image

Ben Redelings

Fußball ist nicht das Wichtigste im Leben …

Es ist das Einzige

VERLAG DIE WERKSTATT

2. Auflage 2009

ISBN 978-3-89533-660-7

Inhalt

001  Warum Henry Maske ein Fußballfan wurde

002  Bist du Schalker, oder wat?

003  Der Latino-Lover Christoph Daum

004  Der bärtige Superman aus Uerdingen

005  Die Haare zwischen den Zähnen eines Bayern-Stars

006  Matthäus und das Meeresrauschen

007  Unerwartete Fanpost für Herrn Christoph Biermann

008  Bin bis fünf Uhr früh in meiner Stammkneipe zu erreichen

009  Born to be wild mit Peter N.

010  Reime auf eine glorreiche Zukunft

011  Der König vom Revier

012  Ein Frauenklo in Duisburg

013  Ich war früher immer für Willi Lemke

014  Du bist genauso lustig wie der Mario Barth

015  Berti Vogts, Daniel Kehlmann, Hape Kerkeling und ich

016  Ahli sagt doch noch nicht Tschüss

017  Seine Berührungen brachten mich zur Ekstase

018  „Mach’s uns, BVB“

019  Wie ein Tim-Wiese-Bierbecher uns Bochumer endlich erlöste

020  Wolfgang Kleff gibt das Züchten von Blumen auf

021  Sepp Herberger holt seine Frau Ev von der Fensterbank herunter

022  Rolf Schafstalls Hoffnung auf ein vernünftiges Abendessen

023  Stefan Kuntz’ heimliche Liebe zu Kai Pflaume

024  Das Schild in den schönen Farben Blau und Weiß

025  Calli macht mir ein fantastisches Angebot

Danke

Der Autor

„In meinem Leben spielen drei Dinge eine wichtige Rolle:

Fußball, Bier und Frauen. Und zwar genau in dieser Reihenfolge!“

Rod Stewart (englischer Musiker,

als er noch ein bisschen jünger war als heute)

„Es ist schon verrückt, was der Fußball aus mir macht.“

Oliver Kahn (in seiner aktiven Zeit)

„Ich bin nicht Stiller!“

Max Frisch (in: Stiller, 1954)

image

Warum Henry Maske ein Fußballfan wurde

Das ewige Gelübde hatte damals genau drei Monate gehalten. Italien war unverdient und erschummelt Weltmeister geworden, und ich hatte mir wie Millionen anderer geschworen, mindestens ein Jahr lang keine Pizza zu essen. Ein schwacher Moment des Hungers hatte schließlich gereicht, um mich wieder in die behaarten Arme von Luigi zu treiben. Lange genug hatte er mich sehnsüchtig und mit traurigen Augen an seinem grün-weiß-rot gestreiften Ladenlokal vorbeilaufen sehen. Diese Zeit lag nun schon fast ein Jahr hinter uns, und so konnten Henk und ich beruhigt in Luigis kleine Taverne zum Mittagessen einkehren.

Henk ist mein Freund seit Grundschultagen und verdient sein Geld mittlerweile als Videokünstler. Dass es das wirklich als Beruf gibt, wusste ich vorher auch nicht, aber das muss nichts heißen, schließlich hätte ich auch nie gedacht, dass ich im Jahr 2007 noch einmal eine ganze Nacht lang mit meinem VfL Bochum von der Deutschen Meisterschaft würde träumen dürfen.

Den Vormittag über haben Henk und ich verzweifelt versucht, einige Szenen für meine neue Video-Kolumne in den Kasten zu bekommen. Ein revolutionäres Internetformat, das alles bisher Dagewesene in den Schatten stellen wird. So war es wenigstens gedacht. Doch nachdem ich einige Moderationssätze in die Kamera gesprochen hatte, fiel mir ein Sprachfehler auf, den ich bis jetzt noch nicht an mir wahrgenommen hatte. Ich hörte mich an wie die RTL-Moderatorin Katja Burkhard an besonders guten Tagen. Die S-Laute kamen mir einfach nicht fehlerfrei über die Lippen. Mein Lispeln benetzte nicht nur das Kameraobjektiv mit einer klebrigen Speichelspur, sondern hob auch die Mundwinkel von Henk zu einem nicht zu übersehenden Schmunzeln. Wenn ich nach einem Moderationspart wieder einmal frustriert, aber dennoch hoffnungsvoll fragte, ob es denn nun wenigstens ein bisschen besser gewesen sei, konnte sich Henk das Lachen nur schwer verkneifen. Trotzdem haben wir einfach weitergemacht und alle vorgesehenen Szenen abgedreht, bis uns der Hunger zu Luigi trieb.

Kaum haben wir die Eingangstüre der italienischen Taverne hinter uns geschlossen und einen ersten Blick auf die Speisekarte geworfen, spult Henk gewissenhaft seinen berühmten Standardsatz ab: „Die haben aber ganz schön angezogen, was?!“ Henk meint natürlich die Preise. Doch die sind bei Luigi schon kurz nach der Währungsreform, gemeint ist die von 1948, nicht mehr verändert worden. Dieses Argument bessert Henks Laune jedoch nicht im Geringsten auf, und so lade ich ihn für seine Mithilfe beim Dreh großzügig ein, was der Videokünstler mit einer ebenso großzügigen Aufstockung seiner geplanten Bestellung freudig zur Kenntnis nimmt. Wahrscheinlich hat ihn mein Gerede von den dicken Gehältern der Bundesligastars ganz kirre gemacht. Ich nehme mir vor, beim nächsten Mal etwas mehr über Frauenfußball zu sprechen. Und vielleicht beiläufig die Prämie der Nationalspielerinnen für den EM-Gewinn 1989, ein Kaffeeservice, zu erwähnen. Demut und Bescheidenheit haben bekanntlich noch nie jemandem geschadet, und ich möchte schließlich nicht, dass Henk vom Fußball endgültig ein falsches Bild bekommt. Denn wirklich Ahnung hat er davon nicht. Er ist ja schließlich Videokünstler.

