Garde, Kerstin Liebe ist Chefsache

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© 2019 Piper Verlag GmbH, München
Redaktion: Theresa Schmidt-Dendorfer
Covergestaltung: © Traumstoff Buchdesign traumstoff.at
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1. Kapitel

»Hast du ihr Gesicht gesehen? Sie sah aus wie ein Vampir! Mir ist das Herz fast in die Hose gerutscht.«

»Das arme Ding. So etwas Peinliches. Und alle haben es mitbekommen!«

Der Wasserhahn rauschte. Für einen winzigen Moment hörte das Geschnatter ihrer Kolleginnen auf.

»Wo ist sie eigentlich hin?«

»Keine Ahnung.«

Jetzt erklang das Dröhnen des Handtrockners.

»Vermutlich weggelaufen. Was blieb ihr auch anderes übrig?«

»Ich möchte wirklich nicht in ihrer Haut stecken.«

Tanja und Pauline verließen den Waschraum und ließen die Tür mit einem Knall ins Schloss fallen. Das Gebläse rauschte fröhlich weiter.

Sid hatte die ganze Zeit die Luft angehalten, bis sich ihre Wangen aufgeblasen hatten und so dick geworden waren, dass die Haut spannte. Keuchend öffnete sie den Mund und rang nach Atem. Das würde noch fehlen. Ohnmacht durch missglückte Selbstsuffokation. Zumindest waren diese Hühner jetzt weg.

›Das ist der mit Abstand schlimmste Tag in meinem Leben!‹, stand in dicken Lettern auf der Innenwand der Kabine gekritzelt, in der sich Sid versteckt hatte. Wie es aussah, stammte der Spruch von einer Leidensgenossin. Darunter fanden sich, in kleinerer Schrift, weitere Kommentare.

›Meiner auch!‹

›Ich fühl dich, Schwester!‹

Bei den Verschmähten konnte sie sich wohl einreihen und ihren Namen auf die Liste setzen, wenn sie einen Stift zur Hand gehabt hätte. Sidonie Albrecht, 26 Jahre, Grafikdesignerin und bis gerade eben noch Verlobte von Jonas Witt, dem Promi-Sohn. Begonnen hatte es wie ein Traum … nun endete es mit schweißnassen Händen, klopfendem Herzen und zerkauten Nägeln auf der Besuchertoilette des Standesamts von Berlin-Schöneberg in der hintersten Kabine.

›Life is beautiful‹ – das Leben ist schön. Noch so ein Spruch, der die olivgrüne Wand direkt vor ihrer Nase verschandelte. Wenn einem so etwas auf dem stillen Örtchen einfiel … Sie lachte leise auf.

Ihre Augen brannten vom vielen Weinen, wofür Sid sich verfluchte, denn dieser Mann hatte keine einzige Träne verdient! Sie hatte so fest daran geglaubt, dass sie sich etwas Gemeinsames aufbauen würden, füreinander … bestimmt wären. Auch wenn es noch so sentimental klang. Aber ihr angeblicher Traumprinz ließ sie mir nichts, dir nichts vor einem riesengroßen Scherbenhaufen sitzen.

Sie riss zwei Blätter von der Toilettenrolle und tupfte sich die Augen ab. Eine dunkle Spur zeichnete sich auf dem Papier ab. Zerlaufene Wimperntusche. So zerrupft wie dieses Stückchen Gewebe aussah, so fühlte Sid sich. Alles erschien so unwirklich. Als hätte sie gerade nicht vergebens auf seine Ankunft gewartet, während der Standesbeamte bereits auf seinen vollen Terminplan verwiesen hatte. Hoffentlich wachte sie bald neben Jonas auf, der einen Arm um sie legte und ihr zuflüsterte, dass alles in Ordnung sei. Aber das tat er nicht …

Mam hatte es gleich gewusst. »Jonas und du, ihr seid zwei Dickköpfe, die aufeinanderprallen, keiner gibt auch nur einen Zentimeter nach. Dann habt ihr auch noch dasselbe Sternzeichen! So etwas geht selten gut und ist richtig Arbeit, wenn es funktionieren soll.«

Aber darauf hatte Sid nie viel gegeben, sie glaubte nämlich nicht an Horoskope. Stattdessen hatte sie ihre Gemeinsamkeiten, wie Spontanität, Fantasie, das Gefühlschaos, gemocht. Es war abwechslungsreich und spannend gewesen. Wie Jonas’ viele verrückte Ideen. Einmal hatte er ganz spontan nach Kanada auswandern wollen, um dort eine Bar zu eröffnen. Wochenlang hatte er sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigt, bis er schließlich für etwas gänzlich anderes entflammt war, nämlich für die Idee, B-Movie-Regisseur zu werden. Ein anderes Mal hatte er sich die Haare pink gefärbt, wegen einer verlorenen Wette mit einem Kumpel. Weil ihm das schließlich nicht gefallen hatte, hatte er sie Millimeter kurz abrasiert. So war er eben. Aber genau das hatte das Leben mit ihm erst interessant gemacht. Ihm eine gewisse Würze verliehen. Und was der eine nicht konnte, hatte der andere ausgeglichen. So funktionierten doch Beziehungen, oder nicht? Gleich und gleich gesellt sich gern. Bei ihnen war es nicht nur einfach Sympathie gewesen, sie hatten einander fast schon magnetisch angezogen. Und als sie sich endlich in den Armen gelegen hatten, hatten sie sich nicht mehr loslassen wollen.

»Aber wohin hat es dich letztlich geführt?«, hörte sie schon Mams Stimme.

Sid saß hier. Allein. In der Besuchertoilette! Und alle waren Zeugen dieser Demütigung geworden.

Sids Eltern, die abwechselnd den Tränen nahe gewesen waren oder vor Wut fast eine Fehde mit Jonas großkotzigem Bruder Phillip angezettelt hatten, der sich wiederum sein schadenfrohes Grinsen nicht verkniffen hatte, sowie ihre Cousine Ingrid, die eigentlich nur schnell zum Buffet gewollt hatte, damit der ätzende Tag möglichst schnell rum war.

Ätzend! Ja, das war er, dieser Tag. Einfach ätzend.

Und dann war da natürlich noch der ganze Witt-Clan, Jonas’ berüchtigte Familie, die sich aus Personen zusammensetzte, die alle eins gemeinsam hatten: eine naturgegebene Überheblichkeit, allen voran Tamina Witt, die bekannte Schlagersängerin und Jonas’ Mutter. Ursprünglich hatte sie aus der Trauung ein Pressespektakel machen wollen, am liebsten noch mit einem Feature in den Abendnachrichten! Oh Gott, zum Glück hatten sie ihr das erfolgreich ausgeredet! Nicht auszudenken, wenn das jetzt wirklich im RBB oder gar RTL gesendet worden wäre! Dieser Frau ging nichts über Ruhm und Aufmerksamkeit. Und natürlich Selbstinszenierung.

Jonas war in dieser Hinsicht ganz anders, um nicht zu sagen, überraschend pflegeleicht. Das musste man ihm trotz allem zugutehalten. Keine Allüren, kein VIP-Bonus. Mehr als einmal hatte Sid sich gefragt, ob er vielleicht adoptiert war? Er passte einfach nicht zu dieser Sippe.

