sei nicht gemein!«

»Das hat nichts mit Gemeinheit zu tun, sondern mit Selbstschutz. Wenn ich mich einmische, hält mein Chef mir das noch wochenlang vor und lässt es mich büßen.« Sie klang nun sehr reserviert. »Nein, Paul, diesmal nicht«, sagte sie entschieden und unterbrach die Verbindung.

Paul donnerte sein Handy auf den Beifahrersitz, von dem es abprallte und in den Fußraum fiel. Als er sich danach bückte, piekte ihn etwas im Gesäß. Er zog den Schließfachschlüssel aus der Hosentasche und betrachtete ihn argwöhnisch.

So was Dummes, dachte er, als ihm klar wurde, dass er sich wieder einmal selbst in die Bredouille gebracht hatte. Was sollte er nun tun, wenn er weder bei Katinka noch bei Jasmin Gehör fand? Etwa zurück ins Haus gehen und den Schlüssel doch noch bei Schnelleisen abgeben? Wie sollte er dann erklären, dass er ihn überhaupt eingesteckt hatte? Daraus würde ihm der Hauptkommissar in null Komma nichts einen Strick drehen und anschließend fest zuziehen. Nein, danke, darauf konnte Paul gut verzichten.

Wie also sonst vorgehen?

Den Schlüssel noch immer zwischen Daumen und Zeigefinger in Augenhöhe haltend, regte sich in Paul allmählich die Neugierde. Es wäre doch sehr interessant zu erfahren, was sich in dem Schließfach befand, ging es ihm durch den Kopf. Er nahm an, dass es etwas mit dem toten Mann in Heikes Wohnung zu tun hatte. Wenn das stimmte, könnte Paul womöglich dazu beitragen, den Fall schnell zu lösen, indem er der Polizei den Inhalt des Fachs quasi auf dem Silbertablett präsentierte. Mit etwas Glück würde er auf diese Weise auch gar nicht erst in Erklärungsnöte geraten.

Sollte er es also tun und selbst handeln oder lieber nicht? Die Vernunft sprach laut und deutlich dagegen, doch wäre Paul nicht Paul gewesen, hätte er auf die Stimme der Ratio gehört. Es juckte ihn in den Fingern, den Schlüssel in das passende Schloss zu stecken. Da konnte er einfach nicht widerstehen. Ja, er würde es machen! Er war gewillt, der Polizei ein wenig Arbeit abzunehmen und für sie den Türöffner zu spielen.

Paul ließ den Motor an und fuhr zum Hauptbahnhof.