Um halb vier sind wir mit Bochums bekanntestem Fußballfan nach Herbert Grönemeyer verabredet. So jedenfalls titulierte das Fußballmagazin „11Freunde“ Frank Goosen. Der Autor und VfL-Fan hat beim Öffnen der Tür natürlich ein Telefon am Ohr. Immer busy, der Mann. Wenn die Position von Reiner Calmund nicht schon so fest in den Geschichtsbüchern der Bundesliga verankert wäre, könnte ich mir Goosen dort als einen attraktiven Platzhalter für die Rolle des geschäftstüchtigen Liga-Schwergewichts vorstellen. Wobei der Vergleich natürlich rein figürlich schon etwas hinkt. Wer Calmund einmal leibhaftig vor sich hatte, fragt sich nämlich augenblicklich, welch unglaubliche Spannkräfte Hosenträger doch entwickeln können. Als ich ihn kurz vor der WM 2006 in einem einzigen Wortrausch auf einem Fankongress in Bonn gesehen habe, war ich froh, als er wieder weg war. Ich saß nämlich in der ersten Reihe. Gebannt hielt ich die Kamera auf den schwitzenden Rheinländer, beobachtete irritiert, wie er ständig seine Anzughose hochzog, und fürchtete bei dem sicherlich in Kürze eintretenden Total-Kollaps unmittelbar vor meinen Augen, ihm als Erste Hilfe eine feuchte Mund-zu-Mund-Beatmung verpassen zu müssen. Dazu ist es damals Gott sei Dank nicht gekommen. Aber während der nächsten Tage habe ich mir immer wieder vorgestellt, wie ihm die attraktive dunkelhaarige Assistentin im Dienstwagen beim Wechseln des nassgeschwitzten Hemdes hat helfen müssen. Eine Prozedur, die sich am Tage wahrscheinlich häufiger vollzog. Nimmt man eigentlich nicht ab, wenn man so aktiv ist und schwitzt?

Goosen hat endlich das Telefon beiseitegelegt und die VfL-Kaffeetassen herausgeholt. Henk mustert das großzügige Wohnzimmer und den anliegenden Garten. Er hat eine Idee, wo man die Kamera am günstigsten aufbauen kann. Goosen hat eine andere. Ich lasse die beiden diskutieren und entscheide mich schließlich für eine dritte Lösung, die ich beiden danach in einem Einzelgespräch quasi als ihre eigentliche Idee verkaufe. Alle sind zufrieden, und wir beginnen mit dem Interview.

Am Wochenende zuvor im Ruhrstadion hatte eine Wespe den Bremer Trainer Thomas Schaaf in die Lippe gestochen, und der Hamburger van der Vaart wusste nicht nur die Hanseaten zu begeistern, indem er das Trikot des FC Valencia in die Kamera eines spanischen Reporterteams hielt. Ein schöner Skandal und genug Zündstoff für ein humorvolles Gespräch unter Fußballverrückten.

Das Wetter ist herrlich. Keine Selbstverständlichkeit in diesem Sommer. Henk ist mittlerweile vollkommen überzeugt, dass das Format, das wir gerade abgedreht haben, einfach toll ist. Goosen ist wie immer witzig, die Idee neu und unverbraucht. Eben das, was die Welt stets fordert und nun auch endlich bekommen soll. Ich lasse mich für einen Moment von der Euphorie und dem warmen Gefühl des sonnigen Tages anstecken. Wir gehen auf ein Bier ins „Parkschlösschen“ direkt am Bochumer Stadtpark. Ich weiß natürlich, dass das mit dem einen Bier nicht klappen wird, nehme mir aber fest vor, es nicht ausufern zu lassen. Schließlich habe ich dem Mann vom „Kicker“ versprochen, morgen noch das fertige Video rüberzuschicken. Ich rufe Gerry, Wolle und Thomas an. Der entscheidende und verhängnisvolle Fehler. Alle drei können.

Als das erste Bier, das einmal das einzige sein sollte, getrunken ist, beginne ich von meiner Entdeckung am Morgen zu erzählen. Ich hatte in der „Vanity Fair“ eine Story zum Bundesliga-Start entdeckt. Promis sollten ihren Lieblingsklub nennen. Zum Glück hatten sie für den VfL Bochum Goosen genommen, was angesichts von abgehalfterten Fernsehsternchen wie Sat1-Moderatorin Bettina Cramer, vollbusigen Lachschnecken wie Ruth Moschner oder geschwätzigen Dauerunsympathen wie CSU-Politiker Markus Söder für uns VfLer eine ausgesprochen angenehme Wahl darstellte. Wie die Fans von Schalke 04 (Bettina Cramer), Hertha BSC (Ruth Moschner) und Nürnberg (Markus Söder) mit ihren prominenten Vereinskameraden klarkommen, ist sicherlich ein ernstzunehmendes Problem, über das die Anhänger einmal ausführlich mit einfühlsamen Psychologen ihrer Heimatstadt sprechen sollten.