Denn nichts und niemand war in den Augen der Witts gut genug. Auch nicht Sidonie oder ihre Familie. Das hatte schon im Vorfeld für Spannung gesorgt, sodass es gar nicht so einfach gewesen war, alle Gäste unter einen Hut zu bekommen. Wichtige Menschen wie die Witts hatten nämlich immer wichtige Termine, ergo wenig Zeit, was es schwer gemacht hatte, überhaupt einen Tag zu finden, der auch den hohen Herrschaften genehm gewesen war. Eigene Pläne für eine Hochzeit zurückstellen? Also wirklich! Wo kommen wir denn da hin? Sid hatte das snobistische Verhalten ein ums andere Mal auf die Palme gebracht, und es waren Jonas’ zärtliche Umarmungen gewesen, die sie wieder heruntergeholt hatten. Jonas … Sie schluckte und lehnte sich erschöpft an den hochgeklappten Toilettendeckel.

Natürlich waren auch ihre Freunde hier. Er hatte ja sogar noch vorgeschlagen, sie solle außerdem das ganze Team von Clue einladen. Zum Glück hatte sie das aber nicht getan, sondern es auf ihre zwei Lieblingskolleginnen Tanja und Pauline beschränkt. Wenn sie sich nur vorstellte, das Biest aus der Buchhaltung hätte diese Demütigung mitbekommen … Naja, sie würde es wohl so oder so bald erfahren, denn Pauline und Tanja waren nicht unbedingt für ihre Verschwiegenheit bekannt …

Jetzt standen sie jedenfalls alle da draußen in ihren Kleidern und Anzügen, mit Blumen und glitzernden Geschenktüten in den Händen. Wie viele vom Witt Clan waren wohl insgeheim froh, dass Jonas noch mal die Kurve gekriegt hatte? Seine Mutter atmete mit Sicherheit auf. Für ihren Sohn hatte sie sich immer ein kleines Starlet oder wenigstens ein It-Girl gewünscht. Jemand, der für Werbeposts auf Instagram bezahlt wurde und eine beachtliche Anzahl an YouTube-Abonnenten vorweisen konnte.

»Ist mir egal, was du von Sid hältst, ich liebe sie«, hatte Jonas sie Tamina gegenüber verteidigt, wenn diese sich wieder einmal über Sids Anti-VIP-Status echauffiert hatte.

Sid spürte einen fiesen Stich im Herzen. Es tat weh! Verdammt! Warum tat er ihr das an? Warum in aller Welt?! Dieser Tag hätte doch der schönste in ihrem Leben werden sollen!

Kein Wort, kein Anzeichen, nichts hatte darauf hingedeutet, dass Jonas unzufrieden gewesen wäre oder sich seine Wünsche und Vorstellungen geändert hätten. Wenn man davon absah, dass er generell ein eher wankelmütiger Mensch war.

»Willst du, Sidonie Albrecht, Jonas Witt zu deinem rechtmäßigen Ehemann nehmen? Ihn lieben und ehren …« Wie oft war sie diesen Moment in Gedanken mit klopfendem Herzen durchgegangen? Wie sehr hatte sie ihn herbeigesehnt? Der Beweis ihrer Liebe, ihrer tiefen Verbundenheit, dass sie einfach ein tolles Team waren!

 

Sidonie schloss die Augen. Das Getuschel vor der Tür riss nicht ab. Der Gang war immer noch voll. Und ihr wurde bewusst, dass an die vierzig Leute von ihr wissen wollten, wie es nun eigentlich weitergehen sollte. Sie hatte doch keine Ahnung!

Abermals schossen ihr Tränen in die Augen. Sie wollte einfach nur im Erdboden versinken.

Ein leises Klacken verriet, dass erneut jemand hereingekommen war. Sidonie hielt den Atem an. Erdboden, ich komme!

»Sid?« Das war Katja, ihre beste Freundin und Trauzeugin. »Sag etwas, bitte.«

Sidonie kniff die Lippen zusammen. Katja war eine der wenigen Vernünftigen dort draußen, denen sie uneingeschränkt vertraute. Aber selbst mit ihr wollte sie jetzt nicht reden. Sie wollte einfach nur hier sitzen und von allen in Ruhe gelassen werden, so lange weinen, bis ihre Tränenkanäle ausgetrocknet waren.

»Ich weiß, dass du hier bist. Deine Schleppe lugt unter der Kabinentür hervor.«

Auch das noch. Na wenigstens hatten Tanja und Pauline das vorhin nicht bemerkt. Wäre sonst nur noch peinlicher geworden, wenn sie Sid in ihrem zerrupften Zustand gefunden hätten. Das hätte im Büro garantiert die Runde gemacht. Dennoch, ihr Kleid war ein übler Verräter! Naja, was hatte sie auch erwartet, dieses spezifische Dress, das war ohnehin ein Albtraum! »Du willst doch nicht wirklich nur einen Blazer mit Rock zu deiner eigenen Hochzeit tragen! Na, da werden die Witts aber pikiert sein, du kennst sie doch«, hatte Mam gesagt und war mit ihr ganz kurzfristig vor drei Tagen in ein Brautmodengeschäft gegangen. Das Ergebnis? Ein Traum in weißem Tüll mit Schleier und allem Drum und Dran, der regelrecht »happily ever after« schrie.

Solche Kleider waren ihrer Meinung nach eher für kirchliche Hochzeiten, aber nichts fürs Standesamt. Dennoch steckte sie nun genau in einem solchen »Überkleid«. Und sie hatte es zuerst sogar geliebt. Wirklich geliebt, weil es trotz des Kitsches wunderschön war. Jetzt sah sie in den unzähligen Stofflagen allerdings nur noch ein Monstrum.

Sidonie zog den Stoff an sich, aber was brachte es, Katja hatte sie entdeckt und klopfte nun an ihre Kabinentür. »Sid? Komm raus, die anderen warten.«

»Sollen sie doch, ich bleibe für immer hier.«

»Ach, Süße. Glaub mir, du musst dich nicht verstecken, alle haben Mitgefühl mit dir.«

Das war ja das Schlimme! Sie war eine pompöse sitzengelassene Braut!

»Sag ihnen, sie sollen ins Restaurant fahren.«

Auf Jonas’ Wunsch hin hatten sie das ganze Hellas angemietet, wo ein herrliches Buffet, guter Wein und eine Hochzeitsband warteten …

»Und was ist mit dir?«

»Ich bleibe hier.«

»Das geht nicht, Süße. Auch das Standesamt macht irgendwann Feierabend.«

»Ich will die anderen einfach nicht sehen. Ich … kann nicht, verstehst du?« Vor allem auf die Witts und deren herablassende Blicke hatte sie so gar keine Lust.

»Natürlich. Ich schicke die anderen los, aber du kannst nicht den ganzen Tag hierbleiben, hörst du?«

Was sollte sie denn machen? »Mit dem Kleid gehe ich nicht auf die Straße.« An ihrem zerlaufenen Mascara und allein der Tatsache, dass sie ohne Bräutigam unterwegs war, würde jeder sehen, dass sie gerade ›vor dem Altar‹, wie man so schön sagte, stehengelassen worden war. Das musste sie sich jetzt nicht auch noch geben.

»Ich habe eine Idee«, verkündete Katja. »Warte hier, ich schick erst die anderen weg und bin dann gleich zurück«, versprach sie.

Ha, keine Sorge. Ich werde hier sein.

Es dauerte nicht lange, da wurde es ruhiger im Gang. Und noch ein wenig später, ging die Tür wieder auf, und eine Hand schob ihr frische Klamotten, an denen noch die Preisschilder hingen, unter die Kabinentür durch.

»Wo hast du die her?«

»Zwei Straßen weiter gibt’s ne süße Boutique. Zieh dich um, wir schleichen uns davon«, sagte Katja verschwörerisch.

Das klang tatsächlich nach dem ersten guten Plan des Tages.

Sid versuchte, sich aus dem weißen Monstrum zu schälen, in das sie zuvor nur mit Mams Hilfe gekommen war. Wenn jetzt eine Naht riss, war ihr das egal!

»Sind die anderen schon weg?«

»Ja, die Witts sind zum Restaurant gefahren. Deiner Familie war aber nicht nach Feiern zumute. Schon gar nicht mit den Witts.«

Wie immer also.

»Hat … er sich gemeldet?«, fragte Sidonie heiser. Die Frage war eigentlich unnötig, aber etwas in ihr hoffte immer noch, dass Jonas um die Ecke käme, mit einer einleuchtenden Erklärung, die alles wieder kittete. Stau? Ein Beinbruch? Irgendetwas!

»Nein«, sagte Katja traurig.

Sidonie hatte sich derweil aus dem Korsett befreit und den Tüll abgestreift. Jetzt schlüpfte sie in eine hautenge Jeans und ein Spaghettiträger-Top. Ganz schön figurbetont.

»Hast du für dich oder für mich eingekauft?«, wunderte sich Sidonie. »Du weißt doch, dass ich es etwas legerer mag.«

»Du brauchst dich nicht zu verstecken, Süße.«

Na schön, was hatte Sid an einem Tag wie diesem schon zu verlieren? Sid schob den Riegel auf und Katja reichte ihr ihre scheußliche Handtasche aus ledernem Perlmutt, die sie extra für diesen Anlass gekauft hatte. Darin bimmelte schon ihr Handy, die ersten Anrufer, die wissen wollten, wie es ihr ging, wo sie war und wie es weitergehen sollte. Nein, danke. Im Moment hatte sie dafür keine Nerven. Sie schaltete das Smartphone auf stumm und verließ mit Katja diesen unseligen Ort.

2. Kapitel

Drei Stunden vor dem Desaster

»War wohl eine unruhige Nacht«, sagte Jonas und hob fragend die Kaffeekanne.

Sid fuhr sich durch ihre verwuschelten Haare, setzte sich zu ihm an den gedeckten Frühstückstisch und schob ihm ihre Lieblingstasse mit Simon’s-Cat-Motiv hin, die schon zwei Sprünge hatte, aber dennoch ihren Weg immer wieder in den Schrank zurückfand.

Jonas goss ihr ein. Er sah an diesem Morgen wirklich umwerfend aus. Kleine Lachfältchen um die warmen Augen, ein Lächeln, bei dem Sids Knie noch immer so weich wurden wie am Tag ihres ersten Rendez-vous, und dann war da dieser verführerische Duft, würzig und nussig, der an dem Hemd haftete, in dem sie geschlafen hatte, weil es eigentlich ihm gehörte. Unruhig war die Nacht trotzdem gewesen. Aber was erwartete man anderes von der Nacht VOR einer Hochzeit?

»Wem sagst du das? Ich meine, man heiratet doch nur einmal im Leben.« Das war Sids feste Überzeugung. Allerdings sollte man sich dann auch wirklich sicher sein, nicht so wie Mam und Paps, deren Ehe irgendwann einzig aus Zank und Streit bestanden hatte und letztlich nur noch auf dem Papier existierte. Für Mam war die Sache klar, seit sie die Bücher dieses amerikanischen »Gurus« las, einem selbst ernannten Experten für glückliche Beziehungen! In Mams Ehe hatten sich zwei Menschen mit den falschen Energien zusammengetan, oder viel mehr zu ähnliche Gemüter. Das schaffte keinen Ausgleich, keine Harmonie. Und in ihren Augen drohte Sid, den Fehler zu wiederholen! Doch was Jonas anging, so war Sid sich absolut sicher, ihren Seelenverwandten gefunden zu haben. Noch dazu gab sie weder etwas auf den Rat von Beziehungsexperten noch von amerikanischen »Gurus«. Dann waren sie eben kreative Seelen, na und? Wenn er mit dem Studium fertig war und das Referendariat hinter sich gebracht hatte, würde er als Musiklehrer unterrichten. Das war doch gar nicht sooo abgehoben. Für Jonas’ Verhältnisses sogar überaus bodenständig. Und sie blieb in der Werbebranche, das war ein ganz anderes Metier. So ähnlich waren sie sich also auch wieder nicht.

»Ich hatte wahrscheinlich so etwas wie Lampenfieber«, überlegte Sid und wärmte sich ihre Hände an Simon’s Cat.

»Ach, wirklich? Das wäre mir gar nicht aufgefallen.« Er grinste. »So wie du dich hin und her gewälzt hast, kam es mir vor, als hättest du vom Weltuntergang geträumt.«

Sid lachte, schnappte sich ein Brötchen und schnitt es auf. Genussvoll zupfte sie den weichen Teig aus einer der Hälften und steckte ihn sich in den Mund. Da klingelte das Telefon. Wer konnte das denn sein, zu so früher Stunde?

»Sicher Phil, der die Ringe irgendwo verbuddelt hat und sie nicht wiederfindet«, meinte Jonas und ging ran.

Himmel, hoffentlich war das nicht wirklich der Fall! Ohne Ringe keine Trauung! Doch Jonas reichte ihr mit rollenden Augen das Telefon. »Für dich.«

»Hallo?«, ging sie ran.

»Morgen, Albrecht, sagen Sie mir bitte, wo ich Ihre Entwürfe für Perlmutt finde«, dröhnte es ihr entgegen.

Sid traute ihren Ohren kaum. Es war tatsächlich ihr Chef! Der wagte es allen Ernstes sie am Tag ihrer Hochzeit anzurufen, um sie nach irgendwelchen Entwürfen zu fragen?! »Ich … ähm … hatte die Entwürfe eigentlich gestern Abend per Mail an Sie geschickt. Ist die etwa nicht angekommen?«

»Per Mail? Ach so! Ich schaue mal nach. Warten Sie einen Augenblick. Tatsächlich, da sind sie ja. Mein Fehler. Dann können wir das morgen ja weiter besprechen, Albrecht.«

»Ich habe morgen frei, Herr Grunberg. Und die nächsten sechzehn Tage ebenfalls.«

Weil ich heirate, Sie Hornochse! Wieso hatte der das nicht auf dem Schirm, darüber hatten sie doch lang und breit gesprochen?! Und Grunberg junior war wenig erfreut gewesen, dass sie sich satte achtzehn Tage Urlaub genommen hatte, statt der üblichen vierzehn am Stück.

»Richtig. Ihre Hochzeit …« Er schwieg. Und das sehr nachdrücklich.

»Ist das dann alles?«, hakte sie irritiert nach, weil nicht einmal ein Pieps zu hören war. Immer noch Schweigen. »Herr Grunberg?«

»Ja«, sagte er schließlich. »Dann sehen wir uns also erst in knapp drei Wochen wieder?«

»Genauso ist es.« Jetzt hatte er es wohl verstanden.

»Alles Gute Ihnen und Ihrem … Jonas. Wiederhören.« Er hatte aufgelegt. Ziemlich abrupt sogar. In letzter Zeit war er wirklich merkwürdig.