Doch das ist alles nichts gegen das Unheil, das den Fans von Bayer 04 Leverkusen widerfährt. Es war mir schon immer ein Rätsel, welcher genetische Aussetzer einen potenziellen Fußballinteressierten so vollkommen vom Weg abbringen kann, dass er Anhänger dieses Retortenklubs wird. Dass die Lösung allerdings so einfach sein kann, zeigt das Beispiel des auch im Alter noch rüstigen Gentleman-Boxers Henry Maske. Der hat nämlich tatsächlich auf die Frage „Fan seit?“ geantwortet: „1999. Weil ich damals eine McDonalds-Filiale in der BayArena eröffnet habe.” Und da sage noch jemand etwas gegen die ewigen Mahner, die Fastfood für Teufelszeug halten.

Henk, Gerry, Wolle und Thomas kriegen von der Geschichte natürlich Hunger, und so essen wir im Schein der untergehenden Sonne Currywurst, Mozzarella-Sticks und Aioli mit Brot. Als der Kellner um ein Uhr die letzte Runde bringt, laden wir ihn auf ein Bier ein. Beim Abkassieren fragt er mich, ob ich der Typ sei, der die zwei VfL-Filme gemacht habe. Für einen Moment sehe ich ihn an, um zu gucken, ob er glaubt, ich hätte schon ein paar Biere zu viel getrunken (was stimmt) und er mich nun ein bisschen verarschen könne. Doch er lächelt nur verlegen und scheint es ernst zu meinen: „Die Filme sind echt klasse. Machen richtig Spaß anzuschauen. Wobei ich gestehen muss, dass ich eigentlich Schalker bin.“ Kurz zucke ich zusammen. Wir sind den ganzen Abend von einem Menschen aus Herne-West bedient worden und haben nichts gemerkt? Eine Schande. Ich muss mir ehrlich eingestehen: Wir werden wohl langsam alt.

image

Bist du Schalker, oder wat?

Ich bin schon mit einem Lächeln aufgewacht. Das muss einfach ein guter Tag werden. Heute Abend spielen wir gegen den HSV, und wir können Tabellenführer werden. Zwar nur für eine Nacht, aber immerhin. Wenn du ein Bochumer bist, dann ist solch ein Ereignis ein Grund zum Feiern. Nicht die Nacht als Spitzenreiter, sondern der ganze Tag, an dem diese unfassbare Möglichkeit überhaupt besteht. Ich spiele kein Lotto, also werde ich nie in den Genuss kommen, sechs Richtige zu haben. Aber wenn der VfL Bochum in meinem Leben jemals Deutscher Meister werden sollte, dann wird es sich so anfühlen, als ob ich einen unglaublichen Jackpot abgesahnt hätte. Leider ist die Chance auf den großen Wurf beim Lotto in etwa mit der Deutschen Meisterschaft für den VfL Bochum zu vergleichen. Kollege Gerry hat die Hoffnung auf unseren VfL deshalb auch schon aufgegeben. Er kreuzt seit dem letzten Abstieg unserer Mannschaft wieder intensiv Zahlen zwischen 1 und 49 an: „Mein Gott, ich will einfach einmal in meinem Leben ein bisschen Glück haben. Warum versteht das denn keiner?“, fragt er immer, wenn wir ein paar Bier getrunken haben und er denkt, sich für sein treuloses Verhalten entschuldigen zu müssen. Ich kann ihn ja verstehen, aber wer als VfL-Fan wirklich daran glaubt, er würde mit diesem Verein jemals Deutscher Meister werden, der gehört eingesperrt. Wir sind eben zum ewigen Leiden auserwählt. Am Abend wird aber gejubelt, da bin ich mir sicher.

Nadine fragt mich, ob ich heute ins Stadion gehe. Ich liebe diese Frage. Seit der WM sind alle Frauen wie verwandelt. Irgendwie haben sie einen Narren an unserem Sport gefressen. Vor dem Sommermärchen hatte alles noch seine Ordnung. Habe ich früher zu Nadine gesagt, ich würde zu einem Kollegen gehen und Fußball gucken, hat sie für einen Moment beleidigt dreingeschaut und dann eine Freundin angerufen. Heute fragt sie mich, wer denn so alles kommt und ob ich schon an Chips und Getränke gedacht hätte. Absurd. Ich gebe zu, dass ich bei diesem Thema immer ein wenig überreagiere. Aber manchmal will man eben seine Ruhe haben, und diese Ruhe ist momentan ziemlich gefährdet. Schließlich gehe ich ja auch nicht uneingeladen auf irgendeine Party und stelle mich grölend mitten auf die Tanzfläche.

Mittags suche ich ein paar Texte und Videos heraus. In zwei Wochen fahre ich mit dem Journalisten-Kollegen Christoph Ruf auf eine kleine Scudetto-Lesetour nach Berlin, Köln und Moers, und da will man vorbereitet sein. Scudetto ist der Name meines „kulturellen Fußballabends“, den ich vor sieben Jahren im Presseraum des VfL Bochum das erste Mal präsentiert habe. Scudetto heißt, spannende Geschichten rund um den Fußball in zweimal 45 Minuten unterhaltsam auf die Bühne zu bringen. Auch wenn es mittlerweile einige Favoriten im Programm gibt, so ist doch jede Veranstaltung anders, weil ich immer wieder neue Filmchen, lustige Bilder oder interessante Anekdoten aus der bunten Welt des rollenden Leders entdecke und für die Veranstaltung aufbereite.