»Was war das denn?«, wunderte sich Jonas.

»Der rief wegen der Entwürfe an.« Sid hängte das Telefon in die Ladestation. »Die sind für so nen schwierigen Klienten. Perlmutt-Modeschmuck, aber von der teuren Sorte.«

»Am Morgen unserer Hochzeit? An einem freien Tag?«

»So ist er eben. Der personifizierte Workaholism. Perfektionistisch, klein kariert, steif, überkritisch …« Ihr fielen noch eine ganze Reihe weiterer Adjektive ein, um Grunberg junior zu charakterisieren, keins davon war positiv. Wie oft hatte sie sich ihren alten Chef zurückgewünscht, Grunberg senior …

Jonas lachte. »Du übertreibst ein wenig, oder?«

»Tu ich nicht.« Sid biss von ihrem Brötchen ab.

Seit ihr alter Chef das Büro geräumt hatte, war nichts mehr wie zuvor. Dauernd wurde sie zum junior zitiert, musste ihm ihre Entwürfe erklären und ewig diskutieren. Nichts war in seinen Augen gut genug. Sie hatte aufgehört mitzuzählen, wie viele Konzepte sie hatte verwerfen und neuanfertigen müssen.

»Ich glaube, der Grunberg kam sogar in meinem Albtraum heute Nacht vor.«

»Moment, du träumst vor unserer Trauung von deinem Boss?«, wunderte sich Jonas.

Sid lachte. »Es war eben ein Albtraum. Die Aufträge, Albrecht! Denken Sie an die Aufträge!!!«

»Und du bist dir sicher, dass es wirklich ein Albtraum war?« Jonas blickte düster drein.

Sid verdrehte die Augen. »Ja, sehr sicher. Was denn sonst?«

»Ich hab ihn auf eurer Betriebsfeier gesehen. Und …«

»Und was?«

»Du hättest sehen sollen, wie er dich die ganze Zeit angesehen hat.«

»Als ob er eine weitere Idee hat, wie er mich piesacken kann? So sieht er mich nämlich meistens an.«

»Nein, er hat dich mit seinen Augen verschlungen!«

Sid verschluckte sich kurz an ihrem Kaffee. »Und das fällt dir ausgerechnet heute ein?«

Sie verdrehte wieder die Augen und schmunzelte. War Jonas eifersüchtig? Irgendwie süß.

»Wenn du ausgerechnet heute von ihm träumst …«, maulte Jonas.

»Also, zu deiner Information: Ich hab von der Arbeit geträumt, deswegen kam mein Chef vor. Und zweitens: Kurz nach dem von dir benannten Fest kam Grunberg junior mit Flora Rottenweil zusammen«, demonstrierte Sid ihm die Absurdität seiner Vermutung. Dabei erinnerte sie sich genau, wie diese aufgetakelte Dame das erste Mal die Agentur betreten und sich aufgespielt hatte, als gehörte sie zur Chefetage. Dabei war sie nicht einmal aus der Werbebranche.

»Da habe ich ja noch mal Glück gehabt«, erklärte Jonas.

Sid verschwieg besser, dass das Power Couple Grunberg/Rottenweil inzwischen längst wieder Geschichte war. Traurig war im Büro darüber niemand gewesen, alle waren erleichtert gewesen, die Schreckschraube los zu sein.

Sid hauchte Jonas einen Kuss auf den Mund. Er nahm ihre Hand und drückte sie. »Vielleicht musst du ja auch nicht mehr lange unter seiner Herrschaft leiden? Hast du dich mal bei Klaus gemeldet?«

Klaus Witt, einer von Jonas’ vielen Cousins, leitete eine eigene Werbeagentur. Vielleicht gab es da einen Job für sie.

»Noch nicht. Mach ich aber noch.« Sie hatte erst mal alles, die Hochzeit betreffend, regeln wollen, und damit wirklich genug zu tun gehabt.

»So schlimm kann’s ja dann bei Clue nicht sein.« Er zwinkerte ihr zu.

Sid beugte sich erneut zu Jonas vor und hauchte ihm einen glühenden Kuss auf die Lippen. »Mmmh, du schmeckst so gut.«

Er grinste. »Ich weiß. Und später gibt’s noch mehr davon. Aber ich fürchte …« Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. »… ich muss jetzt los, den Anzug aus der Reinigung holen und dann geht’s ab zu Phil. Du ahnst nicht, wie oft der im Leben schon Trauzeuge war. Aber zum ersten Mal ist er es bei seinem kleinen Bruder.«

Sid lachte, das sah Phil ähnlich. Der hatte überall auf der Welt Freunde. »Ist mit dem Hellas alles geklärt?«, fragte sie zum hundertsten Mal.

»Jepp, abgeriegelt, geschlossene Gesellschaft, alles vorbereitet.«

»Klingt gut.«

»Für Unterhaltung ist auch gesorgt, habe doch noch eine Live Band auftreiben können. Und meine Mutter will, glaube ich, auch was zum Besten geben. Aber wer weiß, vielleicht stelle ich mich nachher selbst hinters Mikro?«

»Das wäre das Highlight«, sagte Sid amüsiert.

»He, ich habe gar keine so üble Stimme.«

»Ich weiß. Ich meinte es ja auch ernst. An dir ist ein Rocker verloren gegangen.«

Jonas seufzte und sein Blick glitt aus dem Fenster in die Ferne, was bei der Aussicht hier gerade mal den Innenhof bis zum gegenüberliegenden Wohnhaus einschloss. Es war wirklich schade, dass Jonas keinen Erfolg in der Musikbranche hatte. Trotz der Unterstützung von Tamina war der große Durchbruch ausgeblieben. Eine CD hatte man mit ihm produziert, als er siebzehn gewesen war. Man hatte ihn als süßen Boy, der Schnulzen sang, aufbauen wollen, was natürlich gar nicht zu ihm gepasst hatte. Zumindest war das seine Ansicht. Deswegen wohl war sein Album auch ein Flop geworden, und danach hatte kein Hahn mehr nach ihm gekräht. Es gab allerdings einen Artikel in der Bravo von anno dazumal, den er bis heute voller Stolz aufbewahrte. Und jetzt sollte er also als Musiklehrer enden? Irgendwie konnte sie ihn sich gar nicht in einem Klassenzimmer vorstellen. Da doch schon eher als Auswanderer, der in Kanada Drinks mixte.

Jonas schaute erneut auf die Uhr. »Ich muss …«

»Ja, ja, ich weiß. Meine Mam und ihre Nachbarin sind sicher auch gleich hier.« Das »Beauty-Team« würde sich um die Braut kümmern. Bei dem Kleid, das Mam für sie ausgesucht hatte, war auch jede helfende Hand nötig.

Ein letzter Kuss und Jonas war fort. Sie hatten sich entschieden, getrennt zum Standesamt zu fahren, damit Jonas die Braut nicht vor der Trauung sah, denn Sidonie hatte das romantisch gefunden. Außerdem brachte es doch andernfalls Unglück, oder?

3. Kapitel

Zwei Stunden nach dem Desaster

»Versteh einer die Männer«, sagte Katja und warf ihre Decke auf die Matratze ihres Schrankbetts, das sie anschließend hochklappte, während Shorty mit wedelndem Schwanz an Sid hochsprang und sie einfach nicht in Ruhe lassen wollte. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen – für Shorty. Der West Highland Terrier hatte seit seinem Einzug in Katjas vier Wänden ein ausgesprochenes Faible für Sid entwickelt. Nie wich er auch nur eine Sekunde von ihrer Seite, wenn sie zu Besuch war, und stets schmachtete er sie mit großen Kulleraugen an.

Katja vermutete, dass Sid ihn an ein Mitglied seiner vorherigen Familie erinnerte. Sie hatte den kleinen Kerl aus einem Tierheim bezogen, wo er im Alter von vier Jahren ohne weitere Gründe abgegeben worden war. Da Katja Psychologie studierte, meinte sie, ein kleines Verlassenheitstrauma bei Shorty ausgemacht zu haben. Und womöglich stimmte das sogar.

Sid hatte ihrerseits festgestellt, dass sie auf Hunde eine gewisse Anziehung ausübte. Kaum einer der frechen Fellschnuten widerstand ihr auf Dauer, was dazu geführt hatte, dass Sid überaus schnell Bekanntschaften mit Hundebesitzern schloss. Auf der Straße, in Parks, überall. Warum das so war, konnte Sid nur mutmaßen. Vielleicht hatte sie einen bestimmten Geruch an sich, den nur Hunde wahrnahmen?

Fest stand jedenfalls, wäre Shorty ein Mann, er wäre im Leben nicht auf die Idee gekommen, Sid am Tag ihrer Hochzeit den Laufpass zu geben. Es gab keine treuere Seele als ihn.

»Du kannst, wie gesagt, so lange bleiben, wie du willst«, erklärte Katja und räumte noch rasch ein paar Bücher und Zeitschriften vom Tisch. »Ich habe ja gerade Semesterferien und diesen Sommer nichts weiter vor, außer ein paar In-Locations zu besuchen.« Sie war stolz mehr als fünfzehntausend Follower auf Instagram zu haben! Und die wollten mit exklusivem Content versorgt werden. Am besten täglich.

Katjas Wohnung war deprimierend klein, also definitiv keine In-Location. Es gab nur das Wohnzimmer, das gleichzeitig ihr Schlaf- und Esszimmer war, bestehend aus einer minimalistischen Schrankwand, einem Tisch und zwei Sitzgelegenheiten sowie Küche und Bad.

Sid setzte sich in den alten Ohrensessel, direkt auf ein Gummihuhn, das laut losquietschte.

»Ach, sorry, das gehört Shorty«, sagte Katja. »Ich hol mal den Wein aus dem Kühlschrank.«

Seufzend zog Sid das Spielzeug unter ihrem Gesäß hervor, sofort hatte sie wieder die Aufmerksamkeit des hyperaktiven Westies.

»Ich habe keine Lust zu spielen«, erklärte sie dem kleinen Kerlchen sanft und warf das Huhn dennoch durch das Zimmer, um es loszuwerden. Ein fataler Fehler. Wie von einer Tarantel gestochen hechtete Shorty hinterher und brachte pflichtbewusst das Spielzeug zurück. Dabei wackelte und wippte sein Körper bei jedem Schritt, weil seine Beinchen im Vergleich zum Rest wie Stummel wirkten.

»Nein, ich werfe es nicht noch mal«, sagte Sid. Shorty legte das Gummihuhn vor ihre Füße und schaute sie hoffnungsvoll an. Weil sie aber nicht wie gewünscht reagierte, nahm er das Spielzeug ins Maul und setzte zum Sprung auf die Lehne an, um es auf Sids Schoß zu legen.

»Ach, du gibst wohl nie auf, oder?« Sid war leicht genervt, wuschelte ihm aber dennoch über das Köpfchen und warf das Gummihuhn noch einmal, ihm zuliebe. Was für eine Scheiße, dachte Sid und konnte noch immer nicht glauben, was passiert war. Sie fühlte sich wie einmal durchgekaut und ausgespuckt.

Da kam Katja mit zwei Gläsern und einer Flasche Burgunder zurück, stolperte fast über Shorty, hielt dann aber geschickt die Balance und stellte alles auf den Tisch. Dabei blieb sie die Ruhe in Person. Wahrscheinlich war sie solche Slalomläufe gewöhnt.

»Und er hat sich immer noch nicht gemeldet?«

»Nein, zumindest nicht bei mir«, sagte Sid. Sie schaute gefühlt jede zweite Minute auf ihr Handy. Unzählige unbeantwortete Anrufe und WhatsApp-Meldungen. Aber keine Nachricht von ihm. Sie stellte ihr Handy wieder auf laut, damit sie ja keinen Anruf von ihm verpasste.

Sid konnte nur raten, was in Jonas gefahren war. Wahrscheinlich hatte er kalte Füße bekommen, dabei war er am Morgen doch ganz normal gewesen. Was nur noch weniger Sinn ergab. Aber dann hatten sie ja über seine verpasste Chance aufs Rockstarleben sinniert, vielleicht hatte das den Ausschlag gegeben? Konnte das wirklich ein Grund sein? Und was sagte es über seine Liebe zu ihr aus, wenn sie so leicht ins Wanken gebracht werden konnte?

Sid atmete tief durch. So richtig war das Geschehen noch immer nicht bei ihr angekommen. Er war weg, räumlich von ihr getrennt, ja, aber dass er sie jetzt nie mehr in den Arm nehmen, sie küssen würde, das erschien ihr unvorstellbar. Niemals wieder seinen nussigen Geruch wahrnehmen, wenn sie mit der Nase in seine wuscheligen Haare tauchte. Keine Küsse mehr, die von ihrem Kieferwinkel bis zu ihren Lippen wanderten und ein zärtliches Prickeln auf ihrem Mund hinterließen …

Gequält schloss Sid die Augen. Sie wollte ihn hassen! Mit aller Kraft. Aber irgendwie … ging es nicht.

»Versteh einer die Männer«, wiederholte Katja und goss ihnen ein. »Hier, das kannst du jetzt brauchen«, sagte sie, woraufhin Sid die Augen wieder öffnete. Katja reichte ihr mit einem bedauernden Lächeln das Glas, das Sid unvermittelt an die Lippen setzte und in einem Schluck austrank.

»Was hast du jetzt vor?«

»Ich weiß es nicht. Ausziehen?« Irgendwie würde sie weg von allem müssen, was mit Jonas zu tun hatte, und gleichzeitig wünschte sie sich nichts mehr, als sofort – hier und jetzt – in seine Arme zu sinken.

»Aber die Wohnung gehört doch dir.«

»Dann ihn rauswerfen und das Schloss austauschen – oder irgendwo neu anfangen, wo mich niemand kennt, damit es nicht heißt: Seht nur, da ist die sitzengelassene Sidolina … Sidele … wie heißt sie noch?«

Katja lachte leise. »Fällt dir noch mehr ein, Frau mit dem Wundernamen, klingt nämlich lustig.«

»Seine Klamotten an die Altkleiderspende geben, den Ring im Klo runterspülen, hätte ich längst machen sollen …«

Darauf hoffen, dass Jonas zu ihr zurückkam?

Oh Himmel, ein Teil von ihr wünschte sich das tatsächlich. Mehr als alles andere.