Ich durchblättere also einen dreißig Zentimeter hohen Stapel Kopien und schaue noch einmal meine Notizen durch, um am Ende schließlich doch zunächst wieder bei meinen „Klassikern“ zu landen. Einer meiner absoluten Lieblingstexte ist der „FAZ“-Fragebogen aus dem EM-Jahr 1996 mit dem damaligen Bundestrainer Berti Vogts. Auf der Bühne sage ich immer, dass der Bogen zu hundert Prozent genau so vom „Terrier“ ausgefüllt worden ist. Ich selbst glaube allerdings nur zu fünf Prozent daran. Zu hausbacken und naiv sind die Antworten des „Wadenbeißers“. Niemand würde doch tatsächlich auf die Idee kommen, auf die Frage nach seinen Lieblingsschriftstellern und -lyrikern mit „Unbekannte Autoren“ zu antworten. Oder etwa doch? Schließlich hat Vogts den Journalisten ja auch einmal den unvergesslichen Gassenhauer „Hass gehört nicht ins Stadion. Die Leute sollen ihre Emotionen zu Hause in den Wohnzimmern mit ihren Frauen ausleben“ in die Notizblöcke diktiert. Ob gefakt oder echt, im Saal gibt es spätestens kein Halten mehr, wenn der alte Meisterspieler von Borussia Mönchengladbach und vom Leben nicht immer verwöhnte Berti Vogts auf die Frage nach seiner Lieblingsfarbe klar und unmissverständlich antwortet: „Gelb-grün“.

Gegen fünf werde ich nervös. Nur noch dreieinhalb Stunden bis zum Anpfiff. Ich mache mir eine Flasche Bier auf und durchkämme meine alten Fußballzeitschriften. Ich bin immer wieder aufs Neue entzückt, wie lang das alles schon her ist. Und wie jung die alle mal waren. Franz Beckenbauer mit vollem Haar und getönter Sonnenbrille. Ronald Koeman schlank und rank. Klaus Augenthaler ohne Falten. Unglaublich. Und gesoffen haben sie früher. Wolfram Wuttke von Lautern und unser Bochumer, Lothar Woelk, haben es sich bei einer Dopingprobe mal richtig gutgehen lassen. Sieben Liter Bier, also vierzehn Flaschen, mussten sie den beiden in die Umkleidekabine bringen. Der Aufsicht führende Arzt meinte, nachdem die Spieler endlich genug Wasser lassen konnten, völlig fassungslos: „Woelk hatte am Ende bestimmt 2,1 Promille im Blut.“ Ja, das waren noch echte Kerle!

Das Blättern in den alten Magazinen lenkt mich jedoch nur unzureichend ab. Langsam aber sicher schleicht sich auch wieder der nervende Realismus eines VfL-Fans an mich heran. Von Minute zu Minute mache ich uns kleiner. Im Kopf spuken Sätze umher wie: Wir spielen heute nicht gegen irgendwen. Wir haben es mit dem Hamburger Sport-Verein zu tun. Mit van der Vaart & Co. Das kann eigentlich nicht gutgehen. Die waren schließlich Zweiter in der letzten Rückrunden-Tabelle, und wir sind nur der VfL Bochum. Heute könnte was Wunderbares, was nahezu Einmaliges passieren. Aber das geht ja bei uns eigentlich immer in die Hose.

Nach einigen, zähen Minuten des Selbstmitleids erlöse ich mich und das Macbook aus seinem Ruhezustand. Ich gehe auf die Bet-and-Win-Seiten. Gucken, was man für den heutigen Abend Verrücktes wetten kann. Im ersten Moment werde ich von den unzähligen Möglichkeiten erschlagen. Fast nichts, was es nicht zu tippen gibt. Und eines ist unwahrscheinlicher als das andere. Ich entscheide mich schließlich für die blödeste Variante von allen überhaupt und prophezeie, von meinem eigenen Schwachsinn fast darniedergestreckt: Unser nicht unbedingt für seine Torgeilheit bekannter Abwehrspieler Marcel Maltritz schießt nicht irgendwann, sondern in der ersten Halbzeit, und zwar nicht irgendein, sondern das einzige Tor dieser Spielhälfte. Quote dafür aber immerhin 1:45. Ich riskiere fünf Euro und bin mir sicher, das Geld ist weg.