»Ich weiß eigentlich gar nichts mehr. Weder, was ich will, noch, wohin ich soll oder wie es weitergeht.« Da waren diese Hoffnungslosigkeit in ihr und eine Leere, die ihr gänzlich unbekannt war, die aber nun an ihr zehrten, gleich einem fiesen Blutegel, der unentwegt nach Nachschub verlangte. Von einem Moment auf den anderen war ihre ganze Zukunft zerbrochen. Tränen, immer wieder Tränen. Sid konnte es nicht verhindern, dass sie in ihren Augen brannten, über ihre Wangen rollten, als gäbe es kein Morgen mehr. Denn genauso fühlte es sich auch an. Katja legte den Arm um sie. Und Shorty platzierte seinen Kopf mit einem leisen Seufzen auf ihrem Oberschenkel.

»Wir sind deine Beschützer, wir passen auf dich auf«, versprach Katja, was Sid zumindest ein kurzes Schmunzeln entlockte.

Eine Weile saßen sie so da. Sie und ihr Security-Team.

Bis Sid sich wieder fasste. »Hast du Eis oder Schokolade da?«

»Na klar, hol ich dir.«

Frustfuttern. Und dann ein bimmelndes Telefon, das einfach keine Ruhe gab. Offenbar wollten es alle ganz genau wissen. Wie ging es ihr? Was hatte sie nun vor? Sid hatte nicht die Kraft, all diese Fragen zu beantworten, weswegen Katja die Gespräche netterweise für sie entgegennahm.

»Behalte mein Handy ruhig in der Hand, es wird eh gleich wieder klingeln.«

Und damit hatte sie recht. Katja nickte und verschwand im Flur. »Sie bleibt erst mal hier. Ja, ich kümmere mich um sie. Wenn was ist, melde ich mich bei euch!«, schnappte Sid ein paar Gesprächsfetzen auf, als Katja mit Sids Eltern telefonierte. Und mit jedem anderen, der dann noch anrief und sich ebenfalls nach ihrem Befinden erkundigte.

»Die machen sich alle große Sorgen um dich, Sid«, meinte Katja bedrückt. »Ich weiß nicht, ob es okay ist, sie alle hinzuhalten.«

»Ich weiß es auch nicht …«

»Du solltest sie bald zurückrufen.«

Sid nickte. Ja, das würde sie machen. Trotzdem brauchte sie etwas Ruhe, und als Katja ihr das Smartphone zurückgab, stellte sie es erst mal wieder auf leise.

Katja setzte sich auf die Couch und sah Sid forschend an. »Wie stellst du dir den Abend vor?«

Weinen? Taschentücher kaufen? Noch mehr Weinen? Oder etwas komplett anderes machen? Etwas, das rein gar nichts mit diesem verflixten Tag zu tun hatte?

»Hast du Lust auf Patrick und Baby?«

Sid schüttelte den Kopf. Auf so einen zuckersüßen, verlogenen Happy-End-Müll konnte sie jetzt wahrlich gut verzichten. Aber es gab etwas, was ihr echt gefallen würde.

»Arnie!«

Katja hob überrascht eine Braue, nickte dann aber. »Na schön, Arnie soll’s also sein!«

Und so stand das Abendprogramm fest: zwei Freundinnen, eine Couch, eine warme Kuscheldecke, zwei 500-ml-Eisbecher mit Schoko und Erdbeere, zwischen ihnen ein West Highland Terrier, der vor Liebesglück Herzchen in den Augen hatte, und ein richtig guter Actionfilm. Das war eine perfekte Ablenkung. Oder »friendship at its best«, wie Katja es auf Instagram mit entsprechendem Schnappschuss festhielt und bereits während des Vorspanns 23 Kommentare und hunderte Likes erhielt.

Von Romantik hatte Sid erst mal genug. Zumindest redete sie sich das für den Moment erfolgreich ein. Und so feuerte sie Arnie innerlich an, während er als Terminator seine Gegner in den Boden rammte.

»Ich bin langsam müde«, sagte Katja, nachdem sie nach Terminator I und II auch den dritten Teil geschaut hatten. Sid hatte nicht übel Lust, sich noch den nächsten Film der Reihe zu Gemüte zu führen. Aber Katjas dunkle Augenringe verrieten, dass sie tatsächlich kurz vor dem Kollaps stand.

»Das waren echt tolle Filme, die ich zugegebenermaßen ohne dich nie gestreamt hätte. War witzig. Aber mein Bedarf an Geballer und fliegenden Fäusten ist fürs Erste gedeckt. Sei nicht böse, ja?«

Wie hätte Sid denn böse sein können? Katja war eine super Freundin, die Beste! Sid wusste nicht, was sie ohne sie getan hätte.

Katja bettete ihren Kopf auf Sids Schulter und umarmte sie dabei seitlich. »Du weißt, dass du mir wichtig bist, oder?«

Sid schaute die Freundin erstaunt an. »Aber ja doch …«

»Ich wollte es nur noch mal sagen. Seit du die Einzige warst, die damals überhaupt ein Wort mit mir sprach, als ich in die neue Klasse kam, bist du meine allerallerbeste Freundin«, betonte Katja und linste zu Sid hoch.

»Wir waren beide Außenseiter. Ich, die eigenbrötlerische Leseratte, die nur in ihren Bücherwelten lebt, und du, die Neue ohne Plan. Das schweißt zusammen fürs ganze Leben.«

»Ist echt übel, wenn dir jemand wehtut, das tut mir auch irgendwie weh. Und glaub mir, ich könnte diesen Mistkerl …« Sie ballte die Hände zu Fäusten.

Sid drückte Katja und sie lachten, doch nur verhalten.

»Ich hol mal das Gästebettzeug, ja?« Katja kletterte über Sids Beine und ging zum Schrank, öffnete das obere Fach und zog frische Bettwäsche heraus. »Ich kann dir leider nur die Couch anbieten.«

»Ist doch super.« Besser als allein in ihrer Wohnung zu schlafen, in dem Bett, in dem sie heute Morgen noch neben ihm aufgewacht war. Sid nahm Katja die Wäsche ab und verfrachtete sie auf die Couch. Sah doch ganz gemütlich aus.

Katja ließ sich in den Ohrensessel fallen. »Fast wie früher, oder? Als du bei mir übernachtet hast, wenn meine Eltern im Urlaub waren.«

Sid grinste. Ja, das waren schon verrückte, unbeschwerte Zeiten gewesen. Wenn ihr zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen war, weil ihre Eltern unentwegt gestritten hatten, hatte sie Zuflucht bei Katja gefunden.

»Wie hieß noch dieses Buch, aus dem du mir immer vorgelesen hast? Und ich meine nicht deinen persönlichen Harry-Potter-Marathon, bei dem du deine Lieblingsszenen aus allen Büchern zum Besten gegeben und dir mit Kajal diese Sternschnuppe auf die Stirn gemalt hast.«

»Das war eine blitzförmige Narbe, du Muggel!« Für einen kurzen Moment fühlte sich Sid wieder ganz unbeschwert, so wie damals, als sie ganz tief in die Abenteuer von Harry, Ron und Hermine abgetaucht war.