Goosen ruft an. Er schlägt vor, in der Stadionkneipe noch ein Bier vor dem Spiel zu nehmen. Guter Plan. Gerry und Wolle schaffen es sowieso erst kurz vorm Anpfiff da zu sein, und die Begegnungen der zweiten Liga kann man auch auf dem Kneipenfernseher gucken. Goosen ist ebenfalls schon angespannt. Will er zwar nicht zugeben, ist aber so. Schließlich stimmt irgendwas mit seinem Magen nicht, und das ist bei ihm ein sicheres Zeichen für Nervosität. Er hofft, dass sich das noch bis zum ersten Bier legt. Als ich ihm von der Wette erzähle, lacht er herzhaft: „Nen größeren Scheiß hast du dir aber nicht aussuchen können, was?! Ausgerechnet Maltritz. Du bist wahnsinnig.“

In der U-Bahn zum Stadion sitzen zwei Herner Vorstadtgören. Beide sind etwa zwölf Jahre alt, leicht verschwitzt und tun alles, um cool zu wirken. Das geht ziemlich in die Hose. Die Anführerin der beiden hat bereits einen kleinen Busenansatz unter ihrem Neonpulli, und auch die kindlichen Züge verschwinden langsam aus ihrem Gesicht. Die andere sitzt pausbackig in einer schwarzen, viel zu engen Pferdehose in die Ecke gedrängt und saugt jede Silbe ihrer Freundin wie das Wort zum Sonntag auf. Den einsteigenden VfL-Anhängern mit ihren blau-weiß gestreiften Schals gucken die pubertierenden Teenies abfällig hinterher. „Wie kann man nur Fan von denen sein?“, bricht es schnippisch aus dem Busenansatz heraus. „Ich bin für Schalke.“

Für einen Moment habe ich ein Déjà-vu-Erlebnis. Ich habe das Schrottplatz-Video der Dortmunder Girlie-Proll-Band „Tic Tac Toe“ aus den Anfängen der Neunziger vor Augen. Drei dreckverschmierte Mädchen in blauen Overalls, die „Ich find dich Scheiße“ singen. Und plötzlich fällt mir wieder ein, dass es ja tatsächlich ein ähnlich klingendes Lied von „Tac Tic Tor“ gab: „Ich steh auf Schalke“. Mit dem bis heute unübertroffenen Eröffnungssatz eines Fußballsongs: „Auf die Schnelle, auf die Schnelle machen wir La-Ola-Welle. Ne Attacke hinterher, das ist für Schalker nicht zu schwer.“ Großartig gedichtet, keine Frage. Aber wenn das inhaltlich mal nicht ein bisschen zu überheblich gewesen ist!

Die Pferdehose kichert jedenfalls verlegen in ihre ausgewaschene Sommerjacke und guckt nervös umher. Offensichtlich haben die drumherum sitzenden VfL-Fans Besseres zu tun, als den Mädchen übers Maul zu fahren. Vielleicht haben sie aber auch nur Mitleid mit diesen beiden fehlgeleiteten Kreaturen. Und so fasst sich die Pausbackige zwischen zwei Schokoriegeln und einem vor Aufregung abgesetzten Jungmädchenpups ein Herz und verkündet stolz: „Von dem Maskottchen Ährwin habe ich sogar ne Tasse zu Hause. Da trink ich jeden Morgen raus.“

Ich muss mich arg zusammenreißen, dass ich nicht mitten in der Bahn einen Lachkrampf bekomme. Doch der mittlerweile in der Luft zirkulierende Pups treibt mich an das Ende des Wagens. Aus sicherer Entfernung beobachte ich noch, wie die beiden Vorstadtgören die Hände in die Luft recken und sich abklatschen. Drei Punkte auf feindlichem Territorium. So leicht werden wir es gleich den Hamburgern hoffentlich nicht machen.

Goosens Magenprobleme sind nicht besser geworden. In gekrümmter Haltung nippt er von seinem Bier und schimpft auf die eigene körperliche Verfassung. Das einzige, was ihn ein bisschen abzulenken scheint, ist das penetrant dauerknutschende, ganz in Blau und Weiß gehüllte Pärchen zwei Nachbartische weiter. Auch wir schauen gebannt zu, wie der leicht pickelige Junge die brünette Schönheit mit einem einzigen Kuss zu verschlingen versucht. Ollie, der, wenn er nicht gerade als VfL-Fan unterwegs ist, im zweiten Leben für den „Kicker“ aus Italien berichtet, beendet unser schweigendes Glotzen auf eine wie immer vorbildliche Weise: „Hömma, ihr beiden. Hier ist Fußball. Händchenhalten ist zu Hause. Oder ihr zeigt uns ma richtig was. Dann aber flott, Spiel geht gleich los!“ Das Pärchen grinst nur kurz, ohne die Augen zu öffnen, um dann mit einem leichten Stellungswechsel endgültig komplett ineinander zu verschmelzen.

Gerry ruft an. Er schreit sehr laut in sein Handy. Wir treffen uns schon früher. In fünf Minuten soll ich am Baum vorm Marathontor sein. Ich verabschiede mich, trinke mein Bier in einem Zug aus und rufe beim Rausgehen in die Runde: „Wenn wir Tabellenführer sind, treffen wir uns noch auf ein Feierbierchen im Tennisklub.“ Die Jungs strahlen mich voller Vorfreude an. Feierbierchen hören sie gerne. Hat den Klang von Erfolg und verspricht viel Spaß. Mit nach oben gestreckten Daumen schauen sie mir hinterher.

Draußen wartet eine Überraschung. Gerry ist nicht alleine am Baum. Er lächelt, aber wohl mehr aus Verlegenheit. Will ich wenigstens hoffen. Allen Grund dazu hätte er. Denn er steht mit Nadine und drei ihrer Freundinnen im Halbkreis zusammen und hebt schuldbewusst seine Schultern. Dachte ich jedenfalls. Seine Begrüßung relativiert die Körpersprache: „Was sollte ich denn machen? Die Mädels wollten halt mitkommen. Da habe ich Karten besorgt. Stell dich ma nich so an, Redelings!“ Ich habe noch nichts gesagt, und Gerry weiß schon Bescheid. Der Junge scheint mich besser zu kennen, als ich dachte. An meiner Stimmung ändert das allerdings nichts. Die ist versaut.

Die Mädels sind dagegen gut gelaunt. Sie haben sich mit einer Flasche Prosecco schon in Stimmung gebracht. Prosecco! Allein das Wort bringt mich im Umfeld eines Stadions schon auf die Palme. Nadine ist die Lage offensichtlich nicht ganz geheuer. Sie weiß mittlerweile ziemlich genau, dass ich beim Fußball die eigene Frau nicht dabei haben will. Die sonst übliche herzliche Begrüßung fällt deshalb aus.

Ich schnauze währenddessen lieber Gerry an: „Klasse Aktion, Junge! Und beim nächsten Mal machen wir uns dann vorher noch Lunchpakete mit Lachshäppchen und Champagner mit Strohhalmen fertig. Oder sollen wir uns doch lieber gleich VIP-Karten holen und uns fein machen? Die Mädels in ihren schönsten Kleidchen und wir ganz leger in Anzug und Krawatte? Wenn nur dieses blöde Gekicke zwischendurch nicht wäre, was?!“ Gerry versucht ein gequältes Lächeln hinzubekommen, was ihm aber nur ansatzweise gelingt. Schließlich schaut er mich nur noch betroffen an. Ihm sind die Worte ausgegangen. Irgendwie verständlich. Mache ich mich doch gerade vor aller Augen und Ohren zum Oberaffen.

Aus der Ferne trottet Wolle wie üblich gemächlich heran. Er findet es erwartungsgemäß überhaupt nicht schlimm, dass die Mädels dabei sind. Kein Wunder. Seine Freundin würde im Leben nicht auf die Idee kommen, mit ins Stadion zu gehen. Gerry hat zur Sicherheit erst gar keine. Nur ich mache jetzt aus dem letzten Rückzugsgebiet eines Mannes eine Partnerveranstaltung mit Händchenhalten und leidenschaftlichen Zungenküssen während der Halbzeitpause. Ich fühle mich seltsam unwohl in meiner Haut.

Erst einmal brauche ich jetzt ein Bier. Seitdem wir in Bochum vor Jahren einen neuen Gastroservice im Stadion bekommen haben, sehe ich die urdeutsche Institution des Eichstrichs mit völlig neuen Augen. Wie immer bin ich genötigt, die nette Dame hinter der Theke darauf hinzuweisen, dass der liebe Gott diesen Strich nicht umsonst am oberen Ende des Plastikbechers gemacht habe. Heute vergesse ich allerdings beim Beanstanden des gerade einmal zu Zweidritteln gefüllten Bieres für einen Moment meine freundlichen Umgangsformen: „Kannst du mich nicht einmal überraschen und den scheiß Becher so weit mit Bier auffüllen, wie es vorgeschrieben wäre, obwohl dein Chef dir gesagt hat, dass man den asozialen Fußballprolls für schlappe 3,20 Euro das Ding nicht bis obenhin vollmachen muss, weil die, besoffen wie die sind, das sowieso nicht merken?!“

Ich sehe aus dem Augenwinkel, wie die anderen beschämt hinter mir zur Seite rücken. Ich sollte mich wohl besser ein bisschen zusammenreißen. Andernfalls könnte es sein, dass ich nach den neunzig Minuten nicht nur keine Freunde mehr habe, sondern auch meine Ehefrau aus der gemeinsamen Wohnung auszieht, den Fernseher mitnimmt und mich und meinen Fußball allein zurücklässt. Ups. Der letzte Teil des Satzes ist bei näherer Betrachtung gefährlich. Wird Zeit, dass das Spiel endlich beginnt.

Auf dem Rasen passiert nicht viel. Ich kann in Ruhe zu Nadine und den Mädels runterschauen. Sie haben sich vier Reihen unter uns gestellt. Das entspannt zwar für den Moment die Lage, macht mir aber auch zugleich ein schlechtes Gewissen. Ich hasse das. Da geht man extra ins Stadion, um für neunzig Minuten den Kopf auszuschalten, und nun hat man plötzlich zu den sonst sowieso schon existierenden Problemen noch einen Haufen neue dazu bekommen. Riesig. Dabei finde ich gerade klasse, wie sich die Alltagsprobleme beim Fußball so wunderbar reduzieren. Normalerweise sind im Stadion nur drei Dinge wichtig: Erstens, habe ich noch ausreichend Bier im Becher? Zweitens, wann haut meine Mannschaft dem gegnerischen Team endlich einen rein? Und drittens, kann ich den fürchterlichen Harndrang, der mir langsam, aber sicher Bauchschmerzen bereitet, wenigstens bis zur Pause aushalten?

Das Spiel plätschert dahin. Meine Stimmung wäre sicher noch schlechter, wenn die Jungs nicht so begeistert von meiner Wette wären. Alle halten mich zwar für bekloppt, aber es erhöht in jedem Fall die Spannung. Ich habe natürlich versprochen, dass ich 80 Prozent des Gewinns für eine gute Sache spende. Jenne, mein langjähriger Stehplatznachbar, hat daraufhin schon einmal ausgerechnet, wie viele Pils das im Schnitt für jeden wären.

Und tatsächlich. Marcel Maltritz fasst sich ein Herz. Doch er ballert den Ball mehrere Meter am Tor vorbei. Das war es auch schon in der ersten Hälfte. Wette und fünf Euro verloren.

Eigentlich müsste ich pinkeln, aber dazu habe ich jetzt keine Lust. Die Mädels gehen runter und verpassen so das nervige Gehüpfe der Cheerleaderinnen. Da man aus der Entfernung sowieso nicht erkennen kann, ob die Hupfdohlen wenigstens gut aussehen, machen wir ab und zu ein paar typisch männliche Späße. Doch heute verspüre ich noch nicht einmal den Drang, ein langgezogenes „Ausziehen“ zu rufen. An anderen Tagen kann ich mich wahnsinnig für die Reaktionen um uns herum begeistern. Denn wenn jemand über diesen völlig ausgenudelten Scherz noch lacht, dann kann man sicher sein, er hat keine Freunde. Hat man so einen dann entdeckt, muss man vorsichtig sein und nicht zu lange hinübergucken. Die Sorte Mensch kennt nämlich gar nichts. Die bringen es fertig und stellen sich, ehe man bis drei zählen kann, neben einen. Und dann labern sie dich von der Seite voll, in einer Art, als ob man sich schon ganz, ganz lange kennen würde. Nur dass sie dabei so viel Mist reden, dass man am liebsten im Erdboden verschwinden möchte. In so einem Fall weichen dann auch die eigenen Freunde von deiner Seite. Mache ich ebenfalls so. Ist die einzig richtige Reaktion. Denn ein falscher Blick, und diese Typen drehen den Kopf zu dir hin und fangen an, dich vollzusülzen. Heute kann mir das allerdings nicht passieren. Meine Aura sendet gefährlich negative Schwingungen aus.

Als endlich das 1:0 für unseren VfL fällt, ist es um mich geschehen. Alle Sorgen und Nöte fallen von meinen hängenden Schultern herab. Die untergegangene Sonne brennt wieder vom Himmel, und die göttlichen Geigen spielen in meinem Kopf ein atemberaubend schönes Lied: „Schalalalaaa. Schalalalalalalaa ….“. Ich stürze im Taumel die Treppenstufen hinab und gebe Nadine einen fetten Schmatzer auf ihren glücklich strahlenden Mund. Im selben Moment renne ich wieder hinauf und klatsche die Jungs, einen nach dem anderen, ab. Spitzenreiter, Spitzenreiter. Hey, hey!

Im Tennisklub ist bereits kein Durchkommen mehr. Doch nach endlos langen Minuten habe ich mich schließlich durch die jubelnde Masse gekämpft. Ich stehe am Pissoir und lasse entspannt das Wasser laufen. Neben mir furzt ein Mittfünfziger dreimal hintereinander. Laut und deutlich. Doch der letzte hört sich nicht gut an. Das denkt offensichtlich auch der Mann in der Einzelkabine hinter uns: „Ich will ja keinen Keil in die allgemeine Jubelstimmung treiben, aber für mich klang das eindeutig danach, als ob da Land mitgekommen ist, oder?“ Nach einem kurzen Moment des Innehaltens erntet der Sitzenpinkler schallendes Gelächter für seine Analyse. Ein von hinten Nachdrängender setzt mit einem Schalker Evergreen überschwänglich noch einen drauf: „Ein Leben lang, dieselbe Unterhose an. Blau und weiß ein Leben lang!“ Ich versuche mich singend zum Waschbecken durchzukämpfen, gebe aber nach ein paar Zentimetern des Vorwärtskommens ohne schlechtes Gewissen auf.

An der Theke krame ich einen Zehn-Euro-Schein aus der Tasche und frage wie früher beim Klümpchenkaufen: „Wie viel Bier bekomme ich dafür?“ Die Bedienung schiebt mir fünf prall gefüllte Gläser herüber und lässt mich ratlos zurück. Wie soll ich die durch die drängelnde und schiebende Masse zu den anderen hinüber transportieren? Mir bleibt nichts anderes übrig, als jeweils einen Finger im Bier zu versenken. Ist zwar unappetitlich, aber sonst bekomme ich sie nicht richtig zu packen. Der Alkohol wird schon dafür sorgen, dass Keime und Bakterien rundum abgetötet werden. Trotzdem kein schöner Gedanke.

Nadine und Goosen sitzen auf einer Parkbank etwas abseits. Ich reiche ihnen ein Bier. Jetzt haben sie jeder drei. Nach Siegen ist es immer dasselbe. Jeder geht eine Runde holen. Und dann wird getrunken, was vor einem steht. Man will ja schließlich niemanden beleidigen. Und so trinken alle in viel zu kurzer Zeit viel zu viel und sind am Ende randvoll. Gott sei Dank sind wir nicht Fans vom FC Bayern. Die Betty-Ford-Klinik hätte Hochbetrieb.