»Ja, ja, Frau Nerd. Also wie hieß das Buch?«

»Tochter der Titanen.« Sid liebte Bücher. Alice im Wunderland, Stolz und Vorurteil, Herr der Ringe … Auch die Werke von George R. R. Martin hatte sie nicht aus der Hand legen können. Doch keiner dieser Romane hatte ihr über schlimme Zeiten besser hinweggeholfen, als diese unglaublich romantische Liebesgeschichte von Henriette Cosmas. Er stammte von der Insel Mykonos – sie aus Deutschland. Vom ersten Augenblick an hatten sie gewusst, dass sie füreinander bestimmt waren. Aber natürlich wurde es ihnen nicht leicht gemacht, zusammen zu sein, denn ihre Eltern hatten etwas gegen ihn und dann brach auch noch die Militärdiktatur in Griechenland aus. Sid konnte sich mit der Heldin des Romans sehr gut identifizieren. Diese war auch eine Außenseiterin, hatte ständig streitende Eltern, die sie sogar bevormundeten. Trotzdem hatte es die junge Frau geschafft, ihr Leben in die richtigen Bahnen zu lenken. Sid meinte, einmal in einem Interview der Autorin gelesen zu haben, dass die Tochter der Titanen autobiografische Züge enthielt. Ähnlich wie ihre Protagonistin war Henriette Cosmas aus Liebe auf die Kykladeninsel gezogen, wo sie bis heute lebte. Der Titel war eine Anspielung auf die griechische Sagengestalt Leto, die die Tochter zweier Titanen war und deren Liebe zum Göttervater Zeus nicht sein durfte.

»Ja, richtig. So hieß es!«, sagte Katja.

»Deswegen wollten wir ja nach Mykonos«, erklärte Sid traurig.

»Mh?«, machte Katja nur.

»Wegen dieses Buchs. Jonas wusste, wie viel es mir bedeutet und dass die Geschichte auf Mykonos spielt. Er meinte, das sei doch der perfekte Ort für eine Hochzeitsreise.« Sie seufzte.

»Oh Liebes, daran wollte ich dich nicht erinnern, tut mir leid.«

»Er hatte geplant, mit mir zu einer Lesung von Henriette Cosmas zu gehen«, fuhr sie fort. »Ich hab sie nie zuvor live erlebt, aber das war immer mein größter Wunsch. Also hat Jonas sich dahintergeklemmt und ganz viel recherchiert. Dabei fand er heraus, dass Frau Cosmas im Hotel Athena in diesem Sommer ihre Abschiedslesung geben würde. Die letzte Chance, sie einmal zu treffen. Zeitlich passte das perfekt. Aus dem Grund haben wir dann auch dort unsere Suite gebucht.«

»Mann, das klingt wirklich romantisch.«

Sid griff erneut nach einem Taschentuch. So viel Mühe und dann ließ er sie einfach stehen? Warum gab man vor, jemandem einen Herzenswunsch zu erfüllen, nur um ihm danach das Herz zu brechen?

4. Kapitel

Ein zärtlicher Kuss weckte sie. Sid atmete auf. Er war da, zum Glück!

»Du glaubst nicht, was ich geträumt habe«, murmelte sie.

Erneut spürte sie etwas Kühles an ihren Lippen. Er schmeckte … ein wenig anders, aber unbeschreiblich gut.

Endlich war dieser Albtraum vorbei!

»Leg deinen Arm um mich«, wollte sie sagen, aber irgendwie kamen die Worte nicht aus ihrem Mund, weil sie schon wieder halb eingedöst war. Sie kuschelte sich an ihn, spürte seine wuscheligen Haare an ihrer Hand und lächelte, weil er bei ihr war. Weil alles normal war!

Hatte sie wirklich geträumt, er würde sie kurz vor der Trauung hängenlassen? Einfach weglaufen? Wie lächerlich das war. Das passte doch gar nicht zu Jonas.

Der nächste Kuss landete auf ihrer Nasenspitze. Sie musste grinsen. Doch das verging ihr, als er einfach nicht aufhören wollte, ihre Nase abzuschlecken. Wieder und wieder fuhr seine Zunge über sie. Glitschig und … irgendwie … rau.

Sid riss die Augen auf und starrte auf eine überdimensionale schwarze Nase, über der ihr zwei Knopfaugen entgegenblinzelten.

Shorty.

Im selben Moment brach alles um sie herum zusammen. Es war kein Traum gewesen! Jonas war wirklich fort!

»Oh Gott!«, stieß sie aus. Die kleine Wohnung. Das Bettzeug auf der Couch. Gegenüber das Schrankbett. Vor ihren Augen drehte sich alles, obwohl sie lag.

»Alles okay?«, fragte Katja besorgt. »Ich hab versucht, ganz leise zu sein, um dich nicht zu wecken.« Sie deckte gerade den Tisch. »Du hast geschlafen wie ein Stein.«

Shorty leckte erneut über ihr Gesicht.

Sid richtete sich benommen auf. Lieber Himmel, der Albtraum war die Realität! Ihr Herz stolperte, denn das Ausmaß wurde ihr erst nach und nach bewusst. Er war weg! Es brach einfach aus ihr heraus, sie konnte es nicht verhindern. Tränen über Tränen.

»Süße! Oh nein!« Schon legte Katja den Arm um sie. »Ganz ruhig. Es ist alles gut.«

Nichts war gut! Das war es ja gerade!

Sid versuchte sich zu beruhigen.

»Sieh mal, ich habe Frühstück für uns besorgt«, versuchte Katja es auch.

Das hätte eigentlich das Nach-der-Hochzeit-Frühstück sein sollen! Und heute Nacht, das wäre die Hochzeitsnacht gewesen und nicht der Terminator-Terror-Themenabend! Jetzt sollten sie doch Mann und Frau sein! Sidonie Witt hätte sie geheißen.

Sie zog die Nase hoch und musterte den gedeckten Tisch. Da lagen Aufschnitt und Brötchen, sogar ihr Lieblingsmüsli. Goldener Honig, ein kleines Marmeladenglas, dazu eine Thermoskanne Tee, Orangensaft und ein Tetra-Pack Milch. Katja hatte sich solche Mühe für sie gegeben und alles, was Sid tat, war weinen. Sie versuchte erneut, sich zusammenzureißen.

»Wann hast du denn das alles besorgt?«, wunderte sich Sid und rieb sich über die Augen.

»Ich war eben draußen, wollte dir ne kleine Freude machen«, sagte Katja und setzte sich in den Ohrensessel.

»Studentenbuden sind meist sehr klein, ich habe kein eigenes Esszimmer, wie du weißt«, entschuldigte sie sich, weil Sid im Grunde von ihrem Bett aus essen musste. Aber der Frühstückstisch sah toll aus! Sid lachte leise, obwohl ihre Augen immer noch brannten. »Es ist schön.« Sie war Katja wirklich dankbar dafür, dass sie sich so viel Mühe mit ihr gab.

Aber wirklich Hunger hatte Sid nicht. Sie bestrich aus Höflichkeit ein halbes Brötchen mit Honig. Es schmeckte gut, doch ihr Magen fühlte sich an, als lägen Steine darin. Auch Katja hatte nur wenig Appetit.

Sid lehnte sich zurück, schloss gequält die Augen. Sie versuchte, nicht schon wieder zu weinen. Shorty nahm das zum Anlass, ihr zu beweisen, dass nicht alle Männer schlechte Kerle waren. Er stellte sich auf seine stummeligen Hinterbeinchen und schleckte mit großer Hingabe über ihre Wange. Als Sid die Augen öffnete, sah sie nichts als bedingungslose Liebe in seinem Blick und konnte nicht anders, als ihn sanft hinterm Ohr zu kraulen.

Das Handy vibrierte. Es war ihre Mutter. »Ich gehe jetzt mal ran«, sagte Sid und verschwand mit dem Smartphone in der bedrückend kleinen Küche.

»Endlich! Wie geht’s dir denn, Schatz?«, fragte Mam aufgelöst.