Der Strom der Stadionbesucher, die in den Tennisklub wollen, reißt immer noch nicht ab. Ein paar Meter über unseren Köpfen geht ein schmaler Schotterweg entlang. Wir unterhalten uns gerade angeregt, als sich plötzlich ein riesiger Schwall Bier auf unsere Haare und in unsere Nacken ergießt. Goosen springt sofort auf. Er ist stinksauer. Wütend schreit er hinauf zum Schotterweg: „Zeig dich, du Blödmann! Oder bist du ein Schalker?“ Total überrascht gibt sich der Übeltäter im hellen Licht einer Laterne zu erkennen: „Woher weißt du das denn?“

image

Der Latino-Lover Christoph Daum

In meinem Kopf pocht es gewaltig. Mir ist abwechselnd heiß und kalt. Die Nacht in einem Hotel vor den Toren von Köln hat mir endgültig den Rest gegeben. Nadines Cousine hat gestern geheiratet. Doch das Kölsch wollte mir nicht richtig schmecken. Nach zwei Gläsern bin ich auf Wasser umgestiegen. Literweise habe ich das Zeug runtergekippt. Ab Mitternacht konnte man jedoch zur Entsorgung der Wassermassen nicht mehr das Klo benutzen. Ein Partygast hatte sich unkontrolliert übergeben. Fünf Minuten später stand er allerdings wieder mit einem Kölsch in der einen und einem Wurstbrot in der anderen Hand auf der Tanzfläche. Der Junge hat mir ausgesprochen gut gefallen. Er hat genau den Überlebenswillen verkörpert, der auch den heimischen 1. FC Kölle auszeichnet.

Die Woche war hart. Zusammen mit Christoph Ruf bin ich auf der kleinen Scudetto-Lesetour mit Terminen in Berlin und Köln gewesen. Stundenlange Bahnfahrten, ein bisschen Auftreten und deutlich zu viel Bier. Das Tourleben kann schon etwas von Rock ’n’ Roll haben. Wenn man es denn zulässt. Wir haben uns für eine gemäßigte Variante des Rockstar-Lebens entschieden. Aber wenn man denn schon einmal in Berlin in einem legendären Punkschuppen auftreten darf, dann muss man es auch krachen lassen. War jedenfalls unser Plan. Die Realität sah jedoch etwas anders aus.

Kaum in Berlin angekommen, war die Stimmung bei Christoph kurzfristig auf den Nullpunkt gesackt. Ein schönes Interview mit einem gesprächigen und durchaus sympathischen Bundesligatrainer wollte dieser nach dem Durchlesen der Abschrift so nie geführt haben. Am Telefon ließ er über eine dritte Person ausrichten: „Das können Sie doch so nicht schreiben.“

Ich kenne mich. Alleine dieser Satz hätte mich schon auf die Palme gebracht. Da transkribiert man Wort für Wort, und am Ende will es mal wieder niemand so gemeint haben. „Wie hätten Sie es denn gerne, dass Sie es gesagt haben?“, hätte ich wohl süffisant erwidert. Aber Christoph ist Profi. Der denkt in solch einem Moment schon an den nächsten Termin und versucht, die Situation zu retten. Mich halten diese elenden Autorisierungen konsequent davon ab, Interviews ohne Kamera zu führen. Wenn ich ehrlich bin, kotzt mich diese Art der Glattbügelung von möglicherweise anstößigen Formulierungen regelrecht an. Weichspülprogramme für ein blütenrein weißes Fußballdeutschland.

Am Auftrittsort in Kreuzberg werden wir sehr freundlich begrüßt. Von zwei Frauen in ausgewaschenen Shirts und Wollpullis. Alter? Schwer zu sagen. Zwischen dreißig und fünfzig. Die eine schmal und hager, die andere riesig und kräftig. Beide Klischee-Lesben aus dem Brockhaus. Kollege Wolle würde wohl sogar den Begriff „Kampflesbe“ gebrauchen. Aber sehr nett. Vor allem die Begrüßungssätze. „Ihr müsst diese komischen Fußballtypen sein, wa?! Na, da kommt ma rinn. Wir haben leider von Fußball überhaupt keene Ahnung. Aber das macht nichts, wa?!“

Och, denke ich, ein bisschen Ahnung hätte vielleicht nicht geschadet. Denn bereits auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass wir nur knapp am Pokal für die am besten angekündigten Gäste aller Zeiten vorbeigeschlittert sind. Die nächste halbe Stunde versuche ich in den prächtig mit allerlei bunten Plakaten behangenen und mit Flyern nur so zugestellten Räumlichkeiten verzweifelt, ein Fitzel Papier mit dem Aufdruck Scudetto zu entdecken. Doch es bleibt ein aussichtsloses Unterfangen. Selbst in den Kabinen auf den Frauen-Toiletten kann ich die Plakatschichten einzeln auseinandernehmen – da ist nichts. Ich frage mich, wie, wo und vor allem mit wem das heute Abend enden soll?

Lange kann ich diesem Gedanken allerdings nicht hinterherhängen. Christoph stupst mich an. Jemand ist gekommen, der die Technik mit uns durchgehen will. Den Namen habe ich leider bei der Vorstellung nicht verstanden. Was immer schon peinlich genug ist, in diesem Fall aber zu einem ernsten Problem wird. Ich sehe in Christophs Augen die gleiche Ratlosigkeit, die mich gepackt hat. Männlein oder Weiblein? Welches Geschlecht bastelt da gerade an unseren Mikrofonen rum? Im nächsten Moment ist mir diese Frage aber auch gleich wieder egal. Das nette Geschöpf hat bei einer zum Mikrotest vorgelesenen Passage aus meinem Buch gelacht. So soll es sein. Wer will da schon nach dem Geschlecht fragen?