Sid verspürte schon wieder Tränen – oder immer noch? »Es geht. Katja ist sehr lieb zu mir.«

»Sie ist die Beste! Es tut uns allen ja so leid. Können wir irgendetwas für dich tun?«

Sid wusste nicht was. Jetzt wollte auch ihr Vater ans Telefon. »Kindchen, wie geht’s dir?«, fragte er voller Sorge.

»Ich komme klar.« Wenigstens hatten sich Mam und Paps nicht gestritten, das konnte Sid heraushören. In der Not hielten sie felsenfest zusammen, das allein stärkte ihr schon ein wenig den Rücken. Oft sah das leider ganz anders aus. Als Kind hatte sie immer gehofft, dass sich die beiden nicht trennten. Aber aus heutiger Sicht dachte sie oft, dass das wohl besser gewesen wäre. Eigentlich verstand sie auch nicht so recht, was Mam und Paps überhaupt zusammenhielt. Vielleicht war da ja doch noch ein wenig Liebe im Spiel? Vielleicht konnte man Beziehungen auch einfach nur schlecht von außen beurteilen.

»Gib sie mir noch mal«, hörte sie Mam, die gleich darauf wieder am Apparat war. »Sidonie, ich weiß, du hörst das nicht gern, aber ich glaube, das alles war gut so«, sagte sie frei heraus.

Sid sah das naturgemäß anders. Und schon beschwerte sich Paps über diese steile These ihrer Mutter.

»Jetzt erkennst du es noch nicht, aber zu einem späteren Zeitpunkt, wird es dir klar werden«, prophezeite sie.

Sie hatte nicht geahnt, dass Mam hellseherische Fähigkeiten hatte.

»Ich lese gerade das Buch ›Der Kopf will, was das Herz will‹ von Neil Gammond. Das ist ein amerikanischer Beziehungsexperte …«

»Ich weiß, du hast mir schon oft von ihm erzählt.« Viel zu oft.

»Ja, aber das hier ist sein neuestes Buch. Mit ganz neuen Erkenntnissen.«

»Anna, jetzt hör schon auf damit«, schimpfte Paps, aber Mam ließ sich nicht aufhalten.

»Und der sagt ein paar kluge Dinge«, fuhr sie ungerührt fort. »Du bist ganz klar ein Herzmensch, du schäumst über vor Gefühlen. Deswegen bist du auch so kreativ. Aber ein Herzmensch braucht nicht noch mehr Wirrwarr, sondern jemanden, der ihn erdet. Also einen Kopfmenschen.«

War also endlich das Rezept zum ultimativen Glücklichsein gefunden worden? Eher nicht. Klang nämlich genauso wie die alten Thesen von Herrn Gammond, nur garniert mit neuen Schlüsselbegriffen pseudowissenschaftlicher Art.

»Soll das bedeuten, es gibt laut diesem Autor nur zwei Arten von Menschen?«

Klang ein wenig übersimplifiziert. Da würde ihr gewiss auch Katja zustimmen. Vielleicht befragte Sid sie später mal zu dem Thema. Als Langzeitstudentin der Psychologie konnte sie das sicher gut beurteilen.

»Nein, ganz so leicht ist es nicht, Schatz. Stell dir eine Skala vor, an deren Polen Herz und Kopf stehen. Irgendwo dazwischen bewegen wir uns alle. Doch je mehr wir uns auf einen der Pole zubewegen, desto stärker brauchen wir jemanden, der uns hilft, unsere Mitte wiederzufinden.«

Wie erwartet: Pseudowissenschaft.

»Und daher war der Jonas sowieso von vornherein nicht der Richtige«, betonte sie noch einmal. Sid biss sich auf die Unterlippe, um sich jeden bissigen Kommentar zu verkneifen.

»Was ist eigentlich mit der Reise?«, wollte Mam dann wissen.

»Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht«, log Sid, denn sie wollte nicht wieder darüber nachdenken. Die Flitterwochen waren Jonas’ Geschenk an sie gewesen. Darüber konnte sie auch nicht wieder nachdenken, ohne dass es ihr das Herz erneut brechen würde.

»Siehst du, was habe ich dir gesagt? Ein Kopfmensch hätte das auf dem Schirm gehabt. Vielleicht wäre ja ein Urlaub das Richtige für dich?«

»Jetzt bedräng sie doch nicht so«, beschwerte sich Paps im Hintergrund, aber sein Einwand wurde überhört.

Sid fühlte sich so müde und geschlaucht, sie konnte sich nicht mal vorstellen, Katjas Wohnung innerhalb der nächsten zwei Wochen auch nur ein einziges Mal zu verlassen, um sich einfach nur die Beine zu vertreten. Ein Urlaub schien wie eine unüberwindbare Hürde.

»Wer von euch hat die Tickets und die Hotelreservierung für eure Flitterwochen?«

»Ich, aber …« Naja, sie lagen eben in der Wohnung.

»Dann flieg doch alleine dorthin. Oder besser, nimm Katja mit.«

»Anna, jetzt hör schon auf. Sid weiß selbst, was am besten für sie ist«, murmelte Paps, Sid konnte ihn dennoch hören.

»Na überleg doch mal, der Urlaub würde sonst verfallen. Bezahlt ist ja schon alles. Zwei wundervolle Wochen auf Mykonos! Du kannst dich natürlich auch in Berlin verschanzen. Aber vielleicht wartet am Strand auch jemand Besonderes auf dich?«

Was???

Ihre Mutter hatte wohl den Verstand verloren. Von wegen Herzmenschen und Kopfmenschen – es gab auch einfach Verrückte und ihre Mutter zählte dazu. Sid wollte keine neue Beziehung! Schon gar nicht so schnell! Als wenn das ein Heilmittel gegen Herzschmerz wäre! Dass Jonas sie sitzengelassen hatte, hatte sie wirklich schwer getroffen, auch wenn sie nach außen hin versuchte, stark zu sein.

»Ich muss jetzt Schluss machen, sorry, Mam.« Besser, sie legte auf, bevor ihr noch der Kragen platzte.

»Denk über meine Worte nach.«

Tuuuuut.

Sidonie kehrte an den improvisierten Frühstückstisch zurück und ließ sich erschöpft auf die Couch fallen, mit einer Hand schob sie das Bettzeug zur Seite. Sofort sprang Shorty zu ihr und leckte sanft über ihre Finger.

»War kein gutes Gespräch?«, hakte Katja nach, die auf ihrem Handy herumspielte und wahrscheinlich irgendein Selfie auf Instagram gepostet hatte, dazu eine Lebensweisheit des Fernen Ostens – Konfuzius sagt: Morgenstund’ hat Tee im Mund oder so was – ja, das war Katja.

»Meine Mam – die ist … verrückt.« Daran hatte Neil Gammond Schuld! Der und seine bescheuerten Bücher.

»Wieso?«

»Sie hat mir vorgeschlagen, ich solle in die Flitterwochen fahren. Mit dir. Oder allein. Jedenfalls raus aus Berlin, ran an den Strand. Und bei der Gelegenheit soll ich mir noch einen neuen Mann suchen.« Sid schüttelte den Kopf. Sie wollte doch gar keinen neuen Mann, sie wollte … ihn. Warum verstand das eigentlich niemand?

»Ich finde die Idee gar nicht so schlecht«, sagte Katja kleinlaut.

»Ehrlich jetzt